Der sixtinische Himmel
Historischer Roman
Der große historische Roman über den bedeutendsten Künstler der Renaissance:
Michelangelo Italien, Anfang des 16. Jahrhunderts. Der junge Aurelio kommt nach Rom, um dort beim größten Bildhauer seiner Zeit in die Lehre zu...
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Produktinformationen zu „Der sixtinische Himmel “
Der große historische Roman über den bedeutendsten Künstler der Renaissance:
Michelangelo Italien, Anfang des 16. Jahrhunderts. Der junge Aurelio kommt nach Rom, um dort beim größten Bildhauer seiner Zeit in die Lehre zu gehen: Michelangelo Buonarroti. Gerade hat der Papst diesen gegen seinen Willen mit einem Deckenfresko für die Sixtinische Kapelle beauftragt. Missmutig macht sich der Künstler ans Werk. Nachts jedoch erschafft er aus weißem Marmor das Bildnis der Frau, die keiner jemals sehen darf: die Kurtisane des Papstes.
Aurelio verliebt sich unsterblich in die geheimnisvolle Schöne. Doch seine Liebe wird nicht nur ihm zum Verhängnis.
Klappentext zu „Der sixtinische Himmel “
Der große historische Roman über den bedeutendsten Künstler der Renaissance: MichelangeloItalien, Anfang des 16. Jahrhunderts. Der junge Aurelio kommt nach Rom, um dort beim größten Bildhauer seiner Zeit in die Lehre zu gehen: Michelangelo Buonarroti. Gerade hat der Papst diesen gegen seinen Willen mit einem Deckenfresko für die Sixtinische Kapelle beauftragt. Missmutig macht sich der Künstler ans Werk. Nachts jedoch erschafft er aus weißem Marmor das Bildnis der Frau, die keiner jemals sehen darf: die Kurtisane des Papstes. Aurelio verliebt sich unsterblich in die geheimnisvolle Schöne. Doch seine Liebe wird nicht nur ihm zum Verhängnis
Lese-Probe zu „Der sixtinische Himmel “
Der sixtinische Himmel von Leon MorellProlog
JANUAR 1495
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IHM GEGENÜBER KNIETE ein Engel, ein leibhaftiger Engel, mit Armen, Beinen und Schultern, so stark wie die seines Vaters. Zudem jedoch hatte er Flügel, zarte, zerbrechliche, weich gefiederte Flügel, mit denen er sich jederzeit mühelos in den Himmel aufschwingen konnte. Sein linkes Knie berührte den Boden, das rechte Bein hatte er aufgestellt, so dass der nackte Fuß unter seinem Gewand hervorkam. Er trug einen Kandelaber, halb so groß wie er selbst, und je nachdem, wie der Schein der Kerze seine Konturen erhellte, konnte er abwechselnd einen gütigen oder drohenden Ausdruck annehmen. Aurelio verharrte reglos in ehrfürchtigem Abstand und betrachtete das knabenhafte Gesicht des Engels. Weder spürte er die Kälte, die ihm seit einiger Zeit die Beine hinaufkroch, noch sah er den feinen, weißen Nebel, den er mit jedem Atemzug ausstieß.
Doch er begann, hinter seinem Rücken Geräusche wahrzunehmen. Der Engel und er waren nicht allein. Manchmal war es nur das Knacken einer Holzbank, das sich in den Seitenschiffen der Basilika verlor, doch immer wieder glaubte Aurelio, ein Zischen zu vernehmen, als hätten die Säulen des Mittelschiffs zu flüstern begonnen. Verstohlen blickte sich der Junge um. Die Kirche lag im Halbdunkel, die Seitenschiffe ließen sich nur mehr erahnen. Nie zuvor hatte Aurelio ein Gebäude von solchen Ausmaßen betreten, eines, in dem man sich aufzulösen schien und verloren fühlte und dessen Größe sein Verstand nicht zu erfassen vermochte.
Da war es wieder. Ein kaum vernehmbares Schnaufen, wie von einem Tier. Aurelio fühlte es herannahen, wagte aber nicht, sich ein weiteres Mal umzudrehen. Inzwischen war es ganz dicht bei ihm. Ein Wolf, schoss es ihm durch den Kopf. Am zweiten Tag ihrer Reise war ihnen einer begegnet. Er hatte auf der Via Aemilia gestanden, als habe er dort auf sie gewartet. Tommaso hatte vom Karren steigen und einen Stein nach ihm schleudern müssen, bevor das Tier die Straße wieder freigegeben hatte und in Richtung der Berge im Wald verschwunden war.
Aurelio wollte davonlaufen, doch seine Beine rührten sich nicht von der Stelle. Sein Herz trommelte wild gegen die Brust. Verzweifelt blickte er zu dem Engel empor.
»Gefällt er dir?«
Ein heiseres Krächzen entrang sich der Kehle des Jungen. Kein Wolf. Ein Mann. Aurelio hielt den Blick stur nach vorne gerichtet. »Also?«, fragte die Stimme.
Erst jetzt wagte der Junge einen Blick aus den Augenwinkeln. Besonders groß war der Mann nicht, kaum größer als Aurelios Bruder Matteo, und der war erst vierzehn. Aurelios Atem beruhigte sich ein wenig.
»Was ist«, drängte die rauchige Stimme, »hat es dir die Sprache verschlagen?«
Aurelio sah den Engel an und suchte nach den richtigen Worten. Gefällt er dir?, hatte der Mann gefragt, doch gefallen war ein viel zu schwaches Wort, um die Demut zu beschreiben, die Aurelio beim Anblick der Statue überkam.
»Kann er wirklich fliegen?«, fragte er schließlich.
»Pah!«, entfuhr es dem Mann, »dieses plumpe Ding wäre nicht in der Lage, sich vom Boden zu lösen, wenn es über ein Dutzend Flügel verfügte.«
Entsetzt starrte Aurelio den Mann an. Wie konnte er so abfällig über ein Geschöpf von solcher Erhabenheit sprechen?
Der Mann hatte einen Akzent, wie ihn Aurelio noch nie gehört hatte, und seine Kleidung war die eines Armen - ein Umhang aus grobem Stoff, der eher einer Soutane glich als einem Mantel und durch den sich die sehnigen Schultern abzeichneten. Beinkleider schien er keine zu tragen, und seine nackten Füße steckten in geschnürten Sandalen - wo es doch geschneit hatte und die Piazza vor der Basilika von einem dicken, weißen Teppich überzogen war. Jetzt begriff Aurelio auch, woher das Schnaufen rührte. Die Nase des Mannes saß eigentümlich schief in dessen Gesicht und gab mit jedem Atemzug ein leises Zischen von sich.
»Hier.« Der Mann trat an die Statue heran. Er war tatsächlich nicht alt, wie der Junge im Schein der Kerze erkannte. »Sieh dir diesen Fuß an.« Aurelio zuckte zusammen, als der Mann den Engel ohne zu zögern am Knöchel ergriff. »Viel zu breit«, erklärte er. »Und die Wölbung müsste ausgeprägter sein. Dann die Hand: Diese unförmigen Griffel sind die Finger eines Schmieds, nicht die eines Engels. Am unverzeihlichsten aber sind die Proportionen. Weißt du, was Proportion bedeutet?«
Aurelio schüttelte stumm den Kopf.
