Der Scherz
Roman
"Optimismus ist das Opium der Menschheit! Ein gesunder Geist mieft nach Dummheit! Es lebe Trotzki!" Mit dieser Postkarte an seine Freundin reagiert Ludvik darauf, dass sie lieber zur politischen Schulung fährt, als mit ihm auf eine abgelegene Hütte. Was als...
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Produktinformationen zu „Der Scherz “
Klappentext zu „Der Scherz “
"Optimismus ist das Opium der Menschheit! Ein gesunder Geist mieft nach Dummheit! Es lebe Trotzki!" Mit dieser Postkarte an seine Freundin reagiert Ludvik darauf, dass sie lieber zur politischen Schulung fährt, als mit ihm auf eine abgelegene Hütte. Was als Scherz gedacht war, stürzt Ludvik ins Unglück. Er wird von der Universität relegiert und in die Kohlegruben geschickt. Jahre später will er sich an Pavel rächen, der Schuld an seiner Misere ist, und verführt dessen Frau. Aber auch dieser Scherz schlägt fehl. Kunderas erster Roman ist eine bittersüße Satire - voll scharfem Humor und sinnlicher Erotik.
Lese-Probe zu „Der Scherz “
Der Scherz von Milan KunderaErster Teil
Ludvik
So fand ich mich nach vielen Jahren auf einmal zu Hause wieder. Ich stand auf dem Hauptplatz (den ich als kleines Kind, als Junge und als junger Mann unzählige Male überquert hatte), und ich verspürte keine Rührung; ich dachte vielmehr, dass dieser flache Platz, dessen Dächer der Rathausturm überragte (er glich einem Soldaten mit altertümlichem Helm), aussah wie ein großer Exerzierplatz einer Kaserne, und dass die militärische Vergangenheit dieser mährischen Stadt, einer ehemaligen Bastion gegen die Einfälle der Magyaren und der Türken, ihrem Gesicht Züge unauslöschlicher Scheußlichkeit eingegraben hatte.
... mehr
Während langer Jahre hatte mich nichts an meinen Geburtsort zurückgezogen; ich sagte mir, er sei mir gleichgültig geworden, und das schien mir natürlich: ich lebte ja schon fünfzehn Jahre nicht mehr dort, geblieben waren einige Bekannte oder Kameraden (denen ich auch lieber aus dem Weg ging), meine Mutter lag hier in einem fremden Grab, um das ich mich nicht kümmerte. Aber ich hatte mich selbst betrogen: was ich Gleichgültigkeit nannte, war in Wirklichkeit Hass; seine Ursachen entgingen mir, denn in meinem Geburtsort waren mir gute wie böse Dinge widerfahren, wie in allen anderen Städten auch, doch dieser Hass war da; er wurde mir gerade im Zusammenhang mit dieser Reise bewusst: die Aufgabe, die mich hatte hierherfahren lassen, hätte ich schließlich auch in Prag erledigen können; die gebotene Gelegenheit, das Vorhaben in meiner Geburtsstadt in die Tat umzusetzen, begann mich aber plötzlich gerade deshalb unwiderstehlich zu reizen, weil es sich um eine zynische, niedrige Aufgabe handelte, die mich höhnisch von dem Verdacht befreite, aus sentimentaler Rührung über die verlorene Zeit hierher zurückgekehrt zu sein.
Noch einmal musterte ich hämisch den hässlichen Platz, kehrte ihm dann den Rücken und ging durch eine Straße zum Hotel, in dem ich ein Zimmer reserviert hatte. Der Portier reichte mir einen Schlüssel mit hölzerner Birne und sagte: »Zweiter Stock«. Das Zimmer war nicht gerade einladend: an der Wand ein Bett, in der Mitte ein kleiner Tisch mit einem einzigen Stuhl, neben dem Bett ein prunkvoller Mahagoni- Toilettentisch mit Spiegel, neben der Tür ein winziges, zersprungenes Waschbecken. Ich legte die Aktentasche auf den Tisch und öffnete das Fenster: man sah in einen Hof und auf Häuser, die dem Hotel ihre schmutzigen, nackten Rücken zeigten. Ich schloss das Fenster, zog die Vorhänge zu und trat zum Waschbecken, das zwei Hähne hatte, der eine rot, der andere blau gekennzeichnet; ich probierte sie aus, und aus beiden floss kaltes Wasser. Ich sah mir den Tisch an; der war einigermaßen annehmbar, eine Flasche und zwei Gläser würden gut darauf Platz haben, schlimmer war aber, dass nur eine Person an dem Tisch sitzen konnte, weil es im Raum keinen zweiten Stuhl gab. Ich rückte den Tisch ans Bett und versuchte, mich daran zu setzen, doch das Bett war zu niedrig und der Tisch zu hoch; das Bett sank überdies tief unter mir ein, und mir wurde sogleich klar, dass es nicht nur schwerlich als Sitzgelegenheit dienen, sondern auch die Funktion eines Bettes nur zweifelhaft erfüllen würde. Ich stemmte mich mit beiden Fäusten dagegen; dann legte ich mich hinein und hob die Füße mit den Schuhen behutsam in die Höhe, um die Decke und das Betttuch nicht zu beschmutzen. Das Bett sackte unter mir ein, und ich lag darin wie in einer Hängematte oder in einem ganz schmalen Grab: es war unvorstellbar, mit noch jemandem in diesem Bett zu liegen.
Ich setzte mich auf den Stuhl, heftete den Blick auf die lichtdurchtränkten Vorhänge und versank in Gedanken. In diesem Moment vernahm ich vom Flur her Schritte und Stimmen; es waren zwei Personen, ein Mann und eine Frau; sie unterhielten sich, und jedes Wort war zu verstehen: sie sprachen über einen Petr, der von zu Hause ausgerissen war, und über eine Tante Klara, die blöde war und den Jungen verhätschelte; dann waren ein Schlüssel in einem Schloss und das Öffnen einer Tür zu hören, die Stimmen redeten im Nebenzimmer weiter; ich hörte das Seufzen der Frau (ja, sogar ein einfaches Seufzen war zu hören!) und den Vorsatz des Mannes, diese Klara endlich gehörig ins Gebet zu nehmen.
