Der Sohn des Greifen / Das Lied von Eis und Feuer Bd.9
Deutsche Erstausgabe. Ausgezeichnet mit dem Deutschen Phantastik-Preis, Kategorie Bester internationaler Roman, 2013
Die Sieben Königreiche zerfallen weiter im Machtkampf der großen Adelshäuser. Nun lauert neue Gefahr aus dem Norden. Nur Kommandant Jon Schnee und seine Männer stellen sich der Übermacht entgegen.
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Produktinformationen zu „Der Sohn des Greifen / Das Lied von Eis und Feuer Bd.9 “
Die Sieben Königreiche zerfallen weiter im Machtkampf der großen Adelshäuser. Nun lauert neue Gefahr aus dem Norden. Nur Kommandant Jon Schnee und seine Männer stellen sich der Übermacht entgegen.
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Das Lied von Eis und Feuer - Der Sohn des Greifen von George R. R. MartinPROLOG
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Menschgestank hing in der Nacht.
Der Warg blieb unter einem Baum stehen und schnüffelte. Sein graubraunes Fell war von Schatten gesprenkelt. Ein Seufzer des Kiefernwinds trug den Menschengeruch zu ihm und dazu die schwächere Witterung von Fuchs und Hase, Seehund und Hirsch und sogar Wolf. Das waren ebenfalls Gerüche von Menschen, wie der Warg wusste; der Gestank alter Felle, tot und bitter, der die stärkeren Gerüche beinahe vollständig überlagerte: Rauch und Blut und Fäulnis. Nur Menschen zogen anderen Tieren die Haut ab und trugen deren Fell und Haar.
Warge fürchteten sich nicht wie Wölfe vor Menschen. Hass und Hunger brodelten in seinem Bauch, und er knurrte leise, um seinen einäugigen Bruder und seine kleine listige Schwester zu rufen. Während er durch den Wald rannte, folgte ihm sein Rudel dicht auf den Fersen. Die anderen hatten das Gleiche gewittert. Im Laufen spähte er auch durch ihre Augen und erblickte sich selbst an der Spitze. Ihr Atem hing warm und weiß aus den langen grauen Schnauzen. Eis hatte sich zwischen ihren Pfoten gebildet, hart wie Stein, aber jetzt hatte die Jagd begonnen, die Beute wartete vor ihnen. Lebendiges Fleisch, dachte der Warg, Fleisch zum Fressen.
Ein Mensch allein war ein schwaches Wesen. Groß und stark, mit guten scharfen Augen, doch blind für Geräusche und taub für Gerüche. Hirsch und Elch und sogar Hasen waren schneller, Bären und Eber grimmiger im Kampf. Im Rudel hingegen waren Menschen gefährlich. Während sich die Wölfe der Beute näherten, hörte der Warg das Klagen eines Welpen; hörte, wie die Kruste des Schnees, der in der letzten Nacht gefallen war, unter ungeschickten Menschenpfoten brach, hörte das Rasseln der Harthäute und der langen grauen Klauen, wie Menschen sie trugen.
Schwerter, flüsterte eine Stimme in ihm, Speere.
Den Bäumen waren Zähne aus Eis gewachsen, und die kahlen braunen Äste fauchten. Einauge preschte durch das Unterholz und ließ Schnee aufspritzen. Sein Rudel folgte ihm. Es ging einen Hügel hinauf und auf der anderen Seite hinunter, bis sich der Wald öffnete und sie die Menschen vor sich hatten. Einer war ein Weibchen. Das Fellbündel, das sie umklammerte, war ihr Welpe. Heb sie bis zuletzt auf, flüsterte die Stimme, die Männchen sind die eigentliche Gefahr. Sie brüllten einander an, wie es Menschen eben taten, doch der Warg konnte ihre Angst riechen. Einer hatte einen Holzzahn, der so groß war wie er selbst. Den schleuderte er, aber seine Hand zitterte, und der Zahn flog zu hoch.
Dann fiel das Rudel über sie her.
Sein einäugiger Bruder stieß den Zahnschleuderer in eine Schneewehe und riss ihm im Fallen die Kehle heraus. Seine Schwester schlich sich hinter das andere Männchen und sprang ihm in den Rücken. Damit blieben das Weibchen und der Welpe für ihn.
Das Weibchen hatte ebenfalls einen Zahn, einen kleinen, der aus Knochen gemacht war, aber sie ließ ihn fallen, als sich die Kiefer des Wargs um ihr Bein schlossen. Als sie zu Boden ging, umschlang sie ihren lärmenden Welpen mit beiden Armen. Unter ihren Fellen war das Weibchen nur Haut und Knochen, doch ihre Zitzen waren voller Milch. Das süßeste Fleisch war am Welpen. Der Wolf hob die besten Stücke für seinen Bruder auf. Um die Leichen herum färbte sich der gefrorene Schnee rosa und rot, während sich das Rudel die Bäuche vollschlug.
Viele Meilen entfernt in einer kleinen Hütte aus Lehm und Stroh mit Reetdach, einem Rauchloch und einem Boden aus gestampfter Erde zitterte, hustete und leckte sich Varamyr die Lippen. Seine Augen waren rot, seine Lippen aufgesprungen, seine Kehle war trocken und ausgedörrt, dennoch füllte der Geschmack von Blut und Fett seinen Mund, auch wenn sein geschwollener Bauch nach Nahrung schrie. Kinderfleisch, dachte er und erinnerte sich an Kuller. Menschenfleisch. War er so tief gesunken, dass er jetzt schon nach dem Fleisch von Menschen gierte? Fast konnte er hören, wie Haggon ihn anknurrte. »Menschen essen vielleicht das Fleisch von Tieren und Tiere das Fleisch von Menschen, aber ein Mensch, der das Fleisch eines Menschen frisst, ist eine Abscheulichkeit.«
Abscheulichkeit. Das war immer Haggons Lieblingswort gewesen. Abscheulichkeit, Abscheulichkeit, Abscheulichkeit. Menschenfleisch zu essen war abscheulich, sich als Wolf mit Wölfen zu paaren war abscheulich, und sich des Körpers eines anderen Menschen zu bemächtigen war die größte Abscheulichkeit von allen. Haggon war schwach und hatte Angst vor seiner eigenen Macht. Er ist weinend und allein gestorben, als ich ihm sein zweites Leben entrissen habe. Varamyr selbst hatte sein Herz verschlungen. Er hat mir viel und noch viel mehr beigebracht, und das Letzte, was ich von ihm gelernt habe, war, wie Menschenfleisch schmeckt.
Das war allerdings als Wolf gewesen. Mit seinen menschlichen Zähnen hatte er Menschenfleisch noch nie angerührt. Dennoch missgönnte er seinem Rudel das Festmahl nicht. Die Wölfe waren so ausgehungert wie er selbst, mager und durchgefroren und hungrig, und ihre Beute ... zwei Männer, eine Frau und ein Säugling, die vor der Niederlage in den Tod flohen. Sie wären sowieso bald gestorben, durch den Hunger oder die Kälte. Auf diese Weise ging es besser, schneller. Eine Gnade.
»Eine Gnade«, sagte er laut. Seine Kehle war rau, trotzdem fühlte es sich gut an, eine menschliche Stimme zu hören, selbst wenn es nur die eigene war. Die Luft roch modrig und feucht, der Boden war kalt und hart, und das Feuer erzeugte mehr Rauch als Hitze. Er schob sich so nah an die Flammen heran, wie er nur wagte, hustete und zitterte abwechselnd, und seine Flanke pochte, wo die Wunde aufgegangen war. Seine Hose hatte sich bis zu den Knien mit Blut vollgesogen und trocknete zu einer harten braunen Kruste.
Distel hatte ihn davor gewarnt. »Ich habe sie so gut genäht wie ich kann«, hatte sie gesagt, »aber du musst dich ausruhen und die Wunde in Ruhe heilen lassen, sonst wird das Fleisch wieder aufreißen.«
Distel war seine letzte Gefährtin gewesen, eine Speerfrau, zäh wie eine alte Wurzel, warzig, vom Wind gegerbt und runzlig. Die anderen hatten sie unterwegs im Stich gelassen. Einer nach dem anderen ließen sie sich zurückfallen oder kämpften sich voran, strebten zu ihren alten Dörfern, zum Milchwasser oder nach Hartheim oder einem einsamen Tod in den Wäldern entgegen. Varamyr wusste es nicht, und es kümmerte ihn auch nicht. Ich hätte einen von ihnen nehmen sollen, als ich die Gelegenheit hatte. Einen der Zwillinge oder den großen Mann mit dem vernarbten Gesicht oder den Jungen mit dem roten Haar. Doch er hatte Angst gehabt. Einer der anderen hätte mitbekommen können, was da geschah. Dann hätten sie sich gegen ihn gewandt und ihn umgebracht. Und Haggons Worte hatten ihn verfolgt. So war die Gelegenheit ungenutzt verstrichen.
