Der längste Tag / Shetland-Serie Bd.2
Es sieht ganz klar wie ein Selbstmord aus, als in einer Fischerhütte in dem kleinen Ort Biddista eine Leiche gefunden wird, erhängt und mit einer Clownsmaske über dem Gesicht. Doch Shetland-Kommissar Jimmy Perez glaubt nicht...
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Es sieht ganz klar wie ein Selbstmord aus, als in einer Fischerhütte in dem kleinen Ort Biddista eine Leiche gefunden wird, erhängt und mit einer Clownsmaske über dem Gesicht. Doch Shetland-Kommissar Jimmy Perez glaubt nicht daran. Er erkennt das Opfer - der Mann, der offenbar an Gedächtnisverlust litt, war am Abend zuvor bei einer Vernissage unter Tränen zusammengebrochen und dann plötzlich verschwunden. Je mehr Perez ermittelt, desto tiefer gräbt er im Morast der kleinen Gemeinschaft von Biddista. Dann wird eine zweite Leiche gefunden. Perez ahnt: Er muss so schnell wie möglich die Wahrheit herausfinden, bevor es weitere Tote gibt. Aber es ist Mittsommer, Tag und Nacht verschwimmen, und nichts ist, wie es scheint ...
Der längste Tag von Ann Cleeves
LESEPROBE
EINS
Jimmy Perez sah den Straßenkünstler von hinten, als er durch die Stadt fuhr, doch er fiel ihm gar nicht auf. Er hatte zu viel anderes im Kopf.
Gerade war er auf dem Flugplatz in Tingwall gelandet, nach einem Kurzurlaub auf Fair Isle, wo seine Eltern ihren Hof hatten. Drei Tage lang hatte er sich von seiner Mutter verwöhnen lassen und sich die Klagen seines Vaters über den Schafspreis angehört. Und wie nach jedem Besuch daheim fragte er sich auch diesmal, warum es ihm eigentlich so schwer fiel, mit seinem Vater auszukommen. Es gab keinen Streit, keine offenen Feindseligkeiten, und doch verspürte er jedes Mal ein enervierendes Gefühlsgemisch aus Schuld und Unzulänglichkeit.
Dann war da natürlich die Arbeit. Auf seinem Schreibtisch wartete ein ganzer Stoß Unterlagen auf ihn. Sandy Wilsons Spesenrechnungen, die allein ihn vermutlich schon einen kompletten Tag Arbeit kosten würden. Und den Bericht für den Staatsanwalt über einen Fall schwerer Körperverletzung in einer Kneipe in Lerwick musste er auch noch fertig schreiben.
Und Fran. Sie hatten ausgemacht, dass er sie um halb acht in Ravenswick abholen sollte. Vorher musste er unbedingt noch kurz zu Hause vorbeifahren und duschen. Schließlich war das ja ein Rendezvous. Ihr erstes richtiges Rendezvous. Sie trafen sich schon seit einem halben Jahr hin und wieder, waren befreundet. Aber heute war er so nervös wie ein Fünfzehnjähriger.
Pünktlich auf die Minute hielt er vor ihrem Haus, mit nassen Haaren und einem neuen Hemd, in dem er sich noch nicht ganz wohl fühlte. Es wirkte steif, wie frisch gestärkt, und vorne sah man noch ganz leicht die Falte von der Verpackung. Die Kleiderfrage machte ihn immer nervös. Was zog man an zu einer Ausstellungseröffnung – vor allem, wenn eine der ausstellenden Künstlerinnen die Frau war, von der man nachts träumte und die man auch tagsüber kaum aus dem Kopf bekam? Und wenn man hoffte, sie an diesem Abend endlich ins Bett zu kriegen?
Sie war auch nervös, das sah er sofort, als sie zu ihm ins Auto stieg. Sie trug etwas enganliegendes Schwarzes und sah darin so elegant aus, dass er sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, jemals eine Chance bei ihr zu haben. Dann lächelte sie dieses schiefe kleine Lächeln, bei dem ihm immer so anders wurde, als hätte er gerade drei Stunden bei stürmischem Westwind auf der Good Shepherd verbracht. Er drückte ihr die Hand. Gerne hätte er ihr gesagt, wie absolut atemberaubend sie aussah, doch ihm fi el nichts ein, was weder plump noch gönnerhaft geklungen hätte. Und so schwiegen sie den ganzen Weg bis nach Biddista.
Die Galerie trug den Namen Herring House: In früheren Zeiten waren dort die Fische getrocknet worden. Sie lag inmitten eines sanften Tals an der Westküste, direkt am Wasser. Ein Stückchen weiter den Strand entlang befand sich eine kleine steinerne Anlegestelle, wo die Fischer ihre Boote festmachten, um den Fang abzuladen. Ein paar Männer hatten immer noch ihre Boote dort liegen. Wenn man aus der Tür trat, roch man Seetang und Salz. Und Bella Sinclair erzählte, als sie das Haus übernommen habe, hätte noch ein leichter Heringsgeruch in den Wänden gehangen.
Bella war die zweite Künstlerin, die an diesem Abend ausstellte. Perez kannte sie, so wie sie im Grunde jeder auf Shetland kannte: von ein bisschen Smalltalk bei der einen oder anderen Party, hauptsächlich aber durch die vielen Geschichten, die über sie kursierten. Sie war eine echte Shetländerin, in Biddista geboren und aufgewachsen. In jungen Jahren musste sie es recht bunt getrieben haben, inzwischen war sie vor allem unnahbar und respekteinflößend. Und reich.
Perez war immer noch ganz aufgelöst von der hektischen Fahrt vom Flughafen und dem Gefühl, dass dieser Abend seine große Chance bei Fran war. Er war so ungeschickt, wenn es um die Gefühle anderer Leute ging. Was, wenn er es nun vermasselte? Als er Bella begrüßte, merkte er, dass seine Hand zitterte. Vielleicht hatte er sich auch einfach nur von Frans Lampenfieber anstecken lassen, von ihrer gespannten Erwartung, wie ihre Arbeiten wohl ankommen würden. Als sie sich unter die Gäste mischten, um die Bilder anzusehen, die an den schmucklosen Wänden hingen, spürte er, wie sich seine Anspannung noch verstärkte. Er nahm kaum wahr, was um ihn herum geschah. Er unterhielt sich mit Fran, nickte Bekannten zu, fühlte sich dabei aber seltsam unbeteiligt. Es kam ihm vor, als lastete ein immer stärker werdender Druck auf seiner Stirn, wie an einem heißen, schwülen Tag, wenn man auf das Gewitter wartete. Erst als Roddy Sinclair auftrat, um für die Gäste zu spielen, ließ Perez’ Spannung ein wenig nach. Als hätte es endlich angefangen zu regnen.
Roddy stand in Licht getaucht mitten im Raum. Es war neun Uhr abends, doch durch die Fenster in dem hohen Schrägdach fiel noch immer Sonne herein, die von den gebohnerten Holzdielen und den weißgetünchten Wänden reflektiert wurde und Roddys Gesicht erstrahlen ließ. Einen Augenblick lang stand er lächelnd und reglos da und wartete, bis die Gäste sich ihm zuwandten, in der unerschütterlichen Überzeugung, ihre Aufmerksamkeit gewinnen zu können. Die Gespräche verstummten, es wurde still im Raum. Roddy sah zu seiner Tante hinüber, die ihm ein ebenso liebevolles wie dankbares Lächeln schenkte. Er hob seine Fiddle, klemmte sie unters Kinn und hielt erneut inne. Einen Moment lang herrschte Stille, dann begann er zu spielen.
Alle wussten, was sie zu erwarten hatten, und er enttäuschte sie nicht. Er spielte wie ein Besessener, dafür war er schließlich bekannt. Für seine Show. Und für die Musik natürlich. Seine shetländische Fiddle-Musik schien einfach alle anzusprechen, sie wurde landesweit im Radio gespielt, die Talkshow-Moderatoren im Fernsehen ergingen sich in Lobeshymnen. Man konnte es kaum fassen: Klatschspalten berichteten über einen Jungen von den Shetland-Inseln, der Champagner trank und mit blutjungen Schauspielerinnen ausging. Er war quasi über Nacht berühmt geworden. Ein Rockstar hatte ihn zu seinem Lieblingsmusiker ernannt, und plötzlich war Roddy Sinclair überall, in den Zeitungen, im Fernsehen, in den Hochglanzmagazinen.
Er hüpfte und tänzelte, und die gesetzten, nicht mehr ganz jungen Besucher, der englische Kunstkritiker und die paar großen Namen, die aus Lerwick nach Norden gekommen waren, stellten ihre Weingläser ab und klatschten im Rhythmus mit. Roddy fi el auf die Knie und ließ sich ganz langsam nach hinten sinken, bis er fast fl ach auf dem Rücken lag, ohne auch nur eine einzige Note auszulassen. Dann sprang er wieder auf die Füße und spielte, auch jetzt ohne Unterbrechung, weiter. In einer Ecke der Galerie hakte sich ein älteres Paar unter und fi ng erstaunlich leichtfüßig an zu tanzen.