Ich stand auf und hatte meinen Entschluss gefasst; ich wusch mir noch im Waschbecken die Hände, trocknete sie mit dem Handtuch ab und verließ das Hotel, obwohl ich zunächst nicht wusste, wohin ich gehen würde. Ich wusste nur eines: wollte ich das Gelingen dieser Reise (einer ziemlich weiten und beschwerlichen Reise) nicht allein durch die Ungemütlichkeit eines Hotelzimmers in Gefahr bringen, musste ich mich mit meiner vertraulichen Bitte an irgendeinen hiesigen Bekannten wenden, obwohl mir das widerstrebte. Ich ließ mir die alten Gesichter aus der Jugendzeit schnell durch den Kopf gehen, wies sie aber alle schon deshalb zurück, weil die Vertraulichkeit der gewünschten Gefälligkeit es erfordert hätte, mühsam die langen Jahre zu überbrücken, in denen ich diese nicht gesehen hatte - und dazu verspürte ich nicht die geringste Lust. Dann aber erinnerte ich mich, dass hier vermutlich jemand lebte, ein Zuzügler, dem ich vor Jahren zu einer Stelle verholfen hatte und der, wie ich ihn kannte, sehr froh sein würde, wenn er die Gelegenheit bekäme, meine Gefälligkeit mit einem Gegendienst zu vergelten. Er war ein Sonderling, streng moralisch und zugleich seltsam unruhig und unstet; seine Frau hatte sich meines Wissens vor Jahren nur deswegen von ihm scheiden lassen, weil er überall sonst, nur nicht bei ihr und dem gemeinsamen Sohn lebte. Jetzt bangte ich nur noch, ob er nicht wieder geheiratet hatte, denn das hätte die Erfüllung meines Wunsches erschwert, und ich eilte rasch zum Krankenhaus.
Das hiesige Krankenhaus war ein Komplex von Gebäuden und Pavillons, die verstreut in einem ausgedehnten Park lagen; ich betrat ein kleines Häuschen neben dem Eingangstor und bat den Pförtner hinter dem Tisch, mich mit der Virologie zu verbinden; er schob mir das Telefon bis an den Rand des Tisches entgegen und sagte: »Null Zwei.« Ich wählte Null Zwei und erfuhr, dass Dr. Kostka vor wenigen Sekunden weggegangen und zum Ausgang unterwegs sei. Ich setzte mich auf eine Bank in der Nähe des Tors, um ihn nicht zu verfehlen, und musterte die Männer, die in blauweiß gestreiften Krankenhauskitteln herumstanden, und dann sah ich ihn: er kam gedankenverloren daher, hochgewachsen, hager, sympathisch unscheinbar, ja, er war es. Ich stand auf und ging geradewegs auf ihn zu, so, als wollte ich mit ihm zusammenprallen; er schaute mich betroffen an, erkannte mich aber sogleich und breitete die Arme aus. Seine Überraschung schien mir fast glücklich, und ich freute mich über die Spontaneität, mit der er mich begrüßte.
Ich erklärte ihm, dass ich vor knapp einer Stunde hier angekommen sei, wegen einer belanglosen Angelegenheit, die mich etwa zwei Tage hier aufhalten würde, und er äußerte freudiges Erstaunen, dass mich mein erster Weg zu ihm geführt hatte. Mit einem Mal war es mir unangenehm, dass ich ihn nicht uneigennützig, nur seinetwegen aufgesucht hatte, und dass auch die Frage, die ich ihm nun stellte (ich fragte ihn jovial, ob er wieder geheiratet habe), echte Anteilnahme nur vortäuschte und in Wirklichkeit berechnend praktischer Natur war. Er sagte mir (zu meiner Zufriedenheit), dass er noch immer allein lebe. Ich meinte, wir hätten einander viel zu erzählen. Er bejahte und bedauerte, nur eine gute Stunde Zeit zu haben, da er noch einmal ins Krankenhaus zurück müsse und abends mit dem Autobus die Stadt verlasse. »Sie wohnen nicht hier?«, fragte ich bestürzt. Er versicherte mir, dass er hier wohne, er habe ein Apartment in einem Neubau, es sei aber »nicht gut, wenn der Mensch allein lebe«. Es stellte sich heraus, dass Kostka in einer anderen Stadt, zwanzig Kilometer von hier, eine Verlobte hatte, eine Lehrerin, angeblich sogar mit Zweizimmerwohnung. »Werden Sie irgendwann zu ihr ziehen?«, fragte ich ihn. Er sagte, dass er in einer anderen Stadt nur schwer eine so interessante Arbeit bekäme, wie er sie dank meiner Hilfe hier gefunden hätte, dass seine Verlobte wiederum nur mit Mühe eine Stelle in diesem Ort bekommen könnte. Ich begann (ganz aufrichtig) die Schwerfälligkeit der Bürokratie zu verfluchen, die nicht in der Lage war, einem Mann und einer Frau entgegenzukommen und ihnen das Zusammenleben zu ermöglichen. »Beruhigen Sie sich, Ludvik«, sagte er mit liebenswürdiger Nachsicht, »so unerträglich ist das nicht. Ich verfahre zwar nicht wenig Geld und Zeit, meine Einsamkeit aber bleibt unangetastet, und ich bin frei.« »Wozu brauchen Sie Ihre Freiheit so sehr?«, fragte ich ihn. »Wozu brauchen Sie sie?«, erwiderte er die Frage. »Ich bin ein Schürzenjäger«, antwortete ich. »Ich brauche die Freiheit nicht für Frauen, ich will sie für mich selbst«, sagte er und fuhr fort: »Wissen Sie was, kommen Sie auf einen Sprung zu mir, bis ich fahren muss.« Ich hatte mir nichts anderes gewünscht.
Wir verließen also das Krankenhaus und waren bald bei einer Gruppe von Neubauten angelangt, die unharmonisch aus einem noch nicht planierten, staubigen Grundstück (ohne Rasen, ohne Gehwege, ohne Straße) emporschossen und eine triste Kulisse am Stadtrand bildeten, an die eine öde Ebene weiter Felder grenzte. Wir traten durch eine der Türen, stiegen ein schmales Treppenhaus empor (der Aufzug war außer Betrieb) und blieben im dritten Stock stehen, wo ich auf einer Visitenkarte Kostkas Namen las. Als wir durch die Diele in das Zimmer traten, war ich höchst zufrieden: in einer Ecke stand eine breite, bequeme Couch; außer der Couch gab es im Zimmer ein Tischchen, einen Sessel, eine große Bücherwand und einen Plattenspieler mit Radio.