Nach der Schlacht hatten sich Tausende von ihnen durch den Wald geschleppt, hungrig, verängstigt und auf der Flucht vor dem Gemetzel, das an der Mauer über sie hereingebrochen war. Manche hatten darüber gesprochen, zu ihren verlassenen Häusern zurückzukehren, andere wollten sich für einen zweiten Angriff auf das Tor sammeln, doch die meisten irrten ziellos umher und wussten nicht, wohin sie gehen oder was sie tun sollten. Sie waren den Krähen in ihren schwarzen Röcken und den Rittern in ihrem grauen Stahl entgangen, doch nun wurden sie von unbarmherzigeren Feinden gejagt. Jeden Tag blieben mehr Leichen am Wegesrand zurück. Manche starben am Hunger, manche an der Kälte, manche an Krankheiten. Andere wurden von jenen erschlagen, die noch ihre Waffenbrüder gewesen waren, als sie mit Manke Rayder nach Süden gezogen waren, mit dem Königjenseits-der-Mauer. Manke ist gefallen, erzählten sich die Überlebenden verzweifelt, Manke ist in Gefangenschaft, Manke ist tot. »Harma ist tot und Manke gefangen genommen, die anderen sind davongelaufen und haben uns im Stich gelassen«, hatte Distel behauptet, während sie seine Wunde nähte. »Tormund, der Weiner, Sechsleib, all diese tapfere Räuber. Wo sind sie hin?«
Sie erkennt mich nicht, hatte Varamyr da begriffen, und warum sollte sie auch? Ohne seine Tiere sah er nicht aus wie ein großer Mann. Ich war Varamyr Sechsleib, der Brot mit Manke Rayder gebrochen hat. Den Namen Varamyr hatte er sich mit zehn selbst gegeben. Ein Name, eines Herrn würdig, ein Name für die Lieder, ein mächtiger Name, der Furcht erregt. Trotzdem war er vor den Krähen davongerannt wie ein verängstigtes Kaninchen. Der schreckliche Herr Varamyr war zum Feigling geworden, aber er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass die Speerfrau das erfuhr, deshalb hatte er sich ihr gegenüber Haggon genannt. Später hatte er sich gefragt, wie er ausgerechnet auf diesen Namen gekommen war, von all den Namen, die er hätte wählen können. Ich habe sein Herz gefressen und sein Blut getrunken, und dennoch sucht er mich weiter heim.
Eines Tages während der Flucht war ein Reiter auf einem weißen Pferd durch den Wald galoppiert gekommen und hatte geschrien, sie alle sollten zum Milchwasser kommen, wo der Weiner Krieger versammele, um die Schädelbrücke zu überqueren und den Schattenturm einzunehmen. Viele folgten ihm; die meisten nicht. Später ging ein Krieger in Fell und Bernstein von Feuer zu Feuer und beschwor die Überlebenden, nach Norden zu ziehen und Zuflucht im Tal der Thenns zu suchen. Warum er glaubte, dass sie dort in Sicherheit wären, wo doch die Thenns selbst längst von dort geflohen waren, erfuhr Varamyr nie, doch Hunderte folgten dem Mann. Hunderte andere gingen mit der Waldhexe, die eine Vision von einer Flotte Schiffe gehabt hatte, welche kommen würden, um das Freie Volk nach Süden zu bringen. »Wir müssen zum Meer aufbrechen«, rief Mutter Maulwurf, und ihre Gefolgsleute wandten sich nach Osten.
Varamyr hätte sich ihnen anschließen können, wenn er nur kräftiger gewesen wäre. Doch das Meer war grau und kalt und weit entfernt, und er wusste, dass er niemals lebend dort angekommen wäre. Neunmal war er gestorben und lag erneut im Sterben, doch diesmal würde es sein wahrer Tod sein. Ein Mantel aus Eichhörnchenfell, erinnerte er sich, er hat mir wegen eines Mantels aus Eichhörnchenfell das Messer in den Leib gerammt.
Dessen Besitzerin war tot gewesen, ihr Hinterkopf zerschmettert, blutiger Brei mit Knochenstücken, aber ihr Mantel sah warm und dick aus. Es schneite, und Varamyr hatte seine eigenen Mäntel an der Mauer verloren. Seine Schlaffelle und seine wollene Unterwäsche, seine Schaffell-Stiefel und seine pelzgesäumten Handschuhe, seinen Vorrat an Met und gehortetem Essen, die Haarsträhnen, die er von den Frauen genommen hatte, mit denen er das Bett geteilt hatte, sogar die goldenen Armreifen, die Manke ihm geschenkt hatte, alles hatte er verloren und zurückgelassen. Ich habe gebrannt und bin gestorben, und dann bin ich geflohen, halb verrückt vor Schmerz und Angst. Bei der Erinnerung daran schämte er sich immer noch, aber er war nicht allein gewesen. Andere waren ebenfalls geflohen, zu Hunderten und Tausenden. Die Schlacht war verloren. Die Ritter waren gekommen, und unbesiegbar in ihrem Stahl töteten sie jeden, der blieb, um sich ihnen zum Kampf entgegenzustellen. So hieß es fliehen oder sterben.
Doch dem Tod lief man nicht so leicht davon. Als Varamyr auf die tote Frau im Wald stieß, kniete er neben der Leiche, um ihr den Mantel abzunehmen, und er sah den Jungen nicht, bis er aus seinem Versteck sprang, und ihm das lange Knochenmesser in die Seite stieß und ihm den Mantel aus den zusammengekrallten Fingern riss. »Seine Mutter«, erklärte Distel ihm später, nachdem der Junge weggelaufen war. »Der Mantel gehörte seiner Mutter, und als er sah, wie du sie berauben wolltest ...«
»Sie war tot«, sagte Varamyr und zuckte zusammen, als ihre Knochennadel seine Haut durchbohrte. »Irgendwer hat ihr den Schädel eingeschlagen. Irgendeine Krähe.«
»Keine Krähe. Hornfüße. Ich habe es gesehen.« Mit der Nadel zog sie die Wunde in seiner Seite zusammen. »Wilde, und wer ist jetzt noch da, um sie zu zähmen?« Niemand. Wenn Manke tot ist, ist das Freie Volk dem Untergang geweiht. Die Thenns, die Riesen und die Hornfußmänner, die Höhlenbewohner mit ihren spitzgefeilten Zähnen, und die Menschen von der Westküste mit ihren Streitwagen aus Knochen ... alle waren dem Untergang geweiht. Sogar die Krähen. Sie wussten es vielleicht noch nicht, aber diese schwarzgekleideten Bastarde würden mit den anderen untergehen. Der Feind nahte.
Haggons heisere Stimme hallte in seinem Kopf wider. »Du wirst ein Dutzend Tode sterben, Junge, und jeder wird schmerzhaft sein ... Doch wenn dein wahrer Tod kommt, wirst du wieder leben. Das zweite Leben ist einfacher und süßer, heißt es.«
Varamyr Sechsleib würde schon bald erfahren, ob das stimmte. Er schmeckte seinen wahren Tod im Rauch, der beißend in der Luft hing, und fühlte ihn in der Hitze unter seinen Fingern, wenn er die Hand unter den Stoff schob und seine Wunde berührte. Auch die Kälte war in ihn hineingekrochen, tief in seine Knochen. Diesmal würde es die Kälte sein, die ihn tötete.
Das letzte Mal war er durch Feuer gestorben. Ich bin verbrannt. Zunächst hatte er in seiner Verwirrung gedacht, ein Bogenschütze auf der Mauer habe ihn mit einem Brandpfeil durchbohrt ... Doch das Feuer hatte in ihm gelodert und ihn verzehrt. Und der Schmerz ...
Varamyr war schon neunmal gestorben. Einmal durch einen Speerstoß, einmal durch Bärenzähne in seiner Kehle und einmal in einem Schwall Blut, als er eine Totgeburt zur Welt gebracht hatte. Zum ersten Mal war er mit nur sechs Jahren gestorben, als die Axt seines Vaters seinen Schädel zertrümmerte. Doch selbst das war nicht so schmerzhaft gewesen wie das Feuer in den Eingeweiden, das prasselnd an seinen Flügeln entlanggekrochen war und ihn verschlungen hatte. Als er versucht hatte, vor dem Feuer davonzufliegen, hatte seine Angst die Flammen angefacht und sie noch heißer brennen lassen. Im einen Augenblick schwebte er noch über der Mauer und beobachtete mit seinen Adleraugen die Bewegungen der Männer unten. Im nächsten hatten die Flammen sein Herz in schwarze Kohle verwandelt und seinen Geist schreiend zurück in seinen eigenen Leib geschickt, und für eine kleine Weile war er dem Wahnsinn verfallen. Allein die Erinnerung daran, ließ ihn schaudern.
Das war der Augenblick, da er bemerkte, dass sein Feuer erloschen war.
Nur ein grauschwarzes Gewirr aus verkohltem Holz war geblieben, und in der Asche fand sich noch ein wenig Glut. Es raucht noch, es braucht nur Holz. Varamyr biss die Zähne zusammen, um sich gegen den Schmerz zu wappnen, kroch zu dem Haufen abgebrochener Äste, den Distel gesammelt hatte, ehe sie zur Jagd aufgebrochen war und warf einige Stöcke auf die Asche. »Na los«, krächzte er. »Brenne.« Er blies in die Glut und sprach ein wortloses Gebet zu den namenlosen Göttern von Wald und Berg und Feld.