»Proportion meint das Verhältnis der einzelnen Teile zueinander. Und das Verhältnis dieses Oberschenkels zu dem dazugehörigen Unterschenkel«, er legte seine Hand auf das Gewand des Engels, als wolle er es anheben, »ist missraten zu nennen. Schließlich sind die Falten des Gewandes nicht weit genug ausgehöhlt. Allerdings ...« Er holte Luft, wobei seine Nase abermals ein Zischen ausstieß. Seine energische Stirn schien sich für einen Moment zu glätten. »Allerdings erkennt man die Möglichkeit, das Talent, die Gabe. Ein Mann mit solchen Fähigkeiten trägt eine große Verantwortung. Er könnte Ungeheures erschaffen. Für dieses Ding aber sollte er den Allmächtigen um Verzeihung bitten.«
Aurelio starrte noch immer die halbverhüllte Gestalt an, deren Worte wie Hagelkörner auf ihn niederprasselten, als sich Schritte näherten. Zwei Männer kamen durch das Seitenschiff. Die Silhouette des größeren erkannte Aurelio sofort.
»Vater!«
Aus seiner Starre erlöst, rannte der Junge über die Steinplatten und klammerte sich erleichtert an Tommaso.
»Hier also steckst du.«
Zwei Hände ergriffen ihn unter den Achseln und hoben ihn mühelos empor. Unwillkürlich ertastete die Hand des Jungen die Stelle an Tommasos Hals, die immer warm war und wo unter der Haut das Blut pulsierte.
»Da ist ein Engel«, setzte Aurelio an, »ein echter Engel ... Und dieser Mann, der ...«
Die Worte waren schneller aus ihm herausgesprudelt, als seine Gedanken zu folgen vermochten. Jetzt wusste er nicht mehr, was er hatte sagen wollen.
»Was für ein Mann?«, fragte Tommaso ruhig.
»Da!«
Aurelio deutete in Richtung der Statue, doch der Fremde war verschwunden.
»Sicher der junge Buonarroti«, sagte Tommasos Begleiter.
Er trug einen schweren, edlen Umhang, und seine Schnürstiefel waren mit goldenen Spangen verziert, die im Halbdunkel glänzten wie polierte Münzen.
»Der junge Buonarroti?«, wiederholte Tommaso.
»Ein Günstling der Medici«, erklärte der Mann mit den Spangen an den Schuhen. »Letztes Jahr, bevor es zum Aufstand kam, ist er aus Florenz geflohen. Er hatte Angst, seine Nähe zu Piero könnte ihm gefährlich werden. Er nennt sich Bildhauer. Ein komischer Kauz, der viel von sich reden macht. Noch kein halbes Jahr ist er in Bologna und nimmt sich heraus, Aufträge abzulehnen, nach denen sich jeder andere Künstler in der Stadt die Finger lecken würde. Dabei ist er gerade einmal zwanzig Jahre alt. Wahren Geschmack, sagt er, könne man nur an drei Orten in Italien finden: Venedig, Rom und Florenz.«
»Aber was hat er gegen den Engel?«, fragte Aurelio.
Tommasos Begleiter warf Aurelio einen fragenden Blick zu. »Weshalb sollte er etwas gegen den Engel haben?«
»Er hasst ihn.«
Der Mann betrachtete nachdenklich den Kandelaberengel. »Dann hasst er vermutlich sich selbst. Schließlich hat er ihn aus dem Marmor gemeißelt.«
Am nächsten Morgen kehrten Tommaso und Aurelio Bologna den Rücken und fuhren auf der Via Aemilia, der alten Römerstraße, zurück Richtung Forlì. Die Ausläufer des Apennin lagen zu ihrer Rechten, die schneebedeckten Kuppen steckten in einem Band aus dichten Wolken. Der Karren war leicht, jetzt, wo er die Last der Fässer nicht mehr tragen musste. Die frisch beschlagenen Räder drehten sich knirschend im Schnee. Aurelio saß, umhüllt von zwei Decken, neben seinem Vater. Tommaso hatte ihn eingewickelt wie in einen Kokon. Lediglich die obere Gesichtshälfte seines Sohnes war noch zu sehen. Aurelios Ohren glühten vor Wärme. Tommaso war zufrieden. Wie jedes Jahr hatte sich die lange Reise nach Bologna gelohnt. Die Familie Aldrovandi hatte ihm für den Wein und das Öl einen Preis bezahlt, den er in Forlì niemals erzielt hätte.
Nach und nach schläferten das gleichmäßige Ruckeln des Karrens und das Klappern der Hufe Aurelio ein. Er legte sich auf die Seite, den Kopf auf dem Bein seines Vaters. Das ist der schönste Tag meines Lebens, dachte er bei sich. Tommasos Hand ruhte auf der Schulter seines Sohnes. Aurelio schloss die Augen, dachte an die merkwürdigen Worte des seltsamen Herrn Buonarroti und an den Engel, der sich ihm für den Rest seines Lebens ins Gedächtnis gebrannt hatte.
TEIL I
1
MÄRZ 1508
SIE KAMEN, OHNE VIEL Aufhebens zu machen, gegen Mittag. Italienische Söldner. Gelangweilt schlenderten sie zwischen den beiden Zypressen hindurch, die die Grenze des Lehens markierten, und folgten dem Weg in die Senke mit den Olivenbäumen. Wie Krähen ließen sie sich nieder, lautlos, einer nach dem anderen, bis plötzlich die Wiese von ihnen übersät war.
Aurelio kniete neben dem Trog, als er den Ersten von ihnen bemerkte. Zwischen seinen Beinen hielt er Trotula eingeklemmt - die Ziege, die sie sich nach dem Einfall der Franzosen von ihrem damals letzten Geld gekauft hatten. Ihr Horn war besonders hell und wuchs schneller als das der anderen, weshalb man ihr häufig die Klauen schneiden musste. Und genau das hatte Aurelio gerade vorgehabt, als er die Söldner am Horizont bemerkte.
»Mutter!«, rief er. Er war froh, die widerspenstige Trotula bezwungen zu haben, und wollte sie nicht leichtfertig freigeben.
Antonia trat vor das Haus. Stumm und mit einer tiefen Falte zwischen den Augen blickte sie in die Senke. Den ersten Söldnern folgten weitere. Schon kamen die nächsten über den Hügel. Antonia verschränkte die Arme vor der Brust. Wieder tauchten zwei von ihnen zwischen den Zypressen auf.
»Komm rein«, sagte Antonia, »beeil dich.« Sie wandte sich um. »Aber Trotula ...«
»Sofort!«
Schon einmal hatte Aurelio miterlebt, wie ihr Hof von Söldnern heimgesucht worden war - als der Winter das neue Jahrhundert auf eisigen Händen vor sich hergetragen hatte. 1500. Das Heilige Jahr. Zehn Jahre war Aurelio damals alt gewesen. In Rom hatte Papst Alexander die heiligen Pforten geöffnet. Die Zukunft sollte Großes bereithalten, besser werden. Tommaso hielt nicht viel davon. Er glaubte nicht daran, dass ein Jahr heiliger war als ein anderes. Auch strebte er nicht nach Höherem. Es war so, wie es war. Und so, wie es war, hatte man es zu nehmen.
In Forlì hatte das Heilige Jahr mit viel Getöse Einzug gehalten. Angekündigt von dem dumpfen Gepolter zahlloser Trommeln und dem tausendfachen Klirren eiserner Rüstungen, war es durch den kalten Morgennebel herangewallt. Der Horizont hatte sich verdüstert, statt sich zu erhellen. Franzosen, Tausende. Ein ganzes Heer hatte Cesare Borgia, der Sohn Alexanders, angeheuert, um Caterina Sforza zur Aufgabe von Forlì zu zwingen.
Tommaso hatte den Kompanieführer vor der Tür seines Steinhauses empfangen. Antonia saß an der Feuerstelle und hielt Aurelio an sich gedrückt. Das hatte sie lange nicht mehr gemacht. Matteo, der schon siebzehn war, stand am Fenster und blickte durch den Spalt. Aurelio hätte auch gerne durch den Spalt geguckt. Er fand, er war viel zu groß, um noch von seiner Mutter umklammert zu werden.
