Der Erlöser
Oslo im Weihnachtslichterglanz, ein kaltblütiger Killer und ein Kommissar, dessen Leben aus den Fugen zu geraten droht. Harry Hole steht in seinem sechsten Fall vor einer ganz besonderen Herausforderung.
In Oslo wird ein junger Mann auf offener...
Oslo im Weihnachtslichterglanz, ein kaltblütiger Killer und ein Kommissar, dessen Leben aus den Fugen zu geraten droht. Harry Hole steht in seinem sechsten Fall vor einer ganz besonderen Herausforderung.
In Oslo wird ein junger Mann auf offener Straße ermordet. Robert Karlsen, Offizier der Heilsarmee, wurde das Opfer des berüchtigten kroatischen Auftragskillers Stankic. Hauptkommissar Harry Hole, der gerade andere Probleme hat, hofft auf einen schnellen Ermittlungserfolg. Seine Freundin Rakel hat ihn verlassen und der eigenwillige Kommissar will endlich versuchen, die Beziehung zu kitten. Doch Stankic erweist sich als ebenbürtiger Gegner. Als Hole merkt, dass der Mörder es auch auf Roberts Bruder Jon Karlsen abgesehen hat, beginnt eine atemberaubende Verfolgungsjagd. In wessen Auftrag ist Stankic unterwegs? Was ist das Motiv für die Mordanschläge? Und was spielt sich hinter der makellosen Fassade der norwegischen Heilsarmee wirklich ab? Ein eindringlicher Kriminalroman und ein düsteres Porträt unserer Zeit.
Der Erlöser von Jo Nesbø
LESEPROBE
Harry tratauf den Bahnsteig, blieb stehen und atmete die warme U-Bahnluft ein, während ereinen Blick auf den Zettel mit der Adresse warf. Er hörte, wie sich die Türenschlossen, und spürte einen Luftzug im Rücken, als sich der Zug wieder inBewegung setzte. Er steuerte auf den Ausgang zu. Das Werbeplakat über der Rolltreppeverkündete ihm, dass es Wege gab, Erkältungen zu vermeiden. Wie zur Antworthustete er, dachte »ihr könnt mich mal«, fuhr mit der Hand in die tiefe Tascheseines Wollmantels und stieß unter dem Flachmann und dem Döschen mit denHalstabletten auf die Schachtel Camel.
DieZigarette wippte zwischen seinen Lippen, als er durch die Glastür trat. Er ließdie raue, unnatürliche Wärme von Oslos Untergrund hinter sich und trat in diealles andere als unnatürliche Kälte und Dezemberdunkelheit der Stadt hinaus.Harry zog unwillkürlich die Schultern hoch. Egertorg.Der kleine, offene Platz war eine Kreuzung von Fußgängerzonen im Herzen vonOslo, sofern die Stadt in dieser Jahreszeit denn überhaupt so etwas wie einHerz hatte. Die Geschäfte hatten am vorletzten Wochenende vor Weihnachten auchsonntags geöffnet. Der Platz wimmelte von Menschen, die im gelben Licht hin undher rannten, das durch die Fenster der bescheidenen, dreistöckigenGeschäftshäuser fiel. Harry sah die Taschen mit den eingepackten Geschenken undrief sich ins Gedächtnis, dass er noch etwas für Bjarne Møllerkaufen musste, der am kommenden Tag seinen Abschied vom Polizeipräsidium feiernsollte. Harrys Chef, der in all den Jahren bei der Polizei auch so etwas wiesein oberster Schutzheiliger gewesen war, hatte sein Vorhaben, es langsamerangehen zu lassen, tatsächlich in die Tat um- gesetzt. Ab kommender Wochewollte er als sogenannter Senior-Sonderermittler fürdie Polizeikammer in Bergen arbeiten, was in Wahrheit nichts anderes bedeutete,als dass Bjarne Møller von nun an bis zu seinerPensionierung tun und lassen konnte, was er wollte. An sich ja ganz schön, aberausgerechnet Bergen? Regen und nasse Felsen. Møllerkam nicht einmal von dort. Harry hatte Bjarne Møllerimmer gemocht - wenn er ihn auch nicht immer verstanden hatte.
Ein Mann imGanzkörperdaunenanzug wankte wie ein Astronaut vorbei, er grinste mit rotenBacken, während ihm der Atem in weißen Wölkchen aus dem Mund quoll. GekrümmteRücken und verschlossene Wintergesichter. Harry fiel eine blasse Frau auf, die einedünne, schwarze Lederjacke mit löchrigen Ärmeln trug. Sie stand an der Mauerneben dem Uhrmachergeschäft, trat von einem Bein aufs andere und hielt mitflackerndem Blick nach ihrem Dealer Ausschau. Ein Bettler saß im Schneidersitzauf dem Boden, den Rücken an einen Laternenpfahl gelehnt und den Kopf wie inMeditation zur Seite geneigt. Er hatte lange Haare und war unrasiert, trug abergute, warme, durchaus moderne Kleider. Vor ihm stand ein brauner Pappbecher auseinem Café. Harry waren im letzten Jahr immer mehr Bettler aufgefallen, undirgendwie hatte er den Eindruck, dass sie sich alle ähnlich sahen. Sogar diePappbecher waren die gleichen, als gäbe es da einen geheimen Code. Vielleichtwaren es Außerirdische, die im Stillen dabei waren, seine Stadt zu übernehmen,seine Straßen. Und wenn schon. Sollten sie doch! Harry betrat dasUhrmachergeschäft.
»Können Siedie reparieren?«, fragte er den jungen Mann hinter demTresen und reichte ihm eine Großvateruhr, die tatsächlich die Uhr seinesGroßvaters war. Harry hatte sie als Junge in Åndalsnesbekommen, bei der Beerdigung seiner Mutter. Ihm hatte das beinahe Angstgemacht, aber sein Großvater hatte ihn beruhigt und gesagt, dass Uhren dazu daseien, weitergegeben zu werden, und dass auch er das eines Tages tun sollte:
»Ehe es zuspät ist.«
Harry hattedie Uhr vollkommen vergessen, bis er im Herbst bei sich in der Sofies gate Besuch von Oleg bekommen hatte, der auf der Suche nachHarrys Gameboy in einer Schublade auf die silberne Uhrgestoßen war. Und Oleg, der neun Jahre alt war, Harry aber längst beim Tetris-Spielen schlug - ihrer gemeinsamen Leidenschaft -,hatte das Duell, auf das er sich so gefreut hatte, vergessen und stattdessen ander Uhr herumgefingert, um sie wieder in Gang zu setzen.
»Die istkaputt«, sagte Harry.
»Blödsinn«,antwortete Oleg. »Man kann alles reparieren.«
Harryhoffte aus tiefstem Herzen, dass diese Behauptungstimmte, es gab aber Tage, an denen er es aufs Stärkste bezweifelte. Trotzdem fragteer sich kurz, ob er Oleg mit der Gruppe »Jokke & Valentinerne « bekannt machen sollte, die ein Album mitgenau diesem Titel herausgebracht hatte: »Man kann alles reparieren«. Doch dannwar ihm in den Sinn gekommen, dass Olegs Mutter, Rakel, sicher nicht begeistertwäre von der ganz besonderen Konstellation, dass nämlich ihr Exlover und Alkoholiker ihrem Sohn die Lieder einesverstorbenen Junkies vorspielte, der sein Alkoholikerdasein besang.
»Kann mandie reparieren?«, fragte er den jungen Mann hinter demTresen. Wie zur Antwort wurde die Uhr von raschen, kundigen Händen geöffnet.
»Das würdesich nicht lohnen.«
»Sich lohnen?«
»Gehen Siezu einem Antiquitätenhändler. Da bekommen Sie bestimmt bessere Uhren, die auchnoch laufen - und das für weniger Geld, als die Reparatur kosten würde.«
»VersuchenSie es trotzdem«, sagte Harry.
»Gut«,erwiderte der junge Mann, der bereits begonnen hatte, das Innere der Uhr zustudieren. Eigentlich schien er ganz froh über Harrys Entscheidung zu sein.»Kommen Sie nächste Woche Mittwoch wieder.«
Als Harrywieder auf die Straße trat, hörte er den dünnen Ton einer einfachenGitarrensaite durch einen Verstärker. Er wurde höher, als der Gitarrist, einJunge mit spärlichem Bartwuchs und Pulswärmern, an einem Wirbel herumdrehte.Jetzt begannen wieder die traditionellen Vorweihnachtskonzerte, bei denenbekannte Künstler zugunsten der Heilsarmee auf dem Egertorgauftraten. Die Menschen scharten sich bereits um die Band, die sich hinter dem schwarzenKessel der Heilsarmee aufgestellt hatte, der mitten auf dem Platz an einemdreibeinigen Ständer hing.
»Bist dudas?«
Harrydrehte sich um. Es war die Frau mit dem Junkieblick.
»Du bist esdoch, oder? Kommst du für Snoopy? Ich brauch sofort einenNull-eins, ich hab«
»Sorry«, unterbrach Harry sie. »Ich bin nicht der, den dumeinst.« Sie sah ihn an, legte den Kopf schräg undkniff die Augen zusammen, als wollte sie überprüfen, ob er sie anlog. »Doch,ich hab dich doch schon mal gesehen.«
»Ich binPolizist.«
Sie hieltinne. Harry atmete ein. Ihre Reaktion kam allerdings mit einer gewissenVerzögerung, als müsste diese Nachricht erst ein paar Umwege nehmen, umverkohlte Nerven und zerschossene Synapsen zu meiden.Dann ging die matte Lampe des Hasses an, auf die Harry schon gewartet hatte.
»EinBulle?«
»Ichdachte, wir hätten ein Abkommen, dass ihr auf der Plata am Bahnhofsvorplatzbleibt«, sagte Harry und blickte an ihr vorbei zum Sänger der Band.
»Pah«,sagte die Frau, die sich direkt vor Harry aufgebaut hatte. »Du bist doch garkeiner von diesen Drogenbullen. Du bist doch der, der da im Fernsehen war, derdiesen Typen abgeknallt« »Dezernat für Gewaltverbrechen.« Harry packte sieleicht am Arm. »Hör mal, das, was du brauchst, findest du auf der Plata. Zwingmich nicht, dich festzunehmen.«
»Geht nicht.« Sie wand sich los.
Harrybereute es sofort und nahm beide Hände in die Höhe. »Sag mir trotzdem, dass duhier jetzt nichts kaufen willst, damit ich gehen kann. Okay?«
Sie legteden Kopf auf die Seite. Ihre dünnen, blutleeren Lippen strafften sich einwenig. Als sähe sie in der ganzen Situation auch etwas Amüsantes. »Soll ich dirsagen, warum ich nicht runter zur Plata gehen kann?«
Harrywartete.
»Weil meinJunge da unten rumläuft.«
Harryspürte, wie sich ihm der Magen umdrehte.
»Ich willnicht, dass er mich so sieht. Verstehst du das, Bulle?«
Harry blicktein ihr trotziges Gesicht und suchte nach Worten. »Fröhliche Weihnachten«, sagtesie und drehte ihm den Rücken zu.
Harry ließdie Zigarette in den braunen, pulverisierten Schnee fallen und ging. Er musstediesen Job endlich hinter sich bringen. Er sah die Menschen nicht an, die ihmentgegenkamen, und sie beachteten ihn auch nicht, sondern richteten ihre Blickeauf den vereisten Boden, als hätten sie ein schlechtes Gewissen; als schämten siesich als Bürger der großzügigsten Sozialdemokratie der Welt. »Weil mein Jungeda unten rumläuft.«
Im Fredensborgvei blieb Harry unweit der DeichmannschenBibliothek vor der Hausnummer stehen, die auf seinem Briefumschlag notiert war.Er legte den Kopf in den Nacken. Die grauschwarze Fassade war frisch gestrichen.Der feuchte Traum eines jeden Sprayers. An einigen Fenstern hob sichWeihnachtsdekoration als dunkle Silhouette von diesem weichen, gelblichen Lichtab, das jeder unweigerlich mit einem sicheren warmen Zuhause in Verbindung bringt.Und vielleicht war das ja auch richtig, zwang sich Harry zu denken. Was ihmfreilich nur mit Mühe gelang, denn man konnte nicht zwölf Jahre bei der Polizeisein, ohne von der Menschenverachtung angesteckt zu werden, die der Job mitsich brach - te. Aber er wehrte sich, das musste manihm lassen. Er fand den Namen auf den Klingelschildern, schloss die Augen undversuchte, seine Gedanken zu ordnen, um die passenden Worte zu finden. Es halfnichts. Ihre Stimme stand ihm noch immer im Weg.
»Ich will nicht,dass er mich so sieht«
Harry gabauf. Gab es passende Worte für das Unmögliche? Er drückte mit dem Daumen aufden kalten Metallknopf, und irgendwo im Haus erklang eine Türglocke.
© UllsteinBuchverlage
Übersetzung:Günther Frauenlob
- Autor: Jo Nesbø
- 2007, 507 Seiten, Maße: 14,7 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Frauenlob, Günther
- Übersetzer: Günther Frauenlob
- Verlag: Ullstein HC
- ISBN-10: 3550086865
- ISBN-13: 9783550086861
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