Ich lobte Kostkas Apartment und fragte ihn, wie sein Badezimmer aussehe. »Kein Luxus«, sagte er, erfreut über mein Interesse, und bat mich in die Diele, von der eine Tür in ein kleines, aber ganz gemütliches Badezimmer mit Wanne, Dusche und Waschbecken führte. »Wenn ich Ihre wunderschöne Wohnung so sehe, fällt mir etwas ein«, sagte ich. »Was machen Sie morgen Nachmittag und Abend?« »Leider habe ich morgen Spätdienst«, entschuldigte er sich zerknirscht, »ich komme erst gegen sieben zurück. Haben Sie am Abend keine Zeit?« »Am Abend vielleicht«, antwortete ich, »aber könnten Sie mir Ihre Wohnung nicht für den Nachmittag überlassen?«
Er war überrascht über meine Frage, sagte aber sofort (als fürchtete er, der Unfreundlichkeit verdächtigt zu werden): »Ich werde sie sehr gern mit Ihnen teilen.« Und er fuhr fort, als wollte er absichtlich nicht über die Gründe meiner Bitte mutmaßen: »Sollten Sie Probleme mit der Unterbringung haben, können Sie heute schon hier übernachten, ich komme nämlich erst in der Früh zurück, eigentlich nicht einmal das, denn ich gehe direkt ins Krankenhaus.« »Nein, das ist nicht nötig. Ich bin im Hotel abgestiegen. Das Zimmer ist aber ziemlich ungemütlich, und ich möchte den morgigen Nachmittag in einer angenehmen Umgebung verbringen. Natürlich nicht, um allein zu sein.« »Gewiss«, sagte Kostka und senkte leicht den Kopf, »das habe ich mir gedacht.« Etwas später sagte er: »Ich bin froh, dass ich Ihnen etwas Gutes tun kann.« Dann fügte er noch hinzu: »Falls es für Sie auch wirklich gut ist.«
Wir setzten uns an das Tischchen (Kostka kochte Kaffee) und unterhielten uns eine Weile (ich saß auf der Couch und stellte erfreut fest, dass sie solide war, sich weder durchbog noch quietschte). Kostka erklärte, dass er nun zurück ins Krankenhaus müsse, und weihte mich noch rasch in einige Geheimnisse seines Haushaltes ein; den Wasserhahn der Badewanne musste man fest zudrehen, das warme Wasser floss gegen alle Gewohnheit aus dem mit »K« bezeichneten Hahn, die Steckdose für das Kabel der Musikanlage war unter der Couch versteckt, und im Schrank stand eine kaum angebrochene Flasche Wodka. Dann gab er mir einen Bund mit zwei Schlüsseln und zeigte mir, welcher zur Haustür und welcher zur Wohnungstür gehörte. Ich hatte im Laufe meines Lebens, in dem ich in vielen verschiedenen Betten geschlafen habe, einen besonderen Schlüsselkult entwickelt, und auch Kostkas Schlüssel steckte ich mir stillvergnügt in die Tasche.
Beim Weggehen äußerte Kostka den Wunsch, sein Apartment möge mir »etwas wirklich Schönes« bescheren. »Sicher «, sagte ich zu ihm, »es wird mir ermöglichen, eine schöne Destruktion zu vollbringen.« »Glauben Sie, dass Destruktionen schön sein können?«, sagte Kostka, und ich lächelte in meinem Innern, weil ich ihn an dieser Frage (die sanftmütig vorgebracht, aber kampflustig gemeint war) genauso wiedererkannte, wie er gewesen war, als ich ihn vor mehr als fünfzehn Jahren kennenlernte. Ich mochte ihn, fand ihn zugleich aber etwas lächerlich, und in diesem Sinne gab ich ihm zur Antwort: »Ich weiß, Sie sind ein stiller Arbeiter an Gottes ewigem Bau und hören nicht gerne von Destruktionen, aber was soll ich tun: ich bin kein Maurer Gottes. Würden Gottes Maurer hier übrigens Werke aus wirklichen Mauern bauen, könnten unsere Destruktionen ihnen kaum etwas anhaben. Mir scheint aber, ich sehe statt Mauern überall nur Kulissen. Und die Destruktion von Kulissen ist eine durchaus gerechte Sache.«
Wir waren wieder dort angelangt, wo wir uns zuletzt (vor etwa neun Jahren) getrennt hatten; unser Streit war nun ziemlich abstrakt, da wir seine konkrete Grundlage gut kannten und sie uns nicht zu wiederholen brauchten; wir brauchten uns nur zu wiederholen, dass wir uns nicht geändert hatten, dass wir uns noch gleich unähnlich waren (wobei ich sagen muss, dass ich diese Unähnlichkeit an Kostka mochte und mit Vorliebe gerade mit ihm debattierte, weil ich mir auf diese Weise beiläufig stets von neuem vergegenwärtigen konnte, wer ich war und was ich dachte). Um mich nicht im Zweifel über seine Person zu lassen, antwortete er mir: »Was Sie gesagt haben, klingt schön. Aber sagen Sie mir: wenn Sie ein solcher Skeptiker sind, wo nehmen Sie die Gewissheit her, eine Kulisse von einer Mauer unterscheiden zu können? Haben Sie nie daran gezweifelt, dass die Illusionen, über die Sie lachen, tatsächlich nur Illusionen sind? Was ist, wenn Sie sich täuschen? Was ist, wenn es Werte sind und Sie ein Zerstörer von Werten?« Und dann sagte er: »Ein gering geschätzter Wert und eine entlarvte Illusion haben nämlich die gleiche jämmerliche Gestalt, sie sehen sich ähnlich, und nichts ist leichter, als sie zu verwechseln.«
Ich begleitete Kostka durch die Stadt zurück zum Krankenhaus, ich spielte in der Tasche mit den Schlüsseln und fühlte mich wohl in der Gegenwart des alten Bekannten, der es verstand, mich wann und wo auch immer von seiner Wahrheit zu überzeugen, zum Beispiel gerade jetzt auf dem Weg über den holprigen Boden der neuen Siedlung. Kostka wusste allerdings, dass wir morgen den ganzen Abend vor uns hatten, und schweifte also vom Philosophieren zu Alltagssorgen ab; abermals vergewisserte er sich, dass ich morgen in der Wohnung auf ihn warten würde, wenn er um sieben nach Hause käme (Zweitschlüssel besaß er nicht), und er fragte mich, ob ich wirklich nichts mehr brauchte. Ich strich mir über die Wangen und sagte, ich müsste einzig noch zum Friseur, da ich einen unangenehmen Stoppelbart hätte. »Ausgezeichnet«, sagte Kostka, »ich werde Ihnen eine Vorzugsrasur besorgen.«
Ich widersetzte mich Kostkas Fürsorge nicht und ließ mich in einen kleinen Friseurladen führen, wo vor drei Spiegeln drei große Drehsessel prangten; auf zweien saßen Männer mit gesenkten Köpfen und eingeseiften Gesichtern. Zwei Frauen in weißen Kitteln beugten sich über sie. Kostka trat zu einer von ihnen und flüsterte ihr etwas zu; die Frau wischte die Klinge am Handtuch sauber und rief etwas in den Hinterraum des Ladens: ein Mädchen in weißem Kittel erschien und nahm sich des verwaisten Mannes auf dem Sessel an, während die Frau, mit der Kostka gesprochen hatte, mir zunickte und mit einer Handbewegung den verbleibenden Sessel zuwies. Kostka gab mir zum Abschied die Hand, ich setzte mich, lehnte den Kopf an die Stütze, und weil ich nach so vielen Lebensjahren mein eigenes Gesicht ungern sah, mied ich den Spiegel, der mir gegenüberhing, richtete den Blick in die Höhe und ließ ihn an der weißen, fleckigen Decke umherwandern.
