Der Schneeengel
Viele Jahre hat sich Rachel Price arrangiert: mit einer unglücklichen Ehe, einem gewalttätigen Ehemann, einem Leben im Schatten. Doch eines Tages stellt ein Anruf alles auf dem Kopf. Bald begreift Rachel, dass sie ihr Leben selbst in die Hand...
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Produktinformationen zu „Der Schneeengel “
Viele Jahre hat sich Rachel Price arrangiert: mit einer unglücklichen Ehe, einem gewalttätigen Ehemann, einem Leben im Schatten. Doch eines Tages stellt ein Anruf alles auf dem Kopf. Bald begreift Rachel, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen muss, wenn sie die Chance auf ein bisschen Glück nicht verspielen will, nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Tochter. Denn das Weihnachtsfest steht vor der Tür, das Fest, an dem Wünsche wahr werden. Und Rachel wünscht sich einen Weg zurück - zurück in die Geborgenheit und Liebe jenes Wintertages, als ihr Vater sie an die Hand nahm und "mein Engel" zu ihr sagte.
"Bewegend, liebenswert und voller Hoffnung"
Richard Paul Evans
"Bewegend, liebenswert und voller Hoffnung"
Richard Paul Evans
Lese-Probe zu „Der Schneeengel “
Der Schneeengel von Glenn BeckAus dem Amerikanischen von Marion Balkenhol
Prolog
Mitch
24. Dezember, 6 Uhr 45
In der Stille, bevor er die Augen aufschlägt, ist Mitchell Clark stark. Er ist jung, gesund und lebensfroh. Seine Arme sind muskulös, die Hände schwielig von den vielen Nägeln, die er eingeschlagen, den Balken, die er angehoben hat. Sein Körper ist eine Maschine, geschmeidig und leistungsfähig.
Mitch reckt sich ein wenig, und während seine Beine sich dem Fußende des Bettes nähern, spürt er den Schmerz eines langen Tages im Kreuz. Es macht ihm nichts aus. Die Steifheit bedeutet, dass er schwer gearbeitet hat. Dass er verschwitzt ist, sich verausgabt hat. Das verschafft ihm einen gewissen Stolz, ein Gefühl, etwas erreicht zu haben, das ihn mit Entschlusskraft erfüllt.
Ich weiß, wer ich bin, denkt Mitch, genießt die Stille des anbrechenden Morgens, das Geräusch seines Herzschlags in den Ohren. Ich bin ... ich bin ...
Doch so sehr er sich auch bemüht, er kann den Gedanken nicht zu Ende bringen. Er entschlüpft ihm und löst sich beim Klang ihrer Stimme vollends auf.
»Guten Morgen, Mr Clark.«
Mitch schlägt die Augen auf. Er nimmt die quadratischen Umrisse ihres rosafarbenen Krankenhauskittels und den dunklen Pferdeschwanz wahr, der über ihre schlanke Schulter fällt. Unter dem Titel Schwesternhelferin gibt ihr Namensschild drei dürftige Buchstaben her, Kim oder Sue oder Dee, aber sie interessieren ihn nicht. Sein Herz schlägt in wütendem Rhythmus, und der kurz zuvor empfundene Friede entgleitet ihm.
... mehr
»Dann wollen wir mal aufstehen, ja?« Sie sagt es freundlich, behutsam. Schon schlingt sie die Arme um ihn, um ihm aus der Enge eines unglaublich schmalen Bettes aufzuhelfen. Sie ist zu klein, um ihn zu heben, aber plötzlich sitzt er aufrecht, und der Körper, den er gerade eben noch bewunderte, hat versagt. Mitch verspürt Schmerzen. Überall.
Die Stiche im Rücken sind scharf, und seine Knie pochen. Seine Hüfte ebenso, doch der Schmerz ist ihm vertraut. Mitch findet sich damit ab, noch während seine Hände das Laken unter ihm zerknüllen. Es ist weiß, und an den Rändern steht in schwarzer Schrift: The Heritage Home. Er hat die Wörter schon einmal irgendwo gelesen, sie sollten ihm etwas sagen, aber er kann nur daran denken, dass seine Knie unter einem hauchdünnen Hemd hervorschauen. Seine Beine sind ihm fremd, dürr und haarlos, übersät von dunklen Punkten und einer beeindruckenden Prellung, die sich deutlich an seinem Schienbein abzeichnet. Die Beine eines alten Mannes, erkennt er, und ihm wird schlagartig klar, dass er uralt sein muss. Jedenfalls viel, viel älter, als er sich fühlt.
»Wie alt bin ich?« Die Wörter sprudeln unaufgefordert heraus. Die Stimme, die sie ausspricht, krächzt vor Alter und Nichtgebrauch.
»Sie sind zweiundsiebzig Jahre jung, Mr Clark.« Sie lächelt dabei, und ihre Stimme klingt so nüchtern, dass Mitch eine Weile braucht, bis er begreift, dass die Schwester von ihm spricht.
»Zweiundsiebzig?«, wiederholt er verwundert.
»Gut aussehend wie eh und je«, versichert sie ihm.
»Ich muss mich rasieren«, murmelt Mitch. Das klingt selbst in seinen Ohren merkwürdig. Umso mehr, als er eine Hand zum Kinn führt und feststellt, dass die Hautfalten dort weich sind, zart gefältelt wie ein benutztes Blatt Krepp. Diese Wangen haben sehr lange keine schabende Rasierklinge mehr zu spüren bekommen. Doch der innere Zwang ist so lebhaft, dass er ihn kaum unterdrücken kann. Mitch spürt die Hand seiner Frau auf der Wange, steif und eisig, obwohl sie sein Gesicht beinahe zärtlich umschließt.
»Meine Frau liebt mich sauber rasiert«, sagt er, weil es stimmt. Oder stimmte. Er würde sich gern erinnern, erwischt aber nur einen Hauch ihres würzigen Parfüms, den missfällig verzogenen Mund, und dann ist sie verschwunden.
Die junge Frau in Rosa beachtet ihn nicht. »Möchten Sie heute Morgen ein Bad?«
Die Frage ist verwirrend. Ein Bad? Badet er denn gern? Gehen Männer in die Badewanne? Geht Mitch in die Wanne? So muss es wohl sein, denn sie wartet nicht auf eine Antwort, sondern führt seine Hand nur an das kühle Gitter des Bettes, woraufhin er die klapprigen Beine über den Rand der Matratze schiebt. Die Schwesternhelferin schleicht auf leisen Sohlen ins Badezimmer und lässt ihn allein mit seinen wirren Gedanken. Kurz darauf vernimmt er das Geräusch von fließendem Wasser, das Quietschen von Metall auf Metall, als sie die Temperatur einstellt.
Flüchtig spürt Mitch das Stechen brühend heißen Wassers auf seiner Haut. Er steht in einer Duschkabine, die mit Dampf und dem durchdringenden Geruch von Irischem Frühling gefüllt ist. Der Duschvorhang ist weiß, und dahinter sieht er den Rest des Hauses. Er weiß, dass er unmöglich dort sein kann, körperlich fit und robust, nicht so lahm und schwach wie heute. Doch sein Wachtraum erscheint ihm wirklicher als die Schwesternhilfe und das harte Bett mit den beschrifteten Laken.
Mitch schließt die Augen. Im Geist schwebt er hinter den Duschvorhang und die Wände des avocadofarbenen Badezimmers, in dem er verspannte Muskeln mit derart heißem Wasser auflockert, dass er krebsrot aussieht, nahezu verbrüht. Durch einen mit Teppich ausgelegten Flur, vorbei an drei Schlafzimmern, die Treppe hinunter. Es ist ein Haus in Split-Level-Bauweise. Die Wohnküche nimmt das gesamte, großzügige Erdgeschoss ein. Doch trotz der Weiträumigkeit kommt es ihm eng vor. Bedrückend, durchsetzt mit Kummer, wie das eingeschnürte Keuchen eines jeden mühseligen Atemzugs, mit dem er jetzt Luft holt. Das Haus strahlt keine Geborgenheit aus. Oder Glück. Er weiß ohne jeden Zweifel, dass es einmal sein Zuhause war.
Das Haus, das er vor seinem geistigen Auge sieht, erstarrt in Anspannung, die von der Frau ausgeht, seiner Ehefrau. Die Erinnerung an ihre Hand verweilt auf seinem Gesicht und lässt seine Haut prickeln.
»Nicht zu heiß«, ruft die Hilfsschwester aus dem Bad. Ihre Wörter hallen von den Kacheln in dem winzigen Raum wider und rufen Mitch zurück in die Gegenwart. »Ich weiß, dass Sie Ihr Bad nicht so heiß mögen.«
Ach ja? Seufzend streckt Mitch einen Fuß auf den Boden und testet die wächserne Oberfläche mit einem Zeh, der so krumm ist, dass er arthritisch sein muss. Die Kälte kneift in seine Haut und kriecht ihm in die Knochen. Ein Schauder schüttelt seinen Körper, er muss husten. Doch das Zittern lockert auch etwas: einen schweren Stein ganz unten in seiner persönlichen Geschichte. An einer Stelle, an der sich die Trümmer eines ruinierten Lebens nach einer Explosion angehäuft haben, an die er sich nicht mehr erinnern kann.
Auf einmal fällt es ihm ein.
Alles.
Ein Blitz, ein kurzes, farbenfrohes Aufleuchten, das ihm Schmerzen bereitet. Eine warme Träne rinnt bereits über seinen bebenden Kiefer. Doch wie der Rauch, der nach dem Feuerwerk im Juli in der Luft hängt, bleiben die Schatten seines Lebens in Form von Fetzen aus nebelhaften Erinnerungen zurück. Schön und schrecklich zugleich.
»Wir sind dann so weit, Mr Clark.« Die Schwester erschrickt ihn mit ihrer plötzlichen Gegenwart. Mitch schnappt nach Luft, als hätte er das Atmen vergessen.
»Ich ...«, aber er will nichts sagen.
Die Augen der Hilfsschwester sind sanft, ihre Hände sehr weich, als sie ihn am Ellbogen nimmt. »Heute ist ein besonderer Tag«, erzählt sie ihm. »Sie sollen das Frühstück nicht verpassen. An Heiligabend gibt es bei uns immer Pfannkuchen.«
Mitch schüttelt den Kopf, als müsste er die Bilder und Gerüche abschütteln, die bei der Erwähnung von Weihnachten in ihm hochkommen. Apfelwein, der frische Tannenbaum, den er immer vom Parkplatz vor dem Lebensmittelgeschäft anschleppte, die Mischung aus Schweiß und Schnee rings um ein Paar kleine Stiefel, die neben der Tür warteten. Ein Kind, denkt er überrascht. Etwas Warmes breitet sich in seiner Brust aus. Ein Mädchen, erkennt er. Die Stiefel sind rosa.