Die Götter ließen sich nicht zu einer Antwort herab. Nach einer Weile stieg auch kein Rauch mehr auf. Langsam hielt die Kälte Einzug in die kleine Hütte. Varamyr hatte weder Feuerstein noch Zunder oder trockenes Anmachholz. Er würde das Feuer nicht mehr in Gang bringen können, nicht ohne Hilfe jedenfalls. »Distel«, rief er, heiser und mit Schmerz in der Stimme. »Distel!«
Ihr Kinn war spitz und ihre Nase flach, und sie hatte auf der Wange ein Muttermal, aus dem vier dunkle Haare sprossen. Ein hässliches Gesicht, hart dazu, und doch hätte er viel darum gegeben, es jetzt in der Tür der Hütte auftauchen zu sehen. Ich hätte sie nehmen sollen, ehe sie ging. Wie lange war sie schon fort? Zwei Tage? Drei? Varamyr war sich nicht sicher. In der Hütte war es dunkel, und er war immer wieder eingeschlafen. Dabei wusste er nie genau, ob draußen Tag war oder Nacht. »Warte«, hatte sie gesagt. »Ich komme mit Essen zurück.« Und wie ein Narr hatte er gewartet, von Haggon und Kuller geträumt und von all dem Unrecht, das er in seinem langen Leben begangen hatte, doch Tage und Nächte zogen dahin, und Distel kehrte nicht zurück. Sie kommt nicht wieder. Varamyr fragte sich, ob er sich irgendwie verraten hatte. Konnte sie seine Gedanken erraten, indem sie ihn einfach nur ansah, oder hatte er in seinen Fieberträumen gesprochen?
Abscheulichkeit, hörte er Haggon sagen. Es war beinahe, als wäre er hier in diesem Raum. »Sie ist nur eine hässliche Speerfrau«, sagte Varamyr sich. »Ich bin ein großer Mann. Ich bin Varamyr, der Warg, der Leibwechsler; es ist nicht recht, dass sie lebt und ich sterbe.« Niemand antwortete. Es war niemand da. Distel war fort. Sie hatte ihn verlassen, so wie alle anderen auch.
Sogar seine Mutter hatte ihn verlassen. Sie hat um Kuller geweint, aber nicht um mich. An dem Morgen, an dem sein Vater ihn aus dem Bett zerrte, um ihn Haggon zu übergeben, hatte sie ihn nicht einmal angesehen. Er hatte geschrien und um sich getreten, als man ihn in den Wald schleppte, bis sein Vater ihm eine Ohrfeige gegeben und ihm befohlen hatte, still zu sein. »Du gehörst zu deinesgleichen«, sagte er nur, als er ihn Haggon vor die Füße warf.
Er hatte nicht Unrecht, dachte Varamyr zitternd. Haggon hat mir viel und noch viel mehr beigebracht. Er hat mir gezeigt, wie man jagt und fischt, wie man einen Kadaver zerlegt und einen Fisch entgrätet, wie ich mich im Wald zurechtfinde. Und er hat mich gelehrt, was es heißt, ein Warg zu sein, hat mich in die Geheimnisse der Leibwechsler eingeführt, obwohl die Gabe in mir viel stärker war als in ihm.
Jahre später hatte er versucht, seine Eltern zu finden, um ihnen zu sagen, dass er, Kugel, ihr Sohn, der große Varamyr Sechsleib geworden war, doch beide waren tot und verbrannt. In die Bäume und in die Bäche gegangen, in die Felsen und in die Erde. Zu Staub und Asche. Das hatte die Waldhexe zu seiner Mutter gesagt, an dem Tag, als Kuller gestorben war. Kugel wollte nicht zu einem Klumpen Erde werden. Der Junge hatte von einem Tag geträumt, an dem die Barden von seinen Taten sangen und ihm schöne Mädchen Küsse schenkten. Wenn ich groß bin, werde ich König-jenseits-der-Mauer, hatte sich Kugel geschworen. Das war ihm nicht gelungen, aber viel hatte nicht gefehlt. Varamyr Sechsleib war ein Name, den die Menschen fürchteten. Er ritt auf dem Rücken einer Schneebärin von vier Metern Höhe in die Schlacht, hatte sich drei Wölfe und eine Schattenkatze unterworfen und saß zur Rechten Manke Rayders. Wegen Manke liege ich jetzt hier. Ich hätte nicht auf ihn hören sollen. Ich hätte in meine Bärin schlüpfen und ihn in Stücke reißen sollen.
Vor Manke war Varamyr Sechsleib eine Art Herrscher gewesen. Er hatte allein unter seinen Tieren in einer Halle aus Moos und Schlamm und behauenen Baumstämmen gelebt, die zuvor Haggon gehört hatte. Ein Dutzend Dörfer huldigten ihm und gaben ihm Brot und Salz und Apfelwein oder brachten ihm Obst aus ihren Hainen und Gemüse aus den Gärten dar. Sein Fleisch verschaffte er sich selbst. Wann immer er eine Frau begehrte, schickte er seine Schattenkatze aus, um sich an sie heranzuschleichen, und auf welches Mädchen er auch den Blick warf, es folgte ihm widerstandslos in sein Bett. Manche weinten wohl, aber sie kamen dennoch. Varamyr schenkte ihnen seinen Samen, nahm eine Strähne von ihrem Haar, um ein Andenken an sie zu haben, und schickte sie zurück. Von Zeit zu Zeit tauchte ein tapferer Dorfheld mit dem Speer in der Hand bei ihm auf, um den Tierling zu erschlagen und seine Schwester oder Geliebte oder Tochter zu retten. Diese Kerle tötete er, doch den Frauen krümmte er kein Haar. Manche segnete er sogar mit Kindern. Kümmerlinge. Kleine, schwächliche Wesen wie Kugel, und keines hat die Gabe geerbt.
Die Furcht trieb ihn schwankend auf die Beine. Varamyr hielt sich die Seite, um den Blutfluss aus seiner Wunde aufzuhalten, schleppte sich zur Tür und zog das alte Fell zur Seite. Dahinter erhob sich eine weiße Wand. Schnee. Kein Wunder, dass es drinnen so dunkel und rauchig gewesen war. Der Schnee hatte die Hütte unter sich begraben.
Als Varamyr dagegendrückte, zerbröckelte der weiche, nasse Schnee und gab den Blick frei. Draußen war die Nacht so weiß wie der Tod; bleiche, dünne Wolken warteten tanzend dem silbernen Mond auf, während tausend Sterne kalt zuschauten. Er sah die buckligen Formen anderer Hütten, die unter Schneewehen verschwunden waren, und dahinter den bleichen Schatten eines Wehrholzbaumes, der mit Eis gepanzert war. Im Süden und Westen bildeten die Hügel eine weite weiße Wildnis, wo sich außer dem Schneegestöber nichts bewegte. »Distel«, rief Varamyr schwach und fragte sich, wie weit sie gegangen sein konnte. »Distel. Weib. Wo bist du?«
In der Ferne heulte ein Wolf.
Ein Schauer durchlief Varamyr. Dieses Heulen war ihm so vertraut, wie Kugel einst die Stimme seiner Mutter vertraut gewesen war. Einauge. Er war der älteste der drei, der größte, der wildeste. Pirscher war schlanker, schneller, jünger, Listig dagegen war verschlagener, aber beide hatten Angst vor Einauge. Der alte Wolf war furchtlos, gnadenlos und brutal.
Varamyr hatte in der Pein, die der Tod des Adlers ausgelöst hatte, die Gewalt über seine anderen Tiere verloren. Seine Schattenkatze war in den Wald gerannt, seine Schneebärin hatte sich gegen die Menschen in ihrer Umgebung gewandt und vier Männer in Stücke gerissen, ehe ein Speer sie gefällt hatte. Sie hätte auch Varamyr getötet, wenn er in ihre Nähe gekommen wäre. Die Bärin hatte ihn gehasst und jedes Mal getobt, wenn er in ihren Leib geschlüpft oder auf ihren Rücken geklettert war.
Seine Wölfe hingegen ...
Meine Brüder. Mein Rudel. In vielen kalten Nächten hatte er bei seinen Wölfen geschlafen, hatte sich, umgeben von ihren zotteligen Leibern warm gehalten. Wenn ich sterbe, werden sie sich an meinem Fleisch gütlich tun und nur Knochen übriglassen, die dann im Frühling die Schneeschmelze begrüßen. Der Gedanke hatte etwas eigenartig Tröstliches an sich. Seine Wölfe hatten ihn auf ihren Streifzügen oft mitversorgt, daher erschien es ihm nur angemessen, wenn er ihnen am Ende als Nahrung diente. Vielleicht würde er sein zweites Leben damit beginnen, dass er das warme tote Fleisch von seiner eigenen Leiche riss.
Hunde waren die Tiere, die man am leichtesten an sich binden konnte; sie lebten so eng mit Menschen zusammen, sie hatten fast schon menschliche Züge. In den Leib eines Hundes zu schlüpfen war, als würde man einen alten Stiefel anziehen, dessen Leder vom Tragen weich geworden war. Und wie ein Stiefel für den Fuß gefertigt wurde, so war ein Hund für das Halsband geschaffen, sogar für ein Halsband, das ein menschliches Auge nicht sehen konnte. Wölfe waren schwieriger. Mit einem Wolf konnte ein Mensch sich anfreunden, ja, er konnte sogar den Willen eines Wolfes brechen, aber niemand konnte einen Wolf wirklich zähmen. »Wölfe und Frauen binden sich für das ganze Leben«, hatte Haggon oft gesagt. »Wenn du einen nimmst, ist das wie eine Heirat. Der Wolf wird von dem Tag an ein Teil von dir, und du ein Teil von ihm. Ihr werdet euch beide verändern.«
Andere Tiere ließ man besser in Ruhe, hatte der Jäger erklärt. Katzen waren eitel und grausam und stets bereit, sich gegen einen zu wenden. Elch und Hirsch waren Beute; wenn man ihre Leiber zu lange trug, wurde selbst der tapferste Mann zum Feigling. Bären, Keiler, Dachse, Wiesel ... Haggon hatte nicht viel von ihnen gehalten. »In manche Leiber möchte man einfach nicht schlüpfen, Junge. Es wird dir nicht gefallen, was dann aus dir wird.« Vögel waren am schlimmsten, konnte man von ihm hören. »Menschen ist es nicht bestimmt, den Erdboden zu verlassen. Verbringe zu viel Zeit in den Wolken, und du willst nicht mehr herunterkommen. Ich kenne Leibwechsler, die es mit Falken, Eulen, Raben versucht haben. Selbst in ihrem eigenen Leib sitzen sie nur verträumt da und starren hinauf ins verdammte Blau.«
Wie auch immer, nicht allen Leibwechslern erging es so. Einmal, als Kugel zehn war, hatte Haggon ihn zu einer Leibwechsler-Versammlung mitgenommen. Die Warge, die Wolfsbrüder, waren die zahlreichsten in der Runde, doch der Junge hatte die anderen fremdartiger und faszinierender gefunden. Borroq ähnelte seinem Keiler so sehr, ihm fehlten nur noch die Hauer, Orell hatte seinen Adler, Dornros ihre Schattenkatze (in dem Moment, in dem er sie sah, wollte Kugel seine eigene Schattenkatze), Grisella ihre Ziege ...
Doch keiner von ihnen war so mächtig gewesen wie Varamyr Sechsleib, nicht einmal der große, grimmige Haggon mit seinen Händen, hart wie Stein. Der Jäger starb weinend, nachdem Varamyr ihm Graufell genommen und ihn aus dem Tier vertrieben hatte, um es selbst zu besitzen. Kein zweites Leben für dich, alter Mann. Varamyr Dreileib nannte er sich damals noch. Mit Graufell waren es vier, obwohl der alte Wolf gebrechlich und beinahe zahnlos war und Haggon bald in den Tod folgte.
Varamyr konnte sich jedes Tier nehmen, das er wollte, es seinem Willen unterwerfen und sein Fleisch zu seinem eigenen machen. Hund oder Wolf, Bär oder Dachs ...
Distel, dachte er.
Haggon hätte es Abscheulichkeit genannt, als schwärzeste Sünde überhaupt bezeichnet, doch Haggon war tot, verschlungen und verbrannt. Manke hätte ihn ebenfalls verflucht, aber Manke war erschlagen worden oder in Gefangenschaft geraten. Niemand wird es je erfahren. Ich werde Distel, die Speerfrau sein, und Varamyr Sechsleib wird tot sein. Seine Gabe würde mit seinem Körper sterben, glaubte er. Er würde seine Wölfe verlieren und den Rest seiner Tage als dürres, warziges Weib verbringen ... doch er würde leben. Wenn sie zurückkommt. Wenn ich dann noch stark genug bin, um sie zu nehmen.
Schwindel schlug wie eine Woge über Varamyr zusammen. Er fand sich auf den Knien wieder, und seine Hände steckten in einer Schneewehe. Er nahm eine Hand voll Schnee und stopfte sich den Mund voll, rieb ihn sich in den Bart und auf die trockenen Lippen, saugte die Feuchtigkeit in sich hinein. Das Wasser war so kalt, dass er sich kaum überwinden konnte, es zu schlucken, und wieder fiel ihm auf, wie heiß sein Körper war.
Der geschmolzene Schnee verstärkte den Hunger. Sein Bauch verlangte nach Essen, nicht nach Wasser. Es hatte aufgehört zu schneien, doch der Wind nahm zu und blies Kristalle in die Luft, die ihm ins Gesicht stachen, als er sich durch die Wehen kämpfte. Die Wunde in seiner Flanke öffnete und schloss sich wieder. Sein Atem bildete eine weiße Wolke. Als er den Wehrholzbaum erreichte, fand er einen abgebrochenen Ast, der gerade lang genug war, um ihm als Krücke zu dienen. Er stützte sich schwer darauf und wankte weiter zu der Hütte, die ihm am nächsten war. Vielleicht hatten die Dorfbewohner bei der Flucht etwas zurückgelassen ... einen Sack Äpfel, etwas Dörrfleisch, irgendetwas, das ihn am Leben hielt, bis Distel zurückkehrte.
Er hatte die Hütte beinahe erreicht, als die Krücke unter dem Gewicht brach und die Beine unter seinem Körper einknickten.
Wie lange er da lag und sein Blut den Schnee rötete, hätte Varamyr nicht sagen können. Der Schnee wird mich begraben. Das wäre ein friedlicher Tod. Warm, so heißt es, wird es einem am Ende, warm, und schläfrig fühlt man sich. Es wäre schön, sich wieder warm zu fühlen, obwohl es ihn mit Traurigkeit erfüllte, dass er das grüne Land wohl doch nicht sehen würde, das warme Land jenseits der Mauer, von dem Manke gesungen hatte. »Die Welt jenseits der Mauer ist nicht für unsereins bestimmt«, pflegte Haggon zu sagen. »Das Freie Volk fürchtet die Leibwechsler, doch es verehrt uns auch. Südlich der Mauer werden die Knienden uns jagen und abschlachten wie Schweine.«
Du hast mich gewarnt, dachte Varamyr, aber du warst es auch, der mir Ostwacht gezeigt hat. Er war damals kaum älter als zehn gewesen. Haggon hatte ein Dutzend Bernsteinketten und einen mit Fellen vollgepackten Schlitten gegen sechs Schläuche Wein, einen Block Salz und einen Kupferkessel getauscht. Ostwacht war ein besserer Ort zum Handeln als die Schwarze Festung; dort landeten die Schiffe an, die beladen waren mit den Waren aus den sagenhaften Ländern jenseits des Meeres. Die Krähen kannten Haggon als Jäger und Freund der Nachtwache, und immer warteten sie gespannt auf die Neuigkeiten, die er vom Leben jenseits ihrer Mauer brachte. Manche wussten sogar, dass er ein Leibwechsler war, aber niemand verlor je auch nur ein Wort darüber. Dort in Ostwacht an der See hatte der Junge zum ersten Mal vom warmen Süden geträumt.
Varamyr fühlte, wie die Schneeflocken auf seiner Stirn schmolzen. Das ist nicht so schrecklich wie Verbrennen. Lasst mich einschlafen und nicht mehr aufwachen, lasst mich mein zweites Leben beginnen. Seine Wölfe waren jetzt in der Nähe. Er konnte sie spüren. Dieses schwache Fleisch würde er zurücklassen und zu einem von ihnen werden, durch die Nacht jagen und den Mond anheulen. Der Warg würde zu einem echten Wolf werden. Aber zu welchem?
Nicht Listig. Haggon hätte es als Abscheulichkeit bezeichnet, doch Varamyr war häufig in sie hineingeschlüpft, wenn Einauge sie bestieg. Allerdings wollte er sein nächstes Leben nicht als Fähe führen, nicht, solange er eine andere Wahl hatte. Pirscher wäre besser geeignet, der junge Rüde ... Einauge hingegen war größer und wilder, und es war immer Einauge, der Listig bestieg, wenn sie läufig war.
»Es heißt, man vergisst«, hatte Haggon ihm wenige Wochen vor seinem eigenen Tod erzählt. »Wenn das Fleisch des Menschen stirbt, lebt sein Geist im Tier weiter, doch mit jedem Tag wird die Erinnerung schwächer, und das Tier wird immer weniger Warg und immer mehr Tier, bis nichts mehr von dem Menschen übrig ist und nur das Tier übrig bleibt.«
Varamyr wusste, das dies stimmte. Als er den Adler übernahm, der Orell gehört hatte, spürte er den Zorn des anderen Leibwechslers über seine Gegenwart. Orell war von der abtrünnigen Krähe Jon Schnee erschlagen worden, und sein Hass auf den, der ihn getötet hatte, war so stark, dass selbst Varamyr den jungen Tierling verabscheute. Was Schnee war, hatte er gleich in dem Augenblick erkannt, in dem er den großen weißen Schattenwolf still an seiner Seite laufen sah. Ein Leibwechsler konnte stets einen anderen spüren. Manke hätte mir den Schattenwolf zugestehen sollen. Der wäre sogar würdig, einem König als Leib für das zweite Leben zu dienen. Er hätte es tun können, daran hegte Varamyr keinen Zweifel. Die Gabe war stark in Schnee, ...
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012
by Verlagsgruppe Random House GmbH
Menschgestank hing in der Nacht.