Ich ließ den Blick auch dann noch an der Decke ruhen, als ich die Finger der Friseuse an meinem Hals spürte, wie sie mir das weiße Tuch in den Kragen schoben. Dann trat die Friseuse etwas zurück, ich hörte nur noch die Bewegungen der Klinge auf dem ledernen Schleifriemen und verharrte in einer Art süßer Reglosigkeit voll wohliger Gleichgültigkeit. Etwas später spürte ich die Finger auf meinem Gesicht, feucht und gleitend, wie sie mir die Rasiercreme auf der Haut verteilten, und ich machte mir die sonderbare, lachhafte Tatsache klar, dass irgendeine fremde Frau, die mich nichts anging und die ich nichts anging, mich zärtlich streichelte. Die Friseuse begann, den Schaum mit dem Pinsel zu verreiben, und es kam mir vor, als säße ich nicht, sondern hinge irgendwo in diesem weißen, fleckigen Raum, in den ich meinen Blick geheftet hatte. Und da stellte ich mir vor (denn die Gedanken hören auch in Augenblicken der Erholung nicht auf zu spielen), ich sei ein wehrloses Opfer und der Frau, die das Rasiermesser schliff, völlig ausgeliefert. Und weil mein Körper gleichsam im Raum zerrann und ich einzig mein von Fingern berührtes Gesicht fühlte, konnte ich mir mühelos vorstellen, dass ihre zärtlichen Hände meinen Kopf so hielten (drehten, liebkosten), als wäre dieser nicht ein Teil des Körpers, sondern nur für sich selbst da, so dass die scharfe Klinge, die auf dem Frisiertischchen wartete, diese herrliche Selbständigkeit des Kopfes nur noch zu vollenden brauchte.
Dann hielt die Friseuse in den Bewegungen inne, und ich hörte, wie sie zurücktrat, wie sie die Klinge nun tatsächlich zur Hand nahm, und ich sagte mir (denn die Gedanken spielten weiter), ich müsste mir ansehen, wie sie eigentlich aussah, die Besitzerin (die Aufrichterin) meines Kopfes, meine zärtliche Mörderin. Ich löste den Blick von der Decke und schaute in den Spiegel. Da aber staunte ich: das Spiel, mit dem ich mich vergnügte, nahm plötzlich seltsam wirkliche Züge an; mir schien nämlich, als würde ich die Frau, die sich im Spiegel über mich beugte, kennen.
Mit der einen Hand hielt sie mein Ohrläppchen fest, mit der anderen schabte sie sorgfältig den Schaum von meinem Gesicht; ich sah sie an, und da begann die Übereinstimmung, die ich soeben erstaunt festgestellt hatte, langsam zu zerrinnen und zu verschwinden. Sie beugte sich über das Waschbecken, streifte mit zwei Fingern die Seifenflocken von der Klinge, richtete sich auf und drehte den Sessel ein wenig herum; da begegneten sich unsere Blicke für den Bruchteil einer Sekunde, und wieder schien mir, als wäre sie es! Gewiss, das Gesicht war irgendwie anders, als gehörte es ihrer älteren Schwester, es war etwas fahl, welk und eingefallen; aber es waren ja fünfzehn Jahre her, seit ich sie zum letzten Mal gesehen hatte! Während dieser Jahre hatte die Zeit ihrem wahren Gesicht eine trügerische Maske aufgesetzt, zum Glück aber eine Maske mit zwei Öffnungen, durch die ihre richtigen, echten Augen mich von neuem anblickten, so, wie ich sie gekannt hatte.
Dann aber verwischten sich die Spuren noch mehr: ein neuer Kunde betrat den Laden, setzte sich hinter meinem Rücken auf einen Stuhl und wartete, bis er an die Reihe kam; auf einmal sprach er meine Friseuse an; er redete über den schönen Sommer und über ein Schwimmbad, das außerhalb der Stadt gebaut wurde; die Friseuse antwortete (ich nahm eher ihre Stimme als die übrigens ganz belanglosen Worte wahr), und ich stellte fest, dass ich diese Stimme nicht erkannte; sie klang selbstverständlich, oberflächlich, nicht ängstlich, fast grob, es war eine völlig fremde Stimme.
Nun wusch die Friseuse mir das Gesicht, sie presste die Handflächen auf meine Wangen, und ich begann (der Stimme zum Trotz) wieder zu glauben, dass sie es war, dass ich nach fünfzehn Jahren ihre Hände wieder auf meinem Gesicht spürte, dass sie mich wieder streichelte, lange und zärtlich (ich vergaß vollkommen, dass es nicht ein Streicheln, sondern ein Waschen war); ihre fremde Stimme antwortete dabei ständig diesem Kerl, der geschwätzig geworden war, aber ich wollte der Stimme nicht glauben, ich wollte lieber den Händen glauben, ich wollte sie an ihren Händen wiedererkennen; ich versuchte, am Maß der Liebenswürdigkeit in ihren Berührungen festzustellen, ob sie es war, und ob sie mich erkannt hatte.
Dann nahm sie das Handtuch und rieb mir das Gesicht trocken. Der geschwätzige Kerl lachte laut über einen Witz, den er selbst erzählt hatte, und ich bemerkte, dass meine Friseuse nicht lachte, dass sie wahrscheinlich nicht registrierte, was der Kerl ihr sagte. Das erregte mich, denn ich sah darin einen Beweis, dass sie mich erkannt hatte und insgeheim aufgeregt war. Ich war entschlossen, sie anzusprechen, sobald ich aufgestanden war. Sie nahm das Tuch aus dem Kragen. Ich stand auf. Ich nahm ein Fünfkronenstück aus meiner Brusttasche. Ich wartete darauf, dass unsere Blicke sich noch einmal träfen, um sie beim Vornamen ansprechen zu können (der Kerl schwätzte noch immer), sie aber hielt den Kopf unbeteiligt abgewendet, nahm das Geld rasch und sachlich entgegen, so dass ich mir plötzlich vorkam wie ein Narr, der seinen eigenen Trugbildern glaubte, und ich fand den Mut nicht, sie anzusprechen.
Seltsam unzufrieden verließ ich den Laden; ich wusste nur, dass ich nichts wusste und es eine große Grobheit war, die Gewissheit über die Identität eines einst so geliebten Gesichts zu verlieren.
