Der Leuchtturmwärter
Kriminalroman
Schriftstellerin Erica hat mit ihren Zwillingen alle Hände voll zu tun. Sie findet kaum Zeit für ihre Freundin Annie, die gerade ins idyllische Fischerdorf Fjällbacka zurückgekehrt ist. Annie zieht in den Leuchtturm auf der kleinen...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Leuchtturmwärter “
Schriftstellerin Erica hat mit ihren Zwillingen alle Hände voll zu tun. Sie findet kaum Zeit für ihre Freundin Annie, die gerade ins idyllische Fischerdorf Fjällbacka zurückgekehrt ist. Annie zieht in den Leuchtturm auf der kleinen Insel vor der Küste. Dann geschieht ein brutaler Mord an Annies Exfreund.
Klappentext zu „Der Leuchtturmwärter “
'Schriftstellerin Erica Falck hat mit ihren Zwillingen alle Hände voll zu tun, seit ihr Mann Patrik wieder im Polizeidienst ist. Sie findet kaum Zeit für ihre Freundin Annie, die gerade in das idyllische Fischerdorf Fjällbacka zurückgekehrt ist. Annie zieht in den Leuchtturm auf der kleinen Insel vor der Küste. Dort soll es nachts spuken, und dunkle Legenden ranken sich um den Ort. Annie scheint es nicht zu stören, vor allem seit Mats, ihre erste große Liebe, zu ihr zurückgekehrt ist. Doch dann wird Mats brutal ermordet. Patrik beginnt zu ermitteln.
Lese-Probe zu „Der Leuchtturmwärter “
Der Leuchtturmwächter von Camilla LäckbergErst als sie das Lenkrad umfasste, sah sie, dass ihre Hände voller Blut waren. Die Finger blieben am Leder kleben. Sie scherte sich jedoch nicht darum, sondern legte den Rückwärtsgang ein und fuhr so forsch aus der Garageneinfahrt, dass unter den Reifen der Schotter hochspritzte.
Die Fahrt würde lange dauern. Sie warf einen Blick auf die Rückbank. Sam schlief, eingewickelt in eine Decke. Eigentlich hätte sie ihn anschnallen müssen, aber sie brachte es nicht übers Herz, ihn zu wecken. Sie musste nur so vorsichtig wie möglich fahren. Automatisch nahm sie den Fuß ein wenig vom Gas.
Die Sommernacht ging bereits ihrem Ende zu. Die dunklen Stunden, kaum dass sie begonnen hatten, waren schon fast vorüber. Trotzdem erschien ihr diese Nacht endlos. Alles hatte sich geändert. Fredriks braune Augen hatten reglos an die Decke gestarrt, und sie hatte begriffen, dass sie nichts mehr tun konnte. Sie musste sich und Sam in Sicherheit bringen. An das Blut und an Fredrik durfte sie nicht denken.
Es gab nur einen Ort, wohin sie flüchten konnte.
... mehr
Sechs Stunden später waren sie angekommen. Fjällbacka wurde langsam wach. Sie stellte den Wagen bei der Küstenwache ab und überlegte eine Weile, wie sie alles transportieren sollte. Sam schlief noch immer tief und fest. Sie nahm eine Packung Taschentücher aus dem Handschuhfach und wischte sich notdürftig die Hände sauber. Das Blut ließ sich nur schwer entfernen. Dann hievte sie das Gepäck aus dem Kofferraum und zog die Koffer nach Badholmen, wo das Boot lag. Sie fürchtete, dass Sam aufwachen würde, hatte aber zur Sicherheit das Auto abgeschlossen, damit er nicht aussteigen und womöglich ins Wasser fallen konnte. Ächzend stellte sie die Koffer ins Boot und löste die Sicherheitskette, die verhindern sollte, dass das Boot gestohlen wurde. Anschließend rannte sie zurück zum Auto und stellte erleichtert fest, dass Sam noch genauso ruhig schlief wie vorher. Sie nahm ihn auf den Arm und trug ihn in der Decke zum Boot. Beim Einsteigen achtete sie darauf, nicht auszurutschen. Vorsichtig legte sie Sam ins Boot und drehte den Zündschlüssel um. Beim ersten Versuch gab der Motor nur ein Hüsteln von sich. Sie war lange nicht mit dem Boot gefahren, hatte aber das Gefühl, dass sie es schaffen würde. Rückwärts legte sie ab und steuerte das Boot aus dem Hafen.
Die Sonne schien, aber sie wärmte noch nicht. Langsam ließ die Anspannung nach, und die entsetzliche Nacht fiel von ihr ab. Sie betrachtete Sam. Ob er einen dauerhaften Schaden davongetragen hatte? Ein Fünfjähriger war verletzlich. Man konnte nicht wissen, was in seinem Innern zerbrochen war. Sie würde alles tun, um ihn zu heilen. Das Böse würde sie wegküssen wie nach einem Fahrradsturz oder wenn er sich die Knie aufgeschlagen hatte.