»Auf welcher Seite steht Ihr?«, fragte der Söldner in gebrochenem Italienisch.
»Auf der Seite des Lebens«, entgegnete Tommaso mit fester Stimme.
Die Antwort schien den Kompanieführer zufriedenzustellen. Er war Söldner. Er stand auf der Seite dessen, der ihn bezahlte. Etwas anderes interessierte ihn nicht. Als sie vier Tage später weiterzogen, waren bis auf die Katze alle Tiere gegessen, die Felder verwüstet, das letzte Korn gemahlen und verspeist. Doch sie hatten Tommaso unbehelligt gelassen und weder Antonia noch Matteo oder Aurelio ein Haar gekrümmt.
Jetzt jedoch versammelten sich die eisenbewährten Krähen in der Senke, und Tommaso war nicht mehr da. Vor drei Monaten, am kürzesten Tag des Jahres, war er gestorben - an einer Krankheit, für die niemand einen Namen gehabt hatte. Seitdem versuchten sie, den Hof alleine zu bewirtschaften. Es ging. Sie würden zurechtkommen, auch ohne Tommaso. So wie es war, hatte man es zu nehmen.
»Du schnürst ein Bündel mit dem Nötigsten«, befahl Antonia Matteo, »auf der Stelle. Aurelio, du spannst den Ochsen vor den Karren. Ihr verlasst den Hof zur anderen Seite. Giovanna, mach den Kleinen fertig.«
Matteo blickte aus dem Fenster in die Senke hinunter. »Das sind Soldaten des Papstes, Italiener. Die sind auf dem Weg nach Rom. Warum geben wir ihnen nicht einfach etwas zu essen und lassen sie durchziehen?«
»Ihr tut, was ich sage«, beharrte Antonia.
Matteo neigte den Kopf zur Seite. »Gefährlich sehen die nicht aus.«
»Das tun Wölfe auch nicht. Beeilung!«
»Wölfe sind Wölfe«, meinte Matteo.
»Söldner sind Söldner«, entgegnete Antonia. »Und Söldner ohne Krieg sind gefährlicher als Wölfe ohne Fressen. Manche töten schon aus Langeweile.«
»Was ist mit dir?«, fragte Aurelio, dem nicht entgangen war, dass Antonia bisher nur von »ihr« gesprochen hatte.
»Ich bin alt. Mir werden sie nichts tun.«
»Du willst alleine auf dem Hof bleiben?«, schaltete sich Giovanna ein, die dabei war, Luigi in eine Decke zu wickeln.
»Wenn wir ihnen einen unbewohnten Hof überlassen, wird am Ende nichts mehr davon übrig sein.«
Matteo und Aurelio warfen sich einen Blick zu. Ihre Mutter war noch störrischer als Trotula, die alte Ziege. Sie zum Mitkommen zu bewegen, wäre ein sinnloses Unterfangen.
»Wenn du bleibst, bleibe ich auch«, sagte Aurelio.
»Kommt nicht in Frage«, antwortete seine Mutter.
»Dann bleiben wir alle«, drohte Matteo.
»Also schön«, knurrte Antonia, »Aurelio kann bleiben. Du aber, Matteo, bringst deine Familie in Sicherheit. Darauf bestehe ich.«
Der Abschied gab sich den Anschein, ein gewöhnlicher zu sein. Matteo fuhr mit seiner eigenen, kleinen Familie zu Giovannas Eltern. Bereits gegen Abend würden sie ihr Ziel erreicht haben. In drei oder vier Tagen wären sie zurück.
Matteo klopfte seinem kleinen Bruder auf die Schultern. »Pass gut auf Mama auf«, sagte er.
Aurelio blickte in die Senke hinab. Sie sahen wirklich nicht gefährlich aus. »Keine Sorge«, antwortete er.
Als Matteo und Giovanna den kleinen Hügel hinauffuhren, der zum Apennin hin die Grenze des Lehens markierte, saß Giovanna an ihren Mann gelehnt und hielt den eingewickelten Luigi an sich gedrückt. Oben angekommen, drehte sie sich noch einmal um und winkte Antonia und Aurelio zu. Von Süden kommend strich ein erster, warmer Frühlingshauch über die Felder.
Antonia hatte sich getäuscht. Sie war alt, doch für ein Rudel gelangweilter Wölfe war sie nicht alt genug. Sie kamen näher, umkreisten das Haus, rochen das Fleisch. Keine zwei Stunden nachdem Matteo, Giovanna und Luigi sich auf den Weg gemacht hatten, schlug der Erste von ihnen mit der Faust gegen die Tür.
Es waren sechs. Auf der Wange desjenigen, der als Erster das Haus betrat, prangte eine schlecht verheilte Narbe, die seinen linken Mundwinkel nach oben zog, wodurch er andauernd ein schiefes Lächeln zur Schau trug. Die Männer, die hinter ihm in den Wohnraum drängten, waren von ähnlichem Schlag: erfahrene Söldner, die nie etwas anderes gemacht hatten, als anderen gegen Geld die Schädel einzuschlagen. Der Geruch nach lehmiger Erde, altem Schweiß und kaltem Eisen breitete sich aus.
Der Bart des einen war bereits ergraut, sein Kettenhemd gleich an mehreren Stellen ausgebessert worden. Die zwei, die als Letzte das Haus betraten, waren hingegen sehr jung, kaum älter als Aurelio und jünger als sein Bruder. Einer hatte ein glattes, kindlich-rundes Gesicht, dessen Blick verriet, dass er sehr viel lieber Viola da Gamba gespielt als das Schwert geführt hätte, das von seinem Gürtel baumelte. Für ihn war der Feldzug gegen Bologna sicher sein erster gewesen. Der andere war blond, trug einen gestutzten Bart und hatte wässrige, gleichgültige Augen, die Aurelio betrachteten, als sei er ein Insekt. Seine Schulterpanzer hingen an einem Lederriemen von seinem Hals herab.
»Meine Männer brauchen frisches Wasser«, sagte der Narbige.
Aurelio und seine Mutter wechselten einen Blick. Antonia nickte. Aurelio nahm die beiden Holzeimer und ging zur Tür, die von dem Blonden mit den leeren Augen verstellt wurde.
Da er keine Anstalten machte, die Tür freizugeben, sagte Aurelio: »Frisches Wasser gibt es im Brunnen, und der ist hinter dem Haus.«
Der Söldner trat ein Stück zur Seite.
Bis Aurelio mit den gefüllten Eimern zurückkehrte, hatten es sich die Männer wie selbstverständlich am Tisch bequem gemacht. »Kein Wort«, mahnte Antonias Blick. Aurelio befüllte einen Krug und stellte ihn in die Mitte. Antonia hatte sich in die Nische zurückgezogen, die zum Schlafplatz führte, den Rücken gegen die Wand gelehnt. Die Furche zwischen den Brauen war auf ihre Stirn zurückgekehrt.
»Wie steht's mit Wein?«, fragte der Narbige.
Sie aßen, was an Vorräten im Haus war. Ohne ein Widerwort stellte Antonia auf den Tisch, was sie an Essbarem finden konnte. Wann immer Aurelio einschreiten wollte, brachte ihr Blick ihn zum Schweigen. Gegen eine Meute, der ein Menschenleben nicht mehr bedeutete als ein warmer Platz zum Schlafen und ein voller Magen, begehrte man nicht auf. Nicht wegen etwas, das ersetzbar sein würde.
»Auch die anderen werden Hunger haben«, warf der Dickste in die Runde, der die Stimme eines Kastraten hatte.