Der Warg blieb unter einem Baum stehen und schnüffelte. Sein graubraunes Fell war von Schatten gesprenkelt. Ein Seufzer des Kiefernwinds trug den Menschengeruch zu ihm und dazu die schwächere Witterung von Fuchs und Hase, Seehund und Hirsch und sogar Wolf. Das waren ebenfalls Gerüche von Menschen, wie der Warg wusste; der Gestank alter Felle, tot und bitter, der die stärkeren Gerüche beinahe vollständig überlagerte: Rauch und Blut und Fäulnis. Nur Menschen zogen anderen Tieren die Haut ab und trugen deren Fell und Haar.
Warge fürchteten sich nicht wie Wölfe vor Menschen. Hass und Hunger brodelten in seinem Bauch, und er knurrte leise, um seinen einäugigen Bruder und seine kleine listige Schwester zu rufen. Während er durch den Wald rannte, folgte ihm sein Rudel dicht auf den Fersen. Die anderen hatten das Gleiche gewittert. Im Laufen spähte er auch durch ihre Augen und erblickte sich selbst an der Spitze. Ihr Atem hing warm und weiß aus den langen grauen Schnauzen. Eis hatte sich zwischen ihren Pfoten gebildet, hart wie Stein, aber jetzt hatte die Jagd begonnen, die Beute wartete vor ihnen. Lebendiges Fleisch, dachte der Warg, Fleisch zum Fressen.
Ein Mensch allein war ein schwaches Wesen. Groß und stark, mit guten scharfen Augen, doch blind für Geräusche und taub für Gerüche. Hirsch und Elch und sogar Hasen waren schneller, Bären und Eber grimmiger im Kampf. Im Rudel hingegen waren Menschen gefährlich. Während sich die Wölfe der Beute näherten, hörte der Warg das Klagen eines Welpen; hörte, wie die Kruste des Schnees, der in der letzten Nacht gefallen war, unter ungeschickten Menschenpfoten brach, hörte das Rasseln der Harthäute und der langen grauen Klauen, wie Menschen sie trugen.
Schwerter, flüsterte eine Stimme in ihm, Speere.
Den Bäumen waren Zähne aus Eis gewachsen, und die kahlen braunen Äste fauchten. Einauge preschte durch das Unterholz und ließ Schnee aufspritzen. Sein Rudel folgte ihm. Es ging einen Hügel hinauf und auf der anderen Seite hinunter, bis sich der Wald öffnete und sie die Menschen vor sich hatten. Einer war ein Weibchen. Das Fellbündel, das sie umklammerte, war ihr Welpe. Heb sie bis zuletzt auf, flüsterte die Stimme, die Männchen sind die eigentliche Gefahr. Sie brüllten einander an, wie es Menschen eben taten, doch der Warg konnte ihre Angst riechen. Einer hatte einen Holzzahn, der so groß war wie er selbst. Den schleuderte er, aber seine Hand zitterte, und der Zahn flog zu hoch.
Dann fiel das Rudel über sie her.
Sein einäugiger Bruder stieß den Zahnschleuderer in eine Schneewehe und riss ihm im Fallen die Kehle heraus. Seine Schwester schlich sich hinter das andere Männchen und sprang ihm in den Rücken. Damit blieben das Weibchen und der Welpe für ihn.
Das Weibchen hatte ebenfalls einen Zahn, einen kleinen, der aus Knochen gemacht war, aber sie ließ ihn fallen, als sich die Kiefer des Wargs um ihr Bein schlossen. Als sie zu Boden ging, umschlang sie ihren lärmenden Welpen mit beiden Armen. Unter ihren Fellen war das Weibchen nur Haut und Knochen, doch ihre Zitzen waren voller Milch. Das süßeste Fleisch war am Welpen. Der Wolf hob die besten Stücke für seinen Bruder auf. Um die Leichen herum färbte sich der gefrorene Schnee rosa und rot, während sich das Rudel die Bäuche vollschlug.
Viele Meilen entfernt in einer kleinen Hütte aus Lehm und Stroh mit Reetdach, einem Rauchloch und einem Boden aus gestampfter Erde zitterte, hustete und leckte sich Varamyr die Lippen. Seine Augen waren rot, seine Lippen aufgesprungen, seine Kehle war trocken und ausgedörrt, dennoch füllte der Geschmack von Blut und Fett seinen Mund, auch wenn sein geschwollener Bauch nach Nahrung schrie. Kinderfleisch, dachte er und erinnerte sich an Kuller. Menschenfleisch. War er so tief gesunken, dass er jetzt schon nach dem Fleisch von Menschen gierte? Fast konnte er hören, wie Haggon ihn anknurrte. »Menschen essen vielleicht das Fleisch von Tieren und Tiere das Fleisch von Menschen, aber ein Mensch, der das Fleisch eines Menschen frisst, ist eine Abscheulichkeit.«
Abscheulichkeit. Das war immer Haggons Lieblingswort gewesen. Abscheulichkeit, Abscheulichkeit, Abscheulichkeit. Menschenfleisch zu essen war abscheulich, sich als Wolf mit Wölfen zu paaren war abscheulich, und sich des Körpers eines anderen Menschen zu bemächtigen war die größte Abscheulichkeit von allen. Haggon war schwach und hatte Angst vor seiner eigenen Macht. Er ist weinend und allein gestorben, als ich ihm sein zweites Leben entrissen habe. Varamyr selbst hatte sein Herz verschlungen. Er hat mir viel und noch viel mehr beigebracht, und das Letzte, was ich von ihm gelernt habe, war, wie Menschenfleisch schmeckt.
Das war allerdings als Wolf gewesen. Mit seinen menschlichen Zähnen hatte er Menschenfleisch noch nie angerührt. Dennoch missgönnte er seinem Rudel das Festmahl nicht. Die Wölfe waren so ausgehungert wie er selbst, mager und durchgefroren und hungrig, und ihre Beute ... zwei Männer, eine Frau und ein Säugling, die vor der Niederlage in den Tod flohen. Sie wären sowieso bald gestorben, durch den Hunger oder die Kälte. Auf diese Weise ging es besser, schneller. Eine Gnade.
»Eine Gnade«, sagte er laut. Seine Kehle war rau, trotzdem fühlte es sich gut an, eine menschliche Stimme zu hören, selbst wenn es nur die eigene war. Die Luft roch modrig und feucht, der Boden war kalt und hart, und das Feuer erzeugte mehr Rauch als Hitze. Er schob sich so nah an die Flammen heran, wie er nur wagte, hustete und zitterte abwechselnd, und seine Flanke pochte, wo die Wunde aufgegangen war. Seine Hose hatte sich bis zu den Knien mit Blut vollgesogen und trocknete zu einer harten braunen Kruste.
Distel hatte ihn davor gewarnt. »Ich habe sie so gut genäht wie ich kann«, hatte sie gesagt, »aber du musst dich ausruhen und die Wunde in Ruhe heilen lassen, sonst wird das Fleisch wieder aufreißen.«
Distel war seine letzte Gefährtin gewesen, eine Speerfrau, zäh wie eine alte Wurzel, warzig, vom Wind gegerbt und runzlig. Die anderen hatten sie unterwegs im Stich gelassen. Einer nach dem anderen ließen sie sich zurückfallen oder kämpften sich voran, strebten zu ihren alten Dörfern, zum Milchwasser oder nach Hartheim oder einem einsamen Tod in den Wäldern entgegen. Varamyr wusste es nicht, und es kümmerte ihn auch nicht. Ich hätte einen von ihnen nehmen sollen, als ich die Gelegenheit hatte. Einen der Zwillinge oder den großen Mann mit dem vernarbten Gesicht oder den Jungen mit dem roten Haar. Doch er hatte Angst gehabt. Einer der anderen hätte mitbekommen können, was da geschah. Dann hätten sie sich gegen ihn gewandt und ihn umgebracht. Und Haggons Worte hatten ihn verfolgt. So war die Gelegenheit ungenutzt verstrichen.
Nach der Schlacht hatten sich Tausende von ihnen durch den Wald geschleppt, hungrig, verängstigt und auf der Flucht vor dem Gemetzel, das an der Mauer über sie hereingebrochen war. Manche hatten darüber gesprochen, zu ihren verlassenen Häusern zurückzukehren, andere wollten sich für einen zweiten Angriff auf das Tor sammeln, doch die meisten irrten ziellos umher und wussten nicht, wohin sie gehen oder was sie tun sollten. Sie waren den Krähen in ihren schwarzen Röcken und den Rittern in ihrem grauen Stahl entgangen, doch nun wurden sie von unbarmherzigeren Feinden gejagt. Jeden Tag blieben mehr Leichen am Wegesrand zurück. Manche starben am Hunger, manche an der Kälte, manche an Krankheiten. Andere wurden von jenen erschlagen, die noch ihre Waffenbrüder gewesen waren, als sie mit Manke Rayder nach Süden gezogen waren, mit dem Königjenseits-der-Mauer. Manke ist gefallen, erzählten sich die Überlebenden verzweifelt, Manke ist in Gefangenschaft, Manke ist tot. »Harma ist tot und Manke gefangen genommen, die anderen sind davongelaufen und haben uns im Stich gelassen«, hatte Distel behauptet, während sie seine Wunde nähte. »Tormund, der Weiner, Sechsleib, all diese tapfere Räuber. Wo sind sie hin?«
Sie erkennt mich nicht, hatte Varamyr da begriffen, und warum sollte sie auch? Ohne seine Tiere sah er nicht aus wie ein großer Mann. Ich war Varamyr Sechsleib, der Brot mit Manke Rayder gebrochen hat. Den Namen Varamyr hatte er sich mit zehn selbst gegeben. Ein Name, eines Herrn würdig, ein Name für die Lieder, ein mächtiger Name, der Furcht erregt. Trotzdem war er vor den Krähen davongerannt wie ein verängstigtes Kaninchen. Der schreckliche Herr Varamyr war zum Feigling geworden, aber er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass die Speerfrau das erfuhr, deshalb hatte er sich ihr gegenüber Haggon genannt. Später hatte er sich gefragt, wie er ausgerechnet auf diesen Namen gekommen war, von all den Namen, die er hätte wählen können. Ich habe sein Herz gefressen und sein Blut getrunken, und dennoch sucht er mich weiter heim.