Die Strecke war ihr vertraut. Sie kannte jede Insel, jede Schäre. Sie steuerte Väderöbod an und entfernte sich immer weiter von der Küste. Der Seegang war nun etwas höher, und der Bug klatschte nach jedem Wellenkamm auf die Wasseroberfläche. Sie genoss das Salzwasser, das ihr ins Gesicht spritzte, und schloss für einen Moment die Augen. Als sie sie wieder öffnete, erblickte sie in der Ferne Gråskär. Wie jedes Mal, wenn die Insel plötzlich in Sicht kam und sie das kleine Haus und den stolzen weißen Leuchtturm vor dem blauen Himmel sehen konnte, machte ihr Herz vor Freude einen Sprung. Noch war sie zu weit entfernt, um den Anstrich des Hauses zu erkennen, aber sie konnte sich gut an den hellgrauen Farbton und die weißen Fensterrahmen erinnern. Vor ihrem inneren Auge sah sie auch die rosa Stockrosen an der windabgewandten Seite. Das war ihr Zufluchtsort, ihr Paradies. Ihr Gråskär.
In der Kirche von Fjällbacka waren alle Bänke besetzt, und der Altarraum quoll über vor Blumen. Kränze, Sträuße und seidene Trauerschleifen mit letzten Grüßen.
Patrik brachte es kaum über sich, den weißen Sarg inmitten des Blütenmeers anzusehen. In der großen Steinkirche herrschte beklemmende Stille. Auf den Beerdigungen von alten Menschen war immer Gemurmel zu hören. Während man sich auf Kaffee und Kuchen freute, raunte man sich zu: Sie hatte so starke Schmerzen, dass es wohl ein Segen war. Heute wurde geschwiegen. Alle saßen schwermütig auf ihren Plätzen und konnten die Ungerechtigkeit nicht fassen. So etwas durfte nicht sein.
Patrik räusperte sich, hob den Blick zur Decke und versuchte, seine Tränen wegzublinzeln. Er umklammerte Ericas Hand. Der Anzug kniff und kratzte, und Patrik musste am Hemdkragen zerren, um wieder Luft zu bekommen. Er hatte das Gefühl zu ersticken.
Oben im Turm läuteten die Glocken, und der Klang hallte von den Wänden wider. Viele zuckten zusammen und warfen einen Blick auf den Sarg. Lena kam aus der Sakristei und ging auf den Altar zu. Vor einer gefühlten Ewigkeit, in einer vollkommen anderen Wirklichkeit hatte Lena sie in dieser Kirche getraut. Damals war die Stimmung heiter, gelöst und unbeschwert gewesen. Nun wirkte die Pastorin ernst. Patrik versuchte, ihren Gesichtsausdruck zu deuten. Fand sie es auch nicht richtig? Oder lebte sie in der Gewissheit, dass alles, was geschah, einen Sinn hatte?
Wieder kamen ihm die Tränen. Er wischte sie sich mit dem Handrücken ab. Erica steckte ihm unauffällig ein Taschentuch zu. Nachdem der letzte Orgelton verklungen war, herrschte einige Sekunden lang Stille. Erst dann ergriff Lena das Wort. Anfangs bebte ihre Stimme, doch mit der Zeit wurde sie fester.
»Das Leben kann sich von einem Augenblick auf den anderen verändern. Aber Gott ist mit uns. Auch heute.«
Patrik sah, wie sich ihr Mund bewegte, hörte ihr aber nicht mehr zu. Er wollte nicht wissen, was sie sagte. Das bisschen Kinderglaube, das ihn sein Leben lang begleitet hatte, war verschwunden. Das, was passiert war, hatte keinen Sinn. Erneut umklammerte er Ericas Hand.
»Ich habe die Ehre, Ihnen voller Stolz zu verkünden, dass wir unseren Zeitplan einhalten werden. In gut drei Wochen findet in Fjällbacka die feierliche Einweihung des Wellnesshotels Badis statt.«
Erling W. Larson plusterte sich auf und ließ den Blick über die Vorstandsmitglieder des Gemeinderats schweifen, als erwarte er Applaus, musste sich jedoch damit begnügen, dass der eine oder andere anerkennend nickte. Immerhin.
»Das ist ein triumphaler Augenblick für unseren Ort«, erklärte er. »Einerseits ist ein Gebäude, das man nur als Kleinod bezeichnen kann, von Grund auf renoviert worden, andererseits haben wir nun ein modernes und konkurrenzfähiges Gesundheitszentrum zu bieten. Oder besser gesagt ein Spa, wie man das heutzutage nennt.« Er deutete mit dem Zeigefinger Gänsefüßchen an. »Nun bleibt nur noch der Feinschliff, dann dürfen einige ausgewählte Gruppen die Anlage testen, und schließlich muss das glanzvolle Eröffnungsfest vorbereitet werden.«
»Schön. Ich habe nur noch ein paar Fragen.« Mats Sverin, der seit einigen Monaten für die kommunalen Finanzen zuständig war, wedelte mit seinem Kuli, um Erling auf sich aufmerksam zu machen.
Aber Erling schaltete auf stur. Ihm war alles zuwider, was mit Verwaltung und Buchhaltung zu tun hatte. Zügig erklärte er die Versammlung für beendet und zog sich in sein geräumiges Arbeitszimmer zurück.