Sein Kettenhemd, das beinahe bis auf die Knie herabreichte, spannte über dem Bauch und an den Oberschenkeln. Zwei Jahre in Bologna ohne einen Feldzug hatten ihn fett werden lassen.
»Ein Stück Fleisch würde ihnen guttun«, meinte der Alte.
Der Narbige strich sich über den zottigen Bart und blickte zu Antonia hinüber, die wieder den Platz in der Nische eingenommen hatte und sich unsichtbar zu machen versuchte. »Was habt ihr an Tieren auf eurem Hof?«
»Ich könnte Euch die Tiere in meinem Stall aufzählen«, antwortete Antonia, »am Ende aber würdet Ihr doch selbst nachsehen.«
Er tunkte das letzte Stück Brot in die Soße, lachte in die Runde und deutete mit dem Kinn zur Nische hinüber, als wolle er sagen: Gar nicht dumm, die Alte.
Nachdem er ohne zu kauen den letzten Bissen hinuntergeschlungen hatte, lehnte er sich zurück. »Dein Stall? Ich dachte, dein Mann sei nur eben in die Stadt gefahren?«
Antonia presste die Zähne aufeinander. Die ganze Zeit über hatte sie geschwiegen, und jetzt hatte sie sich doch verraten.
Der Anführer ließ die Hände auf den Tisch fallen und erhob sich: »Wenn das so ist, dann zeig ihn mir doch mal, deinen Stall.«
Aurelio trat hinzu: »Ich werde Euch den Stall zeigen«, beeilte er sich zu sagen.
»Du, mein schöner Jüngling«, der Narbige legte ihm lachend eine Hand in den Nacken und steuerte ihn an den frei gewordenen Platz, »darfst solange meinen Platz einnehmen.«
Er drückte Aurelio auf den Schemel. Die anderen lachten, ausgenommen die beiden Jungen.
Aurelio wollte sofort wieder aufspringen, doch der Dicke zu seiner Rechten hielt ihm bereits einen Dolch an die Kehle. Einen scharfen Dolch. Aurelio fühlte die Klinge kaum, dennoch rannen bereits erste Blutstropfen seinen Hals hinab. Mit diesem Dolch ließe sich mühelos jede Kehle durchtrennen. Und Aurelios wäre sicher nicht die Erste. Er spürte eine zweite Klinge - auf seinem Handrücken. Der Söldner links von ihm, dessen Schweißgeruch alle anderen Gerüche an ihm erstickte, hatte ebenfalls unbemerkt seinen Dolch gezogen und hielt ihn quer über Aurelios Handrücken. Eine kurze Bewegung würde ausreichen, ihm die Sehnen sämtlicher Finger zu durchtrennen.
»Tranquillo«, sagte der Anführer gedehnt. »Du wirst doch wohl den Platz in unserer Mitte nicht ausschlagen?«
Aurelio verstummte.
Die Pranke auf seiner Schulter bohrte sich schmerzhaft in Aurelios Muskeln. Er bemerkte, dass dem Daumen des Anführers der Nagel fehlte und die übrigen Nägel schwarz umrandet waren. Antonia konnte es nicht leiden, wenn man sich mit Erde unter den Nägeln zu Tisch setzte.
Der Dolch des Dicken drückte sich in Aurelios Kehle. »Du bist etwas gefragt worden«, sagte er mit seiner Fistelstimme.
»Nein«, presste Aurelio heraus.
»Na bitte.« Die Finger mit den verdreckten Nägeln ließen von seiner Schulter ab. »Komm, meine hübsche Stute«, sagte der Anführer zu Antonia.
Wieder lachten alle außer den Nachwuchssöldnern.
Als er Antonia vor sich her aus der Tür schob, legte der Narbige ihr seine Hand auf den Hintern und drückte seine Finger hinein - dieselben Finger, die sich einen Moment zuvor in Aurelios Muskeln gebohrt hatten. Sie wich seinem Griff aus, blieb aber stumm. Aurelio warf sie einen Blick zu, der sich ihm ins Gedächtnis einbrannte: warm und voller Mitgefühl. Sie glaubte zu wissen, was sie im Stall erwartete, doch für ihre Familie hätte sie jedes Schicksal auf sich genommen. Ihr Blick sollte Aurelio ein Trost sein. Er sollte sich nicht um sie sorgen. Was immer jetzt kam: Sie würde es erdulden.
Verzweifelt wandte Aurelio den Blick ab. Plötzlich schien der Raum seine Gestalt zu verändern, die Deckenbalken sich zu biegen, die Wände sich nach außen zu wölben - als wolle sich das Haus von innen nach außen stülpen. Sogar der Tisch bog sich unter einer unsichtbaren Last. Er hatte das Gefühl, sein Herz bliebe stehen.
Bevor er die Tür hinter sich schloss, warf der Anführer über die Schulter hinweg ein verschwörerisches Lächeln in die Runde. »Kann ein Weilchen dauern.«
Aurelios Herz blieb nicht stehen. Nicht, als er die ersten unterdrückten Schreie aus dem Stall vernahm; nicht, als der Anführer zurückkehrte, mit schweißglänzender Stirn, und dem Dicken mit einem Kopfnicken bedeutete, dass die Reihe an ihm war; nicht, als dem Dicken der Alte folgte und dem Alten der Stinkende. Antonia versuchte, die Qualen möglichst lautlos über sich ergehen zu lassen. Dabei war die Stille für Aurelio noch unerträglicher, als es die unterdrückten Schreie waren. Er wusste, dass sie ihr Leid von ihm fernhalten, ihn schonen wollte. Er spürte Tränen auf seiner Wange. Nie hatte er sich so geschämt, sich so sehr verachtet, eine solche Ohnmacht empfunden - als kreise siedende Galle statt Blut in seinen Adern.
Nach den Alten kamen die Jungen an die Reihe. Zunächst der Blonde mit den Fischaugen. Er sah Aurelio lange an, bevor er sich erhob. Aurelio bemerkte die bläulichen Adern unter seiner milchigen Gesichtshaut, die wie aufgemalt aussahen. Er hängte seinen Schulterpanzer über die Stuhllehne und verließ den Wohnraum, als folge er einer unhörbaren Stimme. Der andere Junge, der mit dem weichen Gesicht und den warmherzigen Augen, hielt seinen Blick zu Boden gerichtet. Seine Finger kratzten nervös am Tischbein herum.
Antonias Schrei fuhr Aurelio bis in die Spitzen seiner Finger und Zehen hinein. So hatte sie bei keinem der anderen geschrien. Dies war kein Schmerzensschrei, dies war Panik, Entsetzen, Flehen. Ein Ruck durchfuhr ihn, doch bevor er aufspringen und seiner Mutter zu Hilfe eilen konnte, brachte ihn die Klinge an seinem Hals bereits an den Tisch zurück. Aurelio wünschte sich, der Dicke würde ihm mit seinem Dolch das Herz durchbohren, damit es endlich zu schlagen aufhörte. Doch es schlug unbarmherzig weiter. Die anderen blickten unbeteiligt in die Gegend, während das Kinn des jungen Söldners noch weiter auf die Brust sank.
Als der Blonde zurückkehrte, um wieder seinen Platz gegenüber dem von Aurelio einzunehmen, ließ er die einzige menschliche Regung erkennen, die Aurelio an ihm sehen sollte: Er lächelte. Seine Augen jedoch waren Stein gewordenes Eis. Der Geruch von Blut klebte an ihm.
»Was ist?«, murrte der Anführer in Richtung des anderen Nachwuchssöldners.
