Der stille Sammler
Thriller
Sommer für Sommer tötete und verstümmelte er Mädchen entlang der Route 66. Acht Jahre lang. Brigid Quinn suchte verzweifelt und vergeblich nach ihm.
Jetzt ist sie pensioniert und Laura Coleman leitet die Ermittlung gegen Floyd Lynch,...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der stille Sammler “
Sommer für Sommer tötete und verstümmelte er Mädchen entlang der Route 66. Acht Jahre lang. Brigid Quinn suchte verzweifelt und vergeblich nach ihm.
Jetzt ist sie pensioniert und Laura Coleman leitet die Ermittlung gegen Floyd Lynch, der die Morde gestanden hat. Doch Laura hat Zweifel und weiht Brigid ein. Kurz darauf ist sie verschwunden.
Klappentext zu „Der stille Sammler “
DAS BÖSE HAT VIELE GESICHTER. BRIGID QUINN KENNT SIE ALLE.Als Brigid Quinn an den Leichenfundort in der Wüste Arizonas gerufen wird, erkennt die ehemalige FBI-Agentin sofort die Handschrift des Route-66-Killers: Floyd Lynch, der die Polizei zu den beiden Toten geführt hat, scheint jener Serienkiller zu sein, den Brigid viele Jahre vergeblich gejagt hat. Doch irgendetwas stimmt nicht, das spürt auch Laura Coleman, die nun die Ermittlungen im Fall Lynch leitet. Verzweifelt, weil niemand ihre Bedenken teilt, vertraut sie sich Brigid an - und ist kurz darauf spurlos verschwunden ...
"Ich bin komplett begeistert. (...) Brigid Quinn ist eine großartige Heldin, und Masterman schreibt wie ein Engel. Aber ein Engel, der eindeutig zu viel Unheil gesehen hat." Linwood Barclay
"Ein Thriller von Format. Handwerklich gut gemacht und mit hohem Tempo erzählt die Autorin eine Serienkiller-Story auf ihre ganz eigene Art, die ganz auf die ungewöhnliche Protagonistin zugeschnitten ist." Jürgen Priester, Krimi-Couch.de
"Dieser schonungslose Thriller fesselt, fordert, ekelt und lässt in menschliche Abgründe blicken, ohne dabei gewollt oder platt zu sein." Delmenhorster Kreisblatt, Maren Hinrichs
"In einem dramatischen Showdown werden Recht und Moral auf eine harte Probe gestellt. Flott geschriebene und spannende Unterhaltung." Hessische Allgemeine
Lese-Probe zu „Der stille Sammler “
Der stille Sammler von Becky MastermanProlog
Gerald Peasil saß in seinem Van auf der Golder Ranch Road Bridge und begutachtete seine nächste Freundin, während der Motor leise im Leerlauf brummte. Sein Ellbogen lehnte im offenen Fenster, das Gesicht auf dem Unterarm. Das Gefühl, wie seine Lippen leicht auf den Härchen hin und her glitten, erregte ihn, ebenso der salzig-saure Geruch seiner Haut. Er hatte es nicht eilig, sich der Braut vorzustellen. Die Vorfreude auf das Kennenlernen war Teil des Nervenkitzels.
Die kleine Frau stocherte zwischen den Felsen im ausgetrockneten Flussbett herum. Sie war zu beschäftigt, als dass sie Gerald bemerkt hätte. Er betrachtete sie. Das Foto der Braut war vielversprechender gewesen: Ein paar graue Haarsträhnen lugten unter ihrem khakifarbenen Hut aus Segeltuch hervor, und sie stützte sich auf einen Gehstock, wenn sie sich nach vorn beugte, um einen Stein zu untersuchen. Aber sie war schlank und zierlich und hielt sich so gerade, dass sie fast noch als scharf durchgegangen wäre.
... mehr
Die Vorstellung einer scharfen Oma machte Gerald ein bisschen Angst, aber egal. Wahrscheinlich war es eine halbe Ewigkeit her, seit jemand der Tussi Aufmerksamkeit geschenkt hatte, und über die Zuwendung eines jüngeren Mannes würde sie sich ganz sicher freuen. Gerald schob die freie Hand unter seine dünne Nylon-Trainingsshorts, spielte an sich herum und dachte an seine Mutter. Sie hatte ihn immer hart angefasst, um ihn davon abzubringen, an sich herumzufummeln - bis er groß und stark genug gewesen war, um Mom ihre teure Amway-Bratpfanne vor den Busen zu schmettern. Dad fand das lustig und hatte ihn bloß ermahnt, sich einen Gegner zu suchen, der so groß war wie er selbst. Jedenfalls, von da an war es gefährlich, Gerald zu sagen, er solle nicht an sich herumspielen. Wer diesen Fehler beging, lief Gefahr, die eigenen Zähne zu schlucken.
Gerald ließ den Van langsam von der Brücke rollen und bog nach links ab, den steilen Hügel hinunter bis zur Böschung über dem trockenen Flussbett. Wieder hielt er an und blickte die weite sandige Fläche hinauf und hinunter.
Die Augustsonne brannte vom Himmel, aber es war keine trockene Hitze. Stattdessen zeigte der Boden die Farbe von nassem Beton. In den Tagen zuvor hatte der Sommermonsun heftige Unwetter auf die Wüste niedergehen lassen, und im staubigen Sand waren dunkle Rinnsale, wo der Untergrund mit Regenwasser gesättigt war. Wenn in den Catalina Mountains, dem Quellgebiet, noch so ein Unwetter tobte wie letzte Nacht, würde der Fluss sich in einen reißenden Strom verwandeln.
Doch im Augenblick konnte man durch das trockene Flussbett laufen, so wie die geile Alte jetzt. Während Gerald sie beobachtete, verschwand sie aus seinem Blickfeld. Er machte sich deshalb keine Gedanken. Schließlich konnte die Frau ihn auch nicht sehen, und das verschaffte ihm alle Zeit, sich zu überlegen, was er als Nächstes tun sollte. Und danach, und danach.