Roddy spielte so rasant, dass die Zuschauer den Bewegungen seiner Finger kaum folgen konnten. Dann war die Musik plötzlich zu Ende. Der Junge verbeugte sich, und die Leute jubelten. Perez hatte ihn schon oft spielen sehen, und trotzdem rührte dieser Auftritt etwas in ihm an, löste einen seltsam patriotischen Stolz aus, der ihm fast unangenehm war.
Er sah Fran von der Seite an. Vielleicht fand sie das alles ja viel zu rührselig? Doch sie jubelte und klatschte wie alle anderen auch.
Bella trat aus dem Schatten zu Roddy ins Licht. Sie streckte einen Arm aus, eine bewusst theatralische Geste in Anerkennung des Auftritts.
«Roddy Sinclair», sagte sie. «Mein Neffe.» Dann ließ sie den Blick durch den Raum schweifen. «Nur schade, dass er hier nicht mehr Publikum vorgefunden hat.» Und wirklich waren auffallend wenige Leute im Raum. Durch Bellas Kommentar wurde das erst richtig offensichtlich. Das fi el wohl auch ihr auf. Sie runzelte die Stirn und hätte die Bemerkung wohl am liebsten wieder zurückgenommen.
Der junge Mann verbeugte sich noch einmal, grinste und hielt dann mit der einen Hand seine Fiddle, mit der anderen den Bogen in die Höhe.
«Kaufen Sie einfach die Bilder», sagte er. «Dafür sind Sie schließlich hier. Ich bin nur die Vorgruppe. Die Hauptattraktion sind die Bilder.»
Damit wandte er sich von ihnen ab und holte sich ein Glas Wein von einem langen Tisch, der vor der einzigen völlig leeren Wand im Raum aufgebockt war.
Rowohlt Verlag
Übersetzung: Tanja Handels
„Der längste Tag” ist der zweite Jimmy-Perez-Krimi, der auch wieder auf den Shetland-Inseln spielt – dieses Mal im Mittsommer, wo die Tage nicht zu enden scheinen. Wie kann man sich diese besondere Zeit auf den Shetlands vorstellen?
Die Shetlands liegen ja weit im Norden. Zu dieser Zeit ist es also auch nachts noch ziemlich hell. Die Vögel singen noch, wenn es schon Mitternacht ist. Die Leute arbeiten lange auf dem Wasser oder auf den Feldern. Der Winter ist hier so lang und dunkel, dass die Leute jeden Moment im Sommer nutzen wollen. Auf den Shetlands nennt man diese Zeit den „summer dim“.
Das Verhältnis zwischen Autor und Hauptfigur ist nicht immer einfach. Wie hat sich Ihr Verhältnis zu Jimmy Perez im Laufe der Zeit verändert?
Ich habe das Gefühl, Jimmy schon sehr gut zu kennen, und das macht es manchmal etwas schwierig, über ihn zu schreiben. Ich muss mich dann immer selbst daran erinnern, dass die Leser ihn ja nicht so genau kennen wie ich. Seine wichtigste Charaktereigenschaft, denke ich, ist seine Geduld, seine Ruhe. Dem Ermittler, der vom schottischen Festland kommt, erscheint er etwas langsam. Das liegt aber einfach daran, dass er zuhören kann und den Verdächtigen die Möglichkeit gibt, ihre Geschichte zu erzählen.
Die schwierigen Ermittlungen werden zusätzlich verkompliziert, als sich Perez und Fran Hunter näher kommen… Warum ist Fran zu Beginn so zurückhaltend?
Sie planen ja eine Reihe aus vier Krimis, die auf den Shetlands spielen und jeweils eine Jahreszeit zum Thema haben sollen. Welche Jahreszeit ist als nächstes dran?
Ja, das ist richtig. Mein nächstes Buch liegt schon bei meinem englischen Verleger – es spielt im Frühling.
Haben Sie eigentlich schon eine Verdienstmedaille vom Tourismusbüro der Shetlands bekommen?
„Visit Shetland“ hat mich ganz großartig unterstützt. Sie haben z.B. die Buchvorstellung von „Der längste Tag“ in London gesponsert, und ich hoffe natürlich, dass meine Bücher viele Besucher auf die Shetlands locken. Die Inseln sind wirklich etwas ganz Besonderes. Auf der Website von „Visit Shetland“ bekommen Sie einen sehr schönen Eindruck von den Inseln!
Die Fragen stellte Carsten Hansen, Literaturtest.
- Autor: Ann Cleeves
- 2008, 4. Aufl., 416 Seiten, Maße: 11,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Herausgegeben: Kristina Kreuzer
- Übersetzer: Tanja Handels
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499244780
- ISBN-13: 9783499244780
- Erscheinungsdatum: 20.05.2008
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