Eines Tages während der Flucht war ein Reiter auf einem weißen Pferd durch den Wald galoppiert gekommen und hatte geschrien, sie alle sollten zum Milchwasser kommen, wo der Weiner Krieger versammele, um die Schädelbrücke zu überqueren und den Schattenturm einzunehmen. Viele folgten ihm; die meisten nicht. Später ging ein Krieger in Fell und Bernstein von Feuer zu Feuer und beschwor die Überlebenden, nach Norden zu ziehen und Zuflucht im Tal der Thenns zu suchen. Warum er glaubte, dass sie dort in Sicherheit wären, wo doch die Thenns selbst längst von dort geflohen waren, erfuhr Varamyr nie, doch Hunderte folgten dem Mann. Hunderte andere gingen mit der Waldhexe, die eine Vision von einer Flotte Schiffe gehabt hatte, welche kommen würden, um das Freie Volk nach Süden zu bringen. »Wir müssen zum Meer aufbrechen«, rief Mutter Maulwurf, und ihre Gefolgsleute wandten sich nach Osten.
Varamyr hätte sich ihnen anschließen können, wenn er nur kräftiger gewesen wäre. Doch das Meer war grau und kalt und weit entfernt, und er wusste, dass er niemals lebend dort angekommen wäre. Neunmal war er gestorben und lag erneut im Sterben, doch diesmal würde es sein wahrer Tod sein. Ein Mantel aus Eichhörnchenfell, erinnerte er sich, er hat mir wegen eines Mantels aus Eichhörnchenfell das Messer in den Leib gerammt.
Dessen Besitzerin war tot gewesen, ihr Hinterkopf zerschmettert, blutiger Brei mit Knochenstücken, aber ihr Mantel sah warm und dick aus. Es schneite, und Varamyr hatte seine eigenen Mäntel an der Mauer verloren. Seine Schlaffelle und seine wollene Unterwäsche, seine Schaffell-Stiefel und seine pelzgesäumten Handschuhe, seinen Vorrat an Met und gehortetem Essen, die Haarsträhnen, die er von den Frauen genommen hatte, mit denen er das Bett geteilt hatte, sogar die goldenen Armreifen, die Manke ihm geschenkt hatte, alles hatte er verloren und zurückgelassen. Ich habe gebrannt und bin gestorben, und dann bin ich geflohen, halb verrückt vor Schmerz und Angst. Bei der Erinnerung daran schämte er sich immer noch, aber er war nicht allein gewesen. Andere waren ebenfalls geflohen, zu Hunderten und Tausenden. Die Schlacht war verloren. Die Ritter waren gekommen, und unbesiegbar in ihrem Stahl töteten sie jeden, der blieb, um sich ihnen zum Kampf entgegenzustellen. So hieß es fliehen oder sterben.
Doch dem Tod lief man nicht so leicht davon. Als Varamyr auf die tote Frau im Wald stieß, kniete er neben der Leiche, um ihr den Mantel abzunehmen, und er sah den Jungen nicht, bis er aus seinem Versteck sprang, und ihm das lange Knochenmesser in die Seite stieß und ihm den Mantel aus den zusammengekrallten Fingern riss. »Seine Mutter«, erklärte Distel ihm später, nachdem der Junge weggelaufen war. »Der Mantel gehörte seiner Mutter, und als er sah, wie du sie berauben wolltest ...«
»Sie war tot«, sagte Varamyr und zuckte zusammen, als ihre Knochennadel seine Haut durchbohrte. »Irgendwer hat ihr den Schädel eingeschlagen. Irgendeine Krähe.«
»Keine Krähe. Hornfüße. Ich habe es gesehen.« Mit der Nadel zog sie die Wunde in seiner Seite zusammen. »Wilde, und wer ist jetzt noch da, um sie zu zähmen?« Niemand. Wenn Manke tot ist, ist das Freie Volk dem Untergang geweiht. Die Thenns, die Riesen und die Hornfußmänner, die Höhlenbewohner mit ihren spitzgefeilten Zähnen, und die Menschen von der Westküste mit ihren Streitwagen aus Knochen ... alle waren dem Untergang geweiht. Sogar die Krähen. Sie wussten es vielleicht noch nicht, aber diese schwarzgekleideten Bastarde würden mit den anderen untergehen. Der Feind nahte.
Haggons heisere Stimme hallte in seinem Kopf wider. »Du wirst ein Dutzend Tode sterben, Junge, und jeder wird schmerzhaft sein ... Doch wenn dein wahrer Tod kommt, wirst du wieder leben. Das zweite Leben ist einfacher und süßer, heißt es.«
Varamyr Sechsleib würde schon bald erfahren, ob das stimmte. Er schmeckte seinen wahren Tod im Rauch, der beißend in der Luft hing, und fühlte ihn in der Hitze unter seinen Fingern, wenn er die Hand unter den Stoff schob und seine Wunde berührte. Auch die Kälte war in ihn hineingekrochen, tief in seine Knochen. Diesmal würde es die Kälte sein, die ihn tötete.
Das letzte Mal war er durch Feuer gestorben. Ich bin verbrannt. Zunächst hatte er in seiner Verwirrung gedacht, ein Bogenschütze auf der Mauer habe ihn mit einem Brandpfeil durchbohrt ... Doch das Feuer hatte in ihm gelodert und ihn verzehrt. Und der Schmerz ...
Varamyr war schon neunmal gestorben. Einmal durch einen Speerstoß, einmal durch Bärenzähne in seiner Kehle und einmal in einem Schwall Blut, als er eine Totgeburt zur Welt gebracht hatte. Zum ersten Mal war er mit nur sechs Jahren gestorben, als die Axt seines Vaters seinen Schädel zertrümmerte. Doch selbst das war nicht so schmerzhaft gewesen wie das Feuer in den Eingeweiden, das prasselnd an seinen Flügeln entlanggekrochen war und ihn verschlungen hatte. Als er versucht hatte, vor dem Feuer davonzufliegen, hatte seine Angst die Flammen angefacht und sie noch heißer brennen lassen. Im einen Augenblick schwebte er noch über der Mauer und beobachtete mit seinen Adleraugen die Bewegungen der Männer unten. Im nächsten hatten die Flammen sein Herz in schwarze Kohle verwandelt und seinen Geist schreiend zurück in seinen eigenen Leib geschickt, und für eine kleine Weile war er dem Wahnsinn verfallen. Allein die Erinnerung daran, ließ ihn schaudern.
Das war der Augenblick, da er bemerkte, dass sein Feuer erloschen war.
Nur ein grauschwarzes Gewirr aus verkohltem Holz war geblieben, und in der Asche fand sich noch ein wenig Glut. Es raucht noch, es braucht nur Holz. Varamyr biss die Zähne zusammen, um sich gegen den Schmerz zu wappnen, kroch zu dem Haufen abgebrochener Äste, den Distel gesammelt hatte, ehe sie zur Jagd aufgebrochen war und warf einige Stöcke auf die Asche. »Na los«, krächzte er. »Brenne.« Er blies in die Glut und sprach ein wortloses Gebet zu den namenlosen Göttern von Wald und Berg und Feld.
Die Götter ließen sich nicht zu einer Antwort herab. Nach einer Weile stieg auch kein Rauch mehr auf. Langsam hielt die Kälte Einzug in die kleine Hütte. Varamyr hatte weder Feuerstein noch Zunder oder trockenes Anmachholz. Er würde das Feuer nicht mehr in Gang bringen können, nicht ohne Hilfe jedenfalls. »Distel«, rief er, heiser und mit Schmerz in der Stimme. »Distel!«
Ihr Kinn war spitz und ihre Nase flach, und sie hatte auf der Wange ein Muttermal, aus dem vier dunkle Haare sprossen. Ein hässliches Gesicht, hart dazu, und doch hätte er viel darum gegeben, es jetzt in der Tür der Hütte auftauchen zu sehen. Ich hätte sie nehmen sollen, ehe sie ging. Wie lange war sie schon fort? Zwei Tage? Drei? Varamyr war sich nicht sicher. In der Hütte war es dunkel, und er war immer wieder eingeschlafen. Dabei wusste er nie genau, ob draußen Tag war oder Nacht. »Warte«, hatte sie gesagt. »Ich komme mit Essen zurück.« Und wie ein Narr hatte er gewartet, von Haggon und Kuller geträumt und von all dem Unrecht, das er in seinem langen Leben begangen hatte, doch Tage und Nächte zogen dahin, und Distel kehrte nicht zurück. Sie kommt nicht wieder. Varamyr fragte sich, ob er sich irgendwie verraten hatte. Konnte sie seine Gedanken erraten, indem sie ihn einfach nur ansah, oder hatte er in seinen Fieberträumen gesprochen?