Nach dem Misserfolg mit der Realityshow »Raus aus Tanum« hatte niemand geglaubt, dass er noch einmal auf die Beine kommen würde, aber nun stand er mit einem noch grandioseren Projekt da. Nicht einmal im Kreuzfeuer der Kritik hatte er an sich gezweifelt. Er war von Geburt an ein Gewinnertyp.
Natürlich war ihm das Ganze an die Nieren gegangen, und deshalb war er zur Erholung nach Dalarna auf den Gesundheitshof Licht gefahren. Das war ein Glücksgriff gewesen, denn sonst hätte er niemals Vivianne kennengelernt. Die Begegnung mit ihr war für ihn ein Wendepunkt gewesen, sowohl beruflich als auch privat. Sie hatte ihn bezaubert wie noch keine andere Frau, und nun verwirklichte er ihren Traum.
Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, zum Hörer zu greifen und sie anzurufen. Es war bereits das vierte Mal an diesem Tag, aber beim Klang ihrer Stimme kribbelte es in seinem ganzen Körper. Mit angehaltenem Atem wartete er darauf, dass sie ans Telefon ging.
»Hallo, mein Liebling«, sagte er, nachdem sie sich gemeldet hatte. »Ich wollte mich nur erkundigen, wie es dir geht.«
»Erling«, antwortete sie in diesem besonderen Ton, bei dem er sich wie ein liebeskranker Jüngling vorkam. »Es geht mir noch genauso gut wie bei deinem letzten Anruf vor einer Stunde.«
»Fein.« Er grinste dämlich. »Ich wollte mich nur vergewissern, dass es dir gut geht.«
»Ich weiß, und dafür liebe ich dich. Aber wir haben vor der Einweihung noch viel zu erledigen, und du willst doch wohl nicht, dass ich bis spät in die Nacht arbeiten muss?«
»Auf keinen Fall, mein Schatz.«
Er beschloss, sie nun nicht mehr zu stören. Die Abende mit ihr waren ihm heilig.
»Sei schön fleißig, das bin ich hier auch.« Er schmatzte ein paar Küsse in den Hörer und legte auf. Dann lehnte er sich in seinem Bürostuhl zurück, faltete die Hände im Nacken und malte sich genüsslich die Freuden aus, die ihn heute noch erwarteten.
Im Haus roch es abgestanden. Annie machte alle Fenster und Türen weit auf und ließ den frischen Wind durch die Räume wehen. Im starken Luftzug fiel beinahe eine Vase um, aber sie fing sie im letzten Moment auf.
Sam lag in dem kleinen Zimmer neben der Küche. Sie hatten es in all den Jahren als Gästezimmer bezeichnet, obwohl es eigentlich ihr gehörte. Ihre Eltern hatten im Obergeschoss geschlafen. Sie warf einen Blick auf ihn, legte sich ein Tuch um die Schultern und nahm den großen, rostigen Schlüssel von dem Haken neben der Haustür, wo er immer hing. Dann ging sie zu den Klippen. Der Wind blies ihr durch die Kleidung, als sie mit dem Rücken zum Haus den Horizont betrachtete. Das einzige andere Gebäude auf der Insel war der Leuchtturm. Der Bootsschuppen unten am Anleger war so klein, dass er nicht zählte.
Sie wanderte hinüber zum Leuchtturm. Gunnar musste das Schloss geölt haben, denn der Schlüssel ließ sich erstaunlich leicht drehen. Knarrend öffnete sich die Tür. Dahinter begannen gleich die Stufen. Sie hielt sich am Geländer fest, als sie die schmale, steile Treppe hochstieg.
Die Aussicht war atemberaubend schön, das hatte sie immer gefunden. Auf der einen Seite sah man nur das Meer und den Horizont, auf der anderen breiteten sich die Schären und Inseln aus. Der Leuchtturm wurde schon seit vielen Jahren nicht mehr benutzt. Nun stand er auf der Insel wie ein Denkmal vergangener Zeiten. Die Lampe war aus, und die gusseisernen Mantelplatten und Bolzen rosteten durchs Salzwasser und den Wind langsam vor sich hin. Als Kind hatte sie es geliebt, hier oben zu spielen. Es war so eng wie in einer Puppenstube hoch über der Erde. Nur ein Bett, in dem sich die Leuchtturmwärter während ihrer langen Schichten ausruhten, und ein Stuhl, von dem aus man das Fahrwasser beobachten konnte, passten in den Raum.
Sie legte sich auf das Bett. Die Tagesdecke verströmte einen muffigen Geruch, aber die Geräusche hörten sich noch genauso an wie in ihrer Kindheit. Das Kreischen der Sturmmöwen, die Wellen, die gegen die Klippen schlugen, und die knirschenden und ächzenden Laute, die der Leuchtturm von sich gab. Damals war alles so einfach gewesen. Ihre Eltern hatten sich besorgt gefragt, ob sie sich als einziges Kind auf der Insel nicht langweilen würde. Aber das hätten sie nicht gemusst. Sie liebte es, hier zu sein. Und allein war sie auch nicht gewesen. Doch das konnte sie ihnen nicht erklären.
