Der rettende Weg
Der rettende Weg von Mietek Pemper
LESEPROBE
VORWORT
Krakau war vom Mittelalter bis zu denTeilungen Polens eine der europäischenMetropolen und Hauptstadt des großen polnisch-litauischenReiches. Etwa im 13.Jahrhundert wurden auch Juden in ihr heimisch.
Mit der Besetzung des Landes durchHitlers Truppen am 1. September 1939begann für große Teile der polnischenBevölkerung, insbesondere für die Juden, ein sechsjähriges Martyrium. Ich empfinde es als meine besondereVerpflichtung, von den Jahren unter derdeutschen Besatzung und der schrecklichenLagerhaft zu berichten. Obwohl es fast aussichtslos schien, konnten einige von uns überleben. In demtödlichen Szenario aus Krieg, Verfolgung und Massenmord bin ich auf beiden Seiten aufrechten Menschen begegnet.
Den jüdischen Opfern wurde häufig derVorwurf gemacht, sich nicht hinreichend zur Wehr gesetztzu haben. Doch was hätten wir unbewaffnetenMenschen gegenüber einer militärischen Großmacht, ausgerüstet mitneuester Kriegstechnik, zuwege bringenkönnen? Wohl gab es einige, die versuchten, sich den NS-Besatzern mit Waffengewalt zu widersetzen. Auch in Krakau entlud sich der Zorn in einer Reihe vonAttentaten. Leider aber waren solcheAktionen, abgesehen von wenigen Ausnahmen,zum Scheitern verurteilt. Die Täter, idealistische junge Menschen, wurden fastalle aufgespürt und von der deutschenSicherheitspolizei brutal umgebracht. Mein Gott, überlegte ich damals,man kann doch nicht erwarten, einen Staat,der fast ganz Europa besiegt hat, mit ein paar selbstgebastelten Bombenund Sprengsätzen zur Änderung seiner Politikzwingen zu können. Natürlich, diese Aktionen setzten Zeichen, daß Judeneben nicht ergeben ihrer fortschreitendenEntrechtung zusahen. Aber sie provozierten auch Vergeltungsaktionen seitensder NS-Besatzer, denen wiederum viele jüdische Menschen zum Opfer fielen.Durfte man einen solchen »Blutzoll«einkalkulieren - für ein Zeichen? Damuß es doch noch einen anderen Weggeben, dachte ich. Wie dieser Wegallerdings konkret auszusehen hätte, wußte ich damals noch nicht. Doch eines war mir stets klar: Ichwollte Menschenleben bewahren, ohnezur Waffe greifen zu müssen.
Das Lager Krakau-Plaszów -zuerst Zwangsarbeitslager und ab 1944 Konzentrationslager- war unter den etwa zwanzig KZs im damaligen deutschen Herrschaftsbereich einSonderfall. Es war das einzige aus einem jüdischen Ghetto hervorgegangeneKonzentrationsstammlager. Mir ist kein anderer Fall einer derartigenEntstehungsgeschichte bekannt. Währenddieser Zeit war ich unfreiwillig der persönliche Stenograph (Lagerschreiber) des Lagerkommandanten AmonGöth. Wie ungewöhnlich, geradezu regelwidrig meine Tätigkeit in der Kommandantur eines KZ war, erfuhr ich erst,als ich 1951in Warschau beim Kriegsverbrecherprozeßgegen SS-Standartenführer GerhardMaurer aussagte. Maurer war bis 1945Chef des gesamten Arbeitseinsatzesaller KZ-Häftlinge und der Vorgesetztealler Kommandanten der Konzentrationslager. Ihmunterstanden mehr als eine halbe Million Menschen.Maurer wollte meiner Aussage, ich hätte als der persönliche Schreibereines KZ-Kommandanten gearbeitet und alssolcher Geheimakten eingesehen, zuerst keinen Glauben schenken. Selbst vor Gericht wunderte er sich, wiees möglich gewesen sei, daß sich AmonGöth, ein ihm damals direkt Untergebener,in einem solchen Maße über verbindliche Vorschriften hinwegsetzen konnte. Sogar im nachhinein machte Maurerdas beinahe sprachlos. Ich hatte bereits 1946 im Prozeß gegen Amon Göth als Hauptzeuge der Anklage ausgesagt,doch dabei war das Außergewöhnlichemeiner Stellung als Göths Schreiber gar nicht zur Sprachegekommen. Erst nach Gerhard Maurers konsternierter Reaktion im Jahr 1951 wurde mir meine in der gesamten Nazizeit einzigartige Position im Lager Plaszów bewußt und von anderen bestätigt.
