Der neue Tugendterror
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Provokant und scharfsinnig setzt sich Bestsellerautor Thilo Sarrazin („Deutschland schafft sich ab") in seinem Buch "Der neue Tugendterror" mit dem Thema Meinungsfreiheit in Deutschland auseinander.
„Wer bestimmt, was gesagt werden darf - und worüber geschwiegen werden muss?" fragt Theo Sarrazin - und liefert Antworten, die polarisieren und zu hitzigen Debatten führen.
Im Mittelpunkt der Thesen von „Der neue Tugendterror", die sich um angeblich im Alltag weit verbreitete Denk- und Redeverbote drehen, steht der Bürger, der zunehmend eine Scheu davor habe, sich zu Meinungen zu bekennen, die er als nicht mehrheitsfähig wahrnehme. Thilo Sarrazin: „Wer Dinge ausspricht, die nicht gerade ins vorherrschende Weltbild passen, der wird gerne als Provokateur oder Nestbeschmutzer ausgegrenzt."
Thilo Sarrazins Kritik richtet sich auch gegen die „Diktatur der politischen Korrektheit", die sich durch unsere Gesellschaft ziehe - und dem allgemeinen Streben nach Gleichheit. Es sei das Primat der Gleichheit, dem sich unsere Gesellschaft schlechterdings unterwerfe, schreibt der Autor in "Tugendterror", und jeder Hinweis auf Unterschiede der Kulturen, der Völker und Rassen werde deswegen als amoralisch verurteilt.
Bei der Analyse von Ursachen und möglichen Folgen des medialen „Gleichheitspostulats" spannt Thilo Sarrazin in seinem Buch "Der neue Tugendterror" einen weiten historischen und thematischen Bogen. Er verweist auf Rousseau und Marx, den Terror Stalins und die Verbrechen der Roten Khmer. Und auch die Französische Revolution, die Hexenverbrennungen der Inquisition und die Gedanken George Orwells bemüht er zur Untermauerung seiner These, wir seien auf dem Weg in einen „gedanklichen Sozialismus", einer sprachlichen und politischen Gleichschaltung.
Es gibt Kritiker, die sehen in Sarrazins "Der neue Tugendterror" in erster Linie eine beleidigte und gekränkte Reaktion auf seine (gefühlte) gesellschaftliche Ausgrenzung - obwohl der Autor mit seinen Thesen, Analysen und Meinungen ja ein Millionenpublikum erreicht habe und jetzt wohl wieder erreichen wird. Genau das sei Sarrazins Methode, behauptet z.B. Stefan Kuzmany auf spiegel.de: „Erst wird ein Tabu konstruiert, um es dann mit großem Getöse zu brechen." Eine Meinung, die sich trefflich diskutieren lässt.
Gleichwohl ist Thilo Sarrazins neues Werk alles andere als langweilig. Lesen auch Sie das aktuelle Debattenbuch „Der neue Tugendterror".
Einleitung
Am 10. September 2012, ziemlich exakt zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Deutschland schafft sich ab, erschien im Spiegel ein Interview mit drei jungen Persern, die als Flüchtlingskinder nach Deutschland gekommen waren. Darin fragte der Spiegel-redakteur Maximilian Popp unter anderem: »Trifft es Sie, wenn Politiker wie Thilo Sarrazin behaupten, Migranten seien faul und hätten ohnehin kein Interesse, dieses Land mitzugestalten?« Die Antwort fiel erwartungsgemäß aus: »So etwas schmerzt mich, doch Sarrazins Thesen haben mich nicht überrascht. aus ihnen spricht genau jener Rassismus, den wir jahrelang erfahren haben.« Der Fragesteller schien zufrieden, denn mit
dieser Antwort endete das Interview.
Ich schrieb daraufhin an die Spiegel-Redaktion:
»Diese Wiedergabe angeblicher Aussagen von mir ist frei erfunden und weder in mündlichen noch in schriftlichen Äußerungen von mir zu finden. Entweder liegt Unkenntnis oder die Absicht zur Diffamierung zugrunde. In beiden Fällen erscheint eine Richtigstellung oder Entschuldigung angebracht. Ihrer Reaktion (oder auch nicht) sehe ich mit Interesse entgegen.«
Nach einer Woche kam die Antwort des Redakteurs Maximilian Popp. Er führte darin eine Reihe von Zitaten aus Deutschland schafft sich ab an, die zwar alle richtig wiedergegeben waren, nur eines nicht enthielten, nämlich eine Bestätigung seiner Behauptungen. Er rechtfertigte sich mit folgenden Sätzen:
»Sie stellen fest, diese Aussage sei von ihnen nie getroffen worden. Das allerdings behaupte ich in dem Artikel auch nicht. Vielmehr werden einige ihrer Äußerungen in der Vergangenheit pointiert zusammengefasst. ... Deshalb würde ich eine Richtigstellung auch für unangemessen halten.«
Im Klartext meinte der Spiegel-Redakteur wohl: Wenn es darum geht, Thilo Sarrazin in die »richtige« Ecke zu stellen und damit gewissermaßen höheren tugendhaften Zwecken zu dienen, dann muss man es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen, sogar die absichtsvolle Verdrehung der Fakten ist nach dieser Logik offenbar erlaubt, selbst auf die Gefahr hin, einen verleumderischen Eindruck hervorzurufen. Schließlich gelang es ja auf diese Art, dem jungen Perser den Rassismus-Vorwurf zu entlocken.
An diesem Tag entschied ich mich, dieses Buch zu schreiben. Die zitierte Spiegel-Geschichte, obwohl vielleicht besonders skandalös, spiegelt nämlich einen Zeittrend wider. In wachsendem Maße wird die freie Betrachtung der menschlichen Gesellschaft in vorgefasste Raster gepresst. Der Wahrheitsbegriff wird dabei so lange relativiert, bis seine Konturen verschwimmen. Wenn sich die Wirklichkeit dem eigenen Denkmuster nicht fügen will, werden auch in seriösen Zeitungen notfalls die Gesetze der Statistik auf den Kopf gestellt. Im Dienste einer höheren »moralischen« Wahrheit ist dann auch der »freie Umgang« mit Fakten durch Auslassen, Entstellen und notfalls freihändiges Ignorieren von Tatsachen zulässig. Wer das nicht glaubt, schaue sich das obige Beispiel genau an. Es fand offenbar die Billigung der Spiegel-Redaktion, denn an diese hatte ich geschrieben, und Maximilian Popp hatte mir geantwortet.
Mit meinen Lesern teile ich wohl die Dankbarkeit darüber, dass wir nicht mehr, wie noch vor wenigen Jahrhunderten, wegen falschen Glaubens als Ketzer verbrannt werden können. Auch sind die Zeiten vorbei, als die heilige Inquisition von uns - notfalls unter Folter - verlangen konnte, falschen Meinungen zu entsagen. Es ist allerdings erst 380 Jahre her, dass Galileo Galilei unter dem Druck der Inquisition die Erkenntnis widerrief, dass sich die Erde um die Sonne dreht. als die Inquisitoren gerade nicht hinhörten, soll er halblaut gemurmelt haben: »Und sie bewegt sich doch.« Recht hatte er. Meinungen ändern nämlich keine Tatsachen. Meinungsdruck - in welcher Form auch immer - ändert höchstens die gesellschaftliche Wahrnehmung von Tatsachen.
Gesellschaften, die wichtige Aspekte der Wirklichkeit leugnen oder sie wegen der Dominanz einer bestimmten Weltsicht gar nicht wahrnehmen, bezahlen dafür mit beschränkter Weltsicht und beschränkten Erkenntnismöglichkeiten. Sie verzichten damit häufig auf Entwicklungspotentiale und bleiben rückständig. Historisch gesehen ist das Scheitern von Gesellschaften aufgrund ihrer inneren Beschränktheit eher die Regel als die Ausnahme.
Das antike Griechenland, häufig als Wiege der Demokratie bezeichnet, war so demokratisch gar nicht. Frauen, Unfreie und alle jene, die nicht Bürger einer Polis waren, konnten sich an der politischen Meinungsbildung nicht beteiligen. Das geistige Klima aber war frei. Der griechische Götterhimmel mit seinen mehreren Tausend Göttern und seinem notorisch untreuen und philandernden Chef-Gott Zeus bildete die menschlichen Widersprüche im Himmel ab. Zwischen der Liebe, dem Hass, der Ruhmsucht und der Eifersucht, die die Götter den Menschen vorlebten, konnte auf Erden nahezu alles gedacht und getan werden. All dies zu Leben war die Stärke der griechischen Völker, und so wurden sie zum Ursprung der abendländischen Kunst, Philosophie und der Naturwissenschaft.
Das hinderte sie nicht an heftigen Kriegen untereinander. Gewalt gab es reichlich, sie war sozusagen endemisch, und doch blühte die Freiheit der Gedanken. Wurde allerdings ein Gedankenträger übermäßig lästig, machte man auch schon damals kurzen Prozess. Sokrates musste im Jahr 399 vor Christus in Athen den Schierlingsbecher trinken, weil seine Philosophie den Mächtigen missfiel. Er musste ihn nicht etwa trinken, weil er der Knabenliebe anhing. Die war damals gang und gäbe und sozusagen gesellschaftlich anerkannt.
Für minderschwere Fälle störender Meinungen kannte man in Athen den Ostrakismos, das Scherbengericht. Wer sich mit seinen Ansichten und Handlungen über ein bestimmtes Maß hinaus unbeliebt gemacht hatte, konnte auch als Bürger von Athen in die Verbannung gezwungen werden, damit er den gesellschaftlichen Frieden nicht weiter störte. Der Widerspruch zwischen Gedankenfreiheit und gesellschaftlicher Norm wurde im antiken Griechenland mithin pragmatisch, aber keineswegs immer gewaltfrei gelöst.
In der modernen Demokratie westlicher Prägung ist es nicht mehr so leicht, Meinungen und Einstellungen, die nicht gefallen oder als sozial schädlich angesehen werden, mit Gewalt zu unterdrücken. aber es gilt auch nicht einfach »anything goes«. Es haben sich verdeckte Formen der Formierung und Kontrolle von Meinungen herausgebildet. Der gesellschaftlich akzeptierte Kreis des Sagbaren und Denkbaren kann auch auf diese Weise wirksam begrenzt werden. Diese informellen Prozesse sind mit Machtausübung verbunden - mit Medienmacht, mit politischer Macht.
Die meisten Menschen wollen gerne im Konsens leben. Sie spüren den von dieser informellen Meinungskontrolle ausgehenden Druck und beugen sich ihm auch zu einem gewissen Grad. So kann es immer wieder geschehen, dass die gesellschaftliche Diskussion und insbesondere die veröffentlichte Meinung Fragestellungen verkürzen und einschränken bzw. bestimmte Fragen und mit ihnen verbundene Antworten unter ein Tabu stellen. Wer solche Grenzen zu überschreiten scheint, muss zwar heute nicht mehr den Schierlingsbecher trinken oder in die Verbannung gehen. aber er darf sicher sein, dass bestimmte Medien versuchen, ihn und seinesgleichen öffentlich an den Pranger zu stellen. Das funktioniert umso leichter, je vermachteter die Struktur der Medien ist und je größer der Teil der Bürger ist, die Medienmeinung für bare Münze nehmen, soweit sie überhaupt von den Medien erreicht werden.
Mein Interesse an diesen Fragen war immer schon vorhanden, denn die dahinterstehende gesellschaftliche Mechanik spielt eine zentrale Rolle bei den meisten Katastrophen, die sich Gesellschaften selber zufügen:
• Warum kam es vom 16. bis zum 18. Jahrhundert in einigen Gebieten in Europa zu einer auffälligen Anhäufung von Hexenverbrennungen?
• Wie konnte es im August 1914 zum plötzlichen Ausbruch von Kriegsbegeisterung in allen beteiligten europäischen Staaten kommen? Carl Zuckmayer beschreibt in seinen Memoiren, wie dieser soziale Bazillus ihn, der wenige Tage nach Kriegsausbruch aus Norwegen nach Deutschland zurückkehrte, gegen seinen Willen selbst ansteckte, so dass er sich als Kriegsfreiwilliger meldete.
• Welche soziale Lähmung in der russischen Gesellschaft war dafür verantwortlich, dass sie die unbeschreibliche Steigerung des stalinistischen Terrors ab Mitte der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts so widerstandslos hinnahm?
• Wie konnte es geschehen, dass nahezu alle deutschen Vereine in einer kollektiven Anpassungshandlung im Frühling 1933 ihre jüdischen Mitglieder ausschlossen - zu einer Zeit, da sich der Naziterror noch gar nicht richtig entfaltet hatte?
• Warum ließ die amerikanische Gesellschaft, die doch eigentlich demokratisch gefestigt war, von 1951 bis 1954 die inquisitorischen Aktivitäten des Komitees gegen unamerikanische Umtriebe, initiiert von Senator McCarthy, so widerstandslos über sich ergehen?
• Welche sozialen Mechanismen in vorher unauffälligen Gesellschaften fielen aus, damit es zum Völkermord in Kambodscha oder Ruanda kommen konnte?
Das ist nur eine sehr subjektive Auswahl, aber sie zeigt, worum es mir geht. In meinen pessimistischen Momenten halte ich das tragende Gerüst unserer zivilen Gesellschaft für recht schwach und den Firnis der Zivilisation für ziemlich rissig. Der Mensch ist mit empfindlichen sozialen Antennen ausgestattet. Das hat neben der Intelligenz der Gattung den Aufstieg der Menschheit und ihre heutige Dominanz auf der Erde ermöglicht. Die soziale Intelligenz des Individuums ist aber an starke Überlebensinstinkte und einen dadurch bedingten großen Opportunismus gekoppelt. Das macht die Menschen offenbar immer wieder zu opfern - häufig unbewusst, manchmal auch willfährig - sozialer Strömungen oder gesellschaftlicher und politischer Moden, mögen diese auch noch so verderblich sein. Antoine de Rivarol schrieb Ende des 18. Jahrhunderts mit Blick auf die Französische Revolution: »Trotz aller Bemühungen eines philosophischen Jahrhunderts werden die zivilisiertesten Reiche immer der Barbarei ebenso nahe sein wie das am sorgfältigsten polierte Eisen dem Rost. Nationen wie Metall glänzen nur an der Oberfläche.«
Der individuelle Mut, im Widerspruch zu den wechselnden gesellschaftlichen Grundströmungen zu handeln, zu denken und zu leben, scheint mir in den letzten Jahrzehnten nicht stärker geworden zu sein, sondern hat, so fürchte ich, eher abgenommen. Keine Garantie gibt es, dass wir uns als Gesellschaft weiser und couragierter verhalten als 1914 oder 1933, sollten ähnliche Situationen in Zukunft auftreten.
Natürlich ist das Deutschland der Gegenwart eine funktionierende Demokratie, wie wir sie besser und stabiler niemals hatten, und dafür muss man dankbar sein. Es ist aber auch in vieler Hinsicht eine Schönwetterveranstaltung. Die prägende Kraft vorherrschender Meinungen verhindert, dass wichtige Fragen in ihrer ganzen Breite wahrgenommen und deshalb auch in der Breite analysiert und beantwortet werden. Grundsätzlich ist dies zwar in allen Gesellschaften so. Die spezifische Ausprägung der jeweiligen Gesellschaft macht aber das Meinungsklima mal offener und mal enger, mal zukunftstauglich und mal weniger zukunftsgeeignet.
Oft sind Staaten, Völker und Gesellschaften daran gescheitert, dass sie von außen militärisch besiegt und letztlich zerstört wurden. Ebenso oft aber gingen sie zugrunde, stagnierten oder verkümmerten, weil sie nicht offen genug waren, weil sie sich in ihrem selbstformulierten gesellschaftlichen Code verfingen. Solche Risiken bestehen zu jeder Zeit in jeder menschlichen Gesellschaft. Sie sind mal mehr und mal weniger ausgeprägt, und ihre Ausdrucksformen wechseln im Zeitablauf und von Gesellschaft zu Gesellschaft.
Zum Wesen eines gesellschaftlichen Codes scheint es zu gehören, dass er rational nicht hinterfragt wird, sondern verinnerlicht und emotional kollektiv verankert ist. Auch seine Verletzung wird oft nicht an rationalen Maßstäben gemessen, sondern emotional als Angriff auf das eigene Wertsystem wahrgenommen. Die dadurch ausgelöste Wut kann sich in modernen demokratischen Gesellschaften nicht mehr in staatlicher Unterdrückung, Lynchmorden oder Hexenverbrennungen äußern. Stattdessen gibt es Rufmord, Ignorieren und Totschweigen, üble Nachrede und den Versuch des öffentlichen Prangers.
Wer ungeliebte, emotional berührende Tatsachen ausspricht oder zusammenhänge analysiert, die nicht ins herrschende »Weltbild « passen, wird dann zum »Provokateur« oder zum »Spalter«. Es sind dies übrigens Vokabeln, die man im 19. Jahrhundert einem »Nestbeschmutzer« wie Heinrich Heine oder in den letzten Jahren der Weimarer Republik den »vaterlandslosen Gesellen« der jüdisch dominierten linksliberalen Presse entgegenschmetterte. Salman Rushdie beobachtet eine weltweit wachsende Tendenz, dass Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler, die sich gegen eine herrschende Meinung oder religiöse Orthodoxie wenden, Opfer von persönlicher Diffamierung werden und als Volksverhetzer gelten. Er kritisiert: »Denjenigen, die zu anderen Zeiten für ihre Originalität oder Unabhängigkeit gepriesen worden waren, wirft man nun vor, sie brächten Unruhe in die Gesellschaft.«
Zur Öffentlichkeit im digitalen Zeitalter schreibt Bernhard Pörksen, es lasse sich
»eine Moralisierung aller Lebensbereiche beobachten, eine Neigung zum Tugendterror, die Maß und Mitte verloren hat. Wieso ist das so? Moralische Empörung suggeriert ein Ad-hoc-Verstehen, liefert die Möglichkeit, sich über den anderen zu erheben und im Moment der kollektiven Wut Gemeinschaft zu finden. Sie kommt dem allgemein menschlichen Bedürfnis nach Einfachheit, der Orientierung am Konkreten, Punktuellen und Personalisierbaren entgegen, bedient die Sehnsucht nach Eindeutigkeit, dem Sofort-Urteil und der Instant-Entlarvung.«
Pörksens Beobachtung passt tatsächlich bestens auf die Reaktion von Medien und Politik, als Ende August 2010 „Deutschland schafft sich ab" erschien.
Das menschliche Verhalten in sozialen Kontexten ist zwar ungeheuer vielfältig, aber nichts davon ist wirklich neu. Es lässt sich vielmehr zumeist erklären aus Konstanten der Conditio humana. Nassim Taleb schreibt in Antifragilität, für ihn seien als Gegenstand (für ein Buch) nur Ideen akzeptabel, die sich in ihm über einen langen Zeitraum ausgebildet hätten und die aus der Wirklichkeit kämen. Das ist auch meine Devise für dieses Buch.
Wie gehe ich weiter vor?
Kapitel 1 enthält, basierend auf meinen Erfahrungen, einige prinzipielle Betrachtungen zum Thema Meinungsfreiheit. Die beschriebenen Erlebnisse und Erfahrungen bewirkten nämlich, dass ich in den letzten drei Jahren über Mechanismen der Meinungsbildung und Grenzen der Meinungsfreiheit immer wieder nachdachte. Für mich brach dort eine Problematik auf, die viel weiter ging und auch grundsätzlicher war als nur die Diskussion um ein einzelnes Buch. ich vermeinte, eine Verengung und Kartellierung der Meinungsbildung in Deutschland zu erkennen, die den Blick auf die Welt unzulässig und letztlich für den Einzelnen und die Gesellschaft nachteilig beschränkt.
Kapitel 2 untersucht die konkreten Erkenntnisse und Erfahrungen zur Bildung (und Manipulation) öffentlicher Meinung, die ich aus der Diskussion um Deutschland schafft sich ab gewann, gewissermaßen als Fallstudie. Die konkreten Mechanismen, die dabei zutage traten, hatten für mich einen hohen Erkenntniswert. Sie haben die Konzeption dieses Buches wesentlich geprägt. Der Leser verliert aber auch nicht den Faden der Argumentation, wenn er gleich von Kapitel 1 zu Kapitel 3 übergeht.
Kapitel 3 befasst sich mit einigen Ansatzpunkten, die Geschichte, Psychologie, Soziologie, Ökonomie, Philosophie und Politikwissenschaft zur Erklärung von gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozessen, von Meinungsfreiheit, aber auch von Meinungsherrschaft und Unterdrückung liefern können. Natürlich werde ich hier nicht die ganze europäische Ideengeschichte wiederholen. Ich greife vielmehr einiges heraus, was mir für meine Fragestellung nützlich erscheint.
in Kapitel 4 beschreibe ich den Zusammenhang zwischen Tugendterror und Sprache.
in Kapitel 5 analysiere ich beim Blick in die Geschichte einige historische Ausprägungen des Tugendterrors. Daran schließt sich ein Exkurs zu Fragen der Moral im Kontext von Politik und Gesellschaft an.
Kapitel 6 untersucht die Wirkung der von mir beobachteten Einengung des Meinungsklimas in Deutschland auf die Wahrnehmung wichtiger Gegenstände in Politik und Gesellschaft. Welche inneren Zusammenhänge lassen sich dabei herstellen? In nur leicht polemischer Überspitzung forme ich daraus eine deutsche Axiomatik des Tugendterrors. Ich formuliere vierzehn Felder des gesellschaftlichen und politischen Erkenntnisinteresses, auf denen dieser Tugendterror besonders wirksam ist. auf jedes dieser Felder gehe ich in der Sache ein. Ich zeige, dass die Perspektive des Tugendterrors eine geradezu groteske Verzerrung der Wirklichkeit mit sich bringt. Das hat Folgen für Politik und Gesellschaft.
Kapitel 1
Was ist Meinungsfreiheit, und wie bestimmen sich ihre Grenzen?
Immanuel Kant bestimmt in seiner oft zitierten Schrift »Was ist Aufklärung? « diese als den »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«, und er nennt diese Unmündigkeit »selbstverschuldet«, wenn ihre Ursache »nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen«. Dieser Halbsatz wird übrigens vergleichsweise selten zitiert. Er stellt nicht auf äußere Freiheiten, sondern auf den subjektiven Willen ab. Wo dieser fehlt, sitzt man im selbstgemachten geistigen Käfig. Alexander Gauland beklagt zwar ganz zu Recht, in Deutschland habe »sich ein Hang zur Intoleranz breitgemacht« mit der Tendenz, »die vom Mainstream abweichende Position ins moralische Aus zu drängen«. Dies geht aber nur dort, wo sich jemand aus Mangel an Mut und Entschlusskraft auch drängen lässt.
Meinungsfreiheit ist relativ
Rein formal werden die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland durch das Grundgesetz ausreichend bestimmt. Der Artikel 5 des Grundgesetzes hat aus der Urfassung bis heute unverändert überlebt und ist deshalb von jener schönen und schlichten Klarheit, die neuere Textpassagen, wie z. B. jene zur Schuldenbremse, leider nicht auszeichnet. Er lautet:
»Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.
Kunst und Wissenschaft. Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.«
Doch so einfach ist es nicht. Die tatsächlich gelebte und praktizierte Meinungsfreiheit weist andere Grenzen auf als jene des Gesetzes. Diese Grenzen sind nicht formalisiert, aber doch deutlich enger. Sie ergeben sich aus informellen Regeln gesellschaftlicher Gruppen, aus spezifischen Bestimmungen staatlicher und privater Institutionen und aus den jeweils geltenden Grenzen von Anstand und Sitte. Sie sind letztlich Ausdruck eines komplexen gesellschaftlichen Codes. Dieser verändert sich im Zeitablauf und kann zum gleichen Zeitpunkt in derselben Gesellschaft für unterschiedliche Gruppen ganz unterschiedlich sein. Diese Codes unterliegen keinem allgemeinen Trend. Es kann sein, dass sich die Grenzen gesellschaftlich nicht sanktionierter Äußerungen auf bestimmten Gebieten verengen und gleichzeitig auf anderen Gebieten erweitern.
So sind die Grenzen für Meinungsäußerungen und explizite Darstellungen bei sexuellen Themen heute wesentlich weiter gesteckt als noch vor vierzig Jahren. Aber ein verfehlter Scherz zur Nazi-Diktatur oder zu Frauenrechten kann im Gegensatz zur Zeit vor vierzig Jahren heute jemanden im öffentlichen Amt oder in einer anderen hervorgehobenen Position durchaus die Karriere kosten. Dagegen enden heute Karrieren nicht mehr wegen außerehelicher Affären oder einer bestimmten sexuellen Neigung.
Dieses Netz komplexer Regeln, das die Grenzen der tatsächlich ausübbaren Meinungsfreiheit bestimmt, ändert sich im Zeitablauf ständig. Es wird nicht gebildet durch gesellschaftliche Beschlüsse, sondern durch den impliziten Konsens meinungsbildender Gruppen, der bisweilen allerdings auch eine formale Ausprägung erfährt. Es ist das Wesen solcher vorgesetzlichen Grenzen der freien Meinungsäußerung, dass sie dem Einzelnen oft gar nicht bewusst sind. Er richtet sich mit seinen Äußerungen spontan an dem jeweils für ihn geltenden gesellschaftlichen Code aus.
Der Verlauf dieser Grenzen einer gesellschaftlich tolerierten Meinungsäußerung kann zur selben Zeit in derselben Gesellschaft für unterschiedliche Gruppen ganz unterschiedlich sein. Was in einer bestimmten Nische der Pop- und Jugendkultur an Äußerungen oder Verhaltensweisen toleriert oder sogar bejubelt wird, kann in einer anderen Gruppe oder einem anderen Kontext zur gesellschaftlichen Ächtung führen.
Die impliziten Grenzen freier Meinungsäußerung schwanken nicht nur im Zeitablauf oder weisen gruppenspezifische Unterschiede auf. auch in westlichen Demokratien gibt es vielmehr themenbezogen deutliche Unterschiede von Staat zu Staat, von Nation zu Nation. Während z. B. in Schweden die Inanspruchnahme käuflicher sexueller Dienste verboten und auch entsprechend gesellschaftlich geächtet ist, hat es den Wahlchancen des italienischen Ministerpräsidenten in Italien lange Zeit nicht geschadet, dass seine privaten Partys auch von Prostituierten besucht werden. Erst als der Verdacht aufkam, einige von diesen seien minderjährig, bekam Berlusconi Probleme.
Äußerungen, die in einem Land als berechtigte sachliche Kritik völlig akzeptabel scheinen, solange sie belegbar sind, können in einem anderen Land schon deshalb kaum getan werden, weil sie Kritik enthalten und Kritik einen Gesichtsverlust des Kritisierten bedeutet. Die Bedeutung solcher Normen sah man an der zögerlichen Art, mit der in Japan im März 2011 in den ersten Tagen der Atomkatastrophe die Probleme kommuniziert wurden.
Das fein gesponnene und sich ständig verändernde netz gesellschaftlicher Normen, die die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung begrenzen, kann sich bei manchen Themen verdichten bis zum gesellschaftlichen Tabu. Hier kann es sein, dass nicht nur bestimmte Meinungsäußerungen, sondern sogar bestimmte Fragen verboten sind und geächtet werden. Diesen Tabus folgt die Mehrheit der Menschen zumeist ganz unbewusst.
Der Historiker Volker Reinhardt meint dazu:
»Offenbar ist der Mensch so organisiert, dass er einem übergeordneten Rechtgläubigkeitsverband angehören will. Das müssen gar keine Religionen sein. Er möchte einer Gemeinschaft angehören, die die Welt richtig sieht. Dadurch wird er anfällig, Abweichler zu denunzieren.«
Freiheit der Meinungsäußerung und Freiheit des Denkens sind miteinander untrennbar verwoben und wirken aufeinander ein. Das Denken des Menschen ist auf Mitteilung gerichtet. Wo ihn etwas interessiert, möchte er sich anderen mitteilen. Und auf Gebieten, wo Mitteilung nicht möglich ist, stellen die meisten Menschen auch das Denken ein. Die Unterdrückung der Meinungsfreiheit in Diktaturen richtet sich auf die Unterdrückung angeblich falschen Denkens mindestens genauso wie auf die Unterdrückung falscher Meinungen. Wo man nicht denkt, können auch keine Meinungen entstehen.
Wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Fortschritt ging immer damit Hand in Hand, dass in gewissem Umfang freies Denken möglich war. Selbst in autokratischen Regierungs- und Gesellschaftsformen kann es ja weite Bereiche geben, in denen der denkende Geist frei schweifen und sich auch mitteilen kann.
Gesellschaften, die ein Übermaß an Mitteilungs- und Denkverboten praktizieren, behindern ihre eigene Entwicklung. häufig allerdings sind diese Verbote tief in den historischen, kulturellen und religiösen Traditionen dieser Gesellschaften angelegt. Dann sind sie ein nicht hinterfragter, integraler und selbstverständlicher Teil des gesellschaftlichen Seins und des Bewusstseins ihrer Menschen. Solche Gesellschaften sind sich ihrer eigenen Grenzen gar nicht bewusst und können diese folglich auch nicht überwinden. Das gilt für die heilige Kuh bei den Hindus genauso wie für die untergeordnete abhängige Rolle der Frau in den meisten islamischen Gesellschaften.
Der Aufstieg des westlichen Abendlandes wurde ermöglicht durch die Freiheit des Denkens und Forschens, die seit der frühen Renaissance auf allen Gebieten um sich griff. Die formale Garantie von Meinungsfreiheit im Rahmen der Gewährung bürgerlicher Freiheiten stand am Ende, nicht am Anfang dieses Prozesses. zuerst kam die Inanspruchnahme von Meinungsfreiheit, dann ihre Kodifizierung im Gesetz.
Umgekehrt gilt auch: Wenn der implizite gesellschaftliche Konsens die Grenzen zur freien Meinungsäußerung verengt, dann verengt er gleichzeitig die Grenzen des Denkens, und dies wiederum beeinflusst Richtung und Inhalt der gesellschaftlichen Diskussion und der künftigen gesellschaftlichen Entwicklung.
Denken ist Macht, und wo um gesellschaftliche Macht gerungen wird, da wird gleichzeitig auch immer um den Umfang und das Ausmaß gesellschaftlicher Denkverbote gerungen. Diese wiederum werden durchgesetzt über die gesellschaftlichen Regeln zu den Grenzen der freien Meinungsäußerung. Solche Prozesse werden nicht planvoll gesteuert. Sie laufen weitgehend unbewusst ab, aber sie prägen das Verhalten aller Beteiligten.
Von gesellschaftlichen Einwirkungen auf ihre Meinung am unabhängigsten sind die Menschen stets dort, wo sie eine eigene fachliche Kompetenz haben, das heißt im Kernbereich ihrer Berufsausübung. Das gilt für den Tischler genauso wie für den Arzt oder den Physiker. Je weniger die Menschen dagegen zu einer Sache ein eigenes Urteil haben, umso mehr verlassen sie sich auf jene, die aus ihrer Sicht Experten für die jeweiligen Fragen sind. Da die meisten normalen Menschen lieber im Konsens als im Dissens leben und zudem sozial möglichst wenig anecken möchten, neigen sie dazu, auf allen Gebieten, auf denen sie keine Experten sind, jene Meinungen zu teilen, die sie als Mehrheitsmeinung in der Gesellschaft oder in der eigenen Bezugsgruppe wahrnehmen. So entstehen Moden des Denkens genauso wie Moden der Kleidung.
Insgesamt gibt es in der deutschen Bevölkerung nach den Erkenntnissen aus Meinungsumfragen
»ein bemerkenswert großes Maß an Intoleranz gegenüber Meinungen ..., die den eigenen Vorstellungen von einer moralisch angemessenen Haltung widersprechen. Bei zehn der insgesamt 21 zur Auswahl vorgelegten Aussagen sind erhebliche Teile von mindestens einem Drittel der Bevölkerung der Meinung, man müsse sie verbieten. Der Gedanke, dass das im Grundgesetz verankerte Prinzip der Meinungsfreiheit auch für abseitige Meinungen, für Tabubrüche und moralisch vielleicht schwer erträgliche Positionen gilt, liegt vielen Menschen offensichtlich fern.«
© Copyright DVA Sachbuch, Februar 2014
Thilo Sarrazin ist einer der profiliertesten politischen Köpfe der Republik, ein Querdenker, der sich nicht scheut, auch unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Als Fachökonom war er Spitzenbeamter und Politiker, er war verantwortlich für Konzeption und Durchführung der deutschen Währungsunion, beaufsichtigte die Treuhand und saß im Vorstand der Deutschen Bahn Netz AG. Von 2002 bis 2009 war er Finanzsenator in Berlin, anschließend eineinhalb Jahre Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank. Sein Buch »Deutschland schafft sich ab« (2010) wurde ein Millionenerfolg und löste eine große gesellschaftliche Debatte aus. Bei der DVA erschien zuletzt von ihm »Europa braucht den Euro nicht« (2012).
- Autor: Thilo Sarrazin
- 2019, 5. Aufl., 400 Seiten, Maße: 14,2 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: DVA
- ISBN-10: 3421046174
- ISBN-13: 9783421046178
- Erscheinungsdatum: 24.02.2014
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