Der Rote
Ein Seebeben vor der Halbinsel Kaikoura in Neuseeland. Gigantische Wellen verwüsten Landstriche und Ortschaften an der Küste. Wale, Pelzrobben und Menschen flüchten in heller Panik.
Der deutsche Zoologe Hermann Pauli harrt jedoch aus. Er forscht über...
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Ein Seebeben vor der Halbinsel Kaikoura in Neuseeland. Gigantische Wellen verwüsten Landstriche und Ortschaften an der Küste. Wale, Pelzrobben und Menschen flüchten in heller Panik.
Der deutsche Zoologe Hermann Pauli harrt jedoch aus. Er forscht über Tintenfische, und das Seebeben hat ein monströses Wesen aus der Tiefe an die Oberfläche befördert, ein Kalmar, wie ihn zuvor nie ein Mensch gesehen hat. Die "Killerkrake" versetzt die Zurückgebliebenen in Angst und Schrecken, nur Hermann Pauli erkennt die Chance, durch "den Roten" Einblicke in das unerforschte Leben der Tiefsee zu gewinnen. Dafür nimmt er auch lebensgefährliche Risiken auf sich.
Der Biologe Bernhard Kegel hat mit Der Rote einen Wissenschaftsthriller geschrieben, der ganz ohne Aliens auskommt - und stattdessen eine atembeklemmende Geschichtevom Eigensinn der Natur erzählt, die sich eines Tages genau so zutragen könnte.
Der Rote von Bernhard Kegel
LESEPROBE
1. Kaikoura
Maui
Wieder warer schweißgebadet aufgewacht. Seit Tagen fand er abends nicht in den Schlaf,dann folgten Nächte, so kurz und wenig erholsam, dass es ihm beim ersten müdenBlinzeln am Morgen vorkam, als hätte es sie gar nicht gegeben. Hermann Paulikannte diesen Zustand, er hatte weiß Gott genug Zeit im Kampf mit quälendenGedankenspiralen verschwendet, die irgendwann nur noch um sich selbst kreisten.Er hatte es kommen sehen und vielleicht sogar provoziert. Es war schließlichseine Entscheidung gewesen, hierher zu fahren, um in den eigenen altenFußstapfen zu wandeln. Er hatte versucht, sich zu wappnen, aber als der Rückfalldann mit Urgewalt über ihn hereinbrach, hatte er nur noch Schutz suchen können undgehofft, das Unwetter würde sich bald ausgetobt haben und vorüberziehen.
Doch dieserMorgen war anders. Die aufgehende Sonne schickte helle Lichtpfeile durch dasGebüsch hinter den Dünen ins Innere seines Campingbusses. Dasmonotone Getrommel des Regens auf dem Wagendach war verstummt. Stattdessen -Hermann konnte es kaum glauben - hörte er munteres Vogelgezwitscher. Er schlugdie Augen auf, rollte sich zum Fenster, zog die Vorhänge zur Seite und warsofort hellwach. Endlich. Heute würde er sich nicht durch den Tag quälenmüssen, würde nicht auf ihr Foto starren und sich nach dem Warum fragen und wiees zu Hause weitergehen sollte. Die Sonne schien. Und er hatte etwas vor. Inwenigen Stunden würde er Wale sehen.
Den Weg zumDuschhaus sparte er sich und erledigt die Morgentoilette zu John Lee Hookers grummeliger Greisenstimmerasch an der kleinen Spüle im Wagen. Er pumpte Wasser in das Becken und brummtemit, I m in the moohood, baby ...
Als er sichdas Gesicht abgetrocknet hatte, verharrte er einen Augenblick und schenkte demschmucken kleinen Technikwunder, das vorne auf der Ablage thronte, einenliebevollen Blick. Den MP3-Player hatte er, mit Dateien vollgestopft,von zu Hause mitgebracht, die Konsole mit den beiden Lautsprecherboxen bei derZwischenlandung in Singapur auf dem Flughafen gekauft. Eine gute Entscheidung.Ohne die Musik, das dachte er heute nicht zum ersten Mal, ohne seinen Bach undden in Australien wiederentdeckten Blues hätte er das alles nicht durchgestanden.
Auf derFahrt die Küstenstraße entlang hörte er The Healer. Es war John, der ihm vor Monaten Hookers letzte Alben mitgebracht hatte, weil er daseinseitige Musikangebot seines Kollegen nicht mehr ertragen konnte.Mittlerweile war Hooker tot, aber Ende der Achtziger hatteeine Plattenfirma den greisen Bluesrecken aus der Versenkung geholt und ihmeine musikalische Frischzellenkur verpasst, die ihnweltberühmt machte. Hermann, der sein altes Idol seit Jahrzehnten aus den Augenverloren hatte, reagierte mit Befremden. Wie konnten sie es wagen, aus JohnLee, der unverfälschten minimalistischen Blues spielte, einen verdammten Popstarzu machen? Aber dann hatte er Gefallen gefunden an den alten Songs im neuen Gewand.Sie beförderten ihn auf eine Zeitreise zurück ins Göttingen der sechziger und siebzigerJahre. Er studierte damals Biologie, aber wenn er gerade keine Pflanzenbestimmte oder sich in den Innereien eines Regenwurms zu orientieren versuchte,verbrachte er jede freie Minute im muffigen Übungsraum der Electric Hookers. Sie hatten etliche Songs ihres damals fastunbekannten Namengebers im Programm. Hermann spielte die Rhythmusgitarre.
Inzwischenbegleitete ihn John Lee Hookers Musik auf Schritt undTritt, und er war froh über das Comeback. Er bewunderte den Mann, der es imbiblischen Alter von siebzig Jahren geschafft hatte, sich noch einmalvollkommen neu zu definieren. Und er beneidete ihn um seine zweite Chance.Manchmal wünschte er, es käme jemand, ein Healer, derauch ihm ein neues Leben schenkte, einen neuen Anfang. Aber ihm half niemand.Er würde wohl in Zukunft sein eigener Heiler sein müssen.
Hermann wardie Strecke nach Kaikoura in den letzten Tagen schonein paar Mal gefahren, achtete kaum auf die Umgebung und hing seinen Gedankennach. Was wohl aus den Jungs von der Band geworden war. Zu Benniehatte er noch Kontakt. Er war Internist in Lübeck, stolzer Vater von dreiKindern, ein rundlicher Mann mit schütterem Haar, mit dem er gelegentlich Essenging und in alten Erinnerungen schwelgte. Benniesetzte sich immer noch im Keller seines Hauses hinter das Schlagzeug, um, wieer es nannte, ein wenig zu grooven. Ganz relaxed, versteht sich, rein zur Entspannung. Als Drummerder Electric Hookers war Entspannung für Bennie ein Fremdwort gewesen. Er hatte so wild auf dieFelle eingedroschen, dass ihnen die Bruchstücke seinerSticks um die Ohren flogen.
Von denanderen hatten sie lange nichts gehört. Hermann musste lachen, als er an Pit dachte. Sie hatten ihn Floh genannt. Er war nur einsdreiundsechzig groß, und um mit BenniesEnergie mitzuhalten, spielte der Arme sich auf den scheppernden Seiten seinesriesigen Fenderbasses regelmäßig die Fingerkuppen blutig. Mein Gott, warum erjetzt an diese alten Geschichten denken musste, ausgerechnet hier, am anderenEnde der Welt.
Bei einemKonzert der Hookers hatte er Brigitte getroffen, vorüber dreißig Jahren. Vielleicht deshalb. Die Biologie und die Musik, das wardamals sein Leben. In wen hatte sie sich eigentlich verliebt, dachte erplötzlich. In den langhaarigen Gitarristen, der mit seinen Kumpels auf Unifesten den wilden Mann markierte, oder in den scharfenAnalytiker, den Wissenschaftler, der damals schon in ihm steckte? Dass er sienie danach gefragt hatte ...
Erschüttelte verwundert den Kopf und schaltete die Musik aus, um sich auf dieFahrt und den bevorstehenden Ausflug zu konzentrieren. Die ersten Häuser von Kaikoura tauchten auf. Er würde gleich da sein.
Als erseinen Bus abgestellt hatte und aus der Wagentür kletterte, herrschte auf demweitläufigen Parkplatzgelände schon lebhafter Betrieb. Vor geöffnetenKofferraumhauben wurden Jacken, Pullover, Wasserflaschen und Obst in Taschenund Rucksäcke gestopft. Aus zwei Reisebussen quoll eine laut durcheinanderredende Touristengruppe, alle in Turnschuhen undbunten Windjacken. Mütter und Familienväter versuchten, ihre aufgeregten Kinderim Auge zu behalten. Überall erwartungsvolle Gesichter, Lachen, Vorfreude undBegeisterung über das herrliche Wetter. Hermann hatte geahnt, dass er nicht derEinzige sein würde - in den vergangenen Tagen waren alle Bootstouren wegen desRegens und der rauen See gestrichen worden -, aber mit einem derartigen Andranghatte er nicht gerechnet. Seine Enttäuschung machte sich in einem tiefenStöhnen Luft und er überlegte, ob er zurück auf den Campingplatz fahren sollte.Aber er hatte gestern für teures Geld einen Platz auf dem ZehnUhr-Bootgebucht und zu lange auf diesen Moment gewartet.