Mein Leben ist aufgrund dieser mehrals 54o Tage im »Epizentrum des Bösen«untrennbar mit der Geschichte des Lagers Krakau-Plaszów verbunden, denn vom 18. März 1943 bis zum 13. September 1944 war ich - anfangssogar als einzige Kraft - in der Lagerkommandantur tätig. Mein Leben istaber ebenso untrennbar mit OskarSchindler verbunden, mit dem ich engzusammenarbeitete. Im KZ Plaszów überlebten (verglichen mit anderen Lagern) überdurchschnittlich viele jüdische Menschen. Das hing auch mit SchindlersRettungsaktion zusammen, denn ausunserem Lager stammten die eintausendÜberlebenden von »Schindlers Liste«. Auch die Namen meiner Eltern,meines Bruders und mein eigener standen auf dieserListe, und wir verdanken Oskar Schindler unser Überleben.
Die Geschichte des Holocaust ist engmit den Entwicklungen an derOstfront verknüpft. Zunächst verlief der Krieg sehr vorteilhaftfür die deutsche Wehrmacht und ihre Verbündeten.Das änderte sich erst nach den enormen Menschenverlusten beim Einmarschin die Sowjetunion, besonders nach derNiederlage der Deutschen bei Stalingrad. Ab Februar 1943 steckte Deutschland in einer tiefen kriegswirtschaftlichen Krise.Arbeitskräfte waren jetzt Mangelware, und das Tempo der Massentötungennahm ab. Dafür stieg die Arbeitsausbeutung derHäftlinge. Der »totale Krieg«, zu dem Joseph Goebbels die deutsche Bevölkerung in seiner BerlinerSportpalast-Rede Anfang 1943aufgerufen hatte, zeigte weitreichendeFolgen, denn von nun an wurde die gesamte Wirtschaft Lenkungsorganen unterstellt, deren vorrangige Aufgabe dieSteigerung der Rüstungsproduktion wurde. Für uns wenige verbleibende Juden wardas von entscheidender Bedeutung. Als im Herbst 1943 mehrere Ghettosund Zwangsarbeitslager im Generalgouvernementaufgelöst wurden, die hauptsächlich Textilien herstellten, blieb unser Lager Krakau-Plaszów erhalten. An dieser Entwicklung, die zur Bewahrung vielerMithäftlinge vor der Deportation nach Auschwitz führte, war ich beteiligt. Im Büro der Lagerkommandantur konnte ich mirEinblick in geheime Unterlagen verschaffen. Dadurch wurde die Rettungsstrategie erst ermöglicht.
Bei einem Aufenthalt in den USA in denfrühen siebziger Jahren traf ichJuden, die sich wunderten, daß ich heute in Deutschland lebe. Doch noch mehrerstaunte sie, daß ich über einenehemaligen Naziangehörigen wie Oskar Schindler soviel Gutes zu sagen hatte.Oskar Schindler und ich standen bis zu seinem Tod im Jahr1974 in freundschaftlicher Verbindung.Damals kannte die große Öffentlichkeit seinen Namen noch nicht, relativ wenige wußten von seiner ungewöhnlichen Rettungstatin Plaszów und später in Brünnlitz. Ich habe mir oft die Frage gestellt, nachdem ich für Amon Göth arbeiten mußte und mit Oskar Schindler zusammenarbeitendurfte, was geschehen wäre, hätte eskeinen Krieg und keine NaziIdeologiemit ihrem Rassenwahn gegeben. Dann wäre der eine wohl kein Massenmörderund der andere wohl kein Lebensretter geworden.Erst die besondere Situation des Krieges und die besondere Machtfülle,die einzelne Menschen erlangen konnten,offenbarten das ethische Niveau, den Charakter dieser Menschen in sobeeindruckendem und erschreckendem Maße.Das Schicksal hatte mich zwischen diese beiden Menschen gestellt, die gewissermaßen wie Engel und Teufel zueinander standen. Ich konnte die meisten meineramerikanischen Freunde damals nicht davon überzeugen, daß wir uns, wenn wirerzählen, sehr sorgfältig um die Wahrheit bemühen müssen. Jede Kleinigkeit muß stimmen, jede Ungenauigkeit erschüttert die Glaubwürdigkeit desGanzen. Ich bin strikt gegenÜbertreibung. Ich werde mich darauf beschränken, die Wahrheit zu sagen. Kein Wort mehr. Lieber zwei Worte weniger.
© Hoffmann und Campe
Viktoria Hertling, Professorin für Holocaust- und Exilforschung, ist Direktorin des von ihr gegründeten Center for Holocaust, Genocide & Peace Studies an der University of Nevada in Reno, USA. Sie hat mehrere Bücher und zahlreiche Essays veröffentlicht.Marie Elisabeth Müller, Studium der Literaturwissenschaft, Medienwissenschaft (Promotion) und Philosophie, ist Autorin von Radiofeatures, Hörspielen, Reportagen und Essays. Zurzeit arbeitet sie als literaturwissenschaftliche Lektorin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes an der University of Nairobi, Kenia.
- Autor: Mietek Pemper
- 2005, 286 Seiten, mit Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Hoffmann und Campe
- ISBN-10: 3455094937
- ISBN-13: 9783455094930
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