Und danach.
Gerald ließ den Wagen weiterrollen und bog auf den unbefestigten Weg ein, der bis ganz hinunter zum Fluss führte. Er hielt genau dort, wo der feste Untergrund endete und der weiche Flusssand begann. Dann wendete er den Van, indem er dreimal vor- und zurücksetzte, bis er in Richtung Hügel schauen konnte und die Hecktüren des Vans zum Fluss zeigten, was das Beladen vereinfachte. Außerdem konnte er einen schnellen Abgang machen, sollten er und die Braut unerwartet Gesellschaft bekommen.
Gerald zerbrach sich nicht den Kopf darüber, ob die Frau den Motor hörte oder nicht. Ein zweiter unbefestigter Fahrweg am Flussufer zeigte ihm, dass hin und wieder andere Fahrzeuge hier entlangfuhren, also würde die Frau beim Geräusch seines Wagens bestimmt nicht erschrecken. Wahrscheinlich war sie ohnehin schwerhörig. Bei diesem Gedanken stieß Gerald ein leises belustigtes Schnaufen aus.
Er riss den Handbremshebel hoch, stieg aus und überprüfte, ob der blaue Plastik-Duschvorhang ordentlich im Heck ausgebreitet lag und die Fesselbänder leicht erreichbar waren. Eine Zange war aus ihrem Fach in der Seitenwand gerutscht. Gerald legte sie zurück. Ein Platz für jedes Ding, und jedes Ding an seinen Platz.
Als er mit den Vorbereitungen fertig war, zog er eine Rolle Gewebeband aus einer kleinen Kiste und riss ein zwanzig Zentimeter langes Stück ab, das er sich auf die Vorderseite seines ärmellosen T-Shirts klebte, sodass es griffbereit war, wenn er es brauchte. Dann schloss er die Hecktüren des Vans bis auf einen kleinen Spalt.
Er schaute sich ein letztes Mal um und ließ den Blick prüfend über beide Ufer des trockenen Flussbetts schweifen. Alles paletti. Ein paar Fertighäuser am Hang, sonst nichts. Eine absolut geile Stelle, wie aus einem maßgefertigten feuchten Traum. Kein großes Tamtam, wie es sonst manchmal nötig war, um eine Braut in den Van zu bugsieren. Gerald befingerte das rechteckige Stück Folie, das er an einer Schnur um den Hals trug, und schob es unter sein T-Shirt.
Seine Flipflops rutschten weg, als er auf dem feinen Kies der Böschung zum Flussbett hinunterstieg, aber er fing sich. Er schob sich eine fettige Haarsträhne hinters Ohr und zog seine Sachen noch einmal glatt, bis er sich ansehnlich genug fühlte, um sich seinem Date zu nähern.
Die Frau schien ihn nicht zu bemerken, während sie mit ihren dicken Gartenhandschuhen einen Stein nach dem anderen hoch hob, umdrehte, musterte und entweder wegwarf oder in einen staubigen olivgrünen Rucksack packte, der auf einem Felsblock lag. Es war ein gutes Zeichen, dass sie ihn ignorierte. Wenn sie einen nicht anschauten, hatten sie meistens Angst. Und Angst war immer ein gutes Zeichen.
Gerald beobachtete, wie sie sich vornüberbeugte und mit nur einer Hand einen Stein aufhob, der gut und gerne zweieinhalb Kilo wog. Sie machte sogar ein paar Armbeugen damit. Hm, vielleicht war sie doch nicht so alt?
Dann war er nahe genug heran, dass er es sehen konnte. Ja, sie war die, nach der er gesucht hatte, und sie war reif. Nettes Gesicht - gezeichnet von der Trockenheit der Wüste, aber nicht runzlig, sondern weich und ebenmäßig. Gerald sog unwillkürlich die Luft ein, als er sich vorstellte, mit der Zunge die Linien dieses Gesichts nachzuziehen. Sommersprossen bedeckten jenen Teil ihres Dekolletees, der über dem Halsausschnitt des T-Shirts zu sehen war. Sie wirkte so zierlich, so zart, dass er sich fragte, ob ihre Hüftknochen vielleicht schon brachen, wenn er ihr die Beine spreizte. Bei dem Gedanken an berstende Knochen bekam er einen gewaltigen Ständer.
Die Frau nahm ihren Hut ab und wischte sich übers Gesicht. Die Haare, die von der Brücke aus grau ausgesehen hatten, leuchteten weiß im Licht der Morgensonne.
Die Reflexion des Sonnenlichts rief Gerald in Erinnerung, wie verdammt heiß es war. Vierzig Grad mindestens, vielleicht noch mehr. Und schwüler als gewöhnlich. Man konnte beinahe spüren, wie der Dampf aus dem feuchten Sand aufstieg. Sein Schädel juckte, und er kratzte sich die Kopfhaut, pulte dann die weißen fettigen Schuppen unter den Fingernägeln hervor, während er sich seinen Weg über den Sand des Flussbetts suchte, der in der Hitze rasch härter wurde.
Ein Rinnsal aus Schweiß lief an den Innenseiten seiner Oberschenkel hinunter, passend zum feuchten Schimmer auf der Haut der Frau, wo der Halsausschnitt ihres T-Shirts ein V zwischen den weichen Polstern ihrer Brüste bildete. Zehn Grad weniger hätten die Sache viel angenehmer gemacht. Die meisten Kollegen, die Geralds Vorlieben teilten, verrichteten ihre Arbeit nachts, doch wenn man auf ältere Damen stand, musste man die Gelegenheit beim Schopf packen, wo immer sie sich bot, denn die meisten von ihnen standen mit den Hühnern auf und gingen bei Einbruch der Dunkelheit ins Bett.