Seufzend schaufelte Mats Severin die Papiere auf seinem Schreibtisch von einer Seite zur anderen. Heute war so ein Tag, an dem er nur an sie denken konnte. Nicht aufhören konnte, sich Fragen zu stellen. An diesen Tagen schaffte er nicht viel, aber sie wurden inzwischen immer seltener. Er hatte angefangen loszulassen, das redete er sich zumindest ein. In Wahrheit würde ihm das wohl niemals vollständig gelingen. Noch immer sah er ihr Gesicht ganz deutlich vor sich, und im Grunde war er dankbar dafür. Gleichzeitig wünschte er, dass die Bilder endlich verblassen würden.
Er versuchte, sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren. An guten Tagen machte es ihm mitunter sogar Spaß. Es war eine Herausforderung, sich in die Finanzen einer Gemeinde einzuarbeiten, wo ständig zwischen politischer Rücksichtnahme und marktwirtschaftlicher Vernunft abgewogen werden musste. In den Monaten, die er hier schon arbeitete, hatte er natürlich viel Zeit auf das Projekt Badis verwendet. Er freute sich darüber, dass das alte Gebäude endlich restauriert worden war. Genau wie der Großteil der Leute aus Fjällbacka, ob sie nun noch hier wohnten oder längst weggezogen waren, hatte er jedes Mal, wenn er an dem einst so schönen Gebäude vorbeikam, bedauert, dass man es einfach verfallen ließ. Nun erstrahlte es wieder im alten Glanz.
Hoffentlich behielt Erling recht, wenn er dem Betrieb einen so gigantischen Erfolg versprach. Mats war skeptisch. Das Projekt hatte allein für den Umbau enorme Summen verschlungen, und der vorgelegte Businessplan gründete sich auf viel zu optimistische Berechnungen. Mehrmals hatte er versucht, seine Einwände vorzubringen, war aber auf taube Ohren gestoßen. Außerdem hatte er das ungute Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Dabei war das Projekt von ihm immer wieder durchgerechnet worden, festgestellt hatte er lediglich, dass die bereits entstandenen Kosten schwindelerregend hoch waren.
Er warf einen Blick auf die Uhr. Zeit fürs Mittagessen. Richtigen Appetit hatte er schon lange nicht mehr, aber er musste etwas essen. Heute war Donnerstag, und das bedeutete, dass es im Källaren Pfannkuchen und Erbsensuppe gab. Ein bisschen würde er wohl runterbekommen.
Nur die nächsten Angehörigen sollten bei der Beisetzung anwesend sein. Die anderen verschwanden in Richtung Ort. Erica umklammerte Patriks Hand. Sie gingen direkt hinter dem Sarg, und sie hatte das Gefühl, dass ihr jeder Schritt einen Stoß ins Herz versetzte. Sie hatte sich sehr bemüht, Anna davon abzuhalten, sich das anzutun, aber ihre Schwester hatte auf einer richtigen Beerdigung bestanden. Da dieser Wunsch sie vorübergehend aus ihrem apathischen Zustand gerissen hatte, gab Erica es schließlich auf und war bei allen notwendigen Vorbereitungen behilflich, damit Anna und Dan ihren Sohn begraben konnten.
In einem Punkt jedoch hatte sie sich ihrer Schwester nicht gebeugt. Anna wollte alle Kinder dabeihaben, aber Erica hatte darauf bestanden, dass die kleineren zu Hause blieben. Nur die beiden Ältesten, Dans Töchter Belinda und Malin, kamen mit. Auf Lisen, Adrian, Emma und Maja passte Patriks Mutter Kristina auf. Auf die Zwillinge natürlich auch. Erica hatte befürchtet, dass es Kristina zu viel würde, aber ihre Schwiegermutter hatte ihr versichert, dass die Kinder die zwei Stunden, die die Beerdigung dauerte, in ihrer Obhut überleben würden.
Sie spürte einen Schmerz in der Brust, als sie Annas fast kahlen Kopf vor sich sah. Die Ärzte hatten ihr die Haare abrasieren und ein Loch in den Schädel bohren müssen, um den Druck entweichen zu lassen, der sich darin aufgebaut hatte und dauerhafte Schäden zu verursachen drohte. Nun war auf ihrem Kopf ein zarter Flaum gewachsen, aber er wirkte dunkler als vorher.
Im Gegensatz zu Anna und der Fahrerin in dem anderen Auto, die bei dem Zusammenstoß ums Leben gekommen war, hatte Erica unglaubliches Glück gehabt. Sie kam mit einer Gehirnerschütterung und ein paar gebrochenen Rippen davon. Die Zwillinge waren zwar klein, als sie per Notkaiserschnitt auf die Welt geholt wurden, aber kräftig und gesund genug, um nach zwei Monaten aus der Klinik entlassen zu werden.
Erica brach beinahe in Tränen aus, als ihr Blick von dem Flaum auf Annas Kopf zu dem kleinen weißen Sarg wanderte. Abgesehen von den schweren Kopfverletzungen hatte sich Anna den Beckenknochen gebrochen. Auch bei ihr wurde ein Notkaiserschnitt durchgeführt, aber das Kind hatte so schwere Verletzungen erlitten, dass die Ärzte ihnen nicht viel Hoffnung machten. Nach einer Woche hatte der kleine Junge aufgehört zu atmen.