Widerstrebend stand der Junge mit den braunen Augen auf, mied den Blick seiner Mitstreiter und verließ gesenkten Hauptes das Haus. Nur wenig später kehrte er mit schweren Schritten zurück, setzte sich an seinen Platz und starrte wieder auf die Stelle zwischen seinen Füßen.
»Du kannst jetzt gehen«, sagte der Narbige mit dem schiefen Lächeln.
Er musste seine Aufforderung wiederholen, ehe Aurelio begriff, dass er gemeint war.
»Und lass dir nicht einfallen, noch einmal herzukommen. Heute Nacht gehört das Haus uns.«
Das Letzte, was Aurelio wahrnahm, bevor er das Haus verließ, waren die blutigen Finger, mit denen der Blonde seinen, Aurelios, Lieblingsbecher zum Mund führte.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
IHM GEGENÜBER KNIETE ein Engel, ein leibhaftiger Engel, mit Armen, Beinen und Schultern, so stark wie die seines Vaters. Zudem jedoch hatte er Flügel, zarte, zerbrechliche, weich gefiederte Flügel, mit denen er sich jederzeit mühelos in den Himmel aufschwingen konnte. Sein linkes Knie berührte den Boden, das rechte Bein hatte er aufgestellt, so dass der nackte Fuß unter seinem Gewand hervorkam. Er trug einen Kandelaber, halb so groß wie er selbst, und je nachdem, wie der Schein der Kerze seine Konturen erhellte, konnte er abwechselnd einen gütigen oder drohenden Ausdruck annehmen. Aurelio verharrte reglos in ehrfürchtigem Abstand und betrachtete das knabenhafte Gesicht des Engels. Weder spürte er die Kälte, die ihm seit einiger Zeit die Beine hinaufkroch, noch sah er den feinen, weißen Nebel, den er mit jedem Atemzug ausstieß.
Doch er begann, hinter seinem Rücken Geräusche wahrzunehmen. Der Engel und er waren nicht allein. Manchmal war es nur das Knacken einer Holzbank, das sich in den Seitenschiffen der Basilika verlor, doch immer wieder glaubte Aurelio, ein Zischen zu vernehmen, als hätten die Säulen des Mittelschiffs zu flüstern begonnen. Verstohlen blickte sich der Junge um. Die Kirche lag im Halbdunkel, die Seitenschiffe ließen sich nur mehr erahnen. Nie zuvor hatte Aurelio ein Gebäude von solchen Ausmaßen betreten, eines, in dem man sich aufzulösen schien und verloren fühlte und dessen Größe sein Verstand nicht zu erfassen vermochte.
Da war es wieder. Ein kaum vernehmbares Schnaufen, wie von einem Tier. Aurelio fühlte es herannahen, wagte aber nicht, sich ein weiteres Mal umzudrehen. Inzwischen war es ganz dicht bei ihm. Ein Wolf, schoss es ihm durch den Kopf. Am zweiten Tag ihrer Reise war ihnen einer begegnet. Er hatte auf der Via Aemilia gestanden, als habe er dort auf sie gewartet. Tommaso hatte vom Karren steigen und einen Stein nach ihm schleudern müssen, bevor das Tier die Straße wieder freigegeben hatte und in Richtung der Berge im Wald verschwunden war.
Aurelio wollte davonlaufen, doch seine Beine rührten sich nicht von der Stelle. Sein Herz trommelte wild gegen die Brust. Verzweifelt blickte er zu dem Engel empor.
»Gefällt er dir?«
Ein heiseres Krächzen entrang sich der Kehle des Jungen. Kein Wolf. Ein Mann. Aurelio hielt den Blick stur nach vorne gerichtet. »Also?«, fragte die Stimme.
Erst jetzt wagte der Junge einen Blick aus den Augenwinkeln. Besonders groß war der Mann nicht, kaum größer als Aurelios Bruder Matteo, und der war erst vierzehn. Aurelios Atem beruhigte sich ein wenig.
»Was ist«, drängte die rauchige Stimme, »hat es dir die Sprache verschlagen?«
Aurelio sah den Engel an und suchte nach den richtigen Worten. Gefällt er dir?, hatte der Mann gefragt, doch gefallen war ein viel zu schwaches Wort, um die Demut zu beschreiben, die Aurelio beim Anblick der Statue überkam.
»Kann er wirklich fliegen?«, fragte er schließlich.
»Pah!«, entfuhr es dem Mann, »dieses plumpe Ding wäre nicht in der Lage, sich vom Boden zu lösen, wenn es über ein Dutzend Flügel verfügte.«
Entsetzt starrte Aurelio den Mann an. Wie konnte er so abfällig über ein Geschöpf von solcher Erhabenheit sprechen?
Der Mann hatte einen Akzent, wie ihn Aurelio noch nie gehört hatte, und seine Kleidung war die eines Armen - ein Umhang aus grobem Stoff, der eher einer Soutane glich als einem Mantel und durch den sich die sehnigen Schultern abzeichneten. Beinkleider schien er keine zu tragen, und seine nackten Füße steckten in geschnürten Sandalen - wo es doch geschneit hatte und die Piazza vor der Basilika von einem dicken, weißen Teppich überzogen war. Jetzt begriff Aurelio auch, woher das Schnaufen rührte. Die Nase des Mannes saß eigentümlich schief in dessen Gesicht und gab mit jedem Atemzug ein leises Zischen von sich.
»Hier.« Der Mann trat an die Statue heran. Er war tatsächlich nicht alt, wie der Junge im Schein der Kerze erkannte. »Sieh dir diesen Fuß an.« Aurelio zuckte zusammen, als der Mann den Engel ohne zu zögern am Knöchel ergriff. »Viel zu breit«, erklärte er. »Und die Wölbung müsste ausgeprägter sein. Dann die Hand: Diese unförmigen Griffel sind die Finger eines Schmieds, nicht die eines Engels. Am unverzeihlichsten aber sind die Proportionen. Weißt du, was Proportion bedeutet?«
Aurelio schüttelte stumm den Kopf.
»Proportion meint das Verhältnis der einzelnen Teile zueinander. Und das Verhältnis dieses Oberschenkels zu dem dazugehörigen Unterschenkel«, er legte seine Hand auf das Gewand des Engels, als wolle er es anheben, »ist missraten zu nennen. Schließlich sind die Falten des Gewandes nicht weit genug ausgehöhlt. Allerdings ...« Er holte Luft, wobei seine Nase abermals ein Zischen ausstieß. Seine energische Stirn schien sich für einen Moment zu glätten. »Allerdings erkennt man die Möglichkeit, das Talent, die Gabe. Ein Mann mit solchen Fähigkeiten trägt eine große Verantwortung. Er könnte Ungeheures erschaffen. Für dieses Ding aber sollte er den Allmächtigen um Verzeihung bitten.«
Aurelio starrte noch immer die halbverhüllte Gestalt an, deren Worte wie Hagelkörner auf ihn niederprasselten, als sich Schritte näherten. Zwei Männer kamen durch das Seitenschiff. Die Silhouette des größeren erkannte Aurelio sofort.
»Vater!«
Aus seiner Starre erlöst, rannte der Junge über die Steinplatten und klammerte sich erleichtert an Tommaso.
»Hier also steckst du.«
Zwei Hände ergriffen ihn unter den Achseln und hoben ihn mühelos empor. Unwillkürlich ertastete die Hand des Jungen die Stelle an Tommasos Hals, die immer warm war und wo unter der Haut das Blut pulsierte.
»Da ist ein Engel«, setzte Aurelio an, »ein echter Engel ... Und dieser Mann, der ...«
Die Worte waren schneller aus ihm herausgesprudelt, als seine Gedanken zu folgen vermochten. Jetzt wusste er nicht mehr, was er hatte sagen wollen.