Ich eilte zurück ins Hotel (unterwegs bemerkte ich auf dem gegenüberliegenden Gehsteig Jaroslav, einen alten Jugendfreund, den Primas der hiesigen Zimbalkapelle; als würde ich aber vor aufdringlich lauter Musik fliehen, wandte ich den Blick rasch ab), und ich rief Kostka vom Hotel aus an; er war noch im Krankenhaus.
»Ich bitte Sie, heißt die Friseuse, der Sie mich anvertraut haben, Lucie Šebetková?«
»Heute heißt sie anders, aber sie ist es. Woher kennen Sie sie?«, sagte Kostka.
»Aus schrecklich fernen Zeiten«, antwortete ich und ging nicht einmal zum Abendessen, ich verließ das Hotel (es dämmerte bereits) und bummelte ziellos herum.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
Während langer Jahre hatte mich nichts an meinen Geburtsort zurückgezogen; ich sagte mir, er sei mir gleichgültig geworden, und das schien mir natürlich: ich lebte ja schon fünfzehn Jahre nicht mehr dort, geblieben waren einige Bekannte oder Kameraden (denen ich auch lieber aus dem Weg ging), meine Mutter lag hier in einem fremden Grab, um das ich mich nicht kümmerte. Aber ich hatte mich selbst betrogen: was ich Gleichgültigkeit nannte, war in Wirklichkeit Hass; seine Ursachen entgingen mir, denn in meinem Geburtsort waren mir gute wie böse Dinge widerfahren, wie in allen anderen Städten auch, doch dieser Hass war da; er wurde mir gerade im Zusammenhang mit dieser Reise bewusst: die Aufgabe, die mich hatte hierherfahren lassen, hätte ich schließlich auch in Prag erledigen können; die gebotene Gelegenheit, das Vorhaben in meiner Geburtsstadt in die Tat umzusetzen, begann mich aber plötzlich gerade deshalb unwiderstehlich zu reizen, weil es sich um eine zynische, niedrige Aufgabe handelte, die mich höhnisch von dem Verdacht befreite, aus sentimentaler Rührung über die verlorene Zeit hierher zurückgekehrt zu sein.
Noch einmal musterte ich hämisch den hässlichen Platz, kehrte ihm dann den Rücken und ging durch eine Straße zum Hotel, in dem ich ein Zimmer reserviert hatte. Der Portier reichte mir einen Schlüssel mit hölzerner Birne und sagte: »Zweiter Stock«. Das Zimmer war nicht gerade einladend: an der Wand ein Bett, in der Mitte ein kleiner Tisch mit einem einzigen Stuhl, neben dem Bett ein prunkvoller Mahagoni- Toilettentisch mit Spiegel, neben der Tür ein winziges, zersprungenes Waschbecken. Ich legte die Aktentasche auf den Tisch und öffnete das Fenster: man sah in einen Hof und auf Häuser, die dem Hotel ihre schmutzigen, nackten Rücken zeigten. Ich schloss das Fenster, zog die Vorhänge zu und trat zum Waschbecken, das zwei Hähne hatte, der eine rot, der andere blau gekennzeichnet; ich probierte sie aus, und aus beiden floss kaltes Wasser. Ich sah mir den Tisch an; der war einigermaßen annehmbar, eine Flasche und zwei Gläser würden gut darauf Platz haben, schlimmer war aber, dass nur eine Person an dem Tisch sitzen konnte, weil es im Raum keinen zweiten Stuhl gab. Ich rückte den Tisch ans Bett und versuchte, mich daran zu setzen, doch das Bett war zu niedrig und der Tisch zu hoch; das Bett sank überdies tief unter mir ein, und mir wurde sogleich klar, dass es nicht nur schwerlich als Sitzgelegenheit dienen, sondern auch die Funktion eines Bettes nur zweifelhaft erfüllen würde. Ich stemmte mich mit beiden Fäusten dagegen; dann legte ich mich hinein und hob die Füße mit den Schuhen behutsam in die Höhe, um die Decke und das Betttuch nicht zu beschmutzen. Das Bett sackte unter mir ein, und ich lag darin wie in einer Hängematte oder in einem ganz schmalen Grab: es war unvorstellbar, mit noch jemandem in diesem Bett zu liegen.
Ich setzte mich auf den Stuhl, heftete den Blick auf die lichtdurchtränkten Vorhänge und versank in Gedanken. In diesem Moment vernahm ich vom Flur her Schritte und Stimmen; es waren zwei Personen, ein Mann und eine Frau; sie unterhielten sich, und jedes Wort war zu verstehen: sie sprachen über einen Petr, der von zu Hause ausgerissen war, und über eine Tante Klara, die blöde war und den Jungen verhätschelte; dann waren ein Schlüssel in einem Schloss und das Öffnen einer Tür zu hören, die Stimmen redeten im Nebenzimmer weiter; ich hörte das Seufzen der Frau (ja, sogar ein einfaches Seufzen war zu hören!) und den Vorsatz des Mannes, diese Klara endlich gehörig ins Gebet zu nehmen.
Ich stand auf und hatte meinen Entschluss gefasst; ich wusch mir noch im Waschbecken die Hände, trocknete sie mit dem Handtuch ab und verließ das Hotel, obwohl ich zunächst nicht wusste, wohin ich gehen würde. Ich wusste nur eines: wollte ich das Gelingen dieser Reise (einer ziemlich weiten und beschwerlichen Reise) nicht allein durch die Ungemütlichkeit eines Hotelzimmers in Gefahr bringen, musste ich mich mit meiner vertraulichen Bitte an irgendeinen hiesigen Bekannten wenden, obwohl mir das widerstrebte. Ich ließ mir die alten Gesichter aus der Jugendzeit schnell durch den Kopf gehen, wies sie aber alle schon deshalb zurück, weil die Vertraulichkeit der gewünschten Gefälligkeit es erfordert hätte, mühsam die langen Jahre zu überbrücken, in denen ich diese nicht gesehen hatte - und dazu verspürte ich nicht die geringste Lust. Dann aber erinnerte ich mich, dass hier vermutlich jemand lebte, ein Zuzügler, dem ich vor Jahren zu einer Stelle verholfen hatte und der, wie ich ihn kannte, sehr froh sein würde, wenn er die Gelegenheit bekäme, meine Gefälligkeit mit einem Gegendienst zu vergelten. Er war ein Sonderling, streng moralisch und zugleich seltsam unruhig und unstet; seine Frau hatte sich meines Wissens vor Jahren nur deswegen von ihm scheiden lassen, weil er überall sonst, nur nicht bei ihr und dem gemeinsamen Sohn lebte. Jetzt bangte ich nur noch, ob er nicht wieder geheiratet hatte, denn das hätte die Erfüllung meines Wunsches erschwert, und ich eilte rasch zum Krankenhaus.
