Der letzte Raucher
Der letzte Raucher von Mark Kuntz
LESEPROBE
1 Draußen vor der Tür
22 Uhr 31: noch 28 Zigaretten
Ich habe keine Erfahrung mit solchenSituationen, aber ich muss schon sagen, dass man im ersten Augenblick ziemlichdumm dasteht. Trotzdem haben derartige Szenarien ja den Vorteil, dass manvöllig auf sich selbst zurückgeworfen ist und eine Menge über sich herausfindet.Ich hätte zum Beispiel nie angenommen, dass die erste Frage, die ich mir aufdem Balkon stelle, ist, wo ich hinschiffen kann, wenn es dringend notwendig wird.Und es wird dringend notwendig werden in dieser Nacht, daran gibt es keinenZweifel. Schnell entdecke ich den Zitronenbaum, von dem der Dirk noch gerade ausführlichschwadroniert hat: «Einfach nur die Augen schließen, das Aroma einatmen und vomMittelmeer träumen, herrlich. Das ist mir auch entgangen, als ich noch gequalmthabe.» Der Baum wird nicht austrocknen, möglicherweise wird er sogar überdüngtwerden, das ist schon mal geklärt.
Die zweite, rückblickend betrachtetebenso nachgeordnete Frage hat sich ja schongeklärt, kurz bevor ich ausgesperrt wurde, nämlich ob ich genug zu trinkenhaben würde. Der alte Margaux würde mich mithundertprozentiger Sicherheit bei Laune halten. Die einzige wirklichrelevante Frage fällt mir erst jetzt, an dritter Stelle, ein, was nur damit zuerklären ist, dass ich unter Schock stehe: Wie viele Zigaretten habe ich dabei?Notdurft, Alkohol und erst dann Zigaretten? Was ist mit meiner Bedürfnisstrukturpassiert? Ich muss cool bleiben und mich konzentrieren. Wie jedem geschultenRaucher reichen mir zwei Handgriffe, um mich zu vergewissern. Ich fasse mit derrechten Hand an die linke Innentasche meines Sakkos und spüre leicht alarmierteine deutlich zur Neige gehende Packung, deren Inhalt ich blind auf sieben bismaximal neun Zigaretten taxiere. Der Griff mit der linken Hand an die rechteInnentasche beruhigt mich sofort: Beglückt fühle ich eine harte, frische, eindeutigoriginal verpackte Schachtel.
Das wäre doch mal was für «Wetten,dass ... »: Der letzte Raucher wettet, dass er den Inhalt von zehn Schachteln Zigarettendurch seine Sakkotasche ertasten kann. Mal gucken: Tatsache! Neun Stück in derangebrochenen plus neunzehn in der frischen Automatenpackung, macht achtundzwanzigStück, abzüglich einer, die ich mir aus Freude über mein kleines Kunststücksofort anzünde, also siebenundzwanzig. Keine üppige, aber eine solide Grundlage.Zumindest kein Grund zur Panik.
Gut, so weit habe ich wiederOberwasser. Zeit zum Nachdenken. Raucher rauchen ja, behaupte ich, um in Ruhenachdenken zu können. Sie sind hypernervöse Phlegmatiker, daher brauchen sieetwas in der Hand und zwischen den Lippen, um ihre Nervosität in den Griff zu bekommen.Das Nikotin bringt ihr verschnarchtes Nervensystem auf Trab.
Was kann ich tun, um mich von diesemBalkon zu befreien? Ich kann laut um Hilfe rufen. Jemand benachrichtigt dieFeuerwehr, sie rückt an und sperrt die Kreuzung vor Dirks Haus ab. Die Jungsvom Löschwagen fahren die Leiter aus, im Haus gegenüber stehen Eltern mit ihrenKindern in warmen Frottebademänteln, und der mutigste der Feuerwehrmännerklettert unter Lebensgefahr die zwölf Meter lange Leiter hoch. Knapp oberhalbder Brüstung taucht sein Helm auf. Er fragt:
«Wie ist die Lage?»
Ich schildere ihm so gut ich kann,was vorgefallen ist: dass ich beim Dirk zum Essen eingeladen gewesen sei, eigentlichgar nicht hätte kommen wollen, mich dann aber doch aufgerafft hätte undzwischendurch zum Rauchen auf den Balkon gegangen sei. Und dass ich zum Schlussvor verschlossener Balkontür gestanden hätte.
«Das ist ja ein Ding», sagt derwackere Mann und schiebt sich seinen riesigen Helm in den Nacken. Über Funklässt er sich etwas mehr Leiter geben, steigt zu mir auf den Balkon und bittetmich, ihm den Sachverhalt noch einmal ganz genau zu schildern. Zwischendurch informierter die Kollegen über Funk: «Augenblick noch, ich muss hier oben erst mal dieLage klären.»
Dann setzt mein Retter seinen Helmab, holt tief Luft und sagt: «Weißt du eigentlich, wie oft ich schon mein Lebenriskiert habe, um unschuldige Menschen aus den Flammen zu retten, nur weil soTypen wie du», und dabei blickt er mich mit seinen kalten Augen verächtlich an,«nur weil so Scheißtypen wie du mit ihrer Scheißkippe in ihrem Scheißbett eingeschlafensind? Weißt du das eigentlich?»
Nein, das weiß ich nicht, ich weißauch nicht, dass wir uns duzen, der Feuerwehrmann und ich. Ich sage jetzt bessernichts, der Mann ist ja völlig außer sich. Ich rauche jetzt auch besser nicht,das wäre ganz unklug.
«Typen wie dich sollte man ...» Ichwill dem Mann helfen, die richtigen Worte zu finden, weiß aber nicht genau, waser meint.
Der gute Mann nuschelt «Abbrechenund abrücken!» in sein Funkgerät, rückt seinen Helm zurecht, klettert über dieBrüstung, steigt auf die Leiter und sieht mich ein letztes Mal an. Er will nochetwas sagen, schüttelt aber nur den Kopf und macht sich auf den Rückweg. Auf denbenachbarten Balkonen stehen immer noch Mütter und Väter mit ihren Kindern aufdem Arm. Die Kinder blicken ihre Eltern mit großen, fragenden Augen an. Die wendensich kopfschüttelnd von mir ab, einer der Väter zeigt mir den Finger. DieFeuerwehrleute sehen noch einmal zu mir hoch, bevor sie mit ihrem großen rotenAuto davonfahren.
Als alle weg sind, die letztenBalkontüren wieder verschlossen und diese furchtbare Vision vorbei ist, fühle ichmich tatsächlich sehr einsam, ausgeschlossen und geächtet von der Gesellschaft.Ich fühle mich wie der letzte Raucher auf Erden. Einer von vielen fröhlichen, einstmalshoffnungsvoll in die Zukunft aufgebrochenen Menschen, der sich jetzt, alsletzter Vertreter einer aussterbenden Spezies, nachts auf einem Balkon wiederfindet. Der letzte Raucher. Aber immerhin einer mitsiebenundzwanzig Zigaretten. Hätte schlimmer kommen können. NeunzehnZigaretten zum Beispiel, das wäre nicht annähernd so gut. Oder neun, echt nichtlustig. Oder nur noch sechs oder vier. Gar nicht auszudenken. Und überhaupt.Die übelsten Brandstifter sind sowieso ehemalige Feuerwehrleute, das weiß mandoch aus der Zeitung.
© Kindler Verlag
- Autor: Mark Kuntz
- 2006, 1, 160 Seiten, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kindler
- ISBN-10: 3463405024
- ISBN-13: 9783463405025
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