Das Begräbnis hatte nicht stattfinden können, solange Anna im Krankenhaus bleiben musste. Gestern durfte sie endlich nach Hause. Und heute wurde ihr Sohn beerdigt, dem ein Leben voller Liebe bevorgestanden hätte. Erica sah, wie Dan seine Hand auf Annas Schulter legte, nachdem er den Rollstuhl vorsichtig neben das Grab geschoben hatte. Anna schüttelte die Hand ab. Das war schon seit dem Unfall so. Ihr Schmerz schien derart groß zu sein, dass sie ihn nur allein ertrug. Dan dagegen brauchte jemanden, mit dem er den Schmerz hätte teilen können, doch nicht irgendjemanden. Patrik und Erica hatten versucht, mit ihm zu reden, und alle in seiner Umgebung hatten getan, was sie konnten. Aber er wollte seine Trauer nur mit Anna teilen. Und sie konnte es nicht.
Erica fand Annas Reaktion verständlich. Sie kannte ihre Schwester so gut und wusste, was sie durchgemacht hatte. Das Leben hatte Anna bereits einiges zugemutet, und das hier würde vielleicht alles zum Einsturz bringen.
Copyright © by List (Verlag)
Sechs Stunden später waren sie angekommen. Fjällbacka wurde langsam wach. Sie stellte den Wagen bei der Küstenwache ab und überlegte eine Weile, wie sie alles transportieren sollte. Sam schlief noch immer tief und fest. Sie nahm eine Packung Taschentücher aus dem Handschuhfach und wischte sich notdürftig die Hände sauber. Das Blut ließ sich nur schwer entfernen. Dann hievte sie das Gepäck aus dem Kofferraum und zog die Koffer nach Badholmen, wo das Boot lag. Sie fürchtete, dass Sam aufwachen würde, hatte aber zur Sicherheit das Auto abgeschlossen, damit er nicht aussteigen und womöglich ins Wasser fallen konnte. Ächzend stellte sie die Koffer ins Boot und löste die Sicherheitskette, die verhindern sollte, dass das Boot gestohlen wurde. Anschließend rannte sie zurück zum Auto und stellte erleichtert fest, dass Sam noch genauso ruhig schlief wie vorher. Sie nahm ihn auf den Arm und trug ihn in der Decke zum Boot. Beim Einsteigen achtete sie darauf, nicht auszurutschen. Vorsichtig legte sie Sam ins Boot und drehte den Zündschlüssel um. Beim ersten Versuch gab der Motor nur ein Hüsteln von sich. Sie war lange nicht mit dem Boot gefahren, hatte aber das Gefühl, dass sie es schaffen würde. Rückwärts legte sie ab und steuerte das Boot aus dem Hafen.
Die Sonne schien, aber sie wärmte noch nicht. Langsam ließ die Anspannung nach, und die entsetzliche Nacht fiel von ihr ab. Sie betrachtete Sam. Ob er einen dauerhaften Schaden davongetragen hatte? Ein Fünfjähriger war verletzlich. Man konnte nicht wissen, was in seinem Innern zerbrochen war. Sie würde alles tun, um ihn zu heilen. Das Böse würde sie wegküssen wie nach einem Fahrradsturz oder wenn er sich die Knie aufgeschlagen hatte.
Die Strecke war ihr vertraut. Sie kannte jede Insel, jede Schäre. Sie steuerte Väderöbod an und entfernte sich immer weiter von der Küste. Der Seegang war nun etwas höher, und der Bug klatschte nach jedem Wellenkamm auf die Wasseroberfläche. Sie genoss das Salzwasser, das ihr ins Gesicht spritzte, und schloss für einen Moment die Augen. Als sie sie wieder öffnete, erblickte sie in der Ferne Gråskär. Wie jedes Mal, wenn die Insel plötzlich in Sicht kam und sie das kleine Haus und den stolzen weißen Leuchtturm vor dem blauen Himmel sehen konnte, machte ihr Herz vor Freude einen Sprung. Noch war sie zu weit entfernt, um den Anstrich des Hauses zu erkennen, aber sie konnte sich gut an den hellgrauen Farbton und die weißen Fensterrahmen erinnern. Vor ihrem inneren Auge sah sie auch die rosa Stockrosen an der windabgewandten Seite. Das war ihr Zufluchtsort, ihr Paradies. Ihr Gråskär.
In der Kirche von Fjällbacka waren alle Bänke besetzt, und der Altarraum quoll über vor Blumen. Kränze, Sträuße und seidene Trauerschleifen mit letzten Grüßen.
Patrik brachte es kaum über sich, den weißen Sarg inmitten des Blütenmeers anzusehen. In der großen Steinkirche herrschte beklemmende Stille. Auf den Beerdigungen von alten Menschen war immer Gemurmel zu hören. Während man sich auf Kaffee und Kuchen freute, raunte man sich zu: Sie hatte so starke Schmerzen, dass es wohl ein Segen war. Heute wurde geschwiegen. Alle saßen schwermütig auf ihren Plätzen und konnten die Ungerechtigkeit nicht fassen. So etwas durfte nicht sein.
Patrik räusperte sich, hob den Blick zur Decke und versuchte, seine Tränen wegzublinzeln. Er umklammerte Ericas Hand. Der Anzug kniff und kratzte, und Patrik musste am Hemdkragen zerren, um wieder Luft zu bekommen. Er hatte das Gefühl zu ersticken.