Abscheulichkeit, hörte er Haggon sagen. Es war beinahe, als wäre er hier in diesem Raum. »Sie ist nur eine hässliche Speerfrau«, sagte Varamyr sich. »Ich bin ein großer Mann. Ich bin Varamyr, der Warg, der Leibwechsler; es ist nicht recht, dass sie lebt und ich sterbe.« Niemand antwortete. Es war niemand da. Distel war fort. Sie hatte ihn verlassen, so wie alle anderen auch.
Sogar seine Mutter hatte ihn verlassen. Sie hat um Kuller geweint, aber nicht um mich. An dem Morgen, an dem sein Vater ihn aus dem Bett zerrte, um ihn Haggon zu übergeben, hatte sie ihn nicht einmal angesehen. Er hatte geschrien und um sich getreten, als man ihn in den Wald schleppte, bis sein Vater ihm eine Ohrfeige gegeben und ihm befohlen hatte, still zu sein. »Du gehörst zu deinesgleichen«, sagte er nur, als er ihn Haggon vor die Füße warf.
Er hatte nicht Unrecht, dachte Varamyr zitternd. Haggon hat mir viel und noch viel mehr beigebracht. Er hat mir gezeigt, wie man jagt und fischt, wie man einen Kadaver zerlegt und einen Fisch entgrätet, wie ich mich im Wald zurechtfinde. Und er hat mich gelehrt, was es heißt, ein Warg zu sein, hat mich in die Geheimnisse der Leibwechsler eingeführt, obwohl die Gabe in mir viel stärker war als in ihm.
Jahre später hatte er versucht, seine Eltern zu finden, um ihnen zu sagen, dass er, Kugel, ihr Sohn, der große Varamyr Sechsleib geworden war, doch beide waren tot und verbrannt. In die Bäume und in die Bäche gegangen, in die Felsen und in die Erde. Zu Staub und Asche. Das hatte die Waldhexe zu seiner Mutter gesagt, an dem Tag, als Kuller gestorben war. Kugel wollte nicht zu einem Klumpen Erde werden. Der Junge hatte von einem Tag geträumt, an dem die Barden von seinen Taten sangen und ihm schöne Mädchen Küsse schenkten. Wenn ich groß bin, werde ich König-jenseits-der-Mauer, hatte sich Kugel geschworen. Das war ihm nicht gelungen, aber viel hatte nicht gefehlt. Varamyr Sechsleib war ein Name, den die Menschen fürchteten. Er ritt auf dem Rücken einer Schneebärin von vier Metern Höhe in die Schlacht, hatte sich drei Wölfe und eine Schattenkatze unterworfen und saß zur Rechten Manke Rayders. Wegen Manke liege ich jetzt hier. Ich hätte nicht auf ihn hören sollen. Ich hätte in meine Bärin schlüpfen und ihn in Stücke reißen sollen.
Vor Manke war Varamyr Sechsleib eine Art Herrscher gewesen. Er hatte allein unter seinen Tieren in einer Halle aus Moos und Schlamm und behauenen Baumstämmen gelebt, die zuvor Haggon gehört hatte. Ein Dutzend Dörfer huldigten ihm und gaben ihm Brot und Salz und Apfelwein oder brachten ihm Obst aus ihren Hainen und Gemüse aus den Gärten dar. Sein Fleisch verschaffte er sich selbst. Wann immer er eine Frau begehrte, schickte er seine Schattenkatze aus, um sich an sie heranzuschleichen, und auf welches Mädchen er auch den Blick warf, es folgte ihm widerstandslos in sein Bett. Manche weinten wohl, aber sie kamen dennoch. Varamyr schenkte ihnen seinen Samen, nahm eine Strähne von ihrem Haar, um ein Andenken an sie zu haben, und schickte sie zurück. Von Zeit zu Zeit tauchte ein tapferer Dorfheld mit dem Speer in der Hand bei ihm auf, um den Tierling zu erschlagen und seine Schwester oder Geliebte oder Tochter zu retten. Diese Kerle tötete er, doch den Frauen krümmte er kein Haar. Manche segnete er sogar mit Kindern. Kümmerlinge. Kleine, schwächliche Wesen wie Kugel, und keines hat die Gabe geerbt.
Die Furcht trieb ihn schwankend auf die Beine. Varamyr hielt sich die Seite, um den Blutfluss aus seiner Wunde aufzuhalten, schleppte sich zur Tür und zog das alte Fell zur Seite. Dahinter erhob sich eine weiße Wand. Schnee. Kein Wunder, dass es drinnen so dunkel und rauchig gewesen war. Der Schnee hatte die Hütte unter sich begraben.
Als Varamyr dagegendrückte, zerbröckelte der weiche, nasse Schnee und gab den Blick frei. Draußen war die Nacht so weiß wie der Tod; bleiche, dünne Wolken warteten tanzend dem silbernen Mond auf, während tausend Sterne kalt zuschauten. Er sah die buckligen Formen anderer Hütten, die unter Schneewehen verschwunden waren, und dahinter den bleichen Schatten eines Wehrholzbaumes, der mit Eis gepanzert war. Im Süden und Westen bildeten die Hügel eine weite weiße Wildnis, wo sich außer dem Schneegestöber nichts bewegte. »Distel«, rief Varamyr schwach und fragte sich, wie weit sie gegangen sein konnte. »Distel. Weib. Wo bist du?«
In der Ferne heulte ein Wolf.
Ein Schauer durchlief Varamyr. Dieses Heulen war ihm so vertraut, wie Kugel einst die Stimme seiner Mutter vertraut gewesen war. Einauge. Er war der älteste der drei, der größte, der wildeste. Pirscher war schlanker, schneller, jünger, Listig dagegen war verschlagener, aber beide hatten Angst vor Einauge. Der alte Wolf war furchtlos, gnadenlos und brutal.
Varamyr hatte in der Pein, die der Tod des Adlers ausgelöst hatte, die Gewalt über seine anderen Tiere verloren. Seine Schattenkatze war in den Wald gerannt, seine Schneebärin hatte sich gegen die Menschen in ihrer Umgebung gewandt und vier Männer in Stücke gerissen, ehe ein Speer sie gefällt hatte. Sie hätte auch Varamyr getötet, wenn er in ihre Nähe gekommen wäre. Die Bärin hatte ihn gehasst und jedes Mal getobt, wenn er in ihren Leib geschlüpft oder auf ihren Rücken geklettert war.
Seine Wölfe hingegen ...
Meine Brüder. Mein Rudel. In vielen kalten Nächten hatte er bei seinen Wölfen geschlafen, hatte sich, umgeben von ihren zotteligen Leibern warm gehalten. Wenn ich sterbe, werden sie sich an meinem Fleisch gütlich tun und nur Knochen übriglassen, die dann im Frühling die Schneeschmelze begrüßen. Der Gedanke hatte etwas eigenartig Tröstliches an sich. Seine Wölfe hatten ihn auf ihren Streifzügen oft mitversorgt, daher erschien es ihm nur angemessen, wenn er ihnen am Ende als Nahrung diente. Vielleicht würde er sein zweites Leben damit beginnen, dass er das warme tote Fleisch von seiner eigenen Leiche riss.
Hunde waren die Tiere, die man am leichtesten an sich binden konnte; sie lebten so eng mit Menschen zusammen, sie hatten fast schon menschliche Züge. In den Leib eines Hundes zu schlüpfen war, als würde man einen alten Stiefel anziehen, dessen Leder vom Tragen weich geworden war. Und wie ein Stiefel für den Fuß gefertigt wurde, so war ein Hund für das Halsband geschaffen, sogar für ein Halsband, das ein menschliches Auge nicht sehen konnte. Wölfe waren schwieriger. Mit einem Wolf konnte ein Mensch sich anfreunden, ja, er konnte sogar den Willen eines Wolfes brechen, aber niemand konnte einen Wolf wirklich zähmen. »Wölfe und Frauen binden sich für das ganze Leben«, hatte Haggon oft gesagt. »Wenn du einen nimmst, ist das wie eine Heirat. Der Wolf wird von dem Tag an ein Teil von dir, und du ein Teil von ihm. Ihr werdet euch beide verändern.«
Andere Tiere ließ man besser in Ruhe, hatte der Jäger erklärt. Katzen waren eitel und grausam und stets bereit, sich gegen einen zu wenden. Elch und Hirsch waren Beute; wenn man ihre Leiber zu lange trug, wurde selbst der tapferste Mann zum Feigling. Bären, Keiler, Dachse, Wiesel ... Haggon hatte nicht viel von ihnen gehalten. »In manche Leiber möchte man einfach nicht schlüpfen, Junge. Es wird dir nicht gefallen, was dann aus dir wird.« Vögel waren am schlimmsten, konnte man von ihm hören. »Menschen ist es nicht bestimmt, den Erdboden zu verlassen. Verbringe zu viel Zeit in den Wolken, und du willst nicht mehr herunterkommen. Ich kenne Leibwechsler, die es mit Falken, Eulen, Raben versucht haben. Selbst in ihrem eigenen Leib sitzen sie nur verträumt da und starren hinauf ins verdammte Blau.«
Wie auch immer, nicht allen Leibwechslern erging es so. Einmal, als Kugel zehn war, hatte Haggon ihn zu einer Leibwechsler-Versammlung mitgenommen. Die Warge, die Wolfsbrüder, waren die zahlreichsten in der Runde, doch der Junge hatte die anderen fremdartiger und faszinierender gefunden. Borroq ähnelte seinem Keiler so sehr, ihm fehlten nur noch die Hauer, Orell hatte seinen Adler, Dornros ihre Schattenkatze (in dem Moment, in dem er sie sah, wollte Kugel seine eigene Schattenkatze), Grisella ihre Ziege ...