»Was für ein Mann?«, fragte Tommaso ruhig.
»Da!«
Aurelio deutete in Richtung der Statue, doch der Fremde war verschwunden.
»Sicher der junge Buonarroti«, sagte Tommasos Begleiter.
Er trug einen schweren, edlen Umhang, und seine Schnürstiefel waren mit goldenen Spangen verziert, die im Halbdunkel glänzten wie polierte Münzen.
»Der junge Buonarroti?«, wiederholte Tommaso.
»Ein Günstling der Medici«, erklärte der Mann mit den Spangen an den Schuhen. »Letztes Jahr, bevor es zum Aufstand kam, ist er aus Florenz geflohen. Er hatte Angst, seine Nähe zu Piero könnte ihm gefährlich werden. Er nennt sich Bildhauer. Ein komischer Kauz, der viel von sich reden macht. Noch kein halbes Jahr ist er in Bologna und nimmt sich heraus, Aufträge abzulehnen, nach denen sich jeder andere Künstler in der Stadt die Finger lecken würde. Dabei ist er gerade einmal zwanzig Jahre alt. Wahren Geschmack, sagt er, könne man nur an drei Orten in Italien finden: Venedig, Rom und Florenz.«
»Aber was hat er gegen den Engel?«, fragte Aurelio.
Tommasos Begleiter warf Aurelio einen fragenden Blick zu. »Weshalb sollte er etwas gegen den Engel haben?«
»Er hasst ihn.«
Der Mann betrachtete nachdenklich den Kandelaberengel. »Dann hasst er vermutlich sich selbst. Schließlich hat er ihn aus dem Marmor gemeißelt.«
Am nächsten Morgen kehrten Tommaso und Aurelio Bologna den Rücken und fuhren auf der Via Aemilia, der alten Römerstraße, zurück Richtung Forlì. Die Ausläufer des Apennin lagen zu ihrer Rechten, die schneebedeckten Kuppen steckten in einem Band aus dichten Wolken. Der Karren war leicht, jetzt, wo er die Last der Fässer nicht mehr tragen musste. Die frisch beschlagenen Räder drehten sich knirschend im Schnee. Aurelio saß, umhüllt von zwei Decken, neben seinem Vater. Tommaso hatte ihn eingewickelt wie in einen Kokon. Lediglich die obere Gesichtshälfte seines Sohnes war noch zu sehen. Aurelios Ohren glühten vor Wärme. Tommaso war zufrieden. Wie jedes Jahr hatte sich die lange Reise nach Bologna gelohnt. Die Familie Aldrovandi hatte ihm für den Wein und das Öl einen Preis bezahlt, den er in Forlì niemals erzielt hätte.
Nach und nach schläferten das gleichmäßige Ruckeln des Karrens und das Klappern der Hufe Aurelio ein. Er legte sich auf die Seite, den Kopf auf dem Bein seines Vaters. Das ist der schönste Tag meines Lebens, dachte er bei sich. Tommasos Hand ruhte auf der Schulter seines Sohnes. Aurelio schloss die Augen, dachte an die merkwürdigen Worte des seltsamen Herrn Buonarroti und an den Engel, der sich ihm für den Rest seines Lebens ins Gedächtnis gebrannt hatte.
TEIL I
1
MÄRZ 1508
SIE KAMEN, OHNE VIEL Aufhebens zu machen, gegen Mittag. Italienische Söldner. Gelangweilt schlenderten sie zwischen den beiden Zypressen hindurch, die die Grenze des Lehens markierten, und folgten dem Weg in die Senke mit den Olivenbäumen. Wie Krähen ließen sie sich nieder, lautlos, einer nach dem anderen, bis plötzlich die Wiese von ihnen übersät war.
Aurelio kniete neben dem Trog, als er den Ersten von ihnen bemerkte. Zwischen seinen Beinen hielt er Trotula eingeklemmt - die Ziege, die sie sich nach dem Einfall der Franzosen von ihrem damals letzten Geld gekauft hatten. Ihr Horn war besonders hell und wuchs schneller als das der anderen, weshalb man ihr häufig die Klauen schneiden musste. Und genau das hatte Aurelio gerade vorgehabt, als er die Söldner am Horizont bemerkte.
»Mutter!«, rief er. Er war froh, die widerspenstige Trotula bezwungen zu haben, und wollte sie nicht leichtfertig freigeben.
Antonia trat vor das Haus. Stumm und mit einer tiefen Falte zwischen den Augen blickte sie in die Senke. Den ersten Söldnern folgten weitere. Schon kamen die nächsten über den Hügel. Antonia verschränkte die Arme vor der Brust. Wieder tauchten zwei von ihnen zwischen den Zypressen auf.
»Komm rein«, sagte Antonia, »beeil dich.« Sie wandte sich um. »Aber Trotula ...«
»Sofort!«
Schon einmal hatte Aurelio miterlebt, wie ihr Hof von Söldnern heimgesucht worden war - als der Winter das neue Jahrhundert auf eisigen Händen vor sich hergetragen hatte. 1500. Das Heilige Jahr. Zehn Jahre war Aurelio damals alt gewesen. In Rom hatte Papst Alexander die heiligen Pforten geöffnet. Die Zukunft sollte Großes bereithalten, besser werden. Tommaso hielt nicht viel davon. Er glaubte nicht daran, dass ein Jahr heiliger war als ein anderes. Auch strebte er nicht nach Höherem. Es war so, wie es war. Und so, wie es war, hatte man es zu nehmen.
In Forlì hatte das Heilige Jahr mit viel Getöse Einzug gehalten. Angekündigt von dem dumpfen Gepolter zahlloser Trommeln und dem tausendfachen Klirren eiserner Rüstungen, war es durch den kalten Morgennebel herangewallt. Der Horizont hatte sich verdüstert, statt sich zu erhellen. Franzosen, Tausende. Ein ganzes Heer hatte Cesare Borgia, der Sohn Alexanders, angeheuert, um Caterina Sforza zur Aufgabe von Forlì zu zwingen.
Tommaso hatte den Kompanieführer vor der Tür seines Steinhauses empfangen. Antonia saß an der Feuerstelle und hielt Aurelio an sich gedrückt. Das hatte sie lange nicht mehr gemacht. Matteo, der schon siebzehn war, stand am Fenster und blickte durch den Spalt. Aurelio hätte auch gerne durch den Spalt geguckt. Er fand, er war viel zu groß, um noch von seiner Mutter umklammert zu werden.
»Auf welcher Seite steht Ihr?«, fragte der Söldner in gebrochenem Italienisch.
»Auf der Seite des Lebens«, entgegnete Tommaso mit fester Stimme.
Die Antwort schien den Kompanieführer zufriedenzustellen. Er war Söldner. Er stand auf der Seite dessen, der ihn bezahlte. Etwas anderes interessierte ihn nicht. Als sie vier Tage später weiterzogen, waren bis auf die Katze alle Tiere gegessen, die Felder verwüstet, das letzte Korn gemahlen und verspeist. Doch sie hatten Tommaso unbehelligt gelassen und weder Antonia noch Matteo oder Aurelio ein Haar gekrümmt.
Jetzt jedoch versammelten sich die eisenbewährten Krähen in der Senke, und Tommaso war nicht mehr da. Vor drei Monaten, am kürzesten Tag des Jahres, war er gestorben - an einer Krankheit, für die niemand einen Namen gehabt hatte. Seitdem versuchten sie, den Hof alleine zu bewirtschaften. Es ging. Sie würden zurechtkommen, auch ohne Tommaso. So wie es war, hatte man es zu nehmen.