»Heute Abend werden wir Weihnachtslieder singen.« Die Schwesternhelferin lächelt. »Und wissen Sie was? Es schneit.« Sie lässt ihn auf dem Bett sitzen und zieht die Vorhänge vor dem einzigen Fenster in dem kleinen Raum auf.
Das Morgenlicht strömt in sein Zimmer und berührt Mitchs Zehenspitzen mit einem cremig weißen Strahl. Der Himmel ist taubengrau, die Wolken hängen so hoch, dass es aussieht, als würden die Schneeflocken vor dem Fenster direkt aus dem Himmel fallen. Und der Schnee ist ein Segen, schwebt in dicken Wattebäuschen herab und verleiht der rauen Landschaft und den flachen Feldern des Mittleren Westen weiche Züge. Sie liegen unter einer so frischen und neuen Decke, dass Mitch am liebsten darunter gekrochen wäre.
»Ist das nicht schön?« Die Schwesternhelferin seufzt ein wenig, während sie die Verwandlung der Welt vor ihren Augen betrachtet. Mitch bringt es nicht über sich, darauf zu reagieren.
Er ist nicht mehr im Pflegeheim, eingesperrt in einem Raum, in dem er bestimmt bis ans Ende seiner Tage bleiben wird. Stattdessen blinzelt er auf die Silhouette einer Erinnerung und beobachtet, wie sie in Farben erblüht und zum Leben erwacht, ein prächtiger, gestohlener Moment, an den er sich klammert, auch wenn er an den Rändern bereits verblasst.
Mitch sieht sie so deutlich vor sich und kann kaum glauben, dass die Uhr zurückgedreht ist. Ihre Haare sind zu zwei Zöpfen geflochten, ein unbeholfener Versuch, elegant zu wirken, der von verirrten Locken zunichtegemacht wird, die ihrem sorgfältigen Werk getrotzt haben. Irgendwie betont es noch ihre kindliche Schönheit - die Erkenntnis, dass anstelle der zärtlichen Fürsorge einer Mutter ihre eigenen schlanken Hände sich abmühten, ihre Locken zu zähmen. Ihre Wangen sind gerötet, der Mund zu jugendlichem Gelächter geöffnet, die Augen gesprenkelt mit dem Silber unzähliger Sterne, die sich darin spiegeln. In ihrem Haar sind Diamanten, und als sie die kalten Hände nach Mitch ausstreckt, umfasst er sie. Er nimmt ihre Finger zwischen seine warmen Handflächen und wünscht sich, er könnte die Kleine an sich drücken. Nur einen Augenblick. Für immer.
Aber sie ist bereits verschwunden.
1
Rachel
1. Oktober
Er wird mich umbringen.«
»Wird er nicht. Sei nicht so melodramatisch.« Lily schenkte mir einen vernichtenden Blick und faltete ein Handtuch mit festem Griff zusammen.
Ich beobachtete meine Tochter, wie sie das nächste Handtuch auf den wachsenden Stapel frischer Wäsche legte, und erwischte mich dabei, dass ich wieder einmal die anmutige Kurve ihres Halses bewunderte, das Funkeln in ihren jeansblauen Augen. Lily war ein Wunder: klug und schön und draufgängerisch. Aber sie konnte sich durchaus irren. Wenn ich unseren geheimen Plan durchzog, könnte Cyrus mich sehr wohl umbringen.
»Er wird wütend sein«, sagte ich.
Lily zuckte mit den Schultern. »Na und? Wehr dich, Mom. Was wird denn schlimmstenfalls passieren?«
Ich konnte mir ein Dutzend verschiedener Szenarien vorstellen, die alle nicht angenehm waren. Aber was wusste meine elfjährige Tochter schon über die Verwicklungen einer traurigen, lieblosen Ehe? Wie sollte ich von ihr Verständnis für das Geben und Nehmen in meiner Beziehung zu ihrem Vater erwarten? Ich gab. Cyrus nahm. Eine einfache Gleichung. Ich kannte sie auswendig.
»Es ist schwierig, Schätzchen.« Ich zupfte den letzten Waschlappen in Form und begann, die Wäschestapel in den Korb zu laden, um sie dann auf die vier Badezimmer unseres feudalen Hauses zu verteilen. Wir hatten mehr Bäder als Familienmitglieder, aber ich betrachtete die Geräumigkeit unserer unansehnlichen Wohnstatt als Segen: Sie schenkte mir viele Verstecke. Gästezimmer und dunkle Flure. Wandschränke. Doch davon wusste Lily nichts.
Cyrus und ich stritten nur, wenn unsere Tochter schlief. Obwohl unsere Auseinandersetzungen in der Regel lediglich aus bösen Worten und wüsten Beleidigungen bestanden, konnte ich den Gedanken nicht ertragen, dass ihr die hässlichen Dinge zu Ohren kamen, die ihr Vater zu mir sagte. Vor langer Zeit hatte ich mir geschworen, dass Lily niemals unter der Wahrheit meiner verkorksten Ehe leiden sollte, und ich hatte Wort gehalten. Ich hielt Cyrus von ihr fern und sorgte dafür, dass er seine Wut nie an unserer Tochter auslassen konnte. Es funktionierte. Ich war ein vorbildlicher Blitzableiter.
»Schön.« Lily stemmte die Hände in die schmalen Hüften und zog die Augenbrauen hoch. »Ich glaube, du musst es tun. Mr Wever braucht dich. Wie kannst du da Nein sagen?«
»Ich kann nicht Nein sagen«, seufzte ich. »Ich werde es machen. Aber du musst mir versprechen, dass du Dad nichts verrätst. Das ist unser Geheimnis, ja?«
Lily legte einen schlanken Finger auf das Herz und grinste mich schelmisch an. Sie war reif für ihr Alter, doch das Glitzern in ihren Augen sagte mir, dass in meiner Tochter noch immer ein kleines Mädchen steckte - noch dazu eins, das allein bei dem Gedanken an ein Geheimnis Gänsehaut bekam. Mir wurde klar, dass ihre Begeisterung für meine kurzzeitige Aushilfe in Max Wevers Maßschneiderei vor allem mit der Aussicht auf allerlei Geheimniskrämerei zu tun hatte. Weniger mit dem selbstlosen Wunsch, einem älteren Mann beizustehen, der Hilfe brauchte. Mir brach fast das Herz angesichts ihrer unverbauten Lebensauffassung: Lily glaubte an unschuldige Heimlichtuerei, an aufregende Rätsel, an ein glückliches Leben bis ans selige Ende. Ich hatte nicht vor, ihr diese schönen Empfindungen zu nehmen. Kleinen Mädchen sollten Träume gestattet sein.
»Du verpasst den Bus«, sagte ich, den Wäschekorb auf den Armen. Ich beugte mich vor und küsste Lily auf die dargebotene Wange. »Vergiss nicht, nach der Schule direkt ins Eden zu kommen.«
Lily kicherte. »Das klingt so komisch.« Sie versuchte meine Stimme nachzuahmen, was ihr meiner Meinung nach nicht gut gelang. »Komm nach der Schule ins Paradies, Lily.« Sie gab den Tonfall auf. »Ich kann nicht glauben, dass Mr Wever seine Schneiderei Eden Maßschneiderei genannt hat.«
»Das war meine Idee«, sagte ich. »Vor langer Zeit.« Vor Ewigkeiten.
»Raffiniert«, scherzte Lily.
»Woher weißt du überhaupt, was raffiniert bedeutet?« Ich schüttelte den Kopf. »Im Ernst. Ich möchte, dass du direkt in die Schneiderwerkstatt kommst. Aber nimm nicht den Bus dorthin, ja? Steig an deiner normalen Haltestelle aus und geh zu Fuß weiter.«
»Soll ich mich hinter Bäumen tarnen?« Lily nahm eine Pose aus Drei Engel für Charlie ein. »Mich vergewissern, dass mir niemand folgt?«
»Jetzt bist du melodramatisch.« Ich schmollte und versuchte, meinen Entschluss nicht zu bereuen. »Behalte das einfach für dich, bitte. Du musst mir glauben, Lil. Dein Vater wäre nicht erfreut, wenn er wüsste, dass ich Max helfen möchte. Er will, dass ich zu Hause bleibe, das weißt du.«
»Ja.« Lily schnappte sich ihren Rucksack vom Tisch und streifte ihn über die Schultern. »Ich kann gut Geheimnisse hüten.«
Du bist nicht die Einzige, dachte ich.
Bevor ich mich noch weiter über die geheime Natur meiner kurzfristigen Einstellung in der Eden Maßschneiderei auslassen konnte, hüpfte Lily aus dem Zimmer. Ich vernahm ihre leichten Schritte in der Diele, dann schlug die Haustür zu. Das war symbolisch für mich, ein abschließender Trommelschlag, der durch unser riesiges Haus hallte. Das bedeutete ein Ende.
Aber auch einen Anfang. Denn obwohl ich Angst hatte, es zuzugeben, hatte ich das Gefühl, als wäre in meiner Seele eine Tür aufgesprungen. Eine winzige Öffnung zwar nur, aber Anzeichen für etwas Neues lagen in der Luft, etwas Unerwartetes.
Ich unterdrückte ein Schaudern und betete inständig, dass Cyrus es nie herausbekommen würde.
Max und Elena Wever haben mich gerettet. Ich weiß, das klingt gefühlsduselig, aber ich glaube, es stimmt. Meine Mutter, die berüchtigte Beverly Anne, starb, als ich vierzehn Jahre alt war. In der schweren Zeit voll Wut und Verwirrung danach sprangen Max und Elena ein und retteten mich vor dem Untergang.
Bev kam ums Leben, als der Familienkombi an einem heißen Dienstag im Sommer engen Kontakt mit einer Eiche aufnahm. Im offiziellen Polizeibericht hieß es, sie habe die Kontrolle über ihr Fahrzeug verloren, sei von der Straße abgekommen und durch diesen Unfall vorzeitig ums Leben gekommen. Doch die meisten aus Everton kannten die Wahrheit: Bev war um zwei Uhr mittags sturzbetrunken und zu sehr damit beschäftigt gewesen, nach einer Flasche Gin zu greifen, die unter den Sitz gerollt war, um der Haarnadelkurve direkt am Rande der Stadt große Aufmerksamkeit zu schenken.