Für einen Moment rissen Geralds Erinnerungen ihn fort von diesem Flussbett, an andere Orte und zu anderen Bräuten. Als er dann abrupt ins Hier und Jetzt zurückkehrte, stellte er zu seinem Erstaunen fest, dass die Frau ihn betrachtete. Kein freundliches »Hi«, kein Lächeln, nur ein kühles Mustern, mit unbewegtem Blick. Die Hand, die den Stein hielt, war in der Bewegung erstarrt.
Sie stand so regungslos da, dass es Gerald beinahe unheimlich wurde. Eine Zeit lang spielte er sogar mit dem Gedanken, die ganze Sache abzublasen. Dann aber rief er sich in Erinnerung, dass hier mehr auf dem Spiel stand als bloße Befriedigung.
»Tagchen!«, sagte er zu der Braut. Er verspürte den beinahe unerträglichen Drang, an seinen Eiern herumzuspielen, aber er wusste natürlich, dass so etwas auf eine neue Bekanntschaft ziemlich abstoßend wirken konnte.
»Hallo«, sagte sie. Der Klang ihrer Stimme ließ seinen Penis wieder anschwellen. Es war eine eigenartige Stimme, nicht hoch und dünn wie bei den meisten alten Wachteln, sondern klangvoll und kräftig. Sie starrte auf seinen Schritt und bemerkte seine Latte, die sich durch die Shorts abzeichnete. Zu seinem Entzücken sah Gerald, wie sie den Kopf hochriss und leicht zu zittern anfing.
Wie geil, dachte er. Wer weiß, wie lange sie keinen Ständer mehr gesehen hat. Vielleicht ist sie selbst ganz scharf, das alte Luder.
»Alles klar hier unten?«, fragte er und scharrte lässig mit den Gummisohlen seiner Flipflops im Sand, um zu zeigen, dass er völlig entspannt war. Die Frau musste wieder ruhiger werden, bis er nahe genug an sie herankam. Nur keine Panik.
Ihre Blicke huschten verstohlen an ihm vorbei - rechts, links, wieder rechts - und suchten mit der verzweifelten Inbrunst eines Gebets die Mesquitebäume an den Ufern des Flussbetts ab. Sie setzte zum Reden an, hustete und sagte krächzend: »Ja, danke.« Nervös scharrte sie mit dem Gehstock im Sand.
»Verdammt heiß heute, was? Und obendrein ist Mittag«, sagte Gerald. »Sie könnten dehydriert sein, bevor Sie's merken, und niemand ist in der Nähe.« Mit diesen Worten machte er einen weiteren Schritt vor, nicht direkt auf sie zu, sondern ein wenig nach rechts - wie ein Kojote, der leicht zur Seite weicht, während sein Instinkt daran arbeitet, wie er sich seiner Beute am besten nähern kann.
Die Braut bestritt gar nicht erst, dass sie allein war. »Ich habe Wasser dabei«, sagte sie und deutete auf den Rucksack, der auf dem Felsblock lag. Als sie ein Motorgeräusch hörte, drehte sie den Kopf und schaute zur Brücke und auf das einsame Auto, das darüberfuhr. Mit einem flehenden Ausdruck blickte sie dem Wagen hinterher, bis er verschwunden war, machte aber nicht den Versuch, die Aufmerksamkeit des Fahrers zu erregen.
Seltsam, dass die meisten von ihnen nicht um Hilfe schreien, ging es Gerald durch den Kopf. Als wären sie lieber tot als in der peinlichen Situation, sich geirrt zu haben.
Die Frau drehte sich wieder zu ihm um. Sie wirkte erschrocken, als hätte sie Angst, zu lange weggeschaut zu haben. »Ich möchte weiter nach Steinen suchen. Bitte.«
»Was ist mit den Steinen?«, fragte Gerald kopfschüttelnd und machte wieder einen Schritt auf sie zu, dieses Mal leicht nach links versetzt.
»Ach, nichts. Ich interessiere mich bloß dafür.«
»Sind Sie eine ... wie nennt man das gleich?«
»Geologin?«
Wieder stand die Frau regungslos da, wie erstarrt. Gerald konnte sich beinahe vorstellen, wo sich ihre Zunge befand, nachdem das »N« verklungen war.
Wieder ein Schritt näher, diesmal nach rechts. »Ja, genau«, sagte Gerald. »Geologin.«
»Nein. Bitte, lassen Sie mich ...« Sie stockte mitten im Satz, als hätte sie Angst, ihre schlimmsten Befürchtungen könnten Wirklichkeit werden, wenn sie Gerald anbettelte, oder als würden die Worte ihre Verwundbarkeit allzu deutlich machen.
»'nen schönen Stein haben Sie da.« Gerald hatte sich immer näher an die Frau herangeschoben, während sie geredet hatten, rechts und links, wie die kleinen Rinnsale im Sand, links und rechts, damit sie es nicht vorzeitig mit der Angst zu tun bekam und stiften ging. Manchmal konnten selbst die älteren Bräute einen ganz schönen Sprint hinlegen, und es war viel zu heiß, um hinter ihr herzurennen.
Doch die hier stand wie angewurzelt da, aufgeschreckt und unentschlossen zugleich, und hielt ihren Gehstock gepackt. Sie ließ Gerald bis auf einen Meter herankommen. Ihre Regungslosigkeit verunsicherte ihn. Dann erinnerte er sich, gelesen zu haben, dass Menschen vor Angst wie gelähmt sein konnten. Ja, die hier machte ganz den Eindruck. Vielleicht ließ sie sich einfach auf den Arm nehmen wie eine Schaufensterpuppe und zum Van tragen. Gerald stieß ein schnaufendes Lachen aus. Eine lustige Vorstellung. Das musste er ihr nachher, bevor er sich näher mit ihr beschäftigte, unbedingt erzählen.
Die Hand der Frau, die den Stein hielt, bewegte sich unvermittelt. Sie packte den Brocken fester. »Der sieht schwer aus«, sagte Gerald. »Warten Sie, ich helfe Ihnen.«
»Nein.« Sie dehnte das Wort, dass es wie eine Bitte klang.
Dann war Gerald nah genug. Schnell wie ein Blitz überwand er die Distanz zwischen ihnen und schmetterte ihr den Felsbrocken aus der Hand, sodass sie ihm das Ding nicht auf den Fuß werfen konnte. Dann glitt er zwei schnelle Schritte zurück, um zu sehen, wie sie reagierte.
Sie reagierte überhaupt nicht. Sie rührte sich nicht einmal.
Scheiße, bekam die Alte denn gar keine Angst? Wenn sie keinen Schiss hatte, machte die Sache keinen Spaß. War sie nicht mehr ganz richtig in der Birne? Von wegen Altersschwachsinn und so?
Gerald leckte sich die Lippen. Er hatte noch nie eine Schwachsinnige gehabt. Vielleicht musste seine Botschaft direkter sein, unmissverständlicher. Okay, konnte sie haben. Er zupfte an der Schnur um seinen Hals und zog das in Plastik eingepackte Kondom hervor. Nicht, dass er es gebraucht hätte - es würde keine Beweise geben. Das Kondom sollte die Bräute nur glauben machen, er würde ihnen nichts tun.
Die Frau musterte das kleine Päckchen, das nun über seinem T-Shirt hing.
Vielleicht begriff sie jetzt.
Ihre Augen weiteten sich.
»Warum ...?«, fragte sie.
Ah, endlich spiegelte sich Angst auf ihrem Gesicht. Gerald wusste, dass diese Angst sie jetzt nicht mehr loslassen würde.
Jetzt!
Er grunzte, als er nach vorn sprang, ihr Handgelenk packte und ihr den Arm auf den Rücken drehte. Mit der anderen Hand riss er das Klebeband von seinem Hemd und presste es ihr auf den Mund.
Die Frau schlug mit ihrem Gehstock nach ihm. Eigentlich war es mehr ein Holzstab, wie man ihn im Baumarkt kaufen konnte, leicht wie Balsa. Als der Stock Geralds Hüfte traf, spürte er es kaum. Er hielt sie fest gepackt.
Jetzt kam der gefährlichste Teil: die fünfzig Meter zum Van. Wenn ein Wagen über die Brücke fuhr und der Fahrer zufällig nach unten schaute, würde er sehen, wie die Alte sich wehrte. Doch sie war klein und schwächer, als Gerald angenommen hatte. Seltsam, wo sie den Stein doch mit Leichtigkeit hochgehoben hatte. Na, egal. Jetzt konnte sie nur noch zappeln und strampeln, und das tat sie nach Leibeskräften. Gerald trat ihr in die Kniekehlen, sodass ihre Beine nachgaben; das machte den Rest des Weges einfacher.
Ein kräftiger Stoß mit dem Knie in ihre Kehrseite, dann war sie im Lieferwagen und lag mit rollenden Augen auf dem ausgebreiteten Duschvorhang. Gerald sah, dass sie das getrocknete Blut unter dem Vorhang bemerkte. Das Klebeband hinderte sie am Schreien, während sie versuchte, sich an der Rückwand ganz klein zu machen, was Gerald die Gelegenheit verschaffte, die Türen des Wagens zu schließen und seine Beute einzusperren, bevor er mit ihr zu seinem Unterschlupf nach San Manuel fuhr, fünfundvierzig Minuten in nördlicher Richtung.
Nun, da sie beide im Wagen waren, sicher und ungestört, nahm Gerald sich einen Moment Zeit, die Braut eingehender zu betrachten. Noch immer duckte sie sich verängstigt an die Rückwand. Offenbar saß der Schock bei ihr so tief, dass sie gar nicht ihre freien Hände bemerkte, mit denen sie das Klebeband vom Mund hätte reißen können. Ihr Hut war im Flussbett liegen geblieben. Ihre Haare, von denen Gerald anfangs nur die Spitzen unter der Krempe erspäht hatte, fielen in üppigen weißen Locken bis fast auf ihre Schultern.
Eine Zeit lang war ihr keuchender Atem das einzige Geräusch im Van. Irgendwie war es ihr gelungen, den Stock festzuhalten. Nun hielt sie ihn auf Gerald gerichtet, ohne zu ahnen, dass das Ding ungefähr so bedrohlich wirkte wie ein Essstäbchen. Er streckte die Hand danach aus, die Handfläche nach oben gerichtet, und blickte ihr dabei in die Augen.
»Gib mir den Stock. Komm schon, Süße. Gib mir den Stock. Ich tu dir nicht weh. Ich wollte nur, dass wir beide aus der Sonne sind. Damit wir ein bisschen über Steine plaudern können.« Er stieß ein schnaubendes Lachen aus, packte den Stock und sog scharf die Luft ein, als ein sengender Schmerz seine Hand durchzuckte. Er ließ den Stock los und starrte verwundert auf einen tiefen Schnitt, der von der Spitze seines Zeigefingers bis zum Handgelenk verlief. Blut sickerte aus der Wunde. Scheiße, wie war das denn passiert? Dann erst sah er, dass es kein einfacher Stock war, den die Braut in der Hand hielt. Es war ein Stock mit einer spitzen, abgeschrägten Klinge am Ende, ähnlich wie ein Teppichmesser.
Er sah das Blut, bevor er den Schmerz spürte, und er spürte den Schmerz, bevor Wut in ihm aufstieg. Die Frau riss sich das Klebeband halb von den Lippen und verzog die Seite des Mundes, die nun freilag, zu einer Grimasse.
*
Ihre Gedanken rasten.
In dem winzigen Augenblick, als sie beobachtete, wie der Schmerz sein Bewusstsein überschwemmte, wie er die Absurdität des Angriffs durch eine Frau verarbeitete, die eben noch paralysiert war von Angst, wie Wut ihn erfasste, während er seinen Gegenangriff einleitete, überschlugen sich ihre Gedanken.
Das getrocknete Blut auf dem Boden des Vans verriet ihr, dass sie nicht die Erste war. Irgendwo hatte er Leichen versteckt. Es war zwar von Vorteil, dass sie sich in dieser Situation nicht an die Fesseln legaler Mittel wie Verhör und Verteidigung gebunden fühlte, doch der Bursche war kräftiger als erwartet, und es war eine ganze Weile her, dass sie sich auf diese Weise bewegt hatte. Sie war nicht mehr so reaktionsschnell wie früher und auch nicht mehr so kräftig. Außerdem war sie ein wenig aus der Übung, und die Beengtheit im Van schränkte ihre Möglichkeiten mehr ein, als sie erwartet hatte. Sie hätte nicht zulassen dürfen, dass er sie in den Wagen zerrte. Das hatte sie falsch eingeschätzt.
Vielleicht hatte sie es zu weit kommen lassen, aber jetzt war keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Ihre geschulten Instinkte und das jahrelange Training übernahmen die Kontrolle und bereiteten jeden Muskel ihres Körpers auf einen Kampf vor, denn eine Flucht war unmöglich.
© 2013 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Die Vorstellung einer scharfen Oma machte Gerald ein bisschen Angst, aber egal. Wahrscheinlich war es eine halbe Ewigkeit her, seit jemand der Tussi Aufmerksamkeit geschenkt hatte, und über die Zuwendung eines jüngeren Mannes würde sie sich ganz sicher freuen. Gerald schob die freie Hand unter seine dünne Nylon-Trainingsshorts, spielte an sich herum und dachte an seine Mutter. Sie hatte ihn immer hart angefasst, um ihn davon abzubringen, an sich herumzufummeln - bis er groß und stark genug gewesen war, um Mom ihre teure Amway-Bratpfanne vor den Busen zu schmettern. Dad fand das lustig und hatte ihn bloß ermahnt, sich einen Gegner zu suchen, der so groß war wie er selbst. Jedenfalls, von da an war es gefährlich, Gerald zu sagen, er solle nicht an sich herumspielen. Wer diesen Fehler beging, lief Gefahr, die eigenen Zähne zu schlucken.
Gerald ließ den Van langsam von der Brücke rollen und bog nach links ab, den steilen Hügel hinunter bis zur Böschung über dem trockenen Flussbett. Wieder hielt er an und blickte die weite sandige Fläche hinauf und hinunter.
Die Augustsonne brannte vom Himmel, aber es war keine trockene Hitze. Stattdessen zeigte der Boden die Farbe von nassem Beton. In den Tagen zuvor hatte der Sommermonsun heftige Unwetter auf die Wüste niedergehen lassen, und im staubigen Sand waren dunkle Rinnsale, wo der Untergrund mit Regenwasser gesättigt war. Wenn in den Catalina Mountains, dem Quellgebiet, noch so ein Unwetter tobte wie letzte Nacht, würde der Fluss sich in einen reißenden Strom verwandeln.
Doch im Augenblick konnte man durch das trockene Flussbett laufen, so wie die geile Alte jetzt. Während Gerald sie beobachtete, verschwand sie aus seinem Blickfeld. Er machte sich deshalb keine Gedanken. Schließlich konnte die Frau ihn auch nicht sehen, und das verschaffte ihm alle Zeit, sich zu überlegen, was er als Nächstes tun sollte. Und danach, und danach.
Und danach.
Gerald ließ den Wagen weiterrollen und bog auf den unbefestigten Weg ein, der bis ganz hinunter zum Fluss führte. Er hielt genau dort, wo der feste Untergrund endete und der weiche Flusssand begann. Dann wendete er den Van, indem er dreimal vor- und zurücksetzte, bis er in Richtung Hügel schauen konnte und die Hecktüren des Vans zum Fluss zeigten, was das Beladen vereinfachte. Außerdem konnte er einen schnellen Abgang machen, sollten er und die Braut unerwartet Gesellschaft bekommen.
Gerald zerbrach sich nicht den Kopf darüber, ob die Frau den Motor hörte oder nicht. Ein zweiter unbefestigter Fahrweg am Flussufer zeigte ihm, dass hin und wieder andere Fahrzeuge hier entlangfuhren, also würde die Frau beim Geräusch seines Wagens bestimmt nicht erschrecken. Wahrscheinlich war sie ohnehin schwerhörig. Bei diesem Gedanken stieß Gerald ein leises belustigtes Schnaufen aus.
Er riss den Handbremshebel hoch, stieg aus und überprüfte, ob der blaue Plastik-Duschvorhang ordentlich im Heck ausgebreitet lag und die Fesselbänder leicht erreichbar waren. Eine Zange war aus ihrem Fach in der Seitenwand gerutscht. Gerald legte sie zurück. Ein Platz für jedes Ding, und jedes Ding an seinen Platz.
Als er mit den Vorbereitungen fertig war, zog er eine Rolle Gewebeband aus einer kleinen Kiste und riss ein zwanzig Zentimeter langes Stück ab, das er sich auf die Vorderseite seines ärmellosen T-Shirts klebte, sodass es griffbereit war, wenn er es brauchte. Dann schloss er die Hecktüren des Vans bis auf einen kleinen Spalt.
Er schaute sich ein letztes Mal um und ließ den Blick prüfend über beide Ufer des trockenen Flussbetts schweifen. Alles paletti. Ein paar Fertighäuser am Hang, sonst nichts. Eine absolut geile Stelle, wie aus einem maßgefertigten feuchten Traum. Kein großes Tamtam, wie es sonst manchmal nötig war, um eine Braut in den Van zu bugsieren. Gerald befingerte das rechteckige Stück Folie, das er an einer Schnur um den Hals trug, und schob es unter sein T-Shirt.
Seine Flipflops rutschten weg, als er auf dem feinen Kies der Böschung zum Flussbett hinunterstieg, aber er fing sich. Er schob sich eine fettige Haarsträhne hinters Ohr und zog seine Sachen noch einmal glatt, bis er sich ansehnlich genug fühlte, um sich seinem Date zu nähern.
Die Frau schien ihn nicht zu bemerken, während sie mit ihren dicken Gartenhandschuhen einen Stein nach dem anderen hoch hob, umdrehte, musterte und entweder wegwarf oder in einen staubigen olivgrünen Rucksack packte, der auf einem Felsblock lag. Es war ein gutes Zeichen, dass sie ihn ignorierte. Wenn sie einen nicht anschauten, hatten sie meistens Angst. Und Angst war immer ein gutes Zeichen.
Gerald beobachtete, wie sie sich vornüberbeugte und mit nur einer Hand einen Stein aufhob, der gut und gerne zweieinhalb Kilo wog. Sie machte sogar ein paar Armbeugen damit. Hm, vielleicht war sie doch nicht so alt?
Dann war er nahe genug heran, dass er es sehen konnte. Ja, sie war die, nach der er gesucht hatte, und sie war reif. Nettes Gesicht - gezeichnet von der Trockenheit der Wüste, aber nicht runzlig, sondern weich und ebenmäßig. Gerald sog unwillkürlich die Luft ein, als er sich vorstellte, mit der Zunge die Linien dieses Gesichts nachzuziehen. Sommersprossen bedeckten jenen Teil ihres Dekolletees, der über dem Halsausschnitt des T-Shirts zu sehen war. Sie wirkte so zierlich, so zart, dass er sich fragte, ob ihre Hüftknochen vielleicht schon brachen, wenn er ihr die Beine spreizte. Bei dem Gedanken an berstende Knochen bekam er einen gewaltigen Ständer.
Die Frau nahm ihren Hut ab und wischte sich übers Gesicht. Die Haare, die von der Brücke aus grau ausgesehen hatten, leuchteten weiß im Licht der Morgensonne.
Die Reflexion des Sonnenlichts rief Gerald in Erinnerung, wie verdammt heiß es war. Vierzig Grad mindestens, vielleicht noch mehr. Und schwüler als gewöhnlich. Man konnte beinahe spüren, wie der Dampf aus dem feuchten Sand aufstieg. Sein Schädel juckte, und er kratzte sich die Kopfhaut, pulte dann die weißen fettigen Schuppen unter den Fingernägeln hervor, während er sich seinen Weg über den Sand des Flussbetts suchte, der in der Hitze rasch härter wurde.
Ein Rinnsal aus Schweiß lief an den Innenseiten seiner Oberschenkel hinunter, passend zum feuchten Schimmer auf der Haut der Frau, wo der Halsausschnitt ihres T-Shirts ein V zwischen den weichen Polstern ihrer Brüste bildete. Zehn Grad weniger hätten die Sache viel angenehmer gemacht. Die meisten Kollegen, die Geralds Vorlieben teilten, verrichteten ihre Arbeit nachts, doch wenn man auf ältere Damen stand, musste man die Gelegenheit beim Schopf packen, wo immer sie sich bot, denn die meisten von ihnen standen mit den Hühnern auf und gingen bei Einbruch der Dunkelheit ins Bett.
Für einen Moment rissen Geralds Erinnerungen ihn fort von diesem Flussbett, an andere Orte und zu anderen Bräuten. Als er dann abrupt ins Hier und Jetzt zurückkehrte, stellte er zu seinem Erstaunen fest, dass die Frau ihn betrachtete. Kein freundliches »Hi«, kein Lächeln, nur ein kühles Mustern, mit unbewegtem Blick. Die Hand, die den Stein hielt, war in der Bewegung erstarrt.
Sie stand so regungslos da, dass es Gerald beinahe unheimlich wurde. Eine Zeit lang spielte er sogar mit dem Gedanken, die ganze Sache abzublasen. Dann aber rief er sich in Erinnerung, dass hier mehr auf dem Spiel stand als bloße Befriedigung.
»Tagchen!«, sagte er zu der Braut. Er verspürte den beinahe unerträglichen Drang, an seinen Eiern herumzuspielen, aber er wusste natürlich, dass so etwas auf eine neue Bekanntschaft ziemlich abstoßend wirken konnte.
»Hallo«, sagte sie. Der Klang ihrer Stimme ließ seinen Penis wieder anschwellen. Es war eine eigenartige Stimme, nicht hoch und dünn wie bei den meisten alten Wachteln, sondern klangvoll und kräftig. Sie starrte auf seinen Schritt und bemerkte seine Latte, die sich durch die Shorts abzeichnete. Zu seinem Entzücken sah Gerald, wie sie den Kopf hochriss und leicht zu zittern anfing.
Wie geil, dachte er. Wer weiß, wie lange sie keinen Ständer mehr gesehen hat. Vielleicht ist sie selbst ganz scharf, das alte Luder.
»Alles klar hier unten?«, fragte er und scharrte lässig mit den Gummisohlen seiner Flipflops im Sand, um zu zeigen, dass er völlig entspannt war. Die Frau musste wieder ruhiger werden, bis er nahe genug an sie herankam. Nur keine Panik.
Ihre Blicke huschten verstohlen an ihm vorbei - rechts, links, wieder rechts - und suchten mit der verzweifelten Inbrunst eines Gebets die Mesquitebäume an den Ufern des Flussbetts ab. Sie setzte zum Reden an, hustete und sagte krächzend: »Ja, danke.« Nervös scharrte sie mit dem Gehstock im Sand.
»Verdammt heiß heute, was? Und obendrein ist Mittag«, sagte Gerald. »Sie könnten dehydriert sein, bevor Sie's merken, und niemand ist in der Nähe.« Mit diesen Worten machte er einen weiteren Schritt vor, nicht direkt auf sie zu, sondern ein wenig nach rechts - wie ein Kojote, der leicht zur Seite weicht, während sein Instinkt daran arbeitet, wie er sich seiner Beute am besten nähern kann.
Die Braut bestritt gar nicht erst, dass sie allein war. »Ich habe Wasser dabei«, sagte sie und deutete auf den Rucksack, der auf dem Felsblock lag. Als sie ein Motorgeräusch hörte, drehte sie den Kopf und schaute zur Brücke und auf das einsame Auto, das darüberfuhr. Mit einem flehenden Ausdruck blickte sie dem Wagen hinterher, bis er verschwunden war, machte aber nicht den Versuch, die Aufmerksamkeit des Fahrers zu erregen.
Seltsam, dass die meisten von ihnen nicht um Hilfe schreien, ging es Gerald durch den Kopf. Als wären sie lieber tot als in der peinlichen Situation, sich geirrt zu haben.
Die Frau drehte sich wieder zu ihm um. Sie wirkte erschrocken, als hätte sie Angst, zu lange weggeschaut zu haben. »Ich möchte weiter nach Steinen suchen. Bitte.«
»Was ist mit den Steinen?«, fragte Gerald kopfschüttelnd und machte wieder einen Schritt auf sie zu, dieses Mal leicht nach links versetzt.
»Ach, nichts. Ich interessiere mich bloß dafür.«
»Sind Sie eine ... wie nennt man das gleich?«
»Geologin?«
Wieder stand die Frau regungslos da, wie erstarrt. Gerald konnte sich beinahe vorstellen, wo sich ihre Zunge befand, nachdem das »N« verklungen war.
Wieder ein Schritt näher, diesmal nach rechts. »Ja, genau«, sagte Gerald. »Geologin.«
»Nein. Bitte, lassen Sie mich ...« Sie stockte mitten im Satz, als hätte sie Angst, ihre schlimmsten Befürchtungen könnten Wirklichkeit werden, wenn sie Gerald anbettelte, oder als würden die Worte ihre Verwundbarkeit allzu deutlich machen.
»'nen schönen Stein haben Sie da.« Gerald hatte sich immer näher an die Frau herangeschoben, während sie geredet hatten, rechts und links, wie die kleinen Rinnsale im Sand, links und rechts, damit sie es nicht vorzeitig mit der Angst zu tun bekam und stiften ging. Manchmal konnten selbst die älteren Bräute einen ganz schönen Sprint hinlegen, und es war viel zu heiß, um hinter ihr herzurennen.
Doch die hier stand wie angewurzelt da, aufgeschreckt und unentschlossen zugleich, und hielt ihren Gehstock gepackt. Sie ließ Gerald bis auf einen Meter herankommen. Ihre Regungslosigkeit verunsicherte ihn. Dann erinnerte er sich, gelesen zu haben, dass Menschen vor Angst wie gelähmt sein konnten. Ja, die hier machte ganz den Eindruck. Vielleicht ließ sie sich einfach auf den Arm nehmen wie eine Schaufensterpuppe und zum Van tragen. Gerald stieß ein schnaufendes Lachen aus. Eine lustige Vorstellung. Das musste er ihr nachher, bevor er sich näher mit ihr beschäftigte, unbedingt erzählen.
Die Hand der Frau, die den Stein hielt, bewegte sich unvermittelt. Sie packte den Brocken fester. »Der sieht schwer aus«, sagte Gerald. »Warten Sie, ich helfe Ihnen.«
»Nein.« Sie dehnte das Wort, dass es wie eine Bitte klang.
Dann war Gerald nah genug. Schnell wie ein Blitz überwand er die Distanz zwischen ihnen und schmetterte ihr den Felsbrocken aus der Hand, sodass sie ihm das Ding nicht auf den Fuß werfen konnte. Dann glitt er zwei schnelle Schritte zurück, um zu sehen, wie sie reagierte.
Sie reagierte überhaupt nicht. Sie rührte sich nicht einmal.
Scheiße, bekam die Alte denn gar keine Angst? Wenn sie keinen Schiss hatte, machte die Sache keinen Spaß. War sie nicht mehr ganz richtig in der Birne? Von wegen Altersschwachsinn und so?
Gerald leckte sich die Lippen. Er hatte noch nie eine Schwachsinnige gehabt. Vielleicht musste seine Botschaft direkter sein, unmissverständlicher. Okay, konnte sie haben. Er zupfte an der Schnur um seinen Hals und zog das in Plastik eingepackte Kondom hervor. Nicht, dass er es gebraucht hätte - es würde keine Beweise geben. Das Kondom sollte die Bräute nur glauben machen, er würde ihnen nichts tun.
Die Frau musterte das kleine Päckchen, das nun über seinem T-Shirt hing.
Vielleicht begriff sie jetzt.
Ihre Augen weiteten sich.
»Warum ...?«, fragte sie.
Ah, endlich spiegelte sich Angst auf ihrem Gesicht. Gerald wusste, dass diese Angst sie jetzt nicht mehr loslassen würde.
Jetzt!
Er grunzte, als er nach vorn sprang, ihr Handgelenk packte und ihr den Arm auf den Rücken drehte. Mit der anderen Hand riss er das Klebeband von seinem Hemd und presste es ihr auf den Mund.
Die Frau schlug mit ihrem Gehstock nach ihm. Eigentlich war es mehr ein Holzstab, wie man ihn im Baumarkt kaufen konnte, leicht wie Balsa. Als der Stock Geralds Hüfte traf, spürte er es kaum. Er hielt sie fest gepackt.