Oben im Turm läuteten die Glocken, und der Klang hallte von den Wänden wider. Viele zuckten zusammen und warfen einen Blick auf den Sarg. Lena kam aus der Sakristei und ging auf den Altar zu. Vor einer gefühlten Ewigkeit, in einer vollkommen anderen Wirklichkeit hatte Lena sie in dieser Kirche getraut. Damals war die Stimmung heiter, gelöst und unbeschwert gewesen. Nun wirkte die Pastorin ernst. Patrik versuchte, ihren Gesichtsausdruck zu deuten. Fand sie es auch nicht richtig? Oder lebte sie in der Gewissheit, dass alles, was geschah, einen Sinn hatte?
Wieder kamen ihm die Tränen. Er wischte sie sich mit dem Handrücken ab. Erica steckte ihm unauffällig ein Taschentuch zu. Nachdem der letzte Orgelton verklungen war, herrschte einige Sekunden lang Stille. Erst dann ergriff Lena das Wort. Anfangs bebte ihre Stimme, doch mit der Zeit wurde sie fester.
»Das Leben kann sich von einem Augenblick auf den anderen verändern. Aber Gott ist mit uns. Auch heute.«
Patrik sah, wie sich ihr Mund bewegte, hörte ihr aber nicht mehr zu. Er wollte nicht wissen, was sie sagte. Das bisschen Kinderglaube, das ihn sein Leben lang begleitet hatte, war verschwunden. Das, was passiert war, hatte keinen Sinn. Erneut umklammerte er Ericas Hand.
»Ich habe die Ehre, Ihnen voller Stolz zu verkünden, dass wir unseren Zeitplan einhalten werden. In gut drei Wochen findet in Fjällbacka die feierliche Einweihung des Wellnesshotels Badis statt.«
Erling W. Larson plusterte sich auf und ließ den Blick über die Vorstandsmitglieder des Gemeinderats schweifen, als erwarte er Applaus, musste sich jedoch damit begnügen, dass der eine oder andere anerkennend nickte. Immerhin.
»Das ist ein triumphaler Augenblick für unseren Ort«, erklärte er. »Einerseits ist ein Gebäude, das man nur als Kleinod bezeichnen kann, von Grund auf renoviert worden, andererseits haben wir nun ein modernes und konkurrenzfähiges Gesundheitszentrum zu bieten. Oder besser gesagt ein Spa, wie man das heutzutage nennt.« Er deutete mit dem Zeigefinger Gänsefüßchen an. »Nun bleibt nur noch der Feinschliff, dann dürfen einige ausgewählte Gruppen die Anlage testen, und schließlich muss das glanzvolle Eröffnungsfest vorbereitet werden.«
»Schön. Ich habe nur noch ein paar Fragen.« Mats Sverin, der seit einigen Monaten für die kommunalen Finanzen zuständig war, wedelte mit seinem Kuli, um Erling auf sich aufmerksam zu machen.
Aber Erling schaltete auf stur. Ihm war alles zuwider, was mit Verwaltung und Buchhaltung zu tun hatte. Zügig erklärte er die Versammlung für beendet und zog sich in sein geräumiges Arbeitszimmer zurück.
Nach dem Misserfolg mit der Realityshow »Raus aus Tanum« hatte niemand geglaubt, dass er noch einmal auf die Beine kommen würde, aber nun stand er mit einem noch grandioseren Projekt da. Nicht einmal im Kreuzfeuer der Kritik hatte er an sich gezweifelt. Er war von Geburt an ein Gewinnertyp.
Natürlich war ihm das Ganze an die Nieren gegangen, und deshalb war er zur Erholung nach Dalarna auf den Gesundheitshof Licht gefahren. Das war ein Glücksgriff gewesen, denn sonst hätte er niemals Vivianne kennengelernt. Die Begegnung mit ihr war für ihn ein Wendepunkt gewesen, sowohl beruflich als auch privat. Sie hatte ihn bezaubert wie noch keine andere Frau, und nun verwirklichte er ihren Traum.
Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, zum Hörer zu greifen und sie anzurufen. Es war bereits das vierte Mal an diesem Tag, aber beim Klang ihrer Stimme kribbelte es in seinem ganzen Körper. Mit angehaltenem Atem wartete er darauf, dass sie ans Telefon ging.
»Hallo, mein Liebling«, sagte er, nachdem sie sich gemeldet hatte. »Ich wollte mich nur erkundigen, wie es dir geht.«
»Erling«, antwortete sie in diesem besonderen Ton, bei dem er sich wie ein liebeskranker Jüngling vorkam. »Es geht mir noch genauso gut wie bei deinem letzten Anruf vor einer Stunde.«
»Fein.« Er grinste dämlich. »Ich wollte mich nur vergewissern, dass es dir gut geht.«
»Ich weiß, und dafür liebe ich dich. Aber wir haben vor der Einweihung noch viel zu erledigen, und du willst doch wohl nicht, dass ich bis spät in die Nacht arbeiten muss?«
»Auf keinen Fall, mein Schatz.«
Er beschloss, sie nun nicht mehr zu stören. Die Abende mit ihr waren ihm heilig.