Jahre später, als eine von Cyrus' mondänen Freundinnen mir einen Martini aus der Cocktailbar ihrer schicken Küche mixte, reichte allein der Geruch von Wermut und dem unverkennbaren Gin meiner Mutter, dass mir schlecht wurde. Ich schwor dem Alkohol komplett ab. Mich erinnerte der Geruch an verbitterte Worte, nach Wut und Tod. Er roch wie meine Mutter.
Doch bevor ich wusste, was ein Martini war, bevor ich die Verletzung und Enttäuschung äußern konnte, die ich bei der bloßen Erwähnung von Bevs Namen verspürte, war ich bloß ein Kind ohne Mutter. Max und Elena Wever sahen, wie sehr ich litt, und streckten ihre Hände aus.
Damals existierte die Maßschneiderei Eden nicht einmal. Max und Elena waren einfach nur die Schneider in die Gemeinde Everton. Sie flickten Hosen und schneiderten in ihrer zur Schneiderwerkstatt umgewidmeten Garage Jacketts auf Maß. Sie wohnten neben dem Haus, in dem ich aufwuchs. Obwohl ich wusste, wer sie waren und was sie machten, hatte ich ihre Arbeitsstätte nie betreten und die beiden bis zu dem Tag nicht einmal gegrüßt, an dem Max mich auf dem Bürgersteig anhielt.
Es war ein heißer, dunstiger Nachmittag im Juli. Mein Nachbar trug eine schwarze Hose und ein gestärktes Anzughemd, dessen lange Ärmel er bis an die Ellbogen aufgekrempelt hatte. Ich schwitzte in einem Trägerhemd und abgeschnittenen, kurzen Jeans und litt zu sehr unter der Hitze und meiner fiebrigen Verwirrung über das Leben an sich, um ihn weiter zu beachten.
»Hast du gute Augen?«, fragte Max mich wie aus heiterem Himmel, als ich an seiner Einfahrt vorbeiging.
Ich drehte mich um und betrachtete den Mann, der mein Nachbar war. Er war gebeugt und grauhaarig, ein krummer Riese mit Händen wie Bärentatzen und drahtigen Haarbüscheln wie vergessene Wattebäusche in den Ohren. Ich hatte keine Angst vor ihm, aber wir hatten noch nie miteinander gesprochen. Kaum hatte er sich nach den Zustand meiner Augen erkundigt, war ich auch schon überzeugt, dass es einen guten Grund gab, warum wir uns aus dem Weg gingen. Offensichtlich war er dement. Die meisten Menschen sahen mich mit kaum verhohlenem Mitleid an und sprachen mir sofort ihr Beileid zum Verlust meiner Mutter aus. Max ließ diese Plattheiten einfach aus.
»Meine Augen sind gut«, sagte ich zu ihm. Dann machte ich auf dem Absatz kehrt und ging weiter - ich hielt es für das Beste, ihn nicht weiter zu ermutigen. Bei seiner nächsten Frage aber blieb ich wie angewurzelt stehen.
»Möchtest du einen Job haben?«
Einen Job? In dem Monat nach dem Tod meiner Mutter hatte mein Leben aus wenig mehr als unwillkommenen Beileidsbekundungen und den Versuchen bestanden, die ehrlichen Hilfsangebote von denen zu unterscheiden, die Habsucht und Neugier entsprangen. Anscheinend wollten alle wissen, was im Hause Clark vorgegangen war. An Klatschmäulern, die bereitwillig unser Zuhause durchwühlten, begierig, die Wahrheit herauszufinden, herrschte kein Mangel. Mr Wevers Frage jedoch war einzigartig, unerwartet. Ich hätte ihn nicht ignorieren können, selbst wenn ich gewollt hätte.
»Was für einen Job?«, erkundigte ich mich vorsichtig.
»Meine Frau und ich sind Schneider«, erklärte er mir in seinem starken holländischen Akzent. »Wir bessern Kleidung aus. Stellen neue Kleidung her.«
Als hätte ich das nicht gewusst.
»Wir könnten jemanden gebrauchen, der Knopflöcher näht, Stoffe bügelt, Besorgungen macht.«
»Ein Botenmädchen sozusagen?«
Mr Wever schaute mich verwirrt an.
»Ein Mädchen für alles«, stellte ich klar, wobei mich der Gedanke nicht gänzlich abschreckte. Alles klang besser, als ziellos durch die Straßen von Everton zu laufen, ohne etwas zu tun zu haben, die Tragödie meiner Mutter im Gefolge wie den sprichwörtlichen Klotz am Bein.
»Ja«, sagte Mr Wever bedächtig. »Ein Mädchen für alles, vermutlich. Aber vielleicht auch mehr als das. Wenn du gute Augen hast.« Er schlurfte einen Schritt auf mich zu. Ich hob den Kopf, als wollte ich ihm meine Augen zur Untersuchung darbieten. Sie waren blau und unergründlich, zu groß, wenn ich der beständigen Kritik meiner verstorbenen Mutter glauben wollte. Vielleicht waren meine babyblauen Augen ein bisschen verrückt, aber ich habe nie verstanden, warum Bev unbedingt daran herumkritteln wollte. Schließlich waren es ihre Augen. Von den Spitzen meiner zarten Finger bis zu den Wurzeln meiner wirren fuchsroten Haare war ich das Ebenbild meiner Mutter.
»Wie viel?«, fragte ich.
Mr Wever krümmte einen Finger um den Drahtrahmen seiner Brille und zog sie sich von der Nase, damit er mich durch den unteren Teil seiner Zweistärkengläser betrachten konnte. Sein Blick war direkt, vielleicht ein wenig belustigt. »
Drei Dollar die Stunde«, sagte er. »Die Arbeitsstunden variieren. Manchmal werden wir viel Arbeit für dich haben. Manchmal nicht.« Drei Dollar waren weniger als der Mindestlohn, doch die Arbeitszeit schien angemessen flexibel zu sein. »Okay«, erwiderte ich und zuckte mit den Schultern. »Ich werde Ihr Mädchen für alles.«
Mr Wever nickte kurz und schenkte mir ein ernstes, schmallippiges Lächeln. Als er einen Schritt auf mich zutrat, dachte ich, er wollte Verhaltensregeln herunterleiern, ungeschriebene Gesetze für die Arbeit in seinem geheiligten Laden. Stattdessen aber streckte er die Hand aus und wartete geduldig darauf, dass ich einschlug. Unser Händeschütteln hatte etwas Feierliches. Als meine Finger in seiner großen Hand verschwanden, wurde mir klar, dass wir eine Vereinbarung besiegelten.
»Elena und ich freuen uns, dich morgen früh um acht zu sehen«, sagte er. Seit Bevs Tod hatte ich mich ans Faulenzen gewöhnt, aber Mr Wever ließ absolut keinen Raum für Diskussionen über meinen Arbeitsbeginn. Ich hob eine Schulter, und er muss die Geste als Einwilligung ausgelegt haben, denn er nickte noch einmal und wandte sich um. »Vielen Dank«, rief ich hinter ihm her.
Er schlurfte die Einfahrt hinauf und antwortete auf meinen Dank nur durch eine wedelnde Handbewegung, als wollte er einen Schwarm Stechmücken verscheuchen.
»Bis morgen, Mr Wever«, fügte ich hinzu.
»Max.«
»Wie bitte?«
»Sag Max zu mir«, rief er. Dann verschwand er in der Seitentür seiner angebauten Garage.
Gut fünf Jahre arbeitete ich für Max und Elena. Zuerst wischte ich den Boden, wickelte Garnrollen auf und ging ans Telefon, wenn Max und Elena gerade Nadeln zwischen den Lippen eingeklemmt hatten. Als Max feststellte, dass ich meine Arbeit gut machte und schnell lernte, brachte er mir bei, die Hosen zu stärken und zu bügeln, damit die dicke Falte wie ein schmaler Grat hervorstand. Die Arbeit war schön. Aber so richtig verliebte ich mich erst darin, als Elena ihr erstes Hochzeitskleid machte, eine handgenähte Kreation für eine junge Frau aus ihrer Kirchengemeinde, die sich ein Kleid aus einem Laden nicht leisten konnte.
Die Schneiderwerkstatt verwandelte sich für mich endgültig, nachdem Elena einen Ballen extravaganter, schimmernder italienischer Brautseide gekauft hatte. Der Stoff war ungemein teuer, doch das Kleid sollte ein Geschenk sein, und Elena nahm das Schenken sehr ernst. An dem Tag, an dem die Seide aus Mailand eintraf, blieb ich noch lange dort, nachdem Max sich aus dem Arbeitsraum zurückgezogen hatte. Elena und ich schoben vorsichtig die schweren Wollstoffe beiseite. Fischgrätenmuster und Tweed, die schon bald die Männer von Everton kleiden würden. Wir hoben den überraschend schweren Karton auf den Tisch. Dann holte Elena die Seide heraus, und wir rollten sie auf der Oberfläche des breiten Arbeitstisches aus, verblüfft, wie sie im Licht glänzte und funkelte.
»Kann sein, dass ich nie wieder eine Hose nähe.« Elena lachte.
Aber das stimmte natürlich nicht.
Trotzdem überließ Elena mindestens ein- oder zweimal im Jahr das Schneidern ihrem Mann und gab sich ihrem Lieblingshobby hin: der Damenschneiderei. Ich meinerseits freute mich wie verrückt auf diese Ausflüge in die Welt aus Satin und Spitze. Dennoch konnte ich mich über das Nähen von Männeranzügen nicht beklagen. Max dabei zu helfen, Symmetrie und Ausrichtung der Nadelstreifen an einer Anzugjacke genau hinzubekommen, hatte etwas einzigartig Warmes und Tröstendes. Es machte Spaß und war fremdartig. Auf jeden Fall männlich.