Er atmetetief durch, schulterte den ausgeblichenen Leinenrucksack, der ihn seit Jahrenauf seinen Reisen begleitete, und lief an einer langen Reihe von Pkws und Campervans vorbei auf das Terminalgebäude zu. Dass es sichum einen umgebauten Bahnhof handelte, erkannte man nur an den Gleisen, die ander Rückseite des Flachbaus vorbeiführten. Noch immer hielten
hiertäglich zwei Tranz-Coastal-Züge aus Picton und Christchurch, doch dieBahngleise - vor fünfzig Jahren in einem Ort, der jahrzehntelang nur über dasMeer zu erreichen war, noch eine gefeierte Sensation -, waren zur Nebensachegeworden. Jetzt beherrschte Whale WatchLtd. die Szenerie. Und der Wandel hatte Symbolwert. Wer heute als Reisender in Kaikoura halt machte, kam - wie die ersten weißen Siedlervor hundertfünfzig Jahren - vor allem wegen der Wale.
Frohdarüber, dass er sich nicht in eine der langen Schlangen vor denTicketschaltern einreihen musste, ging Hermann außen an dem Gebäude entlang biszum Eingang des Cafés, wo er sich ein Chicken-Sandwichund einen doppelten Espresso bestellte und mit dem Tablett draußen auf dieTreppenstufen setzte. Drei Tage hatte er viele Stunden lesend, dösend und
frierendallein in seinem Bus verbracht, was seiner Stimmung alles andere als zuträglichgewesen war. Aber das Warten hatte sich gelohnt. Wo vorher nur Regenschleierund dunkle Wolkenmassen zu sehen waren, funkelten heute die mit frischemNeuschnee bepuderten Gipfel der Kaikoura Range in derMorgensonne. Auf der Fahrt hatte er es kaum registriert, aber die Bergkulisseim Landesinneren war so grandios, dass er sich kaum sattsehenkonnte. Sie umgab die Halbinsel wie die Zuschauerränge eines riesigen Amphitheaters.Es ist doch gut, dass ich hierher gekommen bin, dachte er und biss in seinSandwich. Er hatte vergessen, wie schön dieser Ort ist.
Abgesehenvon dem Besuch der Fischereitagung in Auckland, dievor vier Tagen zu Ende gegangen war, hatte er für die letzten zwei Wochenseiner langen Forschungsreise keine konkreten Pläne gehabt. Er dachte daran,mit der Bahn quer durch die neuseeländische Nordinsel zu fahren, um inWellington einen Freund seines Australischen Kollegen John Deaverzu besuchen. «Glaub mir», hatte John gesagt. «Raymond ist genau der Richtige,um dich auf andere Gedanken zu bringen. Du wirst sehen, ihr geht irgendwo amStrand spazieren, und ehe du dich versiehst, stolpert ihr über einenRiesenkalmar.»
Doch imNational Institute of Atmospheric & Water Research hatte er erfahren, dass Raymond Holmes miteinem Forschungsschiff im Südpazifik unterwegs sei. Also hatte er seinen Plangeändert, war auf die Südinsel geflogen, hatte sich ein weißes Campingmobil mitKühlschrank und Gaskocher gemietet, und, wie damals vor über zehn Jahren, Kaikoura angesteuert, das etwa drei Autostunden nördlichder Inselmetropole Christchurch liegt. Er hoffte,sich hier, an einem Ort, den er schon einmal mit seiner Familie besucht hatte,daran zu gewöhnen, dass ihn die Erinnerungen auf Schritt und Tritt verfolgten.Bevor es zu Hause kein Entkommen mehr geben würde.
© Marebuch Verlag
- Autor: Bernhard Kegel
- 2007, 4. Aufl., 500 Seiten, Maße: 13,5 x 20,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: mareverlag
- ISBN-10: 3866480679
- ISBN-13: 9783866480674
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