Das hiesige Krankenhaus war ein Komplex von Gebäuden und Pavillons, die verstreut in einem ausgedehnten Park lagen; ich betrat ein kleines Häuschen neben dem Eingangstor und bat den Pförtner hinter dem Tisch, mich mit der Virologie zu verbinden; er schob mir das Telefon bis an den Rand des Tisches entgegen und sagte: »Null Zwei.« Ich wählte Null Zwei und erfuhr, dass Dr. Kostka vor wenigen Sekunden weggegangen und zum Ausgang unterwegs sei. Ich setzte mich auf eine Bank in der Nähe des Tors, um ihn nicht zu verfehlen, und musterte die Männer, die in blauweiß gestreiften Krankenhauskitteln herumstanden, und dann sah ich ihn: er kam gedankenverloren daher, hochgewachsen, hager, sympathisch unscheinbar, ja, er war es. Ich stand auf und ging geradewegs auf ihn zu, so, als wollte ich mit ihm zusammenprallen; er schaute mich betroffen an, erkannte mich aber sogleich und breitete die Arme aus. Seine Überraschung schien mir fast glücklich, und ich freute mich über die Spontaneität, mit der er mich begrüßte.
Ich erklärte ihm, dass ich vor knapp einer Stunde hier angekommen sei, wegen einer belanglosen Angelegenheit, die mich etwa zwei Tage hier aufhalten würde, und er äußerte freudiges Erstaunen, dass mich mein erster Weg zu ihm geführt hatte. Mit einem Mal war es mir unangenehm, dass ich ihn nicht uneigennützig, nur seinetwegen aufgesucht hatte, und dass auch die Frage, die ich ihm nun stellte (ich fragte ihn jovial, ob er wieder geheiratet habe), echte Anteilnahme nur vortäuschte und in Wirklichkeit berechnend praktischer Natur war. Er sagte mir (zu meiner Zufriedenheit), dass er noch immer allein lebe. Ich meinte, wir hätten einander viel zu erzählen. Er bejahte und bedauerte, nur eine gute Stunde Zeit zu haben, da er noch einmal ins Krankenhaus zurück müsse und abends mit dem Autobus die Stadt verlasse. »Sie wohnen nicht hier?«, fragte ich bestürzt. Er versicherte mir, dass er hier wohne, er habe ein Apartment in einem Neubau, es sei aber »nicht gut, wenn der Mensch allein lebe«. Es stellte sich heraus, dass Kostka in einer anderen Stadt, zwanzig Kilometer von hier, eine Verlobte hatte, eine Lehrerin, angeblich sogar mit Zweizimmerwohnung. »Werden Sie irgendwann zu ihr ziehen?«, fragte ich ihn. Er sagte, dass er in einer anderen Stadt nur schwer eine so interessante Arbeit bekäme, wie er sie dank meiner Hilfe hier gefunden hätte, dass seine Verlobte wiederum nur mit Mühe eine Stelle in diesem Ort bekommen könnte. Ich begann (ganz aufrichtig) die Schwerfälligkeit der Bürokratie zu verfluchen, die nicht in der Lage war, einem Mann und einer Frau entgegenzukommen und ihnen das Zusammenleben zu ermöglichen. »Beruhigen Sie sich, Ludvik«, sagte er mit liebenswürdiger Nachsicht, »so unerträglich ist das nicht. Ich verfahre zwar nicht wenig Geld und Zeit, meine Einsamkeit aber bleibt unangetastet, und ich bin frei.« »Wozu brauchen Sie Ihre Freiheit so sehr?«, fragte ich ihn. »Wozu brauchen Sie sie?«, erwiderte er die Frage. »Ich bin ein Schürzenjäger«, antwortete ich. »Ich brauche die Freiheit nicht für Frauen, ich will sie für mich selbst«, sagte er und fuhr fort: »Wissen Sie was, kommen Sie auf einen Sprung zu mir, bis ich fahren muss.« Ich hatte mir nichts anderes gewünscht.
Wir verließen also das Krankenhaus und waren bald bei einer Gruppe von Neubauten angelangt, die unharmonisch aus einem noch nicht planierten, staubigen Grundstück (ohne Rasen, ohne Gehwege, ohne Straße) emporschossen und eine triste Kulisse am Stadtrand bildeten, an die eine öde Ebene weiter Felder grenzte. Wir traten durch eine der Türen, stiegen ein schmales Treppenhaus empor (der Aufzug war außer Betrieb) und blieben im dritten Stock stehen, wo ich auf einer Visitenkarte Kostkas Namen las. Als wir durch die Diele in das Zimmer traten, war ich höchst zufrieden: in einer Ecke stand eine breite, bequeme Couch; außer der Couch gab es im Zimmer ein Tischchen, einen Sessel, eine große Bücherwand und einen Plattenspieler mit Radio.
Ich lobte Kostkas Apartment und fragte ihn, wie sein Badezimmer aussehe. »Kein Luxus«, sagte er, erfreut über mein Interesse, und bat mich in die Diele, von der eine Tür in ein kleines, aber ganz gemütliches Badezimmer mit Wanne, Dusche und Waschbecken führte. »Wenn ich Ihre wunderschöne Wohnung so sehe, fällt mir etwas ein«, sagte ich. »Was machen Sie morgen Nachmittag und Abend?« »Leider habe ich morgen Spätdienst«, entschuldigte er sich zerknirscht, »ich komme erst gegen sieben zurück. Haben Sie am Abend keine Zeit?« »Am Abend vielleicht«, antwortete ich, »aber könnten Sie mir Ihre Wohnung nicht für den Nachmittag überlassen?«
Er war überrascht über meine Frage, sagte aber sofort (als fürchtete er, der Unfreundlichkeit verdächtigt zu werden): »Ich werde sie sehr gern mit Ihnen teilen.« Und er fuhr fort, als wollte er absichtlich nicht über die Gründe meiner Bitte mutmaßen: »Sollten Sie Probleme mit der Unterbringung haben, können Sie heute schon hier übernachten, ich komme nämlich erst in der Früh zurück, eigentlich nicht einmal das, denn ich gehe direkt ins Krankenhaus.« »Nein, das ist nicht nötig. Ich bin im Hotel abgestiegen. Das Zimmer ist aber ziemlich ungemütlich, und ich möchte den morgigen Nachmittag in einer angenehmen Umgebung verbringen. Natürlich nicht, um allein zu sein.« »Gewiss«, sagte Kostka und senkte leicht den Kopf, »das habe ich mir gedacht.« Etwas später sagte er: »Ich bin froh, dass ich Ihnen etwas Gutes tun kann.« Dann fügte er noch hinzu: »Falls es für Sie auch wirklich gut ist.«
Wir setzten uns an das Tischchen (Kostka kochte Kaffee) und unterhielten uns eine Weile (ich saß auf der Couch und stellte erfreut fest, dass sie solide war, sich weder durchbog noch quietschte). Kostka erklärte, dass er nun zurück ins Krankenhaus müsse, und weihte mich noch rasch in einige Geheimnisse seines Haushaltes ein; den Wasserhahn der Badewanne musste man fest zudrehen, das warme Wasser floss gegen alle Gewohnheit aus dem mit »K« bezeichneten Hahn, die Steckdose für das Kabel der Musikanlage war unter der Couch versteckt, und im Schrank stand eine kaum angebrochene Flasche Wodka. Dann gab er mir einen Bund mit zwei Schlüsseln und zeigte mir, welcher zur Haustür und welcher zur Wohnungstür gehörte. Ich hatte im Laufe meines Lebens, in dem ich in vielen verschiedenen Betten geschlafen habe, einen besonderen Schlüsselkult entwickelt, und auch Kostkas Schlüssel steckte ich mir stillvergnügt in die Tasche.