Mein Vater trug nur selten einen Anzug. Und der, den er zu bestimmten Gelegenheiten hervorholte, war eine Reliquie. Sein Schrank war voller Jeans und Hemden, die er für höchstens zehn Dollar beim örtlichen Bekleidungsgeschäft erstehen konnte. Ich machte mir eigentlich nie Gedanken über die Kleidung meines Vaters, bis ich anfing, mit Max zusammen Anzüge zu nähen. Sofort erschien mir die Arbeitskleidung meines Vaters billig und geschmacklos, die Uniform eines Mannes, der immer Dreck unter den Fingernägeln und einen Sonnenbrand auf der sich pellenden Nase hatte. Ich wollte nicht oberflächlich sein, aber ich wünschte mir, mein Vater würde sich ein bisschen ernster nehmen.
»Kleider machen Leute«, zitierte Max gern und betrachtete mich von der Seite, bevor er schloss: »Nackte Menschen haben wenig oder keinen Einfluss auf die Gesellschaft.«
»Mark Twain.« Ich musste lachen. »Aber es ist ein albernes Zitat.«
»Nein, es stimmt.« Er legte die Stirn in Falten und dachte nach. »Wie wär's damit: Wäre Ehre deine Kleidung, würde der Anzug ein Leben lang halten. Aber wenn Kleidung deine Ehre ist, wird sie schon bald fadenscheinig.«
»Das habe ich noch nie gehört.«
»William Arnot. Ein Prediger. Wusste, wovon er sprach.« Ich zog eine Schnute. »Das ist ein schöner Spruch, Max. Aber ich glaube, er würdigt nicht, was wir hier tun. Stellen wir nicht Kleidung her?«
»Es ist eine Gratwanderung, Schätzchen. Das möchte ich dir gern beibringen. So gern die Leute auch etwas anderes glauben möchten: Die Art, wie wir uns nach außen hin präsentieren, zeigt etwas darüber, wer wir im Innern sind. Ich muss keinen dreiteiligen Anzug tragen, um ein guter Mensch zu sein. Aber ich hätte gern, wenn alles an mir - selbst meine Kleidung - eine gewisse kompromisslose Integrität ausstrahlen würde.«
»Schneidern Sie deshalb Anzüge?«
Max lachte. »Ich mache Anzüge, weil mein Vater Anzüge genäht hat. Und sein Vater vor ihm. Was meinst du denn, was Wever auf Holländisch heißt? Das ist das Einzige, was ich kann. Trotzdem, wenn ich schon Anzüge schneidere, müssen sie in jeder Hinsicht hervorragend sein. Die bestmögliche Qualität.«
»Weil Sie ein Mann von kompromissloser Rechtschaffenheit sind.«
»Das will ich hoffen«, murmelte Max mit ironischem Lächeln. »Jedenfalls gebe ich mir Mühe.«
Mühe gaben sich beide, Max und Elena, und ich bewunderte sie. Obwohl wir nie darüber sprachen, war ich im Grunde genommen die Tochter, die sie nie hatten. Ich habe mich immer gefragt, ob Max und Elena ein Kind in der niederländischen Erde zurückgelassen hatten oder ob sie einfach keine Kinder bekommen konnten. Aber ich stellte ihre Liebe zu mir nicht in Frage. Wenigstens ein paar Jahre meines Heranwachsens war ich dankbar dafür, dass meine Ersatzfamilie mich akzeptierte, meine Macken, meinen Ballast eingeschlossen - besonders als meine echte Familie es nicht tat. Vor allem, weil ich eigentlich keine Familie hatte. Bevor ich alt genug war, ein Auto fahren zu können, war ich mehr oder weniger eine Waise: Bev war tot, und mein Vater behandelte mich, als wäre ich auch tot. Zumindest hatte ich das Gefühl.
»Wir sind keine einfache Schneiderwerkstatt mehr«, sagte Max an dem Tag, an dem Elena und ich unser zehntes Hochzeitskleid fertigstellten. Er betrachtete die weichen, schönen Stoffe, die aus allen Ecken seiner vormals männlichen Garage aufzublühen schienen. Popeline und Seersucker und Leinen existierten Seite an Seite mit hauchdünnem Gewebe, das wie geschmolzenes Eis sprudelte und floss.
»Jetzt mach mal halb lang«, protestierte Elena. »Wir werden immer eine Schneiderwerkstatt bleiben.« Sie lehnte sich an ihn und küsste begütigend seine zerfurchte Wange.
»Aber wir sind mehr. Wir sind ...« Max runzelte die Stirn, als wäre er verwirrt, was aus seinem Laden geworden war. »Wir sind auch ein Modeladen.«
Elena schüttelte den Kopf. »Nicht nur irgendein Modeladen. Ein Laden für Hochzeitskleider.«
»Ein Brautmodengeschäft«, schlug ich vor.
Max tat, als überliefe ihn ein Schauer, und hob abwehrend beide Hände. »Frauen! Ich bin umzingelt!« Kopfschüttelnd verließ er die Garage, aber mir entging die Andeutung eines Lächelns in seinen Mundwinkeln nicht.
»Der kriegt sich schon wieder ein«, versicherte Elena mir augenzwinkernd. »Verletzter Stolz führt selten zum Tod. Und was uns betrifft, glaube ich, ist es höchste Zeit, diesem Herren-, Damen- und Brautausstatter einen Namen zu geben. Eine Möglichkeit, damit die Leute uns finden.«
»Eden«, sagte ich spontan.
»Eden?«
»Du weißt schon«, stammelte ich, »weil es makellos ist. Der Anfang von etwas. Voller Möglichkeiten.« Ich verstummte.
Elena nickte bedächtig, und ich konnte förmlich sehen, wie sich die Räder hinter ihren dunkelbraunen Augen drehten. »Eden Maßschneiderei - da bleibt Platz für das eine oder andere Kleid inmitten des Anzugheeres. Ich glaube, das geht.«
Natürlich ging es. Jeder brauchte eine kleine Erinnerung an etwas Großes und Vielversprechendes. Jeder brauchte ein Stück Paradies.
Besonders Menschen, die manchmal das Gefühl hatten, als wäre ihr Leben alles andere als das.
Die Eden Maßschneiderei bekam Kultstatus, als die Jugend von Everton die Schule abschloss und ihrer kleinen Heimatstadt entfloh. Während Evertons ehemalige Einwohner Großstädte wie Los Angeles, Chicago, New York und viele andere bevölkerten, fanden sie früher oder später den ganz besonderen Menschen. Dann erinnerten sie sich an das alte Paar in ihrer fast vergessenen Heimatstadt, das exklusive Anzüge und Hochzeitskleider nähte. Mit der Zeit trafen Anfragen nach Kleidern aus Seide und Satin ein. Mit diesen ausgefallenen Bestellungen ging die gebieterische Anweisung einher: »Es muss etwas Besonderes sein.« Was heißen sollte: »Wir haben nicht viel Geld.«
Max kaufte ein altes Fotostudio in der Main Street, das er in einen bezaubernden Laden mit einem Raum für die Anprobe und einem fünfteiligen Spiegel auf einem sechzig Zentimeter hohen Standfuß umbaute. Das funktionierte schon gut, wenn Max die distinguierten Herren von Everton vorsichtig ausmessen musste, die Bräute jedoch wussten den Spiegel am meisten zu schätzen. Die jungen Frauen liebten es, sich aus jedem nur denkbaren Winkel zu bewundern. Die Beleuchtung war matt und schmeichelhaft, da es im Laden keine Fenster gab. Obwohl das wie eine Schwachstelle ausgesehen hatte, als Max das Gebäude kaufte, erwies es sich als Segen: Die meisten Bräute waren begeistert, dass ihre einzigartige Kreation so lange ein Geheimnis bleiben würde, bis sie durch den Mittelgang zum Altar schritten.
Und angehende Bräute waren nicht die Einzigen, die froh waren, dass die Eden Maßschneiderei ein dunkles, unauffälliges Gebäude in einer ruhigen Ecke von Everton war. Ich legte die Hand auf den Griff der Hintertür und warf einen verstohlenen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, dass mich niemand beim Betreten beobachtete. Im Stillen segnete ich Max dafür, dass er auf ein helles, voll verglastes Gebäude mit Ausblick auf unsere historische Altstadt verzichtet hatte. Hätte er sich für eine zentrale Lage mitten im Getümmel entschieden, wäre es mir nie möglich gewesen, seinem gehetzten Hilferuf zu folgen.
Zufrieden, dass die düstere Gasse hinter der Eden Maßschneiderei leer war, machte ich rasch die Stahltür auf und huschte hinein. Das Hinterzimmer hatte sich in den zwölf Jahren nicht groß verändert, die ich nicht mehr für Max und Elena arbeitete. Es war noch immer mit Kisten aus den exotischsten Gegenden der ganzen Welt vollgestopft, und an den Metallstangen an zwei Wänden des kleinen Raums hingen Dutzende von Kleiderbügeln mit Stoffen in allen Farbschattierungen. Leise atmete ich aus und widerstand dem dringenden Bedürfnis, ein Stück Organza zwischen die Finger zu nehmen. Doch statt zu riskieren, den Stoff mit meinen fettigen Fingern zu verderben, fuhr ich mit dem Handrücken über den herrlichen Stoff und spürte mit Staunen, dass er wie Wasser über meine Haut fiel.
»Der ist hübsch, nicht wahr?«
Max stand im Türrahmen zwischen dem Hinterzimmer und dem Arbeitsraum, und sein schneeweißes Haar berührte beinahe den oberen Querbalken. Trotz seiner Größe schien er geschrumpft, er kam mir irgendwie kleiner vor als beim letzten Zusammentreffen. »Ich weiß nicht, was ich mit ihrem Stoff machen soll, jetzt, da sie gestorben ist«, sagte er und verstummte beinahe reumütig.
Ich dachte, ich könnte mich zusammenreißen, doch sein Anblick machte mich fertig. Ein Schluchzer löste sich aus meiner Kehle, und dementsprechend brach ein Tränenstrom aus, bevor ich ihn zurückhalten konnte.
»O Rachel.« Max streckte mir beide Hände entgegen, und ich trat zu ihm, vorsichtig darauf bedacht, ihn nicht umzuhauen in dem verzweifelten Wunsch, seine Arme um mich zu spüren. Er zog mich sacht an sich. Wortlos. Es gab nichts zu sagen.
»Es tut mir so leid«, brachte ich schließlich hervor, mein Gesicht an seine Schulter gedrückt.
»Was?«
»Dass ich nicht früher gekommen bin. Ich wollte zu Elenas Beisetzung gehen«, keuchte ich, entsetzt darüber, dass sie beerdigt worden war, ohne dass ich mich verabschiedet hatte. Ich versuchte, es zu erklären, eher mir als ihm zuliebe. »Cyrus hatte zu tun, und ...«
»Ist schon gut«, erwiderte Max.