»Sei schön fleißig, das bin ich hier auch.« Er schmatzte ein paar Küsse in den Hörer und legte auf. Dann lehnte er sich in seinem Bürostuhl zurück, faltete die Hände im Nacken und malte sich genüsslich die Freuden aus, die ihn heute noch erwarteten.
Im Haus roch es abgestanden. Annie machte alle Fenster und Türen weit auf und ließ den frischen Wind durch die Räume wehen. Im starken Luftzug fiel beinahe eine Vase um, aber sie fing sie im letzten Moment auf.
Sam lag in dem kleinen Zimmer neben der Küche. Sie hatten es in all den Jahren als Gästezimmer bezeichnet, obwohl es eigentlich ihr gehörte. Ihre Eltern hatten im Obergeschoss geschlafen. Sie warf einen Blick auf ihn, legte sich ein Tuch um die Schultern und nahm den großen, rostigen Schlüssel von dem Haken neben der Haustür, wo er immer hing. Dann ging sie zu den Klippen. Der Wind blies ihr durch die Kleidung, als sie mit dem Rücken zum Haus den Horizont betrachtete. Das einzige andere Gebäude auf der Insel war der Leuchtturm. Der Bootsschuppen unten am Anleger war so klein, dass er nicht zählte.
Sie wanderte hinüber zum Leuchtturm. Gunnar musste das Schloss geölt haben, denn der Schlüssel ließ sich erstaunlich leicht drehen. Knarrend öffnete sich die Tür. Dahinter begannen gleich die Stufen. Sie hielt sich am Geländer fest, als sie die schmale, steile Treppe hochstieg.
Die Aussicht war atemberaubend schön, das hatte sie immer gefunden. Auf der einen Seite sah man nur das Meer und den Horizont, auf der anderen breiteten sich die Schären und Inseln aus. Der Leuchtturm wurde schon seit vielen Jahren nicht mehr benutzt. Nun stand er auf der Insel wie ein Denkmal vergangener Zeiten. Die Lampe war aus, und die gusseisernen Mantelplatten und Bolzen rosteten durchs Salzwasser und den Wind langsam vor sich hin. Als Kind hatte sie es geliebt, hier oben zu spielen. Es war so eng wie in einer Puppenstube hoch über der Erde. Nur ein Bett, in dem sich die Leuchtturmwärter während ihrer langen Schichten ausruhten, und ein Stuhl, von dem aus man das Fahrwasser beobachten konnte, passten in den Raum.
Sie legte sich auf das Bett. Die Tagesdecke verströmte einen muffigen Geruch, aber die Geräusche hörten sich noch genauso an wie in ihrer Kindheit. Das Kreischen der Sturmmöwen, die Wellen, die gegen die Klippen schlugen, und die knirschenden und ächzenden Laute, die der Leuchtturm von sich gab. Damals war alles so einfach gewesen. Ihre Eltern hatten sich besorgt gefragt, ob sie sich als einziges Kind auf der Insel nicht langweilen würde. Aber das hätten sie nicht gemusst. Sie liebte es, hier zu sein. Und allein war sie auch nicht gewesen. Doch das konnte sie ihnen nicht erklären.
Seufzend schaufelte Mats Severin die Papiere auf seinem Schreibtisch von einer Seite zur anderen. Heute war so ein Tag, an dem er nur an sie denken konnte. Nicht aufhören konnte, sich Fragen zu stellen. An diesen Tagen schaffte er nicht viel, aber sie wurden inzwischen immer seltener. Er hatte angefangen loszulassen, das redete er sich zumindest ein. In Wahrheit würde ihm das wohl niemals vollständig gelingen. Noch immer sah er ihr Gesicht ganz deutlich vor sich, und im Grunde war er dankbar dafür. Gleichzeitig wünschte er, dass die Bilder endlich verblassen würden.
Er versuchte, sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren. An guten Tagen machte es ihm mitunter sogar Spaß. Es war eine Herausforderung, sich in die Finanzen einer Gemeinde einzuarbeiten, wo ständig zwischen politischer Rücksichtnahme und marktwirtschaftlicher Vernunft abgewogen werden musste. In den Monaten, die er hier schon arbeitete, hatte er natürlich viel Zeit auf das Projekt Badis verwendet. Er freute sich darüber, dass das alte Gebäude endlich restauriert worden war. Genau wie der Großteil der Leute aus Fjällbacka, ob sie nun noch hier wohnten oder längst weggezogen waren, hatte er jedes Mal, wenn er an dem einst so schönen Gebäude vorbeikam, bedauert, dass man es einfach verfallen ließ. Nun erstrahlte es wieder im alten Glanz.
Hoffentlich behielt Erling recht, wenn er dem Betrieb einen so gigantischen Erfolg versprach. Mats war skeptisch. Das Projekt hatte allein für den Umbau enorme Summen verschlungen, und der vorgelegte Businessplan gründete sich auf viel zu optimistische Berechnungen. Mehrmals hatte er versucht, seine Einwände vorzubringen, war aber auf taube Ohren gestoßen. Außerdem hatte er das ungute Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Dabei war das Projekt von ihm immer wieder durchgerechnet worden, festgestellt hatte er lediglich, dass die bereits entstandenen Kosten schwindelerregend hoch waren.