Doch keiner von ihnen war so mächtig gewesen wie Varamyr Sechsleib, nicht einmal der große, grimmige Haggon mit seinen Händen, hart wie Stein. Der Jäger starb weinend, nachdem Varamyr ihm Graufell genommen und ihn aus dem Tier vertrieben hatte, um es selbst zu besitzen. Kein zweites Leben für dich, alter Mann. Varamyr Dreileib nannte er sich damals noch. Mit Graufell waren es vier, obwohl der alte Wolf gebrechlich und beinahe zahnlos war und Haggon bald in den Tod folgte.
Varamyr konnte sich jedes Tier nehmen, das er wollte, es seinem Willen unterwerfen und sein Fleisch zu seinem eigenen machen. Hund oder Wolf, Bär oder Dachs ...
Distel, dachte er.
Haggon hätte es Abscheulichkeit genannt, als schwärzeste Sünde überhaupt bezeichnet, doch Haggon war tot, verschlungen und verbrannt. Manke hätte ihn ebenfalls verflucht, aber Manke war erschlagen worden oder in Gefangenschaft geraten. Niemand wird es je erfahren. Ich werde Distel, die Speerfrau sein, und Varamyr Sechsleib wird tot sein. Seine Gabe würde mit seinem Körper sterben, glaubte er. Er würde seine Wölfe verlieren und den Rest seiner Tage als dürres, warziges Weib verbringen ... doch er würde leben. Wenn sie zurückkommt. Wenn ich dann noch stark genug bin, um sie zu nehmen.
Schwindel schlug wie eine Woge über Varamyr zusammen. Er fand sich auf den Knien wieder, und seine Hände steckten in einer Schneewehe. Er nahm eine Hand voll Schnee und stopfte sich den Mund voll, rieb ihn sich in den Bart und auf die trockenen Lippen, saugte die Feuchtigkeit in sich hinein. Das Wasser war so kalt, dass er sich kaum überwinden konnte, es zu schlucken, und wieder fiel ihm auf, wie heiß sein Körper war.
Der geschmolzene Schnee verstärkte den Hunger. Sein Bauch verlangte nach Essen, nicht nach Wasser. Es hatte aufgehört zu schneien, doch der Wind nahm zu und blies Kristalle in die Luft, die ihm ins Gesicht stachen, als er sich durch die Wehen kämpfte. Die Wunde in seiner Flanke öffnete und schloss sich wieder. Sein Atem bildete eine weiße Wolke. Als er den Wehrholzbaum erreichte, fand er einen abgebrochenen Ast, der gerade lang genug war, um ihm als Krücke zu dienen. Er stützte sich schwer darauf und wankte weiter zu der Hütte, die ihm am nächsten war. Vielleicht hatten die Dorfbewohner bei der Flucht etwas zurückgelassen ... einen Sack Äpfel, etwas Dörrfleisch, irgendetwas, das ihn am Leben hielt, bis Distel zurückkehrte.
Er hatte die Hütte beinahe erreicht, als die Krücke unter dem Gewicht brach und die Beine unter seinem Körper einknickten.
Wie lange er da lag und sein Blut den Schnee rötete, hätte Varamyr nicht sagen können. Der Schnee wird mich begraben. Das wäre ein friedlicher Tod. Warm, so heißt es, wird es einem am Ende, warm, und schläfrig fühlt man sich. Es wäre schön, sich wieder warm zu fühlen, obwohl es ihn mit Traurigkeit erfüllte, dass er das grüne Land wohl doch nicht sehen würde, das warme Land jenseits der Mauer, von dem Manke gesungen hatte. »Die Welt jenseits der Mauer ist nicht für unsereins bestimmt«, pflegte Haggon zu sagen. »Das Freie Volk fürchtet die Leibwechsler, doch es verehrt uns auch. Südlich der Mauer werden die Knienden uns jagen und abschlachten wie Schweine.«
Du hast mich gewarnt, dachte Varamyr, aber du warst es auch, der mir Ostwacht gezeigt hat. Er war damals kaum älter als zehn gewesen. Haggon hatte ein Dutzend Bernsteinketten und einen mit Fellen vollgepackten Schlitten gegen sechs Schläuche Wein, einen Block Salz und einen Kupferkessel getauscht. Ostwacht war ein besserer Ort zum Handeln als die Schwarze Festung; dort landeten die Schiffe an, die beladen waren mit den Waren aus den sagenhaften Ländern jenseits des Meeres. Die Krähen kannten Haggon als Jäger und Freund der Nachtwache, und immer warteten sie gespannt auf die Neuigkeiten, die er vom Leben jenseits ihrer Mauer brachte. Manche wussten sogar, dass er ein Leibwechsler war, aber niemand verlor je auch nur ein Wort darüber. Dort in Ostwacht an der See hatte der Junge zum ersten Mal vom warmen Süden geträumt.
Varamyr fühlte, wie die Schneeflocken auf seiner Stirn schmolzen. Das ist nicht so schrecklich wie Verbrennen. Lasst mich einschlafen und nicht mehr aufwachen, lasst mich mein zweites Leben beginnen. Seine Wölfe waren jetzt in der Nähe. Er konnte sie spüren. Dieses schwache Fleisch würde er zurücklassen und zu einem von ihnen werden, durch die Nacht jagen und den Mond anheulen. Der Warg würde zu einem echten Wolf werden. Aber zu welchem?
Nicht Listig. Haggon hätte es als Abscheulichkeit bezeichnet, doch Varamyr war häufig in sie hineingeschlüpft, wenn Einauge sie bestieg. Allerdings wollte er sein nächstes Leben nicht als Fähe führen, nicht, solange er eine andere Wahl hatte. Pirscher wäre besser geeignet, der junge Rüde ... Einauge hingegen war größer und wilder, und es war immer Einauge, der Listig bestieg, wenn sie läufig war.
»Es heißt, man vergisst«, hatte Haggon ihm wenige Wochen vor seinem eigenen Tod erzählt. »Wenn das Fleisch des Menschen stirbt, lebt sein Geist im Tier weiter, doch mit jedem Tag wird die Erinnerung schwächer, und das Tier wird immer weniger Warg und immer mehr Tier, bis nichts mehr von dem Menschen übrig ist und nur das Tier übrig bleibt.«
Varamyr wusste, das dies stimmte. Als er den Adler übernahm, der Orell gehört hatte, spürte er den Zorn des anderen Leibwechslers über seine Gegenwart. Orell war von der abtrünnigen Krähe Jon Schnee erschlagen worden, und sein Hass auf den, der ihn getötet hatte, war so stark, dass selbst Varamyr den jungen Tierling verabscheute. Was Schnee war, hatte er gleich in dem Augenblick erkannt, in dem er den großen weißen Schattenwolf still an seiner Seite laufen sah. Ein Leibwechsler konnte stets einen anderen spüren. Manke hätte mir den Schattenwolf zugestehen sollen. Der wäre sogar würdig, einem König als Leib für das zweite Leben zu dienen. Er hätte es tun können, daran hegte Varamyr keinen Zweifel. Die Gabe war stark in Schnee, ...
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012
by Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von George R. R. Martin
George Raymond Richard Martin wurde 1948 in New Jersey geboren. Sein Bestseller-Epos »Das Lied von Eis und Feuer« wurde als die vielfach ausgezeichnete Fernsehserie »Game of Thrones« verfilmt. 2022 folgt der HBO-Blockbuster »House of the Dragon«, welcher auf dem Werk »Feuer und Blut« basiert. George R.R. Martin wurde u.a. sechsmal der Hugo Award, zweimal der Nebula Award, dreimal der World Fantasy Award (u.a. für sein Lebenswerk und besondere Verdienste um die Fantasy) und fünfzehnmal der Locus Award verliehen. 2013 errang er den ersten Platz beim Deutschen Phantastik Preis für den Besten Internationalen Roman. Er lebt heute mit seiner Frau in New Mexico.
Bibliographische Angaben
- Autor: George R. R. Martin
- 2012, Deutsche Erstausgabe, 848 Seiten, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzer: Andreas Helweg
- Verlag: Penhaligon
- ISBN-10: 3764531045
- ISBN-13: 9783764531041
- Erscheinungsdatum: 21.05.2012
Rezension zu „Der Sohn des Greifen / Das Lied von Eis und Feuer Bd.9 “
"Wer sich auch verzaubern lassen will, sollte unbedingt die Bücher lesen - alle zehn Bände!"
Pressezitat
"Das Lied von Eis und Feuer feiert die literarische Autonomie mit einem großen Fest des Erzählens." FAZ
Kommentar zu "Der Sohn des Greifen / Das Lied von Eis und Feuer Bd.9"
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