Aber das war es nicht. Nicht einmal annähernd. »Ich hätte dort sein sollen.«
»Du bist jetzt hier.«
Du bist jetzt hier. Seine Wörter hallten in dem leeren Raum wider, den Elenas Tod in meiner Seele hinterlassen hatte. Doch vielleicht war der Riss schon vorher entstanden. Vielleicht fing er mit Bev an und wurde vertieft durch das Schweigen meines feigen Vaters. Vielleicht hat Cyrus ihn noch breiter gemacht und eine Höhle geschaffen, in der zunehmende Anschuldigungen gegen mich erschollen: Du bist schwach. Du bist hässlich. Du bist dumm und nicht liebenswert und zu nichts zu gebrauchen.
Vielleicht hatte Bev vor vielen Jahren recht gehabt, und Cyrus' Fortsetzung ihres verletzenden Monologs passte perfekt auf jemanden, der so billig und nutzlos war wie ich. Vielleicht war ich genauso, wie sie mich darstellten. Aber in Max' warmherziger Umarmung war ich auch noch etwas anderes.
»Du hast recht«, sagte ich. »Jetzt bin ich hier.«
Es war ein Anfang.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
»Dann wollen wir mal aufstehen, ja?« Sie sagt es freundlich, behutsam. Schon schlingt sie die Arme um ihn, um ihm aus der Enge eines unglaublich schmalen Bettes aufzuhelfen. Sie ist zu klein, um ihn zu heben, aber plötzlich sitzt er aufrecht, und der Körper, den er gerade eben noch bewunderte, hat versagt. Mitch verspürt Schmerzen. Überall.
Die Stiche im Rücken sind scharf, und seine Knie pochen. Seine Hüfte ebenso, doch der Schmerz ist ihm vertraut. Mitch findet sich damit ab, noch während seine Hände das Laken unter ihm zerknüllen. Es ist weiß, und an den Rändern steht in schwarzer Schrift: The Heritage Home. Er hat die Wörter schon einmal irgendwo gelesen, sie sollten ihm etwas sagen, aber er kann nur daran denken, dass seine Knie unter einem hauchdünnen Hemd hervorschauen. Seine Beine sind ihm fremd, dürr und haarlos, übersät von dunklen Punkten und einer beeindruckenden Prellung, die sich deutlich an seinem Schienbein abzeichnet. Die Beine eines alten Mannes, erkennt er, und ihm wird schlagartig klar, dass er uralt sein muss. Jedenfalls viel, viel älter, als er sich fühlt.
»Wie alt bin ich?« Die Wörter sprudeln unaufgefordert heraus. Die Stimme, die sie ausspricht, krächzt vor Alter und Nichtgebrauch.
»Sie sind zweiundsiebzig Jahre jung, Mr Clark.« Sie lächelt dabei, und ihre Stimme klingt so nüchtern, dass Mitch eine Weile braucht, bis er begreift, dass die Schwester von ihm spricht.
»Zweiundsiebzig?«, wiederholt er verwundert.
»Gut aussehend wie eh und je«, versichert sie ihm.
»Ich muss mich rasieren«, murmelt Mitch. Das klingt selbst in seinen Ohren merkwürdig. Umso mehr, als er eine Hand zum Kinn führt und feststellt, dass die Hautfalten dort weich sind, zart gefältelt wie ein benutztes Blatt Krepp. Diese Wangen haben sehr lange keine schabende Rasierklinge mehr zu spüren bekommen. Doch der innere Zwang ist so lebhaft, dass er ihn kaum unterdrücken kann. Mitch spürt die Hand seiner Frau auf der Wange, steif und eisig, obwohl sie sein Gesicht beinahe zärtlich umschließt.
»Meine Frau liebt mich sauber rasiert«, sagt er, weil es stimmt. Oder stimmte. Er würde sich gern erinnern, erwischt aber nur einen Hauch ihres würzigen Parfüms, den missfällig verzogenen Mund, und dann ist sie verschwunden.
Die junge Frau in Rosa beachtet ihn nicht. »Möchten Sie heute Morgen ein Bad?«
Die Frage ist verwirrend. Ein Bad? Badet er denn gern? Gehen Männer in die Badewanne? Geht Mitch in die Wanne? So muss es wohl sein, denn sie wartet nicht auf eine Antwort, sondern führt seine Hand nur an das kühle Gitter des Bettes, woraufhin er die klapprigen Beine über den Rand der Matratze schiebt. Die Schwesternhelferin schleicht auf leisen Sohlen ins Badezimmer und lässt ihn allein mit seinen wirren Gedanken. Kurz darauf vernimmt er das Geräusch von fließendem Wasser, das Quietschen von Metall auf Metall, als sie die Temperatur einstellt.
Flüchtig spürt Mitch das Stechen brühend heißen Wassers auf seiner Haut. Er steht in einer Duschkabine, die mit Dampf und dem durchdringenden Geruch von Irischem Frühling gefüllt ist. Der Duschvorhang ist weiß, und dahinter sieht er den Rest des Hauses. Er weiß, dass er unmöglich dort sein kann, körperlich fit und robust, nicht so lahm und schwach wie heute. Doch sein Wachtraum erscheint ihm wirklicher als die Schwesternhilfe und das harte Bett mit den beschrifteten Laken.
Mitch schließt die Augen. Im Geist schwebt er hinter den Duschvorhang und die Wände des avocadofarbenen Badezimmers, in dem er verspannte Muskeln mit derart heißem Wasser auflockert, dass er krebsrot aussieht, nahezu verbrüht. Durch einen mit Teppich ausgelegten Flur, vorbei an drei Schlafzimmern, die Treppe hinunter. Es ist ein Haus in Split-Level-Bauweise. Die Wohnküche nimmt das gesamte, großzügige Erdgeschoss ein. Doch trotz der Weiträumigkeit kommt es ihm eng vor. Bedrückend, durchsetzt mit Kummer, wie das eingeschnürte Keuchen eines jeden mühseligen Atemzugs, mit dem er jetzt Luft holt. Das Haus strahlt keine Geborgenheit aus. Oder Glück. Er weiß ohne jeden Zweifel, dass es einmal sein Zuhause war.
Das Haus, das er vor seinem geistigen Auge sieht, erstarrt in Anspannung, die von der Frau ausgeht, seiner Ehefrau. Die Erinnerung an ihre Hand verweilt auf seinem Gesicht und lässt seine Haut prickeln.
»Nicht zu heiß«, ruft die Hilfsschwester aus dem Bad. Ihre Wörter hallen von den Kacheln in dem winzigen Raum wider und rufen Mitch zurück in die Gegenwart. »Ich weiß, dass Sie Ihr Bad nicht so heiß mögen.«
Ach ja? Seufzend streckt Mitch einen Fuß auf den Boden und testet die wächserne Oberfläche mit einem Zeh, der so krumm ist, dass er arthritisch sein muss. Die Kälte kneift in seine Haut und kriecht ihm in die Knochen. Ein Schauder schüttelt seinen Körper, er muss husten. Doch das Zittern lockert auch etwas: einen schweren Stein ganz unten in seiner persönlichen Geschichte. An einer Stelle, an der sich die Trümmer eines ruinierten Lebens nach einer Explosion angehäuft haben, an die er sich nicht mehr erinnern kann.
Auf einmal fällt es ihm ein.
Alles.
Ein Blitz, ein kurzes, farbenfrohes Aufleuchten, das ihm Schmerzen bereitet. Eine warme Träne rinnt bereits über seinen bebenden Kiefer. Doch wie der Rauch, der nach dem Feuerwerk im Juli in der Luft hängt, bleiben die Schatten seines Lebens in Form von Fetzen aus nebelhaften Erinnerungen zurück. Schön und schrecklich zugleich.
»Wir sind dann so weit, Mr Clark.« Die Schwester erschrickt ihn mit ihrer plötzlichen Gegenwart. Mitch schnappt nach Luft, als hätte er das Atmen vergessen.
»Ich ...«, aber er will nichts sagen.
Die Augen der Hilfsschwester sind sanft, ihre Hände sehr weich, als sie ihn am Ellbogen nimmt. »Heute ist ein besonderer Tag«, erzählt sie ihm. »Sie sollen das Frühstück nicht verpassen. An Heiligabend gibt es bei uns immer Pfannkuchen.«
Mitch schüttelt den Kopf, als müsste er die Bilder und Gerüche abschütteln, die bei der Erwähnung von Weihnachten in ihm hochkommen. Apfelwein, der frische Tannenbaum, den er immer vom Parkplatz vor dem Lebensmittelgeschäft anschleppte, die Mischung aus Schweiß und Schnee rings um ein Paar kleine Stiefel, die neben der Tür warteten. Ein Kind, denkt er überrascht. Etwas Warmes breitet sich in seiner Brust aus. Ein Mädchen, erkennt er. Die Stiefel sind rosa.
»Heute Abend werden wir Weihnachtslieder singen.« Die Schwesternhelferin lächelt. »Und wissen Sie was? Es schneit.« Sie lässt ihn auf dem Bett sitzen und zieht die Vorhänge vor dem einzigen Fenster in dem kleinen Raum auf.
Das Morgenlicht strömt in sein Zimmer und berührt Mitchs Zehenspitzen mit einem cremig weißen Strahl. Der Himmel ist taubengrau, die Wolken hängen so hoch, dass es aussieht, als würden die Schneeflocken vor dem Fenster direkt aus dem Himmel fallen. Und der Schnee ist ein Segen, schwebt in dicken Wattebäuschen herab und verleiht der rauen Landschaft und den flachen Feldern des Mittleren Westen weiche Züge. Sie liegen unter einer so frischen und neuen Decke, dass Mitch am liebsten darunter gekrochen wäre.
»Ist das nicht schön?« Die Schwesternhelferin seufzt ein wenig, während sie die Verwandlung der Welt vor ihren Augen betrachtet. Mitch bringt es nicht über sich, darauf zu reagieren.
Er ist nicht mehr im Pflegeheim, eingesperrt in einem Raum, in dem er bestimmt bis ans Ende seiner Tage bleiben wird. Stattdessen blinzelt er auf die Silhouette einer Erinnerung und beobachtet, wie sie in Farben erblüht und zum Leben erwacht, ein prächtiger, gestohlener Moment, an den er sich klammert, auch wenn er an den Rändern bereits verblasst.