»Du schnürst ein Bündel mit dem Nötigsten«, befahl Antonia Matteo, »auf der Stelle. Aurelio, du spannst den Ochsen vor den Karren. Ihr verlasst den Hof zur anderen Seite. Giovanna, mach den Kleinen fertig.«
Matteo blickte aus dem Fenster in die Senke hinunter. »Das sind Soldaten des Papstes, Italiener. Die sind auf dem Weg nach Rom. Warum geben wir ihnen nicht einfach etwas zu essen und lassen sie durchziehen?«
»Ihr tut, was ich sage«, beharrte Antonia.
Matteo neigte den Kopf zur Seite. »Gefährlich sehen die nicht aus.«
»Das tun Wölfe auch nicht. Beeilung!«
»Wölfe sind Wölfe«, meinte Matteo.
»Söldner sind Söldner«, entgegnete Antonia. »Und Söldner ohne Krieg sind gefährlicher als Wölfe ohne Fressen. Manche töten schon aus Langeweile.«
»Was ist mit dir?«, fragte Aurelio, dem nicht entgangen war, dass Antonia bisher nur von »ihr« gesprochen hatte.
»Ich bin alt. Mir werden sie nichts tun.«
»Du willst alleine auf dem Hof bleiben?«, schaltete sich Giovanna ein, die dabei war, Luigi in eine Decke zu wickeln.
»Wenn wir ihnen einen unbewohnten Hof überlassen, wird am Ende nichts mehr davon übrig sein.«
Matteo und Aurelio warfen sich einen Blick zu. Ihre Mutter war noch störrischer als Trotula, die alte Ziege. Sie zum Mitkommen zu bewegen, wäre ein sinnloses Unterfangen.
»Wenn du bleibst, bleibe ich auch«, sagte Aurelio.
»Kommt nicht in Frage«, antwortete seine Mutter.
»Dann bleiben wir alle«, drohte Matteo.
»Also schön«, knurrte Antonia, »Aurelio kann bleiben. Du aber, Matteo, bringst deine Familie in Sicherheit. Darauf bestehe ich.«
Der Abschied gab sich den Anschein, ein gewöhnlicher zu sein. Matteo fuhr mit seiner eigenen, kleinen Familie zu Giovannas Eltern. Bereits gegen Abend würden sie ihr Ziel erreicht haben. In drei oder vier Tagen wären sie zurück.
Matteo klopfte seinem kleinen Bruder auf die Schultern. »Pass gut auf Mama auf«, sagte er.
Aurelio blickte in die Senke hinab. Sie sahen wirklich nicht gefährlich aus. »Keine Sorge«, antwortete er.
Als Matteo und Giovanna den kleinen Hügel hinauffuhren, der zum Apennin hin die Grenze des Lehens markierte, saß Giovanna an ihren Mann gelehnt und hielt den eingewickelten Luigi an sich gedrückt. Oben angekommen, drehte sie sich noch einmal um und winkte Antonia und Aurelio zu. Von Süden kommend strich ein erster, warmer Frühlingshauch über die Felder.
Antonia hatte sich getäuscht. Sie war alt, doch für ein Rudel gelangweilter Wölfe war sie nicht alt genug. Sie kamen näher, umkreisten das Haus, rochen das Fleisch. Keine zwei Stunden nachdem Matteo, Giovanna und Luigi sich auf den Weg gemacht hatten, schlug der Erste von ihnen mit der Faust gegen die Tür.
Es waren sechs. Auf der Wange desjenigen, der als Erster das Haus betrat, prangte eine schlecht verheilte Narbe, die seinen linken Mundwinkel nach oben zog, wodurch er andauernd ein schiefes Lächeln zur Schau trug. Die Männer, die hinter ihm in den Wohnraum drängten, waren von ähnlichem Schlag: erfahrene Söldner, die nie etwas anderes gemacht hatten, als anderen gegen Geld die Schädel einzuschlagen. Der Geruch nach lehmiger Erde, altem Schweiß und kaltem Eisen breitete sich aus.
Der Bart des einen war bereits ergraut, sein Kettenhemd gleich an mehreren Stellen ausgebessert worden. Die zwei, die als Letzte das Haus betraten, waren hingegen sehr jung, kaum älter als Aurelio und jünger als sein Bruder. Einer hatte ein glattes, kindlich-rundes Gesicht, dessen Blick verriet, dass er sehr viel lieber Viola da Gamba gespielt als das Schwert geführt hätte, das von seinem Gürtel baumelte. Für ihn war der Feldzug gegen Bologna sicher sein erster gewesen. Der andere war blond, trug einen gestutzten Bart und hatte wässrige, gleichgültige Augen, die Aurelio betrachteten, als sei er ein Insekt. Seine Schulterpanzer hingen an einem Lederriemen von seinem Hals herab.
»Meine Männer brauchen frisches Wasser«, sagte der Narbige.
Aurelio und seine Mutter wechselten einen Blick. Antonia nickte. Aurelio nahm die beiden Holzeimer und ging zur Tür, die von dem Blonden mit den leeren Augen verstellt wurde.
Da er keine Anstalten machte, die Tür freizugeben, sagte Aurelio: »Frisches Wasser gibt es im Brunnen, und der ist hinter dem Haus.«
Der Söldner trat ein Stück zur Seite.
Bis Aurelio mit den gefüllten Eimern zurückkehrte, hatten es sich die Männer wie selbstverständlich am Tisch bequem gemacht. »Kein Wort«, mahnte Antonias Blick. Aurelio befüllte einen Krug und stellte ihn in die Mitte. Antonia hatte sich in die Nische zurückgezogen, die zum Schlafplatz führte, den Rücken gegen die Wand gelehnt. Die Furche zwischen den Brauen war auf ihre Stirn zurückgekehrt.
»Wie steht's mit Wein?«, fragte der Narbige.
Sie aßen, was an Vorräten im Haus war. Ohne ein Widerwort stellte Antonia auf den Tisch, was sie an Essbarem finden konnte. Wann immer Aurelio einschreiten wollte, brachte ihr Blick ihn zum Schweigen. Gegen eine Meute, der ein Menschenleben nicht mehr bedeutete als ein warmer Platz zum Schlafen und ein voller Magen, begehrte man nicht auf. Nicht wegen etwas, das ersetzbar sein würde.
»Auch die anderen werden Hunger haben«, warf der Dickste in die Runde, der die Stimme eines Kastraten hatte.
Sein Kettenhemd, das beinahe bis auf die Knie herabreichte, spannte über dem Bauch und an den Oberschenkeln. Zwei Jahre in Bologna ohne einen Feldzug hatten ihn fett werden lassen.
»Ein Stück Fleisch würde ihnen guttun«, meinte der Alte.
Der Narbige strich sich über den zottigen Bart und blickte zu Antonia hinüber, die wieder den Platz in der Nische eingenommen hatte und sich unsichtbar zu machen versuchte. »Was habt ihr an Tieren auf eurem Hof?«
»Ich könnte Euch die Tiere in meinem Stall aufzählen«, antwortete Antonia, »am Ende aber würdet Ihr doch selbst nachsehen.«
Er tunkte das letzte Stück Brot in die Soße, lachte in die Runde und deutete mit dem Kinn zur Nische hinüber, als wolle er sagen: Gar nicht dumm, die Alte.
Nachdem er ohne zu kauen den letzten Bissen hinuntergeschlungen hatte, lehnte er sich zurück. »Dein Stall? Ich dachte, dein Mann sei nur eben in die Stadt gefahren?«
Antonia presste die Zähne aufeinander. Die ganze Zeit über hatte sie geschwiegen, und jetzt hatte sie sich doch verraten.