Jetzt kam der gefährlichste Teil: die fünfzig Meter zum Van. Wenn ein Wagen über die Brücke fuhr und der Fahrer zufällig nach unten schaute, würde er sehen, wie die Alte sich wehrte. Doch sie war klein und schwächer, als Gerald angenommen hatte. Seltsam, wo sie den Stein doch mit Leichtigkeit hochgehoben hatte. Na, egal. Jetzt konnte sie nur noch zappeln und strampeln, und das tat sie nach Leibeskräften. Gerald trat ihr in die Kniekehlen, sodass ihre Beine nachgaben; das machte den Rest des Weges einfacher.
Ein kräftiger Stoß mit dem Knie in ihre Kehrseite, dann war sie im Lieferwagen und lag mit rollenden Augen auf dem ausgebreiteten Duschvorhang. Gerald sah, dass sie das getrocknete Blut unter dem Vorhang bemerkte. Das Klebeband hinderte sie am Schreien, während sie versuchte, sich an der Rückwand ganz klein zu machen, was Gerald die Gelegenheit verschaffte, die Türen des Wagens zu schließen und seine Beute einzusperren, bevor er mit ihr zu seinem Unterschlupf nach San Manuel fuhr, fünfundvierzig Minuten in nördlicher Richtung.
Nun, da sie beide im Wagen waren, sicher und ungestört, nahm Gerald sich einen Moment Zeit, die Braut eingehender zu betrachten. Noch immer duckte sie sich verängstigt an die Rückwand. Offenbar saß der Schock bei ihr so tief, dass sie gar nicht ihre freien Hände bemerkte, mit denen sie das Klebeband vom Mund hätte reißen können. Ihr Hut war im Flussbett liegen geblieben. Ihre Haare, von denen Gerald anfangs nur die Spitzen unter der Krempe erspäht hatte, fielen in üppigen weißen Locken bis fast auf ihre Schultern.
Eine Zeit lang war ihr keuchender Atem das einzige Geräusch im Van. Irgendwie war es ihr gelungen, den Stock festzuhalten. Nun hielt sie ihn auf Gerald gerichtet, ohne zu ahnen, dass das Ding ungefähr so bedrohlich wirkte wie ein Essstäbchen. Er streckte die Hand danach aus, die Handfläche nach oben gerichtet, und blickte ihr dabei in die Augen.
»Gib mir den Stock. Komm schon, Süße. Gib mir den Stock. Ich tu dir nicht weh. Ich wollte nur, dass wir beide aus der Sonne sind. Damit wir ein bisschen über Steine plaudern können.« Er stieß ein schnaubendes Lachen aus, packte den Stock und sog scharf die Luft ein, als ein sengender Schmerz seine Hand durchzuckte. Er ließ den Stock los und starrte verwundert auf einen tiefen Schnitt, der von der Spitze seines Zeigefingers bis zum Handgelenk verlief. Blut sickerte aus der Wunde. Scheiße, wie war das denn passiert? Dann erst sah er, dass es kein einfacher Stock war, den die Braut in der Hand hielt. Es war ein Stock mit einer spitzen, abgeschrägten Klinge am Ende, ähnlich wie ein Teppichmesser.
Er sah das Blut, bevor er den Schmerz spürte, und er spürte den Schmerz, bevor Wut in ihm aufstieg. Die Frau riss sich das Klebeband halb von den Lippen und verzog die Seite des Mundes, die nun freilag, zu einer Grimasse.
*
Ihre Gedanken rasten.
In dem winzigen Augenblick, als sie beobachtete, wie der Schmerz sein Bewusstsein überschwemmte, wie er die Absurdität des Angriffs durch eine Frau verarbeitete, die eben noch paralysiert war von Angst, wie Wut ihn erfasste, während er seinen Gegenangriff einleitete, überschlugen sich ihre Gedanken.
Das getrocknete Blut auf dem Boden des Vans verriet ihr, dass sie nicht die Erste war. Irgendwo hatte er Leichen versteckt. Es war zwar von Vorteil, dass sie sich in dieser Situation nicht an die Fesseln legaler Mittel wie Verhör und Verteidigung gebunden fühlte, doch der Bursche war kräftiger als erwartet, und es war eine ganze Weile her, dass sie sich auf diese Weise bewegt hatte. Sie war nicht mehr so reaktionsschnell wie früher und auch nicht mehr so kräftig. Außerdem war sie ein wenig aus der Übung, und die Beengtheit im Van schränkte ihre Möglichkeiten mehr ein, als sie erwartet hatte. Sie hätte nicht zulassen dürfen, dass er sie in den Wagen zerrte. Das hatte sie falsch eingeschätzt.
Vielleicht hatte sie es zu weit kommen lassen, aber jetzt war keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Ihre geschulten Instinkte und das jahrelange Training übernahmen die Kontrolle und bereiteten jeden Muskel ihres Körpers auf einen Kampf vor, denn eine Flucht war unmöglich.
© 2013 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
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Autoren-Porträt von Becky Masterman
Becky Masterman arbeitet seit vielen Jahren in einem amerikanischen Verlag, der auf forensische Fachliteratur spezialisiert ist. Für die Arbeit an ihrem Thriller DER STILLE SAMMLER hat sie den Rat diverser Experten auf diesem Gebiet eingeholt. Becky Masterman lebt mit ihrem Mann in Tucson, Arizona. Sie arbeitet derzeit an einer Fortsetzung der Geschichte um die Protagonistin Brigid Quinn.
Bibliographische Angaben
- Autor: Becky Masterman
- 2013, 1. Aufl., 397 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Merz, Axel
- Übersetzer: Axel Merz
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3785724764
- ISBN-13: 9783785724767
- Erscheinungsdatum: 19.04.2013
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