Mitch sieht sie so deutlich vor sich und kann kaum glauben, dass die Uhr zurückgedreht ist. Ihre Haare sind zu zwei Zöpfen geflochten, ein unbeholfener Versuch, elegant zu wirken, der von verirrten Locken zunichtegemacht wird, die ihrem sorgfältigen Werk getrotzt haben. Irgendwie betont es noch ihre kindliche Schönheit - die Erkenntnis, dass anstelle der zärtlichen Fürsorge einer Mutter ihre eigenen schlanken Hände sich abmühten, ihre Locken zu zähmen. Ihre Wangen sind gerötet, der Mund zu jugendlichem Gelächter geöffnet, die Augen gesprenkelt mit dem Silber unzähliger Sterne, die sich darin spiegeln. In ihrem Haar sind Diamanten, und als sie die kalten Hände nach Mitch ausstreckt, umfasst er sie. Er nimmt ihre Finger zwischen seine warmen Handflächen und wünscht sich, er könnte die Kleine an sich drücken. Nur einen Augenblick. Für immer.
Aber sie ist bereits verschwunden.
1
Rachel
1. Oktober
Er wird mich umbringen.«
»Wird er nicht. Sei nicht so melodramatisch.« Lily schenkte mir einen vernichtenden Blick und faltete ein Handtuch mit festem Griff zusammen.
Ich beobachtete meine Tochter, wie sie das nächste Handtuch auf den wachsenden Stapel frischer Wäsche legte, und erwischte mich dabei, dass ich wieder einmal die anmutige Kurve ihres Halses bewunderte, das Funkeln in ihren jeansblauen Augen. Lily war ein Wunder: klug und schön und draufgängerisch. Aber sie konnte sich durchaus irren. Wenn ich unseren geheimen Plan durchzog, könnte Cyrus mich sehr wohl umbringen.
»Er wird wütend sein«, sagte ich.
Lily zuckte mit den Schultern. »Na und? Wehr dich, Mom. Was wird denn schlimmstenfalls passieren?«
Ich konnte mir ein Dutzend verschiedener Szenarien vorstellen, die alle nicht angenehm waren. Aber was wusste meine elfjährige Tochter schon über die Verwicklungen einer traurigen, lieblosen Ehe? Wie sollte ich von ihr Verständnis für das Geben und Nehmen in meiner Beziehung zu ihrem Vater erwarten? Ich gab. Cyrus nahm. Eine einfache Gleichung. Ich kannte sie auswendig.
»Es ist schwierig, Schätzchen.« Ich zupfte den letzten Waschlappen in Form und begann, die Wäschestapel in den Korb zu laden, um sie dann auf die vier Badezimmer unseres feudalen Hauses zu verteilen. Wir hatten mehr Bäder als Familienmitglieder, aber ich betrachtete die Geräumigkeit unserer unansehnlichen Wohnstatt als Segen: Sie schenkte mir viele Verstecke. Gästezimmer und dunkle Flure. Wandschränke. Doch davon wusste Lily nichts.
Cyrus und ich stritten nur, wenn unsere Tochter schlief. Obwohl unsere Auseinandersetzungen in der Regel lediglich aus bösen Worten und wüsten Beleidigungen bestanden, konnte ich den Gedanken nicht ertragen, dass ihr die hässlichen Dinge zu Ohren kamen, die ihr Vater zu mir sagte. Vor langer Zeit hatte ich mir geschworen, dass Lily niemals unter der Wahrheit meiner verkorksten Ehe leiden sollte, und ich hatte Wort gehalten. Ich hielt Cyrus von ihr fern und sorgte dafür, dass er seine Wut nie an unserer Tochter auslassen konnte. Es funktionierte. Ich war ein vorbildlicher Blitzableiter.
»Schön.« Lily stemmte die Hände in die schmalen Hüften und zog die Augenbrauen hoch. »Ich glaube, du musst es tun. Mr Wever braucht dich. Wie kannst du da Nein sagen?«
»Ich kann nicht Nein sagen«, seufzte ich. »Ich werde es machen. Aber du musst mir versprechen, dass du Dad nichts verrätst. Das ist unser Geheimnis, ja?«
Lily legte einen schlanken Finger auf das Herz und grinste mich schelmisch an. Sie war reif für ihr Alter, doch das Glitzern in ihren Augen sagte mir, dass in meiner Tochter noch immer ein kleines Mädchen steckte - noch dazu eins, das allein bei dem Gedanken an ein Geheimnis Gänsehaut bekam. Mir wurde klar, dass ihre Begeisterung für meine kurzzeitige Aushilfe in Max Wevers Maßschneiderei vor allem mit der Aussicht auf allerlei Geheimniskrämerei zu tun hatte. Weniger mit dem selbstlosen Wunsch, einem älteren Mann beizustehen, der Hilfe brauchte. Mir brach fast das Herz angesichts ihrer unverbauten Lebensauffassung: Lily glaubte an unschuldige Heimlichtuerei, an aufregende Rätsel, an ein glückliches Leben bis ans selige Ende. Ich hatte nicht vor, ihr diese schönen Empfindungen zu nehmen. Kleinen Mädchen sollten Träume gestattet sein.
»Du verpasst den Bus«, sagte ich, den Wäschekorb auf den Armen. Ich beugte mich vor und küsste Lily auf die dargebotene Wange. »Vergiss nicht, nach der Schule direkt ins Eden zu kommen.«
Lily kicherte. »Das klingt so komisch.« Sie versuchte meine Stimme nachzuahmen, was ihr meiner Meinung nach nicht gut gelang. »Komm nach der Schule ins Paradies, Lily.« Sie gab den Tonfall auf. »Ich kann nicht glauben, dass Mr Wever seine Schneiderei Eden Maßschneiderei genannt hat.«
»Das war meine Idee«, sagte ich. »Vor langer Zeit.« Vor Ewigkeiten.
»Raffiniert«, scherzte Lily.
»Woher weißt du überhaupt, was raffiniert bedeutet?« Ich schüttelte den Kopf. »Im Ernst. Ich möchte, dass du direkt in die Schneiderwerkstatt kommst. Aber nimm nicht den Bus dorthin, ja? Steig an deiner normalen Haltestelle aus und geh zu Fuß weiter.«
»Soll ich mich hinter Bäumen tarnen?« Lily nahm eine Pose aus Drei Engel für Charlie ein. »Mich vergewissern, dass mir niemand folgt?«
»Jetzt bist du melodramatisch.« Ich schmollte und versuchte, meinen Entschluss nicht zu bereuen. »Behalte das einfach für dich, bitte. Du musst mir glauben, Lil. Dein Vater wäre nicht erfreut, wenn er wüsste, dass ich Max helfen möchte. Er will, dass ich zu Hause bleibe, das weißt du.«
»Ja.« Lily schnappte sich ihren Rucksack vom Tisch und streifte ihn über die Schultern. »Ich kann gut Geheimnisse hüten.«
Du bist nicht die Einzige, dachte ich.
Bevor ich mich noch weiter über die geheime Natur meiner kurzfristigen Einstellung in der Eden Maßschneiderei auslassen konnte, hüpfte Lily aus dem Zimmer. Ich vernahm ihre leichten Schritte in der Diele, dann schlug die Haustür zu. Das war symbolisch für mich, ein abschließender Trommelschlag, der durch unser riesiges Haus hallte. Das bedeutete ein Ende.
Aber auch einen Anfang. Denn obwohl ich Angst hatte, es zuzugeben, hatte ich das Gefühl, als wäre in meiner Seele eine Tür aufgesprungen. Eine winzige Öffnung zwar nur, aber Anzeichen für etwas Neues lagen in der Luft, etwas Unerwartetes.
Ich unterdrückte ein Schaudern und betete inständig, dass Cyrus es nie herausbekommen würde.
Max und Elena Wever haben mich gerettet. Ich weiß, das klingt gefühlsduselig, aber ich glaube, es stimmt. Meine Mutter, die berüchtigte Beverly Anne, starb, als ich vierzehn Jahre alt war. In der schweren Zeit voll Wut und Verwirrung danach sprangen Max und Elena ein und retteten mich vor dem Untergang.
Bev kam ums Leben, als der Familienkombi an einem heißen Dienstag im Sommer engen Kontakt mit einer Eiche aufnahm. Im offiziellen Polizeibericht hieß es, sie habe die Kontrolle über ihr Fahrzeug verloren, sei von der Straße abgekommen und durch diesen Unfall vorzeitig ums Leben gekommen. Doch die meisten aus Everton kannten die Wahrheit: Bev war um zwei Uhr mittags sturzbetrunken und zu sehr damit beschäftigt gewesen, nach einer Flasche Gin zu greifen, die unter den Sitz gerollt war, um der Haarnadelkurve direkt am Rande der Stadt große Aufmerksamkeit zu schenken.
Jahre später, als eine von Cyrus' mondänen Freundinnen mir einen Martini aus der Cocktailbar ihrer schicken Küche mixte, reichte allein der Geruch von Wermut und dem unverkennbaren Gin meiner Mutter, dass mir schlecht wurde. Ich schwor dem Alkohol komplett ab. Mich erinnerte der Geruch an verbitterte Worte, nach Wut und Tod. Er roch wie meine Mutter.
Doch bevor ich wusste, was ein Martini war, bevor ich die Verletzung und Enttäuschung äußern konnte, die ich bei der bloßen Erwähnung von Bevs Namen verspürte, war ich bloß ein Kind ohne Mutter. Max und Elena Wever sahen, wie sehr ich litt, und streckten ihre Hände aus.
Damals existierte die Maßschneiderei Eden nicht einmal. Max und Elena waren einfach nur die Schneider in die Gemeinde Everton. Sie flickten Hosen und schneiderten in ihrer zur Schneiderwerkstatt umgewidmeten Garage Jacketts auf Maß. Sie wohnten neben dem Haus, in dem ich aufwuchs. Obwohl ich wusste, wer sie waren und was sie machten, hatte ich ihre Arbeitsstätte nie betreten und die beiden bis zu dem Tag nicht einmal gegrüßt, an dem Max mich auf dem Bürgersteig anhielt.
Es war ein heißer, dunstiger Nachmittag im Juli. Mein Nachbar trug eine schwarze Hose und ein gestärktes Anzughemd, dessen lange Ärmel er bis an die Ellbogen aufgekrempelt hatte. Ich schwitzte in einem Trägerhemd und abgeschnittenen, kurzen Jeans und litt zu sehr unter der Hitze und meiner fiebrigen Verwirrung über das Leben an sich, um ihn weiter zu beachten.
»Hast du gute Augen?«, fragte Max mich wie aus heiterem Himmel, als ich an seiner Einfahrt vorbeiging.
Ich drehte mich um und betrachtete den Mann, der mein Nachbar war. Er war gebeugt und grauhaarig, ein krummer Riese mit Händen wie Bärentatzen und drahtigen Haarbüscheln wie vergessene Wattebäusche in den Ohren. Ich hatte keine Angst vor ihm, aber wir hatten noch nie miteinander gesprochen. Kaum hatte er sich nach den Zustand meiner Augen erkundigt, war ich auch schon überzeugt, dass es einen guten Grund gab, warum wir uns aus dem Weg gingen. Offensichtlich war er dement. Die meisten Menschen sahen mich mit kaum verhohlenem Mitleid an und sprachen mir sofort ihr Beileid zum Verlust meiner Mutter aus. Max ließ diese Plattheiten einfach aus.
»Meine Augen sind gut«, sagte ich zu ihm. Dann machte ich auf dem Absatz kehrt und ging weiter - ich hielt es für das Beste, ihn nicht weiter zu ermutigen. Bei seiner nächsten Frage aber blieb ich wie angewurzelt stehen.
»Möchtest du einen Job haben?«
Einen Job? In dem Monat nach dem Tod meiner Mutter hatte mein Leben aus wenig mehr als unwillkommenen Beileidsbekundungen und den Versuchen bestanden, die ehrlichen Hilfsangebote von denen zu unterscheiden, die Habsucht und Neugier entsprangen. Anscheinend wollten alle wissen, was im Hause Clark vorgegangen war. An Klatschmäulern, die bereitwillig unser Zuhause durchwühlten, begierig, die Wahrheit herauszufinden, herrschte kein Mangel. Mr Wevers Frage jedoch war einzigartig, unerwartet. Ich hätte ihn nicht ignorieren können, selbst wenn ich gewollt hätte.
»Was für einen Job?«, erkundigte ich mich vorsichtig.
»Meine Frau und ich sind Schneider«, erklärte er mir in seinem starken holländischen Akzent. »Wir bessern Kleidung aus. Stellen neue Kleidung her.«
Als hätte ich das nicht gewusst.
»Wir könnten jemanden gebrauchen, der Knopflöcher näht, Stoffe bügelt, Besorgungen macht.«
»Ein Botenmädchen sozusagen?«
Mr Wever schaute mich verwirrt an.
»Ein Mädchen für alles«, stellte ich klar, wobei mich der Gedanke nicht gänzlich abschreckte. Alles klang besser, als ziellos durch die Straßen von Everton zu laufen, ohne etwas zu tun zu haben, die Tragödie meiner Mutter im Gefolge wie den sprichwörtlichen Klotz am Bein.
»Ja«, sagte Mr Wever bedächtig. »Ein Mädchen für alles, vermutlich. Aber vielleicht auch mehr als das. Wenn du gute Augen hast.« Er schlurfte einen Schritt auf mich zu. Ich hob den Kopf, als wollte ich ihm meine Augen zur Untersuchung darbieten. Sie waren blau und unergründlich, zu groß, wenn ich der beständigen Kritik meiner verstorbenen Mutter glauben wollte. Vielleicht waren meine babyblauen Augen ein bisschen verrückt, aber ich habe nie verstanden, warum Bev unbedingt daran herumkritteln wollte. Schließlich waren es ihre Augen. Von den Spitzen meiner zarten Finger bis zu den Wurzeln meiner wirren fuchsroten Haare war ich das Ebenbild meiner Mutter.
»Wie viel?«, fragte ich.
Mr Wever krümmte einen Finger um den Drahtrahmen seiner Brille und zog sie sich von der Nase, damit er mich durch den unteren Teil seiner Zweistärkengläser betrachten konnte. Sein Blick war direkt, vielleicht ein wenig belustigt. »
Drei Dollar die Stunde«, sagte er. »Die Arbeitsstunden variieren. Manchmal werden wir viel Arbeit für dich haben. Manchmal nicht.« Drei Dollar waren weniger als der Mindestlohn, doch die Arbeitszeit schien angemessen flexibel zu sein. »Okay«, erwiderte ich und zuckte mit den Schultern. »Ich werde Ihr Mädchen für alles.«
Mr Wever nickte kurz und schenkte mir ein ernstes, schmallippiges Lächeln. Als er einen Schritt auf mich zutrat, dachte ich, er wollte Verhaltensregeln herunterleiern, ungeschriebene Gesetze für die Arbeit in seinem geheiligten Laden. Stattdessen aber streckte er die Hand aus und wartete geduldig darauf, dass ich einschlug. Unser Händeschütteln hatte etwas Feierliches. Als meine Finger in seiner großen Hand verschwanden, wurde mir klar, dass wir eine Vereinbarung besiegelten.
»Elena und ich freuen uns, dich morgen früh um acht zu sehen«, sagte er. Seit Bevs Tod hatte ich mich ans Faulenzen gewöhnt, aber Mr Wever ließ absolut keinen Raum für Diskussionen über meinen Arbeitsbeginn. Ich hob eine Schulter, und er muss die Geste als Einwilligung ausgelegt haben, denn er nickte noch einmal und wandte sich um. »Vielen Dank«, rief ich hinter ihm her.
Er schlurfte die Einfahrt hinauf und antwortete auf meinen Dank nur durch eine wedelnde Handbewegung, als wollte er einen Schwarm Stechmücken verscheuchen.
»Bis morgen, Mr Wever«, fügte ich hinzu.
»Max.«
»Wie bitte?«
»Sag Max zu mir«, rief er. Dann verschwand er in der Seitentür seiner angebauten Garage.
Gut fünf Jahre arbeitete ich für Max und Elena. Zuerst wischte ich den Boden, wickelte Garnrollen auf und ging ans Telefon, wenn Max und Elena gerade Nadeln zwischen den Lippen eingeklemmt hatten. Als Max feststellte, dass ich meine Arbeit gut machte und schnell lernte, brachte er mir bei, die Hosen zu stärken und zu bügeln, damit die dicke Falte wie ein schmaler Grat hervorstand. Die Arbeit war schön. Aber so richtig verliebte ich mich erst darin, als Elena ihr erstes Hochzeitskleid machte, eine handgenähte Kreation für eine junge Frau aus ihrer Kirchengemeinde, die sich ein Kleid aus einem Laden nicht leisten konnte.
Die Schneiderwerkstatt verwandelte sich für mich endgültig, nachdem Elena einen Ballen extravaganter, schimmernder italienischer Brautseide gekauft hatte. Der Stoff war ungemein teuer, doch das Kleid sollte ein Geschenk sein, und Elena nahm das Schenken sehr ernst. An dem Tag, an dem die Seide aus Mailand eintraf, blieb ich noch lange dort, nachdem Max sich aus dem Arbeitsraum zurückgezogen hatte. Elena und ich schoben vorsichtig die schweren Wollstoffe beiseite. Fischgrätenmuster und Tweed, die schon bald die Männer von Everton kleiden würden. Wir hoben den überraschend schweren Karton auf den Tisch. Dann holte Elena die Seide heraus, und wir rollten sie auf der Oberfläche des breiten Arbeitstisches aus, verblüfft, wie sie im Licht glänzte und funkelte.
»Kann sein, dass ich nie wieder eine Hose nähe.« Elena lachte.
Aber das stimmte natürlich nicht.
Trotzdem überließ Elena mindestens ein- oder zweimal im Jahr das Schneidern ihrem Mann und gab sich ihrem Lieblingshobby hin: der Damenschneiderei. Ich meinerseits freute mich wie verrückt auf diese Ausflüge in die Welt aus Satin und Spitze. Dennoch konnte ich mich über das Nähen von Männeranzügen nicht beklagen. Max dabei zu helfen, Symmetrie und Ausrichtung der Nadelstreifen an einer Anzugjacke genau hinzubekommen, hatte etwas einzigartig Warmes und Tröstendes. Es machte Spaß und war fremdartig. Auf jeden Fall männlich.
Mein Vater trug nur selten einen Anzug. Und der, den er zu bestimmten Gelegenheiten hervorholte, war eine Reliquie. Sein Schrank war voller Jeans und Hemden, die er für höchstens zehn Dollar beim örtlichen Bekleidungsgeschäft erstehen konnte. Ich machte mir eigentlich nie Gedanken über die Kleidung meines Vaters, bis ich anfing, mit Max zusammen Anzüge zu nähen. Sofort erschien mir die Arbeitskleidung meines Vaters billig und geschmacklos, die Uniform eines Mannes, der immer Dreck unter den Fingernägeln und einen Sonnenbrand auf der sich pellenden Nase hatte. Ich wollte nicht oberflächlich sein, aber ich wünschte mir, mein Vater würde sich ein bisschen ernster nehmen.
»Kleider machen Leute«, zitierte Max gern und betrachtete mich von der Seite, bevor er schloss: »Nackte Menschen haben wenig oder keinen Einfluss auf die Gesellschaft.«
»Mark Twain.« Ich musste lachen. »Aber es ist ein albernes Zitat.«
»Nein, es stimmt.« Er legte die Stirn in Falten und dachte nach. »Wie wär's damit: Wäre Ehre deine Kleidung, würde der Anzug ein Leben lang halten. Aber wenn Kleidung deine Ehre ist, wird sie schon bald fadenscheinig.«
»Das habe ich noch nie gehört.«
»William Arnot. Ein Prediger. Wusste, wovon er sprach.« Ich zog eine Schnute. »Das ist ein schöner Spruch, Max. Aber ich glaube, er würdigt nicht, was wir hier tun. Stellen wir nicht Kleidung her?«
»Es ist eine Gratwanderung, Schätzchen. Das möchte ich dir gern beibringen. So gern die Leute auch etwas anderes glauben möchten: Die Art, wie wir uns nach außen hin präsentieren, zeigt etwas darüber, wer wir im Innern sind. Ich muss keinen dreiteiligen Anzug tragen, um ein guter Mensch zu sein. Aber ich hätte gern, wenn alles an mir - selbst meine Kleidung - eine gewisse kompromisslose Integrität ausstrahlen würde.«
»Schneidern Sie deshalb Anzüge?«
Max lachte. »Ich mache Anzüge, weil mein Vater Anzüge genäht hat. Und sein Vater vor ihm. Was meinst du denn, was Wever auf Holländisch heißt? Das ist das Einzige, was ich kann. Trotzdem, wenn ich schon Anzüge schneidere, müssen sie in jeder Hinsicht hervorragend sein. Die bestmögliche Qualität.«
»Weil Sie ein Mann von kompromissloser Rechtschaffenheit sind.«
»Das will ich hoffen«, murmelte Max mit ironischem Lächeln. »Jedenfalls gebe ich mir Mühe.«
Mühe gaben sich beide, Max und Elena, und ich bewunderte sie. Obwohl wir nie darüber sprachen, war ich im Grunde genommen die Tochter, die sie nie hatten. Ich habe mich immer gefragt, ob Max und Elena ein Kind in der niederländischen Erde zurückgelassen hatten oder ob sie einfach keine Kinder bekommen konnten. Aber ich stellte ihre Liebe zu mir nicht in Frage. Wenigstens ein paar Jahre meines Heranwachsens war ich dankbar dafür, dass meine Ersatzfamilie mich akzeptierte, meine Macken, meinen Ballast eingeschlossen - besonders als meine echte Familie es nicht tat. Vor allem, weil ich eigentlich keine Familie hatte. Bevor ich alt genug war, ein Auto fahren zu können, war ich mehr oder weniger eine Waise: Bev war tot, und mein Vater behandelte mich, als wäre ich auch tot. Zumindest hatte ich das Gefühl.
»Wir sind keine einfache Schneiderwerkstatt mehr«, sagte Max an dem Tag, an dem Elena und ich unser zehntes Hochzeitskleid fertigstellten. Er betrachtete die weichen, schönen Stoffe, die aus allen Ecken seiner vormals männlichen Garage aufzublühen schienen. Popeline und Seersucker und Leinen existierten Seite an Seite mit hauchdünnem Gewebe, das wie geschmolzenes Eis sprudelte und floss.
»Jetzt mach mal halb lang«, protestierte Elena. »Wir werden immer eine Schneiderwerkstatt bleiben.« Sie lehnte sich an ihn und küsste begütigend seine zerfurchte Wange.
»Aber wir sind mehr. Wir sind ...« Max runzelte die Stirn, als wäre er verwirrt, was aus seinem Laden geworden war. »Wir sind auch ein Modeladen.«
Elena schüttelte den Kopf. »Nicht nur irgendein Modeladen. Ein Laden für Hochzeitskleider.«
»Ein Brautmodengeschäft«, schlug ich vor.
Max tat, als überliefe ihn ein Schauer, und hob abwehrend beide Hände. »Frauen! Ich bin umzingelt!« Kopfschüttelnd verließ er die Garage, aber mir entging die Andeutung eines Lächelns in seinen Mundwinkeln nicht.
»Der kriegt sich schon wieder ein«, versicherte Elena mir augenzwinkernd. »Verletzter Stolz führt selten zum Tod. Und was uns betrifft, glaube ich, ist es höchste Zeit, diesem Herren-, Damen- und Brautausstatter einen Namen zu geben. Eine Möglichkeit, damit die Leute uns finden.«
»Eden«, sagte ich spontan.
»Eden?«
»Du weißt schon«, stammelte ich, »weil es makellos ist. Der Anfang von etwas. Voller Möglichkeiten.« Ich verstummte.
Elena nickte bedächtig, und ich konnte förmlich sehen, wie sich die Räder hinter ihren dunkelbraunen Augen drehten. »Eden Maßschneiderei - da bleibt Platz für das eine oder andere Kleid inmitten des Anzugheeres. Ich glaube, das geht.«
Natürlich ging es. Jeder brauchte eine kleine Erinnerung an etwas Großes und Vielversprechendes. Jeder brauchte ein Stück Paradies.
Besonders Menschen, die manchmal das Gefühl hatten, als wäre ihr Leben alles andere als das.
Die Eden Maßschneiderei bekam Kultstatus, als die Jugend von Everton die Schule abschloss und ihrer kleinen Heimatstadt entfloh. Während Evertons ehemalige Einwohner Großstädte wie Los Angeles, Chicago, New York und viele andere bevölkerten, fanden sie früher oder später den ganz besonderen Menschen. Dann erinnerten sie sich an das alte Paar in ihrer fast vergessenen Heimatstadt, das exklusive Anzüge und Hochzeitskleider nähte. Mit der Zeit trafen Anfragen nach Kleidern aus Seide und Satin ein. Mit diesen ausgefallenen Bestellungen ging die gebieterische Anweisung einher: »Es muss etwas Besonderes sein.« Was heißen sollte: »Wir haben nicht viel Geld.«
Max kaufte ein altes Fotostudio in der Main Street, das er in einen bezaubernden Laden mit einem Raum für die Anprobe und einem fünfteiligen Spiegel auf einem sechzig Zentimeter hohen Standfuß umbaute. Das funktionierte schon gut, wenn Max die distinguierten Herren von Everton vorsichtig ausmessen musste, die Bräute jedoch wussten den Spiegel am meisten zu schätzen. Die jungen Frauen liebten es, sich aus jedem nur denkbaren Winkel zu bewundern. Die Beleuchtung war matt und schmeichelhaft, da es im Laden keine Fenster gab. Obwohl das wie eine Schwachstelle ausgesehen hatte, als Max das Gebäude kaufte, erwies es sich als Segen: Die meisten Bräute waren begeistert, dass ihre einzigartige Kreation so lange ein Geheimnis bleiben würde, bis sie durch den Mittelgang zum Altar schritten.
Und angehende Bräute waren nicht die Einzigen, die froh waren, dass die Eden Maßschneiderei ein dunkles, unauffälliges Gebäude in einer ruhigen Ecke von Everton war. Ich legte die Hand auf den Griff der Hintertür und warf einen verstohlenen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, dass mich niemand beim Betreten beobachtete. Im Stillen segnete ich Max dafür, dass er auf ein helles, voll verglastes Gebäude mit Ausblick auf unsere historische Altstadt verzichtet hatte. Hätte er sich für eine zentrale Lage mitten im Getümmel entschieden, wäre es mir nie möglich gewesen, seinem gehetzten Hilferuf zu folgen.
Zufrieden, dass die düstere Gasse hinter der Eden Maßschneiderei leer war, machte ich rasch die Stahltür auf und huschte hinein. Das Hinterzimmer hatte sich in den zwölf Jahren nicht groß verändert, die ich nicht mehr für Max und Elena arbeitete. Es war noch immer mit Kisten aus den exotischsten Gegenden der ganzen Welt vollgestopft, und an den Metallstangen an zwei Wänden des kleinen Raums hingen Dutzende von Kleiderbügeln mit Stoffen in allen Farbschattierungen. Leise atmete ich aus und widerstand dem dringenden Bedürfnis, ein Stück Organza zwischen die Finger zu nehmen. Doch statt zu riskieren, den Stoff mit meinen fettigen Fingern zu verderben, fuhr ich mit dem Handrücken über den herrlichen Stoff und spürte mit Staunen, dass er wie Wasser über meine Haut fiel.
»Der ist hübsch, nicht wahr?«
Max stand im Türrahmen zwischen dem Hinterzimmer und dem Arbeitsraum, und sein schneeweißes Haar berührte beinahe den oberen Querbalken. Trotz seiner Größe schien er geschrumpft, er kam mir irgendwie kleiner vor als beim letzten Zusammentreffen. »Ich weiß nicht, was ich mit ihrem Stoff machen soll, jetzt, da sie gestorben ist«, sagte er und verstummte beinahe reumütig.
Ich dachte, ich könnte mich zusammenreißen, doch sein Anblick machte mich fertig. Ein Schluchzer löste sich aus meiner Kehle, und dementsprechend brach ein Tränenstrom aus, bevor ich ihn zurückhalten konnte.
»O Rachel.« Max streckte mir beide Hände entgegen, und ich trat zu ihm, vorsichtig darauf bedacht, ihn nicht umzuhauen in dem verzweifelten Wunsch, seine Arme um mich zu spüren. Er zog mich sacht an sich. Wortlos. Es gab nichts zu sagen.
»Es tut mir so leid«, brachte ich schließlich hervor, mein Gesicht an seine Schulter gedrückt.
»Was?«
»Dass ich nicht früher gekommen bin. Ich wollte zu Elenas Beisetzung gehen«, keuchte ich, entsetzt darüber, dass sie beerdigt worden war, ohne dass ich mich verabschiedet hatte. Ich versuchte, es zu erklären, eher mir als ihm zuliebe. »Cyrus hatte zu tun, und ...«
»Ist schon gut«, erwiderte Max.
Aber das war es nicht. Nicht einmal annähernd. »Ich hätte dort sein sollen.«
»Du bist jetzt hier.«
Du bist jetzt hier. Seine Wörter hallten in dem leeren Raum wider, den Elenas Tod in meiner Seele hinterlassen hatte. Doch vielleicht war der Riss schon vorher entstanden. Vielleicht fing er mit Bev an und wurde vertieft durch das Schweigen meines feigen Vaters. Vielleicht hat Cyrus ihn noch breiter gemacht und eine Höhle geschaffen, in der zunehmende Anschuldigungen gegen mich erschollen: Du bist schwach. Du bist hässlich. Du bist dumm und nicht liebenswert und zu nichts zu gebrauchen.
Vielleicht hatte Bev vor vielen Jahren recht gehabt, und Cyrus' Fortsetzung ihres verletzenden Monologs passte perfekt auf jemanden, der so billig und nutzlos war wie ich. Vielleicht war ich genauso, wie sie mich darstellten. Aber in Max' warmherziger Umarmung war ich auch noch etwas anderes.
»Du hast recht«, sagte ich. »Jetzt bin ich hier.«
Es war ein Anfang.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
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Autoren-Porträt von Glenn Beck
Glenn Beck ist ein amerikanischer Radiomoderator und Autor mehrerer New-York-Times-Bestseller. "Der Schneeengel" ist jedoch erst der zweite Roman des Bestseller-Autors, der auf Deutsch erscheint. Mehr über Glenn Beck erfahren Sie auf: www.glennbeck.com.
Bibliographische Angaben
- Autor: Glenn Beck
- 2013, 1, 224 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863655710
- ISBN-13: 9783863655716
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