Der Tanz des schwarzen Engels
Eine packende Saga von Liebe, Familie, Ehre und Verrat - in der nichts so ist, wie es scheint.
Ein rätselhaftes Paar goldener Ohrringe bringt die junge Ballettschülerin Paloma auf die Spur eines Familiengeheimnisses:...
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Produktinformationen zu „Der Tanz des schwarzen Engels “
Eine packende Saga von Liebe, Familie, Ehre und Verrat - in der nichts so ist, wie es scheint.
Ein rätselhaftes Paar goldener Ohrringe bringt die junge Ballettschülerin Paloma auf die Spur eines Familiengeheimnisses: Welche Verbindung besteht zwischen ihr und der großen Flamencotänzerin "La Rusa", die sich 1952 in Paris das Leben genommen hat? Welche tödliche Leidenschaft verband und entzweite "La Rusa" und Palomas Großmutter? Bald ist die junge Frau selbst in ein gefährliches Netz verstrickt.
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NEWS WEEKLY
Klappentext zu „Der Tanz des schwarzen Engels “
Fleißig und diszipliniert studiert die Ballettschülerin Paloma Batton an der Pariser Oper - bis sie eines Tages von einer rätselhaften Besucherin ein paar goldene Ohrringe geschenkt bekommt. Sicher, dass sich hinter diesem Geschenk eine Aufgabe verbirgt, beginnt sie mit der Erkundung ihrer Familiengeschichte. Denn Paloma ist die Enkelin spanischer Flüchtlinge, die Barcelona nach dem spanischen Bürgerkrieg verlassen haben, und es gibt eine Verbindung zu einer der größten Flamencotänzerinnen aller Zeiten: "La Rusa". 1952 ist "La Rusa" in Paris gestorben. Es sah wie ein Selbstmord aus, aber Paloma muss erkennen, dass die Tänzerin viele Feinde hatte - und Palomas Großmutter gehörte dazu. Bald ist sie selbst in einen Strudel aus Leidenschaft und Betrug verstrickt ...
Lese-Probe zu „Der Tanz des schwarzen Engels “
Der Tanz des schwarzen Engels von Belinda Alexandra1
Paloma
Paris, 1975
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Am 24. November, dem Tag nach der Beisetzung von Spaniens Diktator Generalísimo Franco, sah ich meinen ersten Geist. Der Morgen begann ziemlich unspektakulär. Ich wachte um sechs Uhr auf und streckte meine Arme und Beine, bevor ich aus dem Bett stieg. Es war noch dunkel, weshalb ich die Nachttischlampe mit dem Blumenschirm anknipste. Im fleckigen Licht zog ich meinen Trikotanzug und Strumpfhosen an. Meine Haarnadeln und das Stirnband waren in der Kommodenschublade. Ich steckte mir rasch das Haar nach hinten, wie ich es gewohnt war, bevor ich den Morgenmantel gegen die kühle Herbstluft überzog und in meine Hausschuhe schlüpfte.
Der Flur war dunkel, doch ich fand auch blind in die Küche. Leise schlich ich an Mamies Zimmer vorbei. Meine Großmutter, die ich »Mamie« nannte, wenn wir Französisch sprachen, und »Iaia«, wenn wir uns auf Katalanisch unterhielten, hatte einen tiefen Schlaf. Nicht einmal eine aufgeschreckte Rinderherde hätte sie wecken können; trotzdem bewegte ich mich lautlos, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte. Mamie sagte, keine Ballerina sollte vor neun aufstehen, geschweige denn vor neun Uhr trainieren. Aber ich war mit Gaby in ihrer Vorlesungspause in einem Café verabredet, und nachmittags musste ich Unterricht geben. Trotz der Ereignisse des letzten Sommers konnte ich meine täglichen Übungen an der Stange und ohne Stange nicht aufgeben, selbst wenn das bedeutete, dass ich früh aufstehen musste. Lieber würde ich auf Schlaf und Essen verzichten als auf meine Pliés, Tendus, Ronds de jambe und die Dehnübungen. Sie waren für mich so unverzichtbar wie das Atmen.
Ich schaltete das Licht über dem Herd ein und gab acht, meinen Nymphensittich Djagilew in seinem abgedeckten Käfig nicht zu wecken. Den australischen Papagei mit dem russischen Namen hatte Mamie mir zu meinem achtzehnten Geburtstag geschenkt, und er machte immerfort Lärm. Sobald die ersten Sonnenstrahlen morgens in die Küche fielen, begann er, Takte aus Mozarts »Alla Turca« zu pfeifen. Ich drehte den Wasserhahn auf und füllte einen Stieltopf mit Wasser. Auf der Küchenbank lag eine Ausgabe von El Diario, der spanischen Emigrantenzeitung. Das Blatt wandte sich an jene Exilspanier, die 1939, nach dem Bürgerkrieg, nach Frankreich geflohen waren. Auf dem Titel waren Fotos von Franco abgebildet, vom jungen Mann bis zum alten Diktator. Im Artikel stand, dass er zwei Wochen vor seinem dreiundachtzigsten Geburtstag gestorben war und auf einem Gefallenenfriedhof beigesetzt werden sollte. Der Absatz war mit Rotstift durchgestrichen worden, und daneben hatte Mamie geschrieben: »Faschistische Gefallene!« Ihrer Schrift sah man die Energie und Verbitterung deutlich an. Sonst schrieb sie weit vornehmer, damenhafter, und wären wir zwei nicht die einzigen Bewohner hier, hätte ich gedacht, dass es jemand anders geschrieben hatte.
Ich stand am Fenster, während ich darauf wartete, dass der Kaffee gebrüht war. Der Geruch von frischem Weißbrot wehte aus der Bäckerei auf der anderen Straßenseite herüber. Ich hob die Spitzengardine an und sah eine Schlange wartender Hausfrauen auf dem Gehweg vor dem Geschäft. Leidenschaft trieb sie früh aus dem Bett, so wie mich. Ihre galt dem Ziel, das beste Pain frais für ihre Familien zu bekommen, und dafür verzichteten sie gern auf Schlaf. Bei mir war es das Tanzen. Nichts schenkte mir größere Befriedigung, als mich in einer schönen Arabesque zu strecken oder einen eleganten Grand jeté zu vollführen, auch wenn ich sieben Tage die Woche von morgens bis in die Nacht dafür üben musste.
Das aufsteigende bittersüße Aroma verriet mir, dass der Kaffee fertig war. Ich ließ die Gardine los und bemerkte zum ersten Mal, dass sie ausgefranst war. Dann griff ich nach einer Tasse und einer Untertasse aus der bunt zusammengewürfelten Sammlung geblümten und schlichten Porzellans im Schrank. Als ich mich setzte und an dem honigdicken Gebräu nippte, berührte meine Lippe etwas Raues, und ich sah, dass die Tasse angeschlagen war. Mamie war penibel ordentlich, doch im Gegensatz zu meiner Mutter konnte sie mit angestoßenen Tassen oder ausgefransten Gardinen leben. »Schönheit steckt immer im Detail, Paloma«, hatte Mama früher gesagt. Nun war sie nicht mehr da, und meine Großmutter und ich wurstelten uns ohne sie durch unser angeschlagenes, ausgefranstes Leben.
Zum Ballettstudio meiner Großmutter gab es zwei Eingänge, einen direkt von unserer Küche aus, einen anderen im Treppenhaus neben unserer Wohnungstür. Ich nahm den Schlüssel vom Haken an der Küchentür und ging ins Studio. Durch die Fenster, die in den Hof des Wohnhauses zeigten, drang erstes Morgenlicht herein, deshalb machte ich die Lampen nicht an. Obwohl der Boden täglich gefegt und gewischt wurde, lag jener Staub und Modergeruch in der Luft des geschlossenen Saals, wie er für alte Pariser Gebäude typisch war.
Ich holte meine Ballettschuhe aus dem Schrank und hockte mich auf den Boden, um sie anzuziehen. Während ich die Bänderenden in die Schuhe stopfte, dachte ich an Mamies wütendes Gekritzel in der Zeitung. Als Kind hatte ich meine Großmutter oft nach ihrer Vergangenheit in Spanien gefragt, aber dann schürzte sie nur die Lippen, und alles Licht schwand aus ihren Augen. »Wenn du größer bist, vielleicht«, antwortete sie. Schon damals begriff ich, dass meine Fragen ihr wehtaten, und so lernte ich, sie nicht mehr auf ihr Leben vor Paris anzusprechen.
Ich legte meinen Morgenmantel und die Hausschuhe auf den Klavierhocker. Unsere Begleitpianistin, Madame Carré, würde später kommen, um Beethoven und Schubert zu den Übungen unserer Schülerinnen zu spielen. Allein übte ich lieber im Stillen, folgte meinem Körper statt dem Takt. Aus dem Demi-pliés ging ich ins Grand-pliés und genoss es, die Kraft und Biegsamkeit meiner Beine zu spüren. Ich erschauderte, als sich die Erinnerung an den letzten Juni in meine Gedanken drängte, an das Debakel in der Ballettschule. Rasch schloss ich die Augen und schob das Bild fort, wie ich schwitzend und mit einem Anfall von Übelkeit vor dem Anschlagbrett stand. Jahrelanges Training hatte mich gelehrt, mich vollkommen auf ein Ziel zu konzentrieren, bis ich es erreicht hatte, und ich wollte meine Träume jetzt nicht aufgeben.
Nach einer Stunde an der Stange war ich bereit, einige der freien Übungen zu machen. Ich stellte mich vor die verspiegelte Wand vorne im Studio und wollte mit einer Tendu-Kombination beginnen, als plötzlich das Licht draußen flackerte. Es war so seltsam, dass ich davon abgelenkt wurde. Ein Gewitter so früh am Morgen ? Im November ? Verwundert trat ich ans Fenster. Und da sah ich sie, mitten im Hof, als wartete sie auf jemanden. Anfangs erkannte ich gar nicht, dass sie ein Geist war, fragte mich nur angesichts ihres welligen schwarzen Haars und des stolz gereckten Kinns, ob sie Spanierin war. Sie gehörte nicht zu den anderen Exilspanierinnen, die Mamie kannte und die gelegentlich in unserer Wohnung zusammenkamen. Mein erster Gedanke war, dass sie eine Mutter sein musste, die hergekommen war, um sich auf dem Weg zur Arbeit nach Stunden für ihr Kind zu erkundigen.
Ich öffnete das Fenster und rief ihr zu: »Bonjour, Madame! Un moment, s'il vous plaît.«
Dann schnappte ich mir meine Stulpen und eine Jacke aus dem Schrank und zog mir weite Stiefel über die Spitzenschuhe. Bevor ich ins Treppenhaus lief, griff ich nach einem Faltblatt von unserer Schule, in dem die Unterrichtszeiten aufgeführt waren. Erst auf halbem Weg nach unten kam mir der Gedanke, dass die Hoftür um diese Zeit noch verriegelt sein müsste. Wie war die Frau hereingekommen? Wir hatten keine Concierge, weil mein Großvater nichts von ihnen hielt. Er hatte jeden außerhalb der Familie als potenziellen Spion betrachtet.
Unten angekommen, öffnete ich die Tür zum Hof. Sogleich biss mir die kalte Luft in die Wangen, und ich fröstelte. Die Frau war nicht mehr da. Wo konnte sie hin sein? Auf einmal fühlte ich, dass mich jemand beobachtete. Ich wandte mich um und entdeckte sie bei dem alten Brunnen, der längst nicht mehr benutzt wurde. Mir stockte der Atem. Ihre Ausstrahlung erinnerte mich an die großen Solotänzer des Pariser Balletts: majestätisch. Ihr Gesicht war nur beinahe oval und die Nase über dem kräftigen, roten Mund breit und flach. Aber ihre Augen ... Noch nie hatte ich solche Augen gesehen. Sie waren wie schwarze Muscheln, die unter der Wasseroberfläche schimmerten, von einer Tiefe, die keinen Zweifel ließ, dass die Frau nicht von dieser Welt war.
Langsam bewegte sie sich auf mich zu, einen Arm mit tänzerischer Grazie aus dem Cape gestreckt. Ihre Hand verharrte nahe meiner, als wollte sie mir etwas geben. Unwillkürlich öffnete ich meine Hand, und zwei kleine Objekte fielen hinein. Ich blickte nach unten und sah ein Paar goldene Ohrringe. Verwundert schaute ich wieder hoch, doch die Frau war genauso plötzlich verschwunden, wie sie gekommen war, und es blieb nichts außer dem Echo ihrer Schritte und den Ohrringen in meiner Hand.
2
Evelina
Liebste Schwester!
Nun ist das Monstrum endlich tot! Sollen sie Francos Leichnam ruhig alle Ehren zukommen lassen, die sie wollen, denn seine Seele wird in der Hölle verrotten, zusammen mit denen der anderen Teufel, Hitler und Mussolini! Sollen die Führer Europas und Amerikas nur dem Mann Respekt erweisen, der ihre Hilfe annahm, ohne eine Gegenleistung zu erbringen, und der ihre Politik der Nichteinmischung nutzte, um die rechtmäßige Regierung Spaniens zu stürzen und Tausende zu ermorden. Wissen sie nicht, wie verhasst Franco war? Dass seine Herrschaft auf Unterdrückung gründete? Francos Tod, so erfreulich er auch sein mag, weckt zu viele düstere Erinnerungen in mir. Vielleicht wird die Zeit irgendwann erhellen, was ich gegenwärtig nicht zu sehen oder zu erinnern ertrage. Man sagt, nun, da er fort ist, wird ein neues Spanien entstehen, doch solche Versprechen hörten wir schon früher und wurden bitter enttäuscht. Nicht einmal hier, im französischen Exil, fühle ich mich vollkommen sicher. Und ebenso fürchte ich nach wie vor um deine Sicherheit, sogar im fernen Australien.
Du hast mich gefragt, wie es Paloma geht. Leider hat meine Enkelin in ihrem jungen Leben bereits zu viele Schicksalsschläge hinnehmen müssen: den Tod meiner geliebten Julieta, die Enttäuschung durch ihren Vater, das Pech bei ihrer Bewerbung an der Pariser Oper. Als ich heute Morgen aufstand, war Paloma schon angekleidet und rumorte in der Küche herum. Sie wirkte durcheinander, ließ Dinge fallen, als hätte sie etwas verschreckt. Obgleich sie Catherine Deneuves toupierte Frisur nachahmt und ihre goldbraunen Augen mit Eyeliner betont, sah sie in ihrem Samtmantel und dem Schal so jung und zerbrechlich aus, dass ich sie am liebsten auf den Schoß genommen und mit Tomatenbrot gefüttert hätte, wie ich es tat, als sie noch ein Kind war. Sie war in Eile, eine Freundin zu treffen, die an der Sorbonne studiert. Gern hätte ich sie gefragt, was geschehen war, das sie derart nervös machte, ließ es aber bleiben. Dieser Tage erzählt sie mir längst nicht mehr alles. Erlebt sie einen Tiefschlag, zieht sie sich in ihre eigene Welt zurück und meidet jeden, der sie zwingen könnte, sich der Realität zu stellen. Immer noch übt sie sechs bis sieben Stunden täglich und geht eifrig die Post durch, als könnte alles, was letzten Juni geschehen ist, wieder rückgängig gemacht und ihr doch ein Platz beim Pariser Opernballett angeboten werden. Diese vermaledeite Arielle Marineau! Sie hat Julieta immer gehasst, und jetzt, wo ihre Rivalin nicht mehr lebt, rächt sie sich an deren unschuldiger Tochter. Sie wäre den Belastungen einer professionellen Tänzerin nicht gewachsen - was für ein Unsinn! Seit ihrer Kindheit trainiert Paloma außerordentlich hart und ist geschaffen dafür, eine Solotänzerin zu sein. Marineau genießt zu große Macht, und die übrigen Prüfer, die gesehen haben müssen, wie außergewöhnlich Paloma ist, trauten sich nicht, gegen die Ballettchefin zu stimmen. So geht es in der Welt des Tanzes zu: Schönheit und Verrat.
Immer wieder sage ich zu ihr, Paloma, so ist das Leben. Du schmiedest einen Plan, und jemand kommt und durchkreuzt ihn. Aber du darfst dich nicht in die Niederlage fügen. Finde einen anderen Weg, deinen Traum wahr zu machen. Das sage ich zu ihr. Die Pariser Oper ist nicht das einzige große Ballett, und Paloma hatte Angebote von Talentsuchern aus New York und London. Doch ich bin nicht sicher, ob sie mir überhaupt zuhört. Es ist, als glaubte sie, die Erinnerung an ihre Mutter nur wachhalten zu können, indem sie in deren Fußstapfen tritt. Julieta machte ihren Abschluss an der Pariser Opernballettschule mit Bravour, also muss Paloma es auch; Julieta wurde mit neunzehn zur Première danseuse und mit zwanzig zur Solotänzerin, also muss sie es auch schaffen, obwohl solch ein rasanter Aufstieg höchst selten ist. Und so geht es immer weiter. Paloma erkennt nicht, dass sie eine andere Tänzerin ist als ihre Mutter. Julieta besaß übermenschliche Kräfte. Mein armer Liebling weigerte sich sogar bis zum Allerletzten, Morphium zu nehmen. Aber Paloma ... tja, du hattest ja nie Gelegenheit, sie tanzen zu sehen: Dieses dünne, stille Mädchen lebt auf der Bühne auf, bewegt sich mit einer Schönheit und Zartheit, dass es einem das Herz bricht. Was soll ich nur tun ? Je mehr ich rede, umso mehr zieht sie sich zurück. Also sage ich nichts und beschränke mich darauf, sie vor allem zu schützen, was ihr empfindliches Gemüt beunruhigen könnte oder ihren ohnedies ängstlichen Geist erschrecken. Ich habe furchtbare Sorge, dass sie etwas zu sehr aufregen und zerbrechen könnte. Und ich kann nur hoffen und beten, dass die Zeit ihre Wunden heilt.
Es wird spät, und meine Augen sind schwächer als früher, deshalb mache ich jetzt Schluss. Ich verspreche dir, bald wieder zu schreiben.
Ich küsse dich, in Liebe,
Evelina
3
Paloma
»Mon Dieu, Paloma !«, rief Gaby, die mich mit ihren strahlend blauen Augen ansah. »Ein Geist ?«
Ich blickte mich in dem Café in der Rue Mouffetard um, wo wir auf unseren Kaffee warteten. Der Mann neben uns hatte sich vom plötzlichen Ansturm der Studenten nicht in seiner Zeitungslektüre stören lassen, und zum Glück vermochte es Gabys Ausruf ebenso wenig.
»Unglaublich«, fuhr sie fort. »Das ist faszinierend!« Ihr Gesicht leuchtete vor Neugier.
Ich hatte befürchtet, dass ihr Studium der Rechts- und Politikwissenschaften sie zu einer Zynikerin gemacht hatte, und halbwegs erwartet, dass sie meinen Geisteszustand infrage stellen würde, als ich ihr von der unwirklichen Besucherin heute Morgen erzählte. Mir jedenfalls zitterten noch die Hände, und ich hatte versehentlich die Metrohaltestelle verpasst, weil ich in Gedanken damit beschäftigt gewesen war, wie die Erscheinung so schnell hatte verschwinden können.
»Wer könnte sie sein?«, fragte Gaby.
»Ich habe keine Ahnung.«
»Aber was hat das zu bedeuten?« Gaby strich sich mit einer Hand durch ihr schokoladenbraunes Haar. »Wenn ein Geist kommt, hat er entweder noch etwas zu beenden oder will vor etwas warnen.«
Ich befühlte die Ohrringe in meiner Jackentasche. Zweifellos hatte der Geist dieser Frau sie mir persönlich geben wollen, doch warum? Noch hatte ich Gaby nichts von den Ohrringen oder davon, wie die Naturgesetze gestört wurden, erzählt. Ich hatte beschlossen, sie ihr erst zu zeigen, wenn sie mir die Geschichte von dem Geist glaubte.
Aus dem Augenwinkel sah ich den jungen, schlaksigen Kellner, der sich mit unseren Kaffees zwischen den Tischen hindurchschlängelte. Wir unterbrachen unser Gespräch. Er stellte uns die Tassen hin, legte für jede von uns eine Serviette daneben und wollte gehen, als Gaby aufblickte. Sie war immer schön, heute jedoch besonders umwerfend in ihrer Nadelstreifenhose mit Schlag und dem kurzen Blumenkimono unter der offenen Jacke. Der Mode entsprechend trug sie keinen BH, sodass ihre kleinen, wohlgeformten Brüste bei jeder ihrer Bewegungen im Takt mit ihren Locken wippten. Der Kellner erstarrte.
»Darf ich Ihnen sonst noch etwas bringen, Mesdemoiselles?«, fragte er. »Möchten Sie ein Baguette oder eine Suppe? Einen Croque-Monsieur vielleicht ?« Der Höflichkeit halber sprach er uns beide an, würdigte mich jedoch keines Blickes.
»Oh, nein, nein«, antwortete Gaby mit einem strahlenden Lächeln. »Ich achte auf meine Figur.«
Einen Moment lang stand der Kellner vor ihr, öffnete seinen Mund und schloss ihn wieder. Offensichtlich faszinierte ihn Gabys Figur ebenfalls.
Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück. So gern ich Gaby auch die Ohrringe zeigen würde, hatte ich gelernt, geduldig zu sein, wann immer ein Mann unser Gespräch unterbrach. Oft wünschte ich, ich könnte wie sie sein: sorglos, charmant, jederzeit offen für einen harmlosen Flirt. Aber das konnte ich nicht. Während Gaby sehr extrovertiert und kontaktfreudig war, blieb ich hoffnungslos in meinem Kokon gefangen.
Der Kellner gab sein Bestes, Gaby zu einem Treffen nach der Arbeit zu überreden, was ihm nicht gelingen würde. Sie flirtete viel, war aber wählerisch, und er war nicht ihr Typ. Gewohnt charmant schmeichelte sie dem Kellner und erstickte zugleich jede Hoffnung auf eine Verabredung im Keim. Unterdes betrachtete ich meine Hände und fragte mich, warum ich Gaby von dem Geist erzählte, nicht Mamie.
Freundschaft zu schließen war mir nie leicht gefallen. Gaby und ich hatten uns vor Jahren in Mamies Ballettschule kennengelernt, bevor ich an der Ballettschule der Pariser Oper angenommen wurde. Auch Gaby war eine vielversprechende Schülerin gewesen, bis sie in die Pubertät kam und ihre Liebe zum Tanz dem größeren Interesse an Jungs wich. Manchmal glaubte ich, Gaby würde meine Gesellschaft tatsächlich genießen. Sie besaß das Talent, anderen zuzuhören und ihnen das Gefühl zu geben, sie wären faszinierend. In anderen Momenten ertappte ich mich bei dem Verdacht, dass sie nur mit mir in Kontakt blieb, um ihr Spanisch zu verbessern; das war nötig, wenn sie ihr Ziel, in den diplomatischen Dienst zu gehen, erreichen wollte. Sicherlich war sie nicht meine engste Vertraute. Die war und blieb Mamie. Andererseits wusste ich, sollte ich Mamie von dem Geist erzählen, würde sie glauben, ich hätte durch den Druck des letzten Jahres den Verstand verloren. Und irgendjemandem musste ich es erzählen.
Ich atmete den schweren Geruch des Cafés ein - Kaffee, Wein, Knoblauch, Brot und würziger Zigarettenrauch. Für mich waren es die klassischen Gerüche des Quartier Latin. Ich schlenