Der Nachtzirkus
Der Zirkus der Träume: eine zauberhafte, geheimnisvolle Welt. Hier findet der Wettbewerb zweier verfeindeter Magier statt. Ihre beiden Kinder sollen den Kampf auf Leben und Tod entscheiden. Doch als sich Celia und Marco begegnen, verlieben sie sich...
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Produktinformationen zu „Der Nachtzirkus “
Der Zirkus der Träume: eine zauberhafte, geheimnisvolle Welt. Hier findet der Wettbewerb zweier verfeindeter Magier statt. Ihre beiden Kinder sollen den Kampf auf Leben und Tod entscheiden. Doch als sich Celia und Marco begegnen, verlieben sie sich unsterblich ineinander. Gefangen im tödlichen Wettstreit ihrer Väter ringen sie um ihre Liebe und ihr Leben.
Lese-Probe zu „Der Nachtzirkus “
Der Nachtzirkus von Erin MorgensternGespannte Erwartung
Der Zirkus kommt überraschend.
Es gibt keine Ankündigung, keine Reklametafeln oder Plakate an Litfaßsäulen, keine Artikel und Zeitungsanzeigen. Plötzlich ist er da, wie aus dem Nichts.
Die hohen Zelte sind schwarzweiß gestreift, Gold und Purpur fehlen. Bis auf die angrenzenden Bäume und umliegenden Wiesen sieht man keine Farben. Schwarzweiße Streifen vor grauem Himmel, eine farblose Welt aus Zelten in unterschiedlichen Formen und Größen, umschlossen von einem kunstvoll geschmiedeten Eisenzaun. Selbst die wenigen Flecken Erde, die man dahinter sieht, sind schwarz oder weiß, bemalt oder bestäubt oder mit einem anderen Zirkustrick gefärbt.
Für Besucher ist er nicht geöffnet. Noch nicht.
Nach wenigen Stunden weiß die ganze Stadt Bescheid. Am Nachmittag gelangt die Nachricht auch in die umliegenden Ortschaften. Von Mund zu Mund verbreitet sich die Kunde schneller als durch fette Lettern auf Flugblättern oder Plakaten. Ein Zirkus, der plötzlich auftaucht, ist außergewöhnlich und spektakulär. Die Leute bestaunen die schwindelerregende Höhe einiger Zelte und blicken auf eine große Uhr über dem Eingangstor, die sich nur schwer beschreiben lässt. Ein schwarzes Schild hängt am Tor, auf dem in weißer Schrift zu lesen ist:
Vorstellungen:
NUR IN DER NACHT
... mehr
»Ein Zirkus, der nur nachts öffnet?«, fragen die Leute. Niemand weiß darauf eine Antwort, aber gegen Abend hat sich vor dem Eingang schon eine beträchtliche Menschenmenge versammelt.
Natürlich bist auch du darunter. Deine Neugier hat wie immer gesiegt. Du stehst im schwindenden Licht, den Schal gegen den kühlen Abendwind eng um den Hals geschlungen, und möchtest mit eigenen Augen sehen, was das für ein Zirkus ist, der seine Tore erst im Dunkeln öffnet.
Das Kassenhäuschen hinter dem Eingangstor ist geschlossen. Auf dem Platz ist alles ruhig, nur hin und wieder kräuseln sich die Zeltbahnen im Wind. Das Einzige, was sich bewegt, sind die Zeiger der großen, schmiedeeisernen Uhr, sofern man so ein Wunderwerk noch Uhr nennen kann.
Das Gelände wirkt leer und verlassen. Aber dir ist, als könntest du im Duft des frischen Herbstlaubs gebrannten Zucker im Abendwind riechen. Eine feine Süße an den Rändern der Kälte.
Die Sonne verschwindet hinter dem Horizont, das letzte Licht der Dämmerung wird zusehends schwächer. Die Leute um dich herum werden langsam ungeduldig, ein Meer scharrender Füße und Gemurmel um die Frage, ob man nicht doch lieber gehen und den Abend im Warmen verbringen soll. Auch du überlegst gerade, aufzubrechen, als es losgeht.
Erst ist es nur ein Rauschen, kaum hörbar durch den Wind und die Stimmen. Wie ein Teekessel kurz vor dem Kochen. Dann kommt das Licht.
Überall auf den Zelten erscheinen kleine Lichter, als wäre ein Schwarm gleißender Glühwürmchen auf dem Zirkus gelandet. Die wartende Menge verstummt beim Anblick des strahlenden Schauspiels. In deiner Nähe hält jemand die Luft an. Ein kleines Kind klatscht verzückt in die Hände.
Und dann erscheint vor den funkelnden Zelten im nächtlichen Himmel ein Schild.
Hoch über dem Eingang, verborgen hinter schmiedeeisernen Schnörkeln, blitzen weitere Glühlichter auf. Sie knistern und werden immer heller, manchmal versprühen sie auch weiße Funken und Rauch. Die Leute am Eingang treten ein paar Schritte zurück.
Am Anfang ist es nur wie ein zufälliges Flackern. Doch dann wird deutlich, dass die Glühwürmchen Buchstaben bilden. Der erste erkennbare Buchstabe ist ein C. Dann folgen sonderbarerweise ein q und mehrere e's. Als die letzte Glühbirne erstrahlt und Rauch und Funken sich zerstreut haben, ist das hell leuchtende Schild in seiner ganzen Kunstfertigkeit zu lesen. Du lehnst dich nach links, um besser sehen zu können, und entzifferst den Schriftzug:
Le Cirque des Rêves
Einige in der Menge lächeln wissend, andere runzeln die Stirn und schauen fragend zu ihrem Nachbarn. Ein Kind neben dir zupft seine Mutter am Ärmel und will von ihr wissen, was da steht.
»Der Zirkus der Träume«, lautet die Antwort. Das Mädchen lächelt glücklich.
Dann bebt das Eisentor kurz und öffnet sich wie von selbst. Die Torflügel schwingen auf und laden die Menschen ein.
Jetzt ist der Zirkus geöffnet.
Jetzt darfst du eintreten.
Teil 1
PRIMORDIUM
Unerwartete Post
NEW YORK, FEBRUAR 1873
Der Zauberkünstler Prospero bekommt immer ziemlich viel Post über das Theaterbüro, aber dies ist der erste Abschiedsbrief einer Toten, der ihn erreicht, und auch der erste Brief, der ihm am Mantelaufschlag eines fünfjährigen Mädchens überbracht wird.
Der Rechtsanwalt, der mit dem Mädchen ins Theater kommt, verweigert dem protestierenden Direktor jede Erklärung, er setzt es einfach ab, zuckt die Schultern, tippt sich an den Hut und verschwindet.
Der Theaterdirektor muss den Brief gar nicht erst lesen, um zu wissen, wer das Mädchen ist. Die hellen Augen unter den unbändigen braunen Locken sind kleine, weit geöffnete Abbilder der Augen des Zauberers. Er nimmt sie an die Hand, ihre kleinen Finger liegen zaghaft in seinen. Trotz der Wärme im Theater weigert sie sich, ihren Mantel auszuziehen, und schüttelt auf die Fragen nach dem Grund immer nur beharrlich den Kopf.
Der Direktor nimmt das Mädchen mit in sein Büro, da er nicht weiß, was er sonst mit ihr anfangen soll. Umgeben von Schachteln mit Eintrittskarten und Kassenbelegen, sitzt sie still auf einem unbequemen Stuhl unter einer Reihe alter, eingerahmter Zirkusplakate. Der Direktor bringt ihr einen Tee mit einem Extrastück Zucker, den sie aber nicht trinkt und kalt werden lässt.
Das Mädchen rührt und regt sich nicht auf seinem Stuhl. Mit im Schoß gefalteten Händen sitzt sie mucksmäuschenstill da. Ihr Blick ist auf ihre knapp über dem Boden baumelnden Stiefel gerichtet. Eine Schuhspitze ist abgewetzt, aber sie sind tadellos gebunden. Der versiegelte Umschlag bleibt am zweitobersten Knopf ihres Mantels hängen, bis Prospero eintrifft.
Sie hört ihn, noch ehe sich die Tür öffnet, denn im Gegensatz zum vorsichtigen Gang des Direktors, der mehrmals wie auf Samtpfoten ein- und ausgegangen war, hallen Prosperos schwere Schritte im Gang wider.
»Da ist noch eine, ähm, Sendung für Sie«, sagt der Direktor beim Öffnen der Tür, führt ihn in das beengte Büro und stiehlt sich davon, um andere Angelegenheiten zu erledigen und dem Treffen nicht beiwohnen zu müssen.
Der Zauberer steht in seinem weißgesäumten Samtumhang mit einem Stapel Briefe in der Hand im Büro und schaut sich nach einer Schachtel oder Kiste um. Erst als das Mädchen zu ihm aufblickt und er seine eigenen Augen erkennt, versteht er, was der Direktor gemeint hat.
Zauberer Prosperos erste Reaktion auf die Begegnung mit seiner Tochter ist ein schlichtes: »Verdammt.«
Das Mädchen blickt wieder auf seine Schuhe.
Der Zauberer schließt die Tür hinter sich, lässt den Briefstapel auf den Schreibtisch neben die Teetasse fallen und mustert das Mädchen.
Er reißt ihr den Umschlag vom Mantel, ohne die Klammer vom Knopf zu lösen.
Obwohl der Brief an seinen Künstlernamen adressiert ist, wird er im beiliegenden Schreiben mit seinem richtigen Namen angesprochen: Hector Bowen.
Er überfliegt den Inhalt, ohne auch nur die geringste Regung zu zeigen, die der Verfasser gewünscht haben könnte. Nur eine Stelle ist ihm wichtig und lässt ihn innehalten: dass dieses Mädchen, das sich nun in seiner Obhut befindet, offenbar seine Tochter ist, und dass sie Celia heißt.
»Sie hätte dich Miranda nennen sollen«, sagt der Zauberer kichernd zu dem Mädchen. »Aber wahrscheinlich war sie dazu nicht schlau genug.«
Das Mädchen blickt wieder zu ihm hoch. Dunkle schmale Augen unter üppigen Locken.
Die Teetasse auf dem Schreibtisch beginnt zu wackeln. Die Oberfläche der Flüssigkeit schlägt kleine Wellen, und über die Glasur ziehen sich Risse; dann zerfällt das geblümte Porzellan in Scherben. Der kalte Tee überschwemmt die Untertasse und tropft auf den Boden, wo er auf dem gebohnerten Holz klebrige Spuren zieht.
Das Lächeln des Zauberers verschwindet. Mit gerunzelter Stirn schaut er auf den Schreibtisch, und die Teepfütze erhebt sich langsam wieder vom Boden. Die Scherben fliegen auf und ordnen sich um die Flüssigkeit herum, bis die Tasse wieder heil ist und feiner Dampf von ihr aufsteigt.
Das Mädchen starrt mit großen Augen auf die Tasse.
Hector Bowen nimmt das Gesicht seiner Tochter in seine behandschuhte Hand und schaut sie prüfend an. Als er sie wieder loslässt, sind auf ihren Wangen die roten Abdrücke seiner Finger zu sehen.
»Du könntest interessant sein«, sagt er.
Das Mädchen bleibt stumm.
In den folgenden Wochen unternimmt er mehrere Versuche, ihr einen neuen Namen zu geben, aber sie hört nur auf Celia.
Einige Monate später - der Zauberer ist zu dem Schluss gekommen, dass sie nun so weit sei - schreibt er seinerseits einen Brief. Und obwohl er ihn nicht adressiert, erreicht er seinen Bestimmungsort jenseits des Ozeans ohne Probleme.
Eine Wette unter Ehrenmännern
LONDON, OKTOBER 1873
Heute Abend ist die letzte Vorstellung eines sehr kurzen Engagements. Zauberer Prospero hat London schon seit einiger Zeit nicht mehr beehrt und war nur für eine Woche gebucht, Abendauftritte, keine Nachmittage.
Trotz der unverschämt teuren Preise waren die Eintrittskarten schnell ausverkauft, und das Theater ist so voll, dass sich viele Damen gegen die stickige Hitze, die trotz des herbstlichen Wetters draußen im Zuschauerraum herrscht, Kühlung ins Dekolleté fächern.
Irgendwann im Laufe des Abends verwandeln sich alle Fächer in kleine Vögel, die unter tosendem Applaus durch das Theater schwirren. Als die Vögel ihren Besitzerinnen dann wieder ordentlich gefaltet in den Schoß fallen, nimmt der Applaus noch zu - obwohl einige Damen vor Staunen vergessen zu klatschen.
Ein Mann im grauen Anzug, der links der Bühne in einer Loge sitzt, applaudiert nicht, weder bei dieser noch bei anderen Darbietungen. Er beobachtet den Mann auf der Bühne während des gesamten Abends mit gleichbleibend prüfendem Blick. Selbst bei Kunststücken, die dem gebannten Publikum begeisterten Applaus oder erstaunte Ausrufe entlocken, zuckt er nicht mit der Wimper.
Nach der Vorstellung schiebt sich der Mann im grauen Anzug geschickt durch die Menschenmenge im Theaterfoyer. Unbemerkt schlüpft er durch eine Tür hinter einem Vorhang zu den Garderoben hinter der Bühne. Kein Bühnenarbeiter oder Ankleider schenkt ihm Beachtung.
Am Ende des Flurs klopft er mit dem Silberknauf seines Gehstocks an eine Tür.
Die Tür fliegt auf wie von Geisterhand und gibt den Blick frei auf eine unaufgeräumte Garderobe, gesäumt von Spiegeln, die Zauberer Prospero aus unterschiedlichen Blickwinkeln zeigen.
Sein Frack liegt unordentlich auf einem Samtsessel, die Weste über seinem spitzenbesetzten Hemd steht offen. Der Zylinder, während der Vorstellung ein wichtiges Requisit, befindet sich auf einem Hutständer.
Auf der Bühne wirkte Prospero jünger, die grellen Scheinwerfer und das dicke Make-up konnten sein Alter gut verbergen. Das Gesicht in den Spiegeln ist faltig, sein Haar schon sehr grau. Aber das Grinsen beim Anblick des Mannes in der Tür hat etwas Jugendliches.
»Du fandest es schrecklich, nicht wahr?«, fragt er das geisterhafte graue Spiegelbild, ohne sich ihm zuzuwenden. Mit einem Taschentuch, das früher vielleicht einmal weiß war, wischt er sich einen dicken Rest Puder aus dem Gesicht.
»Schön, dich zu sehen, Hector«, sagt der Mann im grauen Anzug und schließt leise die Tür.
»Dir war jede Sekunde zuwider, das weiß ich genau«, sagt Hector Bowen lachend. »Ich habe dich beobachtet, gib dir also keine Mühe und streite es ab.«
Er dreht sich um und reicht dem Mann im grauen Anzug seine Hand, die jedoch ignoriert wird. Hector zuckt darauf nur die Schultern und winkt mit theatralischer Geste in Richtung der gegenüberliegenden Wand. Der Samtsessel rutscht aus seiner mit Koffern und Schals vollgepackten Ecke hervor, während der Frack wie ein Schatten emporschwebt und sich gehorsam in einen Schrank hängt.
»Bitte, nimm Platz«, sagt Hector. »Ich fürchte allerdings, hier ist es nicht so bequem wie oben.«
»Du weißt, was ich von solchen Aufführungen halte«, sagt der Mann im grauen Anzug, zieht seine Handschuhe aus und fährt damit über den Sessel, bevor er sich setzt. »Billige Tricks als Zauberkunst und Magie verkaufen. Und dafür auch noch Geld verlangen.«
Hector wirft das puderverschmierte Taschentuch auf einen Tisch voller Pinsel und Schminktöpfe.
»Kein Mensch im Publikum glaubt auch nur eine Sekunde lang, dass das, was ich da oben mache, echt ist«, sagt er und zeigt in die ungefähre Richtung der Bühne. »Das ist ja das Schöne daran. Hast du die verrückten Apparate gesehen, die sich angebliche Zauberer für die banalsten Tricks zurechtbasteln? Sie sind alle nur Fische mit Federn, die dem Publikum weismachen wollen, sie könnten fliegen, und ich bin der Vogel in ihrer Mitte. Das Publikum kennt den Unterschied nicht, es merkt nur, dass ich besser bin.«
»Das ist noch lange kein Grund, es zu täuschen.«
»Dazu kommen die Leute doch her«, sagt Hector. »Und ich kann es besser als die meisten anderen. Wär doch Verschwendung, sich die Gelegenheit entgehen zu lassen. Außerdem springt dabei mehr heraus, als man meinen sollte. Möchtest du etwas trinken? Irgendwo müssen Flaschen versteckt sein, ich weiß allerdings nicht, ob es auch Gläser gibt.« Er sucht auf einem Tisch, schiebt Zeitungsstapel und einen leeren Vogelkäfig beiseite.
»Nein, danke«, sagt der Mann im grauen Anzug, setzt sich im Sessel zurecht und legt die Hände auf den Knauf seines Gehstocks. »Ich fand deine Vorstellung befremdlich, und die Reaktion des Publikums recht verblüffend. Du warst nicht sehr genau.«
»Wenn sie mich für einen Blender halten sollen wie den Rest meiner Kollegen, darf ich nicht zu gut sein«, sagt Hector mit einem Lachen. »Aber danke, dass du meine Vorstellung durchgestanden hast. Es wundert mich, dass du überhaupt da warst, ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben. Die Loge war die ganze Woche für dich reserviert.«
»Ich schlage Einladungen selten aus. In deinem Brief stand, du willst mir etwas vorschlagen.«
»Allerdings!«, sagt Hector und klatscht in die Hände. »Ich hatte gehofft, dass du zu einem Spiel bereit bist. Wir haben schon lange nicht mehr gespielt. Aber zuerst möchte ich dir mein neues Projekt vorstellen.«
»Ich dachte, du hast das Unterrichten aufgegeben.«
»Hatte ich auch, aber dieser einmaligen Gelegenheit konnte ich nicht widerstehen.« Hector geht zu einer Tür, die fast gänzlich hinter einem großen Standspiegel verborgen ist. »Celia, meine Liebe«, ruft er in das benachbarte Zimmer und kehrt dann zu seinem Stuhl zurück.
Wenig später erscheint ein kleines Mädchen in der Tür, viel zu hübsch gekleidet für das Chaos und die Schäbigkeit der Umgebung. Nur Schleifen und Spitze, tadellos wie eine neue Puppe, bis auf die widerspenstigen Locken, die sich aus ihren Zöpfen gelöst haben. Als sie sieht, dass ihr Vater nicht allein ist, bleibt sie zögernd an der Schwelle stehen.
»Schon gut, meine Liebe. Komm her, nur zu«, sagt Hector und winkt sie mit der Hand. »Das ist ein Kollege von mir, du musst nicht schüchtern sein.«
Sie tritt ein paar Schritte näher und macht einen schönen Knicks, so dass der Spitzensaum ihres Kleides über den abgelaufenen Holzfußboden streift.
»Das ist meine Tochter Celia«, sagt Hector zu dem Mann im grauen Anzug und legt dem Mädchen seine Hand auf den Kopf. »Celia, das ist Alexander.«
»Freut mich«, sagt sie. Ihre Stimme ist kaum lauter als ein Flüstern und tiefer, als man von einem Mädchen ihres Alters erwarten würde.
Der Mann im grauen Anzug nickt ihr höflich zu.
»Ich möchte, dass du diesem Herrn zeigst, was du kannst«, sagt Hector. Er zieht eine silberne Taschenuhr an einer langen Kette aus seiner Weste und legt sie auf den Tisch. »Fang an.«
Das Mädchen macht große Augen.
»Aber ich darf es niemandem zeigen«, sagt sie. »Das musste ich dir versprechen.«
»Dieser Herr ist nicht irgendwer«, erwidert Hector lachend.
»Du hast gesagt, keine Ausnahmen«, gibt Celia zurück.
Das Lächeln ihres Vaters verschwindet. Er packt sie an den Schultern und schaut ihr streng in die Augen.
»Das ist ein Sonderfall«, sagt er. »Bitte zeig dem Herrn, was du kannst. Genau wie im Unterricht.« Er schiebt sie zum Tisch, auf dem die Uhr liegt.
Das Mädchen nickt ernst und wendet seine Aufmerksamkeit der Uhr zu, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.
Gleich darauf beginnt die Uhr langsam zu rotieren, dreht sich in Kreisen auf dem Tisch und zieht die Kette in einer Spirale hinter sich her. Dann erhebt sich die Uhr vom Tisch, schwebt in der Luft und verweilt dort, als hinge sie im Wasser.
Hector blickt erwartungsvoll zu dem Mann im grauen Anzug.
»Beeindruckend«, sagt der Mann. »Aber ziemlich einfach.« Celia runzelt die Stirn über ihren dunklen Augen: Die Uhr
zerspringt, ihr Innenleben zerstiebt in alle Richtungen. »Celia«, sagt ihr Vater.
Sein scharfer Tonfall lässt sie erröten, sie murmelt eine Entschuldigung. Zeiger, Rädchen und Federn fliegen zurück in die Uhr und sortieren sich, bis alles wieder an Ort und Stelle ist und die Uhr weitertickt, als wäre nichts geschehen.
»Na, das ist schon etwas beeindruckender«, gibt der Mann im grauen Anzug zu. »Aber sie gerät schnell in Wut.«
»Sie ist noch jung«, sagt Hector, tätschelt Celia den Kopf und ignoriert ihre missmutige Miene. »Und sie hat das in einem knappen Jahr gelernt. Wenn sie erwachsen ist, wird sie unschlagbar.«
»Ich könnte das jedem Kind von der Straße beibringen. Unschlagbarkeit ist eine Frage der persönlichen Einschätzung und leicht zu widerlegen.«
»Ha!«, ruft Hector aus. »Du spielst also mit!«
Der Mann im grauen Anzug zögert kurz, dann nickt er. »Wenn es ein bisschen anspruchsvoller ist als letztes Mal, ja, dann bin ich interessiert«, sagt er. »Vielleicht.«
»Natürlich wird es anspruchsvoller!«, sagt Hector. »Ich schicke ein Naturtalent ins Rennen. Und das verwettet man nicht so ohne weiteres.«
»Naturtalent ist ein fragwürdiges Phänomen. Man könnte von Neigung sprechen, aber angeborene Fähigkeiten sind äußerst selten.«
»Sie ist mein Kind, natürlich hat sie angeborene Fähigkeiten.«
»Du sagst selbst, dass sie Unterricht hatte«, gibt der Mann im grauen Anzug zu bedenken. »Wie kannst du dir dann sicher sein?«
»Celia, wann hast du mit dem Unterricht angefangen?«, fragt Hector, ohne sie anzusehen.
»Im März«, antwortet sie.
»In welchem Jahr, meine Liebe?«, fragt Hector.
»Na, in diesem«, erwidert sie, als habe er eine besonders dumme Frage gestellt.
»Acht Monate Unterricht«, stellt Hector klar. »Mit knapp sechs Jahren. Wenn ich mich recht entsinne, fängst du mit deinen Schülern manchmal etwas früher an. Celia ist eindeutig weiter, als sie es ohne Naturtalent wäre. Sie hat diese Uhr schon beim ersten Versuch zum Schweben gebracht.«
Der Mann im grauen Anzug wendet sich an Celia.
»Dass sie kaputtgeht, war nur Zufall, oder?«, fragt er und zeigt zu der Uhr auf dem Tisch. Celia zieht die Stirn kraus und nickt zögerlich.
»Für ein so kleines Mädchen zaubert sie bemerkenswert gut«, sagt er zu Hector. »Aber ein aufbrausendes Temperament ist immer ein misslicher Faktor. Es führt leicht zu unbesonnenem Verhalten.«
»Das verliert sich bestimmt oder sie lernt, sich zu beherrschen. Es hat nichts zu bedeuten.«
Der Mann im grauen Anzug behält das Mädchen weiter im Auge, während er mit Hector spricht. Statt Worten hört Celia plötzlich sonderbare Geräusche aus seinem Mund kommen, und sie runzelt die Stirn, als die Erwiderungen ihres Vaters genauso konfus klingen.
»Du würdest um dein eigenes Kind wetten?«, fragt der Mann im grauen Anzug ungläubig.
»Sie verliert nicht«, sagt Hector. »Ich schlage vor, du suchst dir einen Schüler, von dem du dich leicht trennen kannst, falls du nicht schon einen hast.«
»Und ihre Mutter hat dazu keine Meinung?«
»Ganz recht.«
Der Mann im grauen Anzug sieht das Mädchen noch eine Weile an, ehe er fortfährt, sie versteht seine Worte allerdings immer noch nicht.
»Ich kann dein Vertrauen in ihre Fähigkeit verstehen, aber richte dich darauf ein, dass du sie verlierst, wenn der Wettstreit nicht zu ihren Gunsten ausgeht. Ich werde jemanden finden, der eine echte Herausforderung für sie ist. Andernfalls gäbe es keinen Grund für mich, an der Sache teilzunehmen. Ihr Sieg steht noch nicht fest.«
»Das Risiko gehe ich gerne ein«, sagt Hector, ohne seine Tochter auch nur anzusehen. »Wenn du es hier und jetzt offiziell machen möchtest, dann los.«
Der Mann im grauen Anzug blickt abermals zu Celia, und als er spricht, versteht sie seine Worte wieder.
»Na schön«, sagt er und nickt.
»Er hat gemacht, dass ich nicht richtig hören kann«, flüstert Celia, als ihr Vater sich zu ihr dreht.
»Ich weiß, Liebes, das war nicht sehr höflich«, sagt Hector und führt sie näher an den Sessel, wo der Mann sie mit Augen mustert, die fast so hellgrau sind wie sein Anzug.
»Konntest du schon immer solche Sachen?«, fragt er mit einem Blick auf die Uhr.
Celia nickt.
»Meine ... meine Mutter sagt, ich sei ein Kind des Teufels«, sagt sie leise.
Der Mann im grauen Anzug beugt sich vor und flüstert ihr etwas ins Ohr, zu leise für ihren Vater, um es zu hören. Ein verstohlenes Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht.
»Streck deine rechte Hand aus«, sagt er und lehnt sich in seinem Sessel zurück. Celia hält ihm sofort die offene Handfläche hin, ohne zu wissen, was sie erwartet. Aber der Mann im grauen Anzug legt nichts hinein. Stattdessen dreht er ihre Hand um und zieht sich einen silbernen Ring vom kleinen Finger. Er steckt ihn ihr auf den Ringfinger, obwohl er viel zu groß ist, und hält mit der anderen Hand ihren Arm fest.
Sie will gerade sagen, der Ring sei zwar sehr schön, passe aber nicht, da merkt sie, dass er schrumpft.
Ihre kurze Freude über den kleiner werdenden Ring wird bald von Schmerz überlagert, als der Ring an ihrem Finger immer enger wird und das Metall sich in ihre Haut brennt. Sie versucht sich zu befreien, aber der Mann im grauen Anzug hält ihren Arm fest umklammert.
Der Ring wird dünner, löst sich auf und hinterlässt eine leuchtend rote Narbe um Celias Finger.
Der Mann im grauen Anzug gibt ihren Arm frei. Celia zieht sich in eine Ecke zurück und starrt auf ihre Hand.
»Braves Mädchen«, sagt ihr Vater.
»Ich brauche eine Weile, um einen Spieler vorzubereiten«, sagt der Mann im grauen Anzug.
»Natürlich«, erwidert Hector. »Lass dir alle Zeit der Welt.« Er zieht sich einen goldenen Ring vom Finger und legt ihn auf den Tisch. »Der ist für ihn, wenn du ihn gefunden hast.«
»Du willst dir nicht selbst die Ehre geben?«
»Ich vertraue dir.«
Der Mann im grauen Anzug nickt und zieht ein Taschentuch aus seinem Mantel, nimmt den Ring, ohne ihn zu berühren, und steckt ihn in seine Tasche.
»Ich hoffe doch sehr, du machst das Ganze nicht nur, weil mein Spieler beim letzten Mal gewonnen hat.«
»Natürlich nicht«, antwortet Hector. »Ich mache das, weil ich eine Spielerin habe, die es mit jedem aufnehmen kann, den du ihr gegenüberstellst, und weil sich die Zeiten geändert haben. Unser Wettstreit könnte interessant werden. Im Übrigen glaube ich, dass ich in der Gesamtbilanz vorne liege.«
Der Mann im grauen Anzug ficht diese Behauptung nicht an, er betrachtet Celia nur weiterhin prüfend. Sie versucht sich seinem Blick zu entziehen, aber das Zimmer ist zu klein.
»Weißt du schon, wo das Ganze stattfinden soll?«, fragt er.
»Nicht direkt«, sagt Hector. »Ich dachte, es macht vielleicht mehr Spaß, wenn wir den Austragungsort noch offen lassen. Als Überraschung, wenn du so willst. Ich kenne einen Theaterproduzenten in London, der für Ungewöhnliches immer zu haben ist. Wenn es so weit ist, gebe ich ihm Bescheid, dann fällt ihm bestimmt etwas Passendes ein. Das Ganze auf neutralem Boden auszutragen wäre vermutlich das Beste, aber vielleicht möchtest du den Auftakt ja lieber auf deiner Seite des Teichs bestreiten.«
»Und wie heißt dieser Herr?«
»Chandresh. Chandresh Christophe Lefèvre. Angeblich ist er der uneheliche Sohn eines indischen Prinzen oder so ähnlich. Die Mutter war eine herumreisende Ballerina. Irgendwo in diesem Chaos habe ich seine Karte. Du wirst ihn mögen, er ist seiner Zeit immer voraus. Wohlhabend, exzentrisch. Ein bisschen zwanghaft, irgendwie unberechenbar, aber das ist bei Künstlern wohl immer so.« Der Papierstapel auf einem Schreibtisch verschiebt und vermischt sich, bis eine Visitenkarte obenauf liegt und durch den Raum segelt. Hector fängt sie auf und liest sie, bevor er sie dem Mann im grauen Anzug reicht. »Er gibt wundervolle Partys.«
Der Mann im grauen Anzug steckt sich die Karte in die Tasche, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
»Noch nie von ihm gehört«, sagt er. »Und im Übrigen halte ich nicht viel von öffentlichen Schauplätzen. Ich überlege mir das Ganze.«
»Unsinn, ohne Publikum macht es doch nur halb so viel Spaß. Dadurch kommen Einschränkungen und Probleme ins Spiel, die man erst mal lösen muss.«
Der Mann im grauen Anzug überdenkt dies kurz und nickt dann.
»Gibt es eine Offenlegungsklausel? Das wäre eigentlich fair, da ich deine Akteurin kenne.«
»Verzichten wir auf sämtliche Klauseln und halten uns nur an die üblichen Regeln, dann sehen wir, was passiert«, sagt Hector. »Bei diesem Spiel möchte ich keine strengen Vorgaben. Auch keine zeitlichen Beschränkungen. Ich überlasse dir sogar den ersten Zug.«
»Na schön. Abgemacht. Ich melde mich.« Der Mann im grauen Anzug steht auf und wischt sich unsichtbaren Staub vom Ärmel. »War mir ein Vergnügen, Miss Celia.«
Celia knickst wieder vorbildlich, beobachtet ihn dabei jedoch argwöhnisch.
Der Mann im grauen Anzug zieht zum Abschied den Hut vor Prospero, schlüpft zur Tür hinaus und verlässt das Theater. Wie ein Schatten bewegt er sich auf der immer noch belebten Straße.
Hector Bowen kichert in seiner Garderobe vor sich hin, während seine Tochter reglos in der Ecke steht und die Narbe an ihrer Hand betrachtet. Der Schmerz ist so schnell verschwunden wie der Ring, aber die rote Narbe bleibt.
Hector nimmt die silberne Taschenuhr vom Tisch und vergleicht die Zeit mit der Uhr an der Wand. Langsam zieht er die Uhr auf und sieht aufmerksam zu, wie die Zeiger um das Ziffernblatt kreisen.
»Celia«, fragt er, ohne sie anzusehen, »warum müssen wir die Uhr aufziehen?«
»Weil alles Kraft braucht«, antwortet sie gehorsam, den Blick noch immer auf ihre Hand gerichtet. »Wir müssen Kraft und Mühe in alles stecken, was wir verändern möchten.«
»Sehr gut.« Er schüttelt die Uhr vorsichtig und steckt sie wieder in die Tasche. »Warum hast du den Mann Alexander genannt?«, fragt Celia. »Das ist eine dumme Frage.«
»Aber so heißt er nicht.«
»Und woher willst du das wissen?«, fragt Hector seine Tochter, dreht ihr Kinn in seine Richtung und taxiert ihre dunklen Augen.
Celia erwidert seinen Blick und weiß nicht, wie sie es ihm erklären soll. Sie ruft sich den Mann im grauen Anzug in Erinnerung, seine hellen Augen und die strengen Züge, und überlegt, warum der Name nicht richtig zu ihm passt.
»Das ist nicht sein Name«, sagt sie. »Jedenfalls nicht der, den er immer hatte. Er trägt ihn wie seinen Hut. Damit er ihn ablegen kann, wenn er will. So wie bei dir mit Prospero.«
»Du bist noch klüger, als ich gehofft habe«, sagt Hector, ohne sich zu ihren Zweifeln am Namen seines Kollegen zu äußern. Er nimmt den Zylinderhut vom Ständer und stülpt ihn ihr über den Kopf, so dass er ihren fragenden Blick unter einem Käfig aus schwarzer Seide verhüllt.
...
»Ein Zirkus, der nur nachts öffnet?«, fragen die Leute. Niemand weiß darauf eine Antwort, aber gegen Abend hat sich vor dem Eingang schon eine beträchtliche Menschenmenge versammelt.
Natürlich bist auch du darunter. Deine Neugier hat wie immer gesiegt. Du stehst im schwindenden Licht, den Schal gegen den kühlen Abendwind eng um den Hals geschlungen, und möchtest mit eigenen Augen sehen, was das für ein Zirkus ist, der seine Tore erst im Dunkeln öffnet.
Das Kassenhäuschen hinter dem Eingangstor ist geschlossen. Auf dem Platz ist alles ruhig, nur hin und wieder kräuseln sich die Zeltbahnen im Wind. Das Einzige, was sich bewegt, sind die Zeiger der großen, schmiedeeisernen Uhr, sofern man so ein Wunderwerk noch Uhr nennen kann.
Das Gelände wirkt leer und verlassen. Aber dir ist, als könntest du im Duft des frischen Herbstlaubs gebrannten Zucker im Abendwind riechen. Eine feine Süße an den Rändern der Kälte.
Die Sonne verschwindet hinter dem Horizont, das letzte Licht der Dämmerung wird zusehends schwächer. Die Leute um dich herum werden langsam ungeduldig, ein Meer scharrender Füße und Gemurmel um die Frage, ob man nicht doch lieber gehen und den Abend im Warmen verbringen soll. Auch du überlegst gerade, aufzubrechen, als es losgeht.
Erst ist es nur ein Rauschen, kaum hörbar durch den Wind und die Stimmen. Wie ein Teekessel kurz vor dem Kochen. Dann kommt das Licht.
Überall auf den Zelten erscheinen kleine Lichter, als wäre ein Schwarm gleißender Glühwürmchen auf dem Zirkus gelandet. Die wartende Menge verstummt beim Anblick des strahlenden Schauspiels. In deiner Nähe hält jemand die Luft an. Ein kleines Kind klatscht verzückt in die Hände.
Und dann erscheint vor den funkelnden Zelten im nächtlichen Himmel ein Schild.
Hoch über dem Eingang, verborgen hinter schmiedeeisernen Schnörkeln, blitzen weitere Glühlichter auf. Sie knistern und werden immer heller, manchmal versprühen sie auch weiße Funken und Rauch. Die Leute am Eingang treten ein paar Schritte zurück.
Am Anfang ist es nur wie ein zufälliges Flackern. Doch dann wird deutlich, dass die Glühwürmchen Buchstaben bilden. Der erste erkennbare Buchstabe ist ein C. Dann folgen sonderbarerweise ein q und mehrere e's. Als die letzte Glühbirne erstrahlt und Rauch und Funken sich zerstreut haben, ist das hell leuchtende Schild in seiner ganzen Kunstfertigkeit zu lesen. Du lehnst dich nach links, um besser sehen zu können, und entzifferst den Schriftzug:
Le Cirque des Rêves
Einige in der Menge lächeln wissend, andere runzeln die Stirn und schauen fragend zu ihrem Nachbarn. Ein Kind neben dir zupft seine Mutter am Ärmel und will von ihr wissen, was da steht.
»Der Zirkus der Träume«, lautet die Antwort. Das Mädchen lächelt glücklich.
Dann bebt das Eisentor kurz und öffnet sich wie von selbst. Die Torflügel schwingen auf und laden die Menschen ein.
Jetzt ist der Zirkus geöffnet.
Jetzt darfst du eintreten.
Teil 1
PRIMORDIUM
Unerwartete Post
NEW YORK, FEBRUAR 1873
Der Zauberkünstler Prospero bekommt immer ziemlich viel Post über das Theaterbüro, aber dies ist der erste Abschiedsbrief einer Toten, der ihn erreicht, und auch der erste Brief, der ihm am Mantelaufschlag eines fünfjährigen Mädchens überbracht wird.
Der Rechtsanwalt, der mit dem Mädchen ins Theater kommt, verweigert dem protestierenden Direktor jede Erklärung, er setzt es einfach ab, zuckt die Schultern, tippt sich an den Hut und verschwindet.
Der Theaterdirektor muss den Brief gar nicht erst lesen, um zu wissen, wer das Mädchen ist. Die hellen Augen unter den unbändigen braunen Locken sind kleine, weit geöffnete Abbilder der Augen des Zauberers. Er nimmt sie an die Hand, ihre kleinen Finger liegen zaghaft in seinen. Trotz der Wärme im Theater weigert sie sich, ihren Mantel auszuziehen, und schüttelt auf die Fragen nach dem Grund immer nur beharrlich den Kopf.
Der Direktor nimmt das Mädchen mit in sein Büro, da er nicht weiß, was er sonst mit ihr anfangen soll. Umgeben von Schachteln mit Eintrittskarten und Kassenbelegen, sitzt sie still auf einem unbequemen Stuhl unter einer Reihe alter, eingerahmter Zirkusplakate. Der Direktor bringt ihr einen Tee mit einem Extrastück Zucker, den sie aber nicht trinkt und kalt werden lässt.
Das Mädchen rührt und regt sich nicht auf seinem Stuhl. Mit im Schoß gefalteten Händen sitzt sie mucksmäuschenstill da. Ihr Blick ist auf ihre knapp über dem Boden baumelnden Stiefel gerichtet. Eine Schuhspitze ist abgewetzt, aber sie sind tadellos gebunden. Der versiegelte Umschlag bleibt am zweitobersten Knopf ihres Mantels hängen, bis Prospero eintrifft.
Sie hört ihn, noch ehe sich die Tür öffnet, denn im Gegensatz zum vorsichtigen Gang des Direktors, der mehrmals wie auf Samtpfoten ein- und ausgegangen war, hallen Prosperos schwere Schritte im Gang wider.
»Da ist noch eine, ähm, Sendung für Sie«, sagt der Direktor beim Öffnen der Tür, führt ihn in das beengte Büro und stiehlt sich davon, um andere Angelegenheiten zu erledigen und dem Treffen nicht beiwohnen zu müssen.
Der Zauberer steht in seinem weißgesäumten Samtumhang mit einem Stapel Briefe in der Hand im Büro und schaut sich nach einer Schachtel oder Kiste um. Erst als das Mädchen zu ihm aufblickt und er seine eigenen Augen erkennt, versteht er, was der Direktor gemeint hat.
Zauberer Prosperos erste Reaktion auf die Begegnung mit seiner Tochter ist ein schlichtes: »Verdammt.«
Das Mädchen blickt wieder auf seine Schuhe.
Der Zauberer schließt die Tür hinter sich, lässt den Briefstapel auf den Schreibtisch neben die Teetasse fallen und mustert das Mädchen.
Er reißt ihr den Umschlag vom Mantel, ohne die Klammer vom Knopf zu lösen.
Obwohl der Brief an seinen Künstlernamen adressiert ist, wird er im beiliegenden Schreiben mit seinem richtigen Namen angesprochen: Hector Bowen.
Er überfliegt den Inhalt, ohne auch nur die geringste Regung zu zeigen, die der Verfasser gewünscht haben könnte. Nur eine Stelle ist ihm wichtig und lässt ihn innehalten: dass dieses Mädchen, das sich nun in seiner Obhut befindet, offenbar seine Tochter ist, und dass sie Celia heißt.
»Sie hätte dich Miranda nennen sollen«, sagt der Zauberer kichernd zu dem Mädchen. »Aber wahrscheinlich war sie dazu nicht schlau genug.«
Das Mädchen blickt wieder zu ihm hoch. Dunkle schmale Augen unter üppigen Locken.
Die Teetasse auf dem Schreibtisch beginnt zu wackeln. Die Oberfläche der Flüssigkeit schlägt kleine Wellen, und über die Glasur ziehen sich Risse; dann zerfällt das geblümte Porzellan in Scherben. Der kalte Tee überschwemmt die Untertasse und tropft auf den Boden, wo er auf dem gebohnerten Holz klebrige Spuren zieht.
Das Lächeln des Zauberers verschwindet. Mit gerunzelter Stirn schaut er auf den Schreibtisch, und die Teepfütze erhebt sich langsam wieder vom Boden. Die Scherben fliegen auf und ordnen sich um die Flüssigkeit herum, bis die Tasse wieder heil ist und feiner Dampf von ihr aufsteigt.
Das Mädchen starrt mit großen Augen auf die Tasse.
Hector Bowen nimmt das Gesicht seiner Tochter in seine behandschuhte Hand und schaut sie prüfend an. Als er sie wieder loslässt, sind auf ihren Wangen die roten Abdrücke seiner Finger zu sehen.
»Du könntest interessant sein«, sagt er.
Das Mädchen bleibt stumm.
In den folgenden Wochen unternimmt er mehrere Versuche, ihr einen neuen Namen zu geben, aber sie hört nur auf Celia.
Einige Monate später - der Zauberer ist zu dem Schluss gekommen, dass sie nun so weit sei - schreibt er seinerseits einen Brief. Und obwohl er ihn nicht adressiert, erreicht er seinen Bestimmungsort jenseits des Ozeans ohne Probleme.
Eine Wette unter Ehrenmännern
LONDON, OKTOBER 1873
Heute Abend ist die letzte Vorstellung eines sehr kurzen Engagements. Zauberer Prospero hat London schon seit einiger Zeit nicht mehr beehrt und war nur für eine Woche gebucht, Abendauftritte, keine Nachmittage.
Trotz der unverschämt teuren Preise waren die Eintrittskarten schnell ausverkauft, und das Theater ist so voll, dass sich viele Damen gegen die stickige Hitze, die trotz des herbstlichen Wetters draußen im Zuschauerraum herrscht, Kühlung ins Dekolleté fächern.
Irgendwann im Laufe des Abends verwandeln sich alle Fächer in kleine Vögel, die unter tosendem Applaus durch das Theater schwirren. Als die Vögel ihren Besitzerinnen dann wieder ordentlich gefaltet in den Schoß fallen, nimmt der Applaus noch zu - obwohl einige Damen vor Staunen vergessen zu klatschen.
Ein Mann im grauen Anzug, der links der Bühne in einer Loge sitzt, applaudiert nicht, weder bei dieser noch bei anderen Darbietungen. Er beobachtet den Mann auf der Bühne während des gesamten Abends mit gleichbleibend prüfendem Blick. Selbst bei Kunststücken, die dem gebannten Publikum begeisterten Applaus oder erstaunte Ausrufe entlocken, zuckt er nicht mit der Wimper.
Nach der Vorstellung schiebt sich der Mann im grauen Anzug geschickt durch die Menschenmenge im Theaterfoyer. Unbemerkt schlüpft er durch eine Tür hinter einem Vorhang zu den Garderoben hinter der Bühne. Kein Bühnenarbeiter oder Ankleider schenkt ihm Beachtung.
Am Ende des Flurs klopft er mit dem Silberknauf seines Gehstocks an eine Tür.
Die Tür fliegt auf wie von Geisterhand und gibt den Blick frei auf eine unaufgeräumte Garderobe, gesäumt von Spiegeln, die Zauberer Prospero aus unterschiedlichen Blickwinkeln zeigen.
Sein Frack liegt unordentlich auf einem Samtsessel, die Weste über seinem spitzenbesetzten Hemd steht offen. Der Zylinder, während der Vorstellung ein wichtiges Requisit, befindet sich auf einem Hutständer.
Auf der Bühne wirkte Prospero jünger, die grellen Scheinwerfer und das dicke Make-up konnten sein Alter gut verbergen. Das Gesicht in den Spiegeln ist faltig, sein Haar schon sehr grau. Aber das Grinsen beim Anblick des Mannes in der Tür hat etwas Jugendliches.
»Du fandest es schrecklich, nicht wahr?«, fragt er das geisterhafte graue Spiegelbild, ohne sich ihm zuzuwenden. Mit einem Taschentuch, das früher vielleicht einmal weiß war, wischt er sich einen dicken Rest Puder aus dem Gesicht.
»Schön, dich zu sehen, Hector«, sagt der Mann im grauen Anzug und schließt leise die Tür.
»Dir war jede Sekunde zuwider, das weiß ich genau«, sagt Hector Bowen lachend. »Ich habe dich beobachtet, gib dir also keine Mühe und streite es ab.«
Er dreht sich um und reicht dem Mann im grauen Anzug seine Hand, die jedoch ignoriert wird. Hector zuckt darauf nur die Schultern und winkt mit theatralischer Geste in Richtung der gegenüberliegenden Wand. Der Samtsessel rutscht aus seiner mit Koffern und Schals vollgepackten Ecke hervor, während der Frack wie ein Schatten emporschwebt und sich gehorsam in einen Schrank hängt.
»Bitte, nimm Platz«, sagt Hector. »Ich fürchte allerdings, hier ist es nicht so bequem wie oben.«
»Du weißt, was ich von solchen Aufführungen halte«, sagt der Mann im grauen Anzug, zieht seine Handschuhe aus und fährt damit über den Sessel, bevor er sich setzt. »Billige Tricks als Zauberkunst und Magie verkaufen. Und dafür auch noch Geld verlangen.«
Hector wirft das puderverschmierte Taschentuch auf einen Tisch voller Pinsel und Schminktöpfe.
»Kein Mensch im Publikum glaubt auch nur eine Sekunde lang, dass das, was ich da oben mache, echt ist«, sagt er und zeigt in die ungefähre Richtung der Bühne. »Das ist ja das Schöne daran. Hast du die verrückten Apparate gesehen, die sich angebliche Zauberer für die banalsten Tricks zurechtbasteln? Sie sind alle nur Fische mit Federn, die dem Publikum weismachen wollen, sie könnten fliegen, und ich bin der Vogel in ihrer Mitte. Das Publikum kennt den Unterschied nicht, es merkt nur, dass ich besser bin.«
»Das ist noch lange kein Grund, es zu täuschen.«
»Dazu kommen die Leute doch her«, sagt Hector. »Und ich kann es besser als die meisten anderen. Wär doch Verschwendung, sich die Gelegenheit entgehen zu lassen. Außerdem springt dabei mehr heraus, als man meinen sollte. Möchtest du etwas trinken? Irgendwo müssen Flaschen versteckt sein, ich weiß allerdings nicht, ob es auch Gläser gibt.« Er sucht auf einem Tisch, schiebt Zeitungsstapel und einen leeren Vogelkäfig beiseite.
»Nein, danke«, sagt der Mann im grauen Anzug, setzt sich im Sessel zurecht und legt die Hände auf den Knauf seines Gehstocks. »Ich fand deine Vorstellung befremdlich, und die Reaktion des Publikums recht verblüffend. Du warst nicht sehr genau.«
»Wenn sie mich für einen Blender halten sollen wie den Rest meiner Kollegen, darf ich nicht zu gut sein«, sagt Hector mit einem Lachen. »Aber danke, dass du meine Vorstellung durchgestanden hast. Es wundert mich, dass du überhaupt da warst, ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben. Die Loge war die ganze Woche für dich reserviert.«
»Ich schlage Einladungen selten aus. In deinem Brief stand, du willst mir etwas vorschlagen.«
»Allerdings!«, sagt Hector und klatscht in die Hände. »Ich hatte gehofft, dass du zu einem Spiel bereit bist. Wir haben schon lange nicht mehr gespielt. Aber zuerst möchte ich dir mein neues Projekt vorstellen.«
»Ich dachte, du hast das Unterrichten aufgegeben.«
»Hatte ich auch, aber dieser einmaligen Gelegenheit konnte ich nicht widerstehen.« Hector geht zu einer Tür, die fast gänzlich hinter einem großen Standspiegel verborgen ist. »Celia, meine Liebe«, ruft er in das benachbarte Zimmer und kehrt dann zu seinem Stuhl zurück.
Wenig später erscheint ein kleines Mädchen in der Tür, viel zu hübsch gekleidet für das Chaos und die Schäbigkeit der Umgebung. Nur Schleifen und Spitze, tadellos wie eine neue Puppe, bis auf die widerspenstigen Locken, die sich aus ihren Zöpfen gelöst haben. Als sie sieht, dass ihr Vater nicht allein ist, bleibt sie zögernd an der Schwelle stehen.
»Schon gut, meine Liebe. Komm her, nur zu«, sagt Hector und winkt sie mit der Hand. »Das ist ein Kollege von mir, du musst nicht schüchtern sein.«
Sie tritt ein paar Schritte näher und macht einen schönen Knicks, so dass der Spitzensaum ihres Kleides über den abgelaufenen Holzfußboden streift.
»Das ist meine Tochter Celia«, sagt Hector zu dem Mann im grauen Anzug und legt dem Mädchen seine Hand auf den Kopf. »Celia, das ist Alexander.«
»Freut mich«, sagt sie. Ihre Stimme ist kaum lauter als ein Flüstern und tiefer, als man von einem Mädchen ihres Alters erwarten würde.
Der Mann im grauen Anzug nickt ihr höflich zu.
»Ich möchte, dass du diesem Herrn zeigst, was du kannst«, sagt Hector. Er zieht eine silberne Taschenuhr an einer langen Kette aus seiner Weste und legt sie auf den Tisch. »Fang an.«
Das Mädchen macht große Augen.
»Aber ich darf es niemandem zeigen«, sagt sie. »Das musste ich dir versprechen.«
»Dieser Herr ist nicht irgendwer«, erwidert Hector lachend.
»Du hast gesagt, keine Ausnahmen«, gibt Celia zurück.
Das Lächeln ihres Vaters verschwindet. Er packt sie an den Schultern und schaut ihr streng in die Augen.
»Das ist ein Sonderfall«, sagt er. »Bitte zeig dem Herrn, was du kannst. Genau wie im Unterricht.« Er schiebt sie zum Tisch, auf dem die Uhr liegt.
Das Mädchen nickt ernst und wendet seine Aufmerksamkeit der Uhr zu, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.
Gleich darauf beginnt die Uhr langsam zu rotieren, dreht sich in Kreisen auf dem Tisch und zieht die Kette in einer Spirale hinter sich her. Dann erhebt sich die Uhr vom Tisch, schwebt in der Luft und verweilt dort, als hinge sie im Wasser.
Hector blickt erwartungsvoll zu dem Mann im grauen Anzug.
»Beeindruckend«, sagt der Mann. »Aber ziemlich einfach.« Celia runzelt die Stirn über ihren dunklen Augen: Die Uhr
zerspringt, ihr Innenleben zerstiebt in alle Richtungen. »Celia«, sagt ihr Vater.
Sein scharfer Tonfall lässt sie erröten, sie murmelt eine Entschuldigung. Zeiger, Rädchen und Federn fliegen zurück in die Uhr und sortieren sich, bis alles wieder an Ort und Stelle ist und die Uhr weitertickt, als wäre nichts geschehen.
»Na, das ist schon etwas beeindruckender«, gibt der Mann im grauen Anzug zu. »Aber sie gerät schnell in Wut.«
»Sie ist noch jung«, sagt Hector, tätschelt Celia den Kopf und ignoriert ihre missmutige Miene. »Und sie hat das in einem knappen Jahr gelernt. Wenn sie erwachsen ist, wird sie unschlagbar.«
»Ich könnte das jedem Kind von der Straße beibringen. Unschlagbarkeit ist eine Frage der persönlichen Einschätzung und leicht zu widerlegen.«
»Ha!«, ruft Hector aus. »Du spielst also mit!«
Der Mann im grauen Anzug zögert kurz, dann nickt er. »Wenn es ein bisschen anspruchsvoller ist als letztes Mal, ja, dann bin ich interessiert«, sagt er. »Vielleicht.«
»Natürlich wird es anspruchsvoller!«, sagt Hector. »Ich schicke ein Naturtalent ins Rennen. Und das verwettet man nicht so ohne weiteres.«
»Naturtalent ist ein fragwürdiges Phänomen. Man könnte von Neigung sprechen, aber angeborene Fähigkeiten sind äußerst selten.«
»Sie ist mein Kind, natürlich hat sie angeborene Fähigkeiten.«
»Du sagst selbst, dass sie Unterricht hatte«, gibt der Mann im grauen Anzug zu bedenken. »Wie kannst du dir dann sicher sein?«
»Celia, wann hast du mit dem Unterricht angefangen?«, fragt Hector, ohne sie anzusehen.
»Im März«, antwortet sie.
»In welchem Jahr, meine Liebe?«, fragt Hector.
»Na, in diesem«, erwidert sie, als habe er eine besonders dumme Frage gestellt.
»Acht Monate Unterricht«, stellt Hector klar. »Mit knapp sechs Jahren. Wenn ich mich recht entsinne, fängst du mit deinen Schülern manchmal etwas früher an. Celia ist eindeutig weiter, als sie es ohne Naturtalent wäre. Sie hat diese Uhr schon beim ersten Versuch zum Schweben gebracht.«
Der Mann im grauen Anzug wendet sich an Celia.
»Dass sie kaputtgeht, war nur Zufall, oder?«, fragt er und zeigt zu der Uhr auf dem Tisch. Celia zieht die Stirn kraus und nickt zögerlich.
»Für ein so kleines Mädchen zaubert sie bemerkenswert gut«, sagt er zu Hector. »Aber ein aufbrausendes Temperament ist immer ein misslicher Faktor. Es führt leicht zu unbesonnenem Verhalten.«
»Das verliert sich bestimmt oder sie lernt, sich zu beherrschen. Es hat nichts zu bedeuten.«
Der Mann im grauen Anzug behält das Mädchen weiter im Auge, während er mit Hector spricht. Statt Worten hört Celia plötzlich sonderbare Geräusche aus seinem Mund kommen, und sie runzelt die Stirn, als die Erwiderungen ihres Vaters genauso konfus klingen.
»Du würdest um dein eigenes Kind wetten?«, fragt der Mann im grauen Anzug ungläubig.
»Sie verliert nicht«, sagt Hector. »Ich schlage vor, du suchst dir einen Schüler, von dem du dich leicht trennen kannst, falls du nicht schon einen hast.«
»Und ihre Mutter hat dazu keine Meinung?«
»Ganz recht.«
Der Mann im grauen Anzug sieht das Mädchen noch eine Weile an, ehe er fortfährt, sie versteht seine Worte allerdings immer noch nicht.
»Ich kann dein Vertrauen in ihre Fähigkeit verstehen, aber richte dich darauf ein, dass du sie verlierst, wenn der Wettstreit nicht zu ihren Gunsten ausgeht. Ich werde jemanden finden, der eine echte Herausforderung für sie ist. Andernfalls gäbe es keinen Grund für mich, an der Sache teilzunehmen. Ihr Sieg steht noch nicht fest.«
»Das Risiko gehe ich gerne ein«, sagt Hector, ohne seine Tochter auch nur anzusehen. »Wenn du es hier und jetzt offiziell machen möchtest, dann los.«
Der Mann im grauen Anzug blickt abermals zu Celia, und als er spricht, versteht sie seine Worte wieder.
»Na schön«, sagt er und nickt.
»Er hat gemacht, dass ich nicht richtig hören kann«, flüstert Celia, als ihr Vater sich zu ihr dreht.
»Ich weiß, Liebes, das war nicht sehr höflich«, sagt Hector und führt sie näher an den Sessel, wo der Mann sie mit Augen mustert, die fast so hellgrau sind wie sein Anzug.
»Konntest du schon immer solche Sachen?«, fragt er mit einem Blick auf die Uhr.
Celia nickt.
»Meine ... meine Mutter sagt, ich sei ein Kind des Teufels«, sagt sie leise.
Der Mann im grauen Anzug beugt sich vor und flüstert ihr etwas ins Ohr, zu leise für ihren Vater, um es zu hören. Ein verstohlenes Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht.
»Streck deine rechte Hand aus«, sagt er und lehnt sich in seinem Sessel zurück. Celia hält ihm sofort die offene Handfläche hin, ohne zu wissen, was sie erwartet. Aber der Mann im grauen Anzug legt nichts hinein. Stattdessen dreht er ihre Hand um und zieht sich einen silbernen Ring vom kleinen Finger. Er steckt ihn ihr auf den Ringfinger, obwohl er viel zu groß ist, und hält mit der anderen Hand ihren Arm fest.
Sie will gerade sagen, der Ring sei zwar sehr schön, passe aber nicht, da merkt sie, dass er schrumpft.
Ihre kurze Freude über den kleiner werdenden Ring wird bald von Schmerz überlagert, als der Ring an ihrem Finger immer enger wird und das Metall sich in ihre Haut brennt. Sie versucht sich zu befreien, aber der Mann im grauen Anzug hält ihren Arm fest umklammert.
Der Ring wird dünner, löst sich auf und hinterlässt eine leuchtend rote Narbe um Celias Finger.
Der Mann im grauen Anzug gibt ihren Arm frei. Celia zieht sich in eine Ecke zurück und starrt auf ihre Hand.
»Braves Mädchen«, sagt ihr Vater.
»Ich brauche eine Weile, um einen Spieler vorzubereiten«, sagt der Mann im grauen Anzug.
»Natürlich«, erwidert Hector. »Lass dir alle Zeit der Welt.« Er zieht sich einen goldenen Ring vom Finger und legt ihn auf den Tisch. »Der ist für ihn, wenn du ihn gefunden hast.«
»Du willst dir nicht selbst die Ehre geben?«
»Ich vertraue dir.«
Der Mann im grauen Anzug nickt und zieht ein Taschentuch aus seinem Mantel, nimmt den Ring, ohne ihn zu berühren, und steckt ihn in seine Tasche.
»Ich hoffe doch sehr, du machst das Ganze nicht nur, weil mein Spieler beim letzten Mal gewonnen hat.«
»Natürlich nicht«, antwortet Hector. »Ich mache das, weil ich eine Spielerin habe, die es mit jedem aufnehmen kann, den du ihr gegenüberstellst, und weil sich die Zeiten geändert haben. Unser Wettstreit könnte interessant werden. Im Übrigen glaube ich, dass ich in der Gesamtbilanz vorne liege.«
Der Mann im grauen Anzug ficht diese Behauptung nicht an, er betrachtet Celia nur weiterhin prüfend. Sie versucht sich seinem Blick zu entziehen, aber das Zimmer ist zu klein.
»Weißt du schon, wo das Ganze stattfinden soll?«, fragt er.
»Nicht direkt«, sagt Hector. »Ich dachte, es macht vielleicht mehr Spaß, wenn wir den Austragungsort noch offen lassen. Als Überraschung, wenn du so willst. Ich kenne einen Theaterproduzenten in London, der für Ungewöhnliches immer zu haben ist. Wenn es so weit ist, gebe ich ihm Bescheid, dann fällt ihm bestimmt etwas Passendes ein. Das Ganze auf neutralem Boden auszutragen wäre vermutlich das Beste, aber vielleicht möchtest du den Auftakt ja lieber auf deiner Seite des Teichs bestreiten.«
»Und wie heißt dieser Herr?«
»Chandresh. Chandresh Christophe Lefèvre. Angeblich ist er der uneheliche Sohn eines indischen Prinzen oder so ähnlich. Die Mutter war eine herumreisende Ballerina. Irgendwo in diesem Chaos habe ich seine Karte. Du wirst ihn mögen, er ist seiner Zeit immer voraus. Wohlhabend, exzentrisch. Ein bisschen zwanghaft, irgendwie unberechenbar, aber das ist bei Künstlern wohl immer so.« Der Papierstapel auf einem Schreibtisch verschiebt und vermischt sich, bis eine Visitenkarte obenauf liegt und durch den Raum segelt. Hector fängt sie auf und liest sie, bevor er sie dem Mann im grauen Anzug reicht. »Er gibt wundervolle Partys.«
Der Mann im grauen Anzug steckt sich die Karte in die Tasche, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
»Noch nie von ihm gehört«, sagt er. »Und im Übrigen halte ich nicht viel von öffentlichen Schauplätzen. Ich überlege mir das Ganze.«
»Unsinn, ohne Publikum macht es doch nur halb so viel Spaß. Dadurch kommen Einschränkungen und Probleme ins Spiel, die man erst mal lösen muss.«
Der Mann im grauen Anzug überdenkt dies kurz und nickt dann.
»Gibt es eine Offenlegungsklausel? Das wäre eigentlich fair, da ich deine Akteurin kenne.«
»Verzichten wir auf sämtliche Klauseln und halten uns nur an die üblichen Regeln, dann sehen wir, was passiert«, sagt Hector. »Bei diesem Spiel möchte ich keine strengen Vorgaben. Auch keine zeitlichen Beschränkungen. Ich überlasse dir sogar den ersten Zug.«
»Na schön. Abgemacht. Ich melde mich.« Der Mann im grauen Anzug steht auf und wischt sich unsichtbaren Staub vom Ärmel. »War mir ein Vergnügen, Miss Celia.«
Celia knickst wieder vorbildlich, beobachtet ihn dabei jedoch argwöhnisch.
Der Mann im grauen Anzug zieht zum Abschied den Hut vor Prospero, schlüpft zur Tür hinaus und verlässt das Theater. Wie ein Schatten bewegt er sich auf der immer noch belebten Straße.
Hector Bowen kichert in seiner Garderobe vor sich hin, während seine Tochter reglos in der Ecke steht und die Narbe an ihrer Hand betrachtet. Der Schmerz ist so schnell verschwunden wie der Ring, aber die rote Narbe bleibt.
Hector nimmt die silberne Taschenuhr vom Tisch und vergleicht die Zeit mit der Uhr an der Wand. Langsam zieht er die Uhr auf und sieht aufmerksam zu, wie die Zeiger um das Ziffernblatt kreisen.
»Celia«, fragt er, ohne sie anzusehen, »warum müssen wir die Uhr aufziehen?«
»Weil alles Kraft braucht«, antwortet sie gehorsam, den Blick noch immer auf ihre Hand gerichtet. »Wir müssen Kraft und Mühe in alles stecken, was wir verändern möchten.«
»Sehr gut.« Er schüttelt die Uhr vorsichtig und steckt sie wieder in die Tasche. »Warum hast du den Mann Alexander genannt?«, fragt Celia. »Das ist eine dumme Frage.«
»Aber so heißt er nicht.«
»Und woher willst du das wissen?«, fragt Hector seine Tochter, dreht ihr Kinn in seine Richtung und taxiert ihre dunklen Augen.
Celia erwidert seinen Blick und weiß nicht, wie sie es ihm erklären soll. Sie ruft sich den Mann im grauen Anzug in Erinnerung, seine hellen Augen und die strengen Züge, und überlegt, warum der Name nicht richtig zu ihm passt.
»Das ist nicht sein Name«, sagt sie. »Jedenfalls nicht der, den er immer hatte. Er trägt ihn wie seinen Hut. Damit er ihn ablegen kann, wenn er will. So wie bei dir mit Prospero.«
»Du bist noch klüger, als ich gehofft habe«, sagt Hector, ohne sich zu ihren Zweifeln am Namen seines Kollegen zu äußern. Er nimmt den Zylinderhut vom Ständer und stülpt ihn ihr über den Kopf, so dass er ihren fragenden Blick unter einem Käfig aus schwarzer Seide verhüllt.
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Autoren-Porträt von Erin Morgenstern
Erin Morgenstern ist bildende Künstlerin und Autorin. Sie lebt mit ihren zwei Katzen in Salem, Massachusetts.Brigitte Jakobeit, Jg. 1955, lebt in Hamburg und übersetzt seit 1990 englischsprachige Literatur, darunter die Autobiographien von Miles Davis und Milos Forman sowie Bücher von John Boyne, Paula Fox, Alistair MacLeod, Audrey Niffenegger und Jonathan Safran Foer.
Autoren-Interview mit Erin Morgenstern
Interview mit der Autorin Erin MorgensternHaben Sie für Ihr Buch viel Zirkus-Recherche betrieben?
Ehrlich gesagt, nein. Ich habe mich ein wenig eingelesen und bin auf einige interessante Fakten gestoßen. Zum Beispiel, dass im frühen 19. Jahrhundert einige Trapez-Artisten von Barnum und Bailey jeden Abend in Abendkleidung und Zylinder aufgetreten sind, was mich sehr faszinierte. Der Zirkus in meiner Geschichte ist eigentlich die Kulisse für eine Geschichte über Magie, auf der mein tatsächlicher Fokus liegt.
Die Magier Celia und Marco erschaffen viele außergewöhnliche Attraktionen, die das Publikum anziehen, wie z.B. das Wolkenlabyrinth, die Sterngucker, den Wunschbaum und den Eisgarten. Die Zelte des Zirkus sind originell und faszinierend. Wo haben Sie die Ideen dafür her?
Da ist eine Menge Vorstellungskraft dabei. Ein paar beruhen aber auf bestimmte Einflüsse oder Erinnerungen. Da fällt mir das Kletterlabyrinth ein, an das ich mich aus dem Boston Children's Museum erinnere, als ich klein war. In meiner Kindheitserinnerung erscheint es mir riesig. Es hatte aufeinander geschichtete Puzzleteile und man konnte darin immer höher klettern.
Haben Sie ein „Lieblingszelt" in ihrer Geschichte?
Habe ich. Mein Lieblingszelt ist das Labyrinth, aus zwei Gründen. Einmal, weil es der Raum ist, den ich, als ich schrieb, am liebsten selbst erkunden wollte, niemals wissend, was hinter der nächsten Tür wartet. Zum anderen weil ich es als Raum erfand, bevor es seine eigentliche Bedeutung in der Geschichte bekam. Es ist ein Zelt, das von Celia und Marco gemeinsam geschaffen wurde.
Mitten im Spektakel des Zirkus schwingt in ihrem Buch auch ein starker Unterton von Furcht mit. Wo haben Sie diese unheimliche Seite hervorgeholt?
Beim Spiel mit der Idee von Schwarz und Weiß musste genauso
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viel Schatten wie auch Licht vorhanden sein. Es kommt auch daher, dass ich Märchen liebe - die altmodischen, düsteren, gewalttätigen Märchen, nicht die kitschigen Märchen - sondern die, bei denen Elemente wie Gewalt und Dunkelheit eine große Rolle spielen. Es macht die Geschichte interessanter, wenn eine Gefahr mitschwingt.
Wenn Zirkusartisten Ihr Buch lesen, wie wünschen Sie sich, dass sie darauf reagieren?
Ich hoffe natürlich, dass es ihnen gefallen wird! Aber ich hoffe auch, dass Sie das Buch als das wahrnehmen, was es ist: Eine Geschichte über Magie, die in einem Zirkus spielt. In keiner Weise sehe ich mich als Zirkusexpertin oder ähnliches und habe auch nicht versucht, das mit diesem Buch zu vermitteln. Ich hoffe, dass sie meine Faszination und Neugier wahrnehmen, und die Inspiration, die mir der Zirkus gegeben hat, um meine Geschichte zu erzählen.
Wenn Zirkusartisten Ihr Buch lesen, wie wünschen Sie sich, dass sie darauf reagieren?
Ich hoffe natürlich, dass es ihnen gefallen wird! Aber ich hoffe auch, dass Sie das Buch als das wahrnehmen, was es ist: Eine Geschichte über Magie, die in einem Zirkus spielt. In keiner Weise sehe ich mich als Zirkusexpertin oder ähnliches und habe auch nicht versucht, das mit diesem Buch zu vermitteln. Ich hoffe, dass sie meine Faszination und Neugier wahrnehmen, und die Inspiration, die mir der Zirkus gegeben hat, um meine Geschichte zu erzählen.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Erin Morgenstern
- 2012, 460 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Brigitte Jakobeit
- Übersetzer: Brigitte Jakobeit
- Verlag: Ullstein Hardcover
- ISBN-10: 3550088744
- ISBN-13: 9783550088742
Rezension zu „Der Nachtzirkus “
"Man taucht in diesen Mikrokosmos ein und kommt nicht mehr davon los.", BERLINER MORGENPOST, Manuela Molnos, 14.04.2012
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