Er warf einen Blick auf die Uhr. Zeit fürs Mittagessen. Richtigen Appetit hatte er schon lange nicht mehr, aber er musste etwas essen. Heute war Donnerstag, und das bedeutete, dass es im Källaren Pfannkuchen und Erbsensuppe gab. Ein bisschen würde er wohl runterbekommen.
Nur die nächsten Angehörigen sollten bei der Beisetzung anwesend sein. Die anderen verschwanden in Richtung Ort. Erica umklammerte Patriks Hand. Sie gingen direkt hinter dem Sarg, und sie hatte das Gefühl, dass ihr jeder Schritt einen Stoß ins Herz versetzte. Sie hatte sich sehr bemüht, Anna davon abzuhalten, sich das anzutun, aber ihre Schwester hatte auf einer richtigen Beerdigung bestanden. Da dieser Wunsch sie vorübergehend aus ihrem apathischen Zustand gerissen hatte, gab Erica es schließlich auf und war bei allen notwendigen Vorbereitungen behilflich, damit Anna und Dan ihren Sohn begraben konnten.
In einem Punkt jedoch hatte sie sich ihrer Schwester nicht gebeugt. Anna wollte alle Kinder dabeihaben, aber Erica hatte darauf bestanden, dass die kleineren zu Hause blieben. Nur die beiden Ältesten, Dans Töchter Belinda und Malin, kamen mit. Auf Lisen, Adrian, Emma und Maja passte Patriks Mutter Kristina auf. Auf die Zwillinge natürlich auch. Erica hatte befürchtet, dass es Kristina zu viel würde, aber ihre Schwiegermutter hatte ihr versichert, dass die Kinder die zwei Stunden, die die Beerdigung dauerte, in ihrer Obhut überleben würden.
Sie spürte einen Schmerz in der Brust, als sie Annas fast kahlen Kopf vor sich sah. Die Ärzte hatten ihr die Haare abrasieren und ein Loch in den Schädel bohren müssen, um den Druck entweichen zu lassen, der sich darin aufgebaut hatte und dauerhafte Schäden zu verursachen drohte. Nun war auf ihrem Kopf ein zarter Flaum gewachsen, aber er wirkte dunkler als vorher.
Im Gegensatz zu Anna und der Fahrerin in dem anderen Auto, die bei dem Zusammenstoß ums Leben gekommen war, hatte Erica unglaubliches Glück gehabt. Sie kam mit einer Gehirnerschütterung und ein paar gebrochenen Rippen davon. Die Zwillinge waren zwar klein, als sie per Notkaiserschnitt auf die Welt geholt wurden, aber kräftig und gesund genug, um nach zwei Monaten aus der Klinik entlassen zu werden.
Erica brach beinahe in Tränen aus, als ihr Blick von dem Flaum auf Annas Kopf zu dem kleinen weißen Sarg wanderte. Abgesehen von den schweren Kopfverletzungen hatte sich Anna den Beckenknochen gebrochen. Auch bei ihr wurde ein Notkaiserschnitt durchgeführt, aber das Kind hatte so schwere Verletzungen erlitten, dass die Ärzte ihnen nicht viel Hoffnung machten. Nach einer Woche hatte der kleine Junge aufgehört zu atmen.
Das Begräbnis hatte nicht stattfinden können, solange Anna im Krankenhaus bleiben musste. Gestern durfte sie endlich nach Hause. Und heute wurde ihr Sohn beerdigt, dem ein Leben voller Liebe bevorgestanden hätte. Erica sah, wie Dan seine Hand auf Annas Schulter legte, nachdem er den Rollstuhl vorsichtig neben das Grab geschoben hatte. Anna schüttelte die Hand ab. Das war schon seit dem Unfall so. Ihr Schmerz schien derart groß zu sein, dass sie ihn nur allein ertrug. Dan dagegen brauchte jemanden, mit dem er den Schmerz hätte teilen können, doch nicht irgendjemanden. Patrik und Erica hatten versucht, mit ihm zu reden, und alle in seiner Umgebung hatten getan, was sie konnten. Aber er wollte seine Trauer nur mit Anna teilen. Und sie konnte es nicht.
Erica fand Annas Reaktion verständlich. Sie kannte ihre Schwester so gut und wusste, was sie durchgemacht hatte. Das Leben hatte Anna bereits einiges zugemutet, und das hier würde vielleicht alles zum Einsturz bringen.
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Autoren-Porträt von Camilla Läckberg
Camilla Läckberg, geb. 1974, ist verheiratet und hat drei Kinder. Sie stammt aus Fjällbacka der kleine Ort und seine Umgebung sind Schauplatz ihrer Bücher. Ihre Kriminalromane erscheinen in dreißig Ländern und wurden bisher über sechs Millionen mal verkauft. Camilla Läckberg lebt in Stockholm.
Bibliographische Angaben
- Autor: Camilla Läckberg
- 2013, 480 Seiten, Maße: 14,2 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Frey, Katrin
- Übersetzer: Katrin Frey
- Verlag: BLANK
- ISBN-10: 3471350802
- ISBN-13: 9783471350805
- Erscheinungsdatum: 04.01.2013
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