Beim Weggehen äußerte Kostka den Wunsch, sein Apartment möge mir »etwas wirklich Schönes« bescheren. »Sicher «, sagte ich zu ihm, »es wird mir ermöglichen, eine schöne Destruktion zu vollbringen.« »Glauben Sie, dass Destruktionen schön sein können?«, sagte Kostka, und ich lächelte in meinem Innern, weil ich ihn an dieser Frage (die sanftmütig vorgebracht, aber kampflustig gemeint war) genauso wiedererkannte, wie er gewesen war, als ich ihn vor mehr als fünfzehn Jahren kennenlernte. Ich mochte ihn, fand ihn zugleich aber etwas lächerlich, und in diesem Sinne gab ich ihm zur Antwort: »Ich weiß, Sie sind ein stiller Arbeiter an Gottes ewigem Bau und hören nicht gerne von Destruktionen, aber was soll ich tun: ich bin kein Maurer Gottes. Würden Gottes Maurer hier übrigens Werke aus wirklichen Mauern bauen, könnten unsere Destruktionen ihnen kaum etwas anhaben. Mir scheint aber, ich sehe statt Mauern überall nur Kulissen. Und die Destruktion von Kulissen ist eine durchaus gerechte Sache.«
Wir waren wieder dort angelangt, wo wir uns zuletzt (vor etwa neun Jahren) getrennt hatten; unser Streit war nun ziemlich abstrakt, da wir seine konkrete Grundlage gut kannten und sie uns nicht zu wiederholen brauchten; wir brauchten uns nur zu wiederholen, dass wir uns nicht geändert hatten, dass wir uns noch gleich unähnlich waren (wobei ich sagen muss, dass ich diese Unähnlichkeit an Kostka mochte und mit Vorliebe gerade mit ihm debattierte, weil ich mir auf diese Weise beiläufig stets von neuem vergegenwärtigen konnte, wer ich war und was ich dachte). Um mich nicht im Zweifel über seine Person zu lassen, antwortete er mir: »Was Sie gesagt haben, klingt schön. Aber sagen Sie mir: wenn Sie ein solcher Skeptiker sind, wo nehmen Sie die Gewissheit her, eine Kulisse von einer Mauer unterscheiden zu können? Haben Sie nie daran gezweifelt, dass die Illusionen, über die Sie lachen, tatsächlich nur Illusionen sind? Was ist, wenn Sie sich täuschen? Was ist, wenn es Werte sind und Sie ein Zerstörer von Werten?« Und dann sagte er: »Ein gering geschätzter Wert und eine entlarvte Illusion haben nämlich die gleiche jämmerliche Gestalt, sie sehen sich ähnlich, und nichts ist leichter, als sie zu verwechseln.«
Ich begleitete Kostka durch die Stadt zurück zum Krankenhaus, ich spielte in der Tasche mit den Schlüsseln und fühlte mich wohl in der Gegenwart des alten Bekannten, der es verstand, mich wann und wo auch immer von seiner Wahrheit zu überzeugen, zum Beispiel gerade jetzt auf dem Weg über den holprigen Boden der neuen Siedlung. Kostka wusste allerdings, dass wir morgen den ganzen Abend vor uns hatten, und schweifte also vom Philosophieren zu Alltagssorgen ab; abermals vergewisserte er sich, dass ich morgen in der Wohnung auf ihn warten würde, wenn er um sieben nach Hause käme (Zweitschlüssel besaß er nicht), und er fragte mich, ob ich wirklich nichts mehr brauchte. Ich strich mir über die Wangen und sagte, ich müsste einzig noch zum Friseur, da ich einen unangenehmen Stoppelbart hätte. »Ausgezeichnet«, sagte Kostka, »ich werde Ihnen eine Vorzugsrasur besorgen.«
Ich widersetzte mich Kostkas Fürsorge nicht und ließ mich in einen kleinen Friseurladen führen, wo vor drei Spiegeln drei große Drehsessel prangten; auf zweien saßen Männer mit gesenkten Köpfen und eingeseiften Gesichtern. Zwei Frauen in weißen Kitteln beugten sich über sie. Kostka trat zu einer von ihnen und flüsterte ihr etwas zu; die Frau wischte die Klinge am Handtuch sauber und rief etwas in den Hinterraum des Ladens: ein Mädchen in weißem Kittel erschien und nahm sich des verwaisten Mannes auf dem Sessel an, während die Frau, mit der Kostka gesprochen hatte, mir zunickte und mit einer Handbewegung den verbleibenden Sessel zuwies. Kostka gab mir zum Abschied die Hand, ich setzte mich, lehnte den Kopf an die Stütze, und weil ich nach so vielen Lebensjahren mein eigenes Gesicht ungern sah, mied ich den Spiegel, der mir gegenüberhing, richtete den Blick in die Höhe und ließ ihn an der weißen, fleckigen Decke umherwandern.
Ich ließ den Blick auch dann noch an der Decke ruhen, als ich die Finger der Friseuse an meinem Hals spürte, wie sie mir das weiße Tuch in den Kragen schoben. Dann trat die Friseuse etwas zurück, ich hörte nur noch die Bewegungen der Klinge auf dem ledernen Schleifriemen und verharrte in einer Art süßer Reglosigkeit voll wohliger Gleichgültigkeit. Etwas später spürte ich die Finger auf meinem Gesicht, feucht und gleitend, wie sie mir die Rasiercreme auf der Haut verteilten, und ich machte mir die sonderbare, lachhafte Tatsache klar, dass irgendeine fremde Frau, die mich nichts anging und die ich nichts anging, mich zärtlich streichelte. Die Friseuse begann, den Schaum mit dem Pinsel zu verreiben, und es kam mir vor, als säße ich nicht, sondern hinge irgendwo in diesem weißen, fleckigen Raum, in den ich meinen Blick geheftet hatte. Und da stellte ich mir vor (denn die Gedanken hören auch in Augenblicken der Erholung nicht auf zu spielen), ich sei ein wehrloses Opfer und der Frau, die das Rasiermesser schliff, völlig ausgeliefert. Und weil mein Körper gleichsam im Raum zerrann und ich einzig mein von Fingern berührtes Gesicht fühlte, konnte ich mir mühelos vorstellen, dass ihre zärtlichen Hände meinen Kopf so hielten (drehten, liebkosten), als wäre dieser nicht ein Teil des Körpers, sondern nur für sich selbst da, so dass die scharfe Klinge, die auf dem Frisiertischchen wartete, diese herrliche Selbständigkeit des Kopfes nur noch zu vollenden brauchte.
Dann hielt die Friseuse in den Bewegungen inne, und ich hörte, wie sie zurücktrat, wie sie die Klinge nun tatsächlich zur Hand nahm, und ich sagte mir (denn die Gedanken spielten weiter), ich müsste mir ansehen, wie sie eigentlich aussah, die Besitzerin (die Aufrichterin) meines Kopfes, meine zärtliche Mörderin. Ich löste den Blick von der Decke und schaute in den Spiegel. Da aber staunte ich: das Spiel, mit dem ich mich vergnügte, nahm plötzlich seltsam wirkliche Züge an; mir schien nämlich, als würde ich die Frau, die sich im Spiegel über mich beugte, kennen.
Mit der einen Hand hielt sie mein Ohrläppchen fest, mit der anderen schabte sie sorgfältig den Schaum von meinem Gesicht; ich sah sie an, und da begann die Übereinstimmung, die ich soeben erstaunt festgestellt hatte, langsam zu zerrinnen und zu verschwinden. Sie beugte sich über das Waschbecken, streifte mit zwei Fingern die Seifenflocken von der Klinge, richtete sich auf und drehte den Sessel ein wenig herum; da begegneten sich unsere Blicke für den Bruchteil einer Sekunde, und wieder schien mir, als wäre sie es! Gewiss, das Gesicht war irgendwie anders, als gehörte es ihrer älteren Schwester, es war etwas fahl, welk und eingefallen; aber es waren ja fünfzehn Jahre her, seit ich sie zum letzten Mal gesehen hatte! Während dieser Jahre hatte die Zeit ihrem wahren Gesicht eine trügerische Maske aufgesetzt, zum Glück aber eine Maske mit zwei Öffnungen, durch die ihre richtigen, echten Augen mich von neuem anblickten, so, wie ich sie gekannt hatte.
Dann aber verwischten sich die Spuren noch mehr: ein neuer Kunde betrat den Laden, setzte sich hinter meinem Rücken auf einen Stuhl und wartete, bis er an die Reihe kam; auf einmal sprach er meine Friseuse an; er redete über den schönen Sommer und über ein Schwimmbad, das außerhalb der Stadt gebaut wurde; die Friseuse antwortete (ich nahm eher ihre Stimme als die übrigens ganz belanglosen Worte wahr), und ich stellte fest, dass ich diese Stimme nicht erkannte; sie klang selbstverständlich, oberflächlich, nicht ängstlich, fast grob, es war eine völlig fremde Stimme.
Nun wusch die Friseuse mir das Gesicht, sie presste die Handflächen auf meine Wangen, und ich begann (der Stimme zum Trotz) wieder zu glauben, dass sie es war, dass ich nach fünfzehn Jahren ihre Hände wieder auf meinem Gesicht spürte, dass sie mich wieder streichelte, lange und zärtlich (ich vergaß vollkommen, dass es nicht ein Streicheln, sondern ein Waschen war); ihre fremde Stimme antwortete dabei ständig diesem Kerl, der geschwätzig geworden war, aber ich wollte der Stimme nicht glauben, ich wollte lieber den Händen glauben, ich wollte sie an ihren Händen wiedererkennen; ich versuchte, am Maß der Liebenswürdigkeit in ihren Berührungen festzustellen, ob sie es war, und ob sie mich erkannt hatte.
Dann nahm sie das Handtuch und rieb mir das Gesicht trocken. Der geschwätzige Kerl lachte laut über einen Witz, den er selbst erzählt hatte, und ich bemerkte, dass meine Friseuse nicht lachte, dass sie wahrscheinlich nicht registrierte, was der Kerl ihr sagte. Das erregte mich, denn ich sah darin einen Beweis, dass sie mich erkannt hatte und insgeheim aufgeregt war. Ich war entschlossen, sie anzusprechen, sobald ich aufgestanden war. Sie nahm das Tuch aus dem Kragen. Ich stand auf. Ich nahm ein Fünfkronenstück aus meiner Brusttasche. Ich wartete darauf, dass unsere Blicke sich noch einmal träfen, um sie beim Vornamen ansprechen zu können (der Kerl schwätzte noch immer), sie aber hielt den Kopf unbeteiligt abgewendet, nahm das Geld rasch und sachlich entgegen, so dass ich mir plötzlich vorkam wie ein Narr, der seinen eigenen Trugbildern glaubte, und ich fand den Mut nicht, sie anzusprechen.
Seltsam unzufrieden verließ ich den Laden; ich wusste nur, dass ich nichts wusste und es eine große Grobheit war, die Gewissheit über die Identität eines einst so geliebten Gesichts zu verlieren.
Ich eilte zurück ins Hotel (unterwegs bemerkte ich auf dem gegenüberliegenden Gehsteig Jaroslav, einen alten Jugendfreund, den Primas der hiesigen Zimbalkapelle; als würde ich aber vor aufdringlich lauter Musik fliehen, wandte ich den Blick rasch ab), und ich rief Kostka vom Hotel aus an; er war noch im Krankenhaus.
»Ich bitte Sie, heißt die Friseuse, der Sie mich anvertraut haben, Lucie Šebetková?«
»Heute heißt sie anders, aber sie ist es. Woher kennen Sie sie?«, sagte Kostka.
»Aus schrecklich fernen Zeiten«, antwortete ich und ging nicht einmal zum Abendessen, ich verließ das Hotel (es dämmerte bereits) und bummelte ziellos herum.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
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Autoren-Porträt von Milan Kundera
Milan Kundera, 1929 in Brünn, ehemals Tschechoslowakei, geboren, ging 1975 ins Exil nach Frankreich, wo er seither lebt und publiziert. Sein Werk wurde in alle Weltsprachen übersetzt und mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet.Literaturpreise:Herder-Preis 2000
Bibliographische Angaben
- Autor: Milan Kundera
- 2013, 3. Aufl., 448 Seiten, Maße: 12,5 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Roth, Susanne
- Übersetzer: Susanne Roth
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596197414
- ISBN-13: 9783596197415
- Erscheinungsdatum: 23.10.2013
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