Der Anführer ließ die Hände auf den Tisch fallen und erhob sich: »Wenn das so ist, dann zeig ihn mir doch mal, deinen Stall.«
Aurelio trat hinzu: »Ich werde Euch den Stall zeigen«, beeilte er sich zu sagen.
»Du, mein schöner Jüngling«, der Narbige legte ihm lachend eine Hand in den Nacken und steuerte ihn an den frei gewordenen Platz, »darfst solange meinen Platz einnehmen.«
Er drückte Aurelio auf den Schemel. Die anderen lachten, ausgenommen die beiden Jungen.
Aurelio wollte sofort wieder aufspringen, doch der Dicke zu seiner Rechten hielt ihm bereits einen Dolch an die Kehle. Einen scharfen Dolch. Aurelio fühlte die Klinge kaum, dennoch rannen bereits erste Blutstropfen seinen Hals hinab. Mit diesem Dolch ließe sich mühelos jede Kehle durchtrennen. Und Aurelios wäre sicher nicht die Erste. Er spürte eine zweite Klinge - auf seinem Handrücken. Der Söldner links von ihm, dessen Schweißgeruch alle anderen Gerüche an ihm erstickte, hatte ebenfalls unbemerkt seinen Dolch gezogen und hielt ihn quer über Aurelios Handrücken. Eine kurze Bewegung würde ausreichen, ihm die Sehnen sämtlicher Finger zu durchtrennen.
»Tranquillo«, sagte der Anführer gedehnt. »Du wirst doch wohl den Platz in unserer Mitte nicht ausschlagen?«
Aurelio verstummte.
Die Pranke auf seiner Schulter bohrte sich schmerzhaft in Aurelios Muskeln. Er bemerkte, dass dem Daumen des Anführers der Nagel fehlte und die übrigen Nägel schwarz umrandet waren. Antonia konnte es nicht leiden, wenn man sich mit Erde unter den Nägeln zu Tisch setzte.
Der Dolch des Dicken drückte sich in Aurelios Kehle. »Du bist etwas gefragt worden«, sagte er mit seiner Fistelstimme.
»Nein«, presste Aurelio heraus.
»Na bitte.« Die Finger mit den verdreckten Nägeln ließen von seiner Schulter ab. »Komm, meine hübsche Stute«, sagte der Anführer zu Antonia.
Wieder lachten alle außer den Nachwuchssöldnern.
Als er Antonia vor sich her aus der Tür schob, legte der Narbige ihr seine Hand auf den Hintern und drückte seine Finger hinein - dieselben Finger, die sich einen Moment zuvor in Aurelios Muskeln gebohrt hatten. Sie wich seinem Griff aus, blieb aber stumm. Aurelio warf sie einen Blick zu, der sich ihm ins Gedächtnis einbrannte: warm und voller Mitgefühl. Sie glaubte zu wissen, was sie im Stall erwartete, doch für ihre Familie hätte sie jedes Schicksal auf sich genommen. Ihr Blick sollte Aurelio ein Trost sein. Er sollte sich nicht um sie sorgen. Was immer jetzt kam: Sie würde es erdulden.
Verzweifelt wandte Aurelio den Blick ab. Plötzlich schien der Raum seine Gestalt zu verändern, die Deckenbalken sich zu biegen, die Wände sich nach außen zu wölben - als wolle sich das Haus von innen nach außen stülpen. Sogar der Tisch bog sich unter einer unsichtbaren Last. Er hatte das Gefühl, sein Herz bliebe stehen.
Bevor er die Tür hinter sich schloss, warf der Anführer über die Schulter hinweg ein verschwörerisches Lächeln in die Runde. »Kann ein Weilchen dauern.«
Aurelios Herz blieb nicht stehen. Nicht, als er die ersten unterdrückten Schreie aus dem Stall vernahm; nicht, als der Anführer zurückkehrte, mit schweißglänzender Stirn, und dem Dicken mit einem Kopfnicken bedeutete, dass die Reihe an ihm war; nicht, als dem Dicken der Alte folgte und dem Alten der Stinkende. Antonia versuchte, die Qualen möglichst lautlos über sich ergehen zu lassen. Dabei war die Stille für Aurelio noch unerträglicher, als es die unterdrückten Schreie waren. Er wusste, dass sie ihr Leid von ihm fernhalten, ihn schonen wollte. Er spürte Tränen auf seiner Wange. Nie hatte er sich so geschämt, sich so sehr verachtet, eine solche Ohnmacht empfunden - als kreise siedende Galle statt Blut in seinen Adern.
Nach den Alten kamen die Jungen an die Reihe. Zunächst der Blonde mit den Fischaugen. Er sah Aurelio lange an, bevor er sich erhob. Aurelio bemerkte die bläulichen Adern unter seiner milchigen Gesichtshaut, die wie aufgemalt aussahen. Er hängte seinen Schulterpanzer über die Stuhllehne und verließ den Wohnraum, als folge er einer unhörbaren Stimme. Der andere Junge, der mit dem weichen Gesicht und den warmherzigen Augen, hielt seinen Blick zu Boden gerichtet. Seine Finger kratzten nervös am Tischbein herum.
Antonias Schrei fuhr Aurelio bis in die Spitzen seiner Finger und Zehen hinein. So hatte sie bei keinem der anderen geschrien. Dies war kein Schmerzensschrei, dies war Panik, Entsetzen, Flehen. Ein Ruck durchfuhr ihn, doch bevor er aufspringen und seiner Mutter zu Hilfe eilen konnte, brachte ihn die Klinge an seinem Hals bereits an den Tisch zurück. Aurelio wünschte sich, der Dicke würde ihm mit seinem Dolch das Herz durchbohren, damit es endlich zu schlagen aufhörte. Doch es schlug unbarmherzig weiter. Die anderen blickten unbeteiligt in die Gegend, während das Kinn des jungen Söldners noch weiter auf die Brust sank.
Als der Blonde zurückkehrte, um wieder seinen Platz gegenüber dem von Aurelio einzunehmen, ließ er die einzige menschliche Regung erkennen, die Aurelio an ihm sehen sollte: Er lächelte. Seine Augen jedoch waren Stein gewordenes Eis. Der Geruch von Blut klebte an ihm.
»Was ist?«, murrte der Anführer in Richtung des anderen Nachwuchssöldners.
Widerstrebend stand der Junge mit den braunen Augen auf, mied den Blick seiner Mitstreiter und verließ gesenkten Hauptes das Haus. Nur wenig später kehrte er mit schweren Schritten zurück, setzte sich an seinen Platz und starrte wieder auf die Stelle zwischen seinen Füßen.
»Du kannst jetzt gehen«, sagte der Narbige mit dem schiefen Lächeln.
Er musste seine Aufforderung wiederholen, ehe Aurelio begriff, dass er gemeint war.
»Und lass dir nicht einfallen, noch einmal herzukommen. Heute Nacht gehört das Haus uns.«
Das Letzte, was Aurelio wahrnahm, bevor er das Haus verließ, waren die blutigen Finger, mit denen der Blonde seinen, Aurelios, Lieblingsbecher zum Mund führte.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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Autoren-Porträt von Leon Morell
Hinter dem Pseudonym Leon Morell steckt ein Autor zahlreicher Romane und Sachbücher. Morells große Begeisterung für Italien und die Kunst der Renaissance inspirierte ihn zu diesem Roman, an dem er ebenso lange arbeitete wie Michelangelo an den Fresken der Sixtinischen Kapelle. Heute lebt der Vater von drei Kindern in Berlin
Bibliographische Angaben
- Autor: Leon Morell
- 2012, 567 Seiten, Maße: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: FISCHER Scherz
- ISBN-10: 3502102244
- ISBN-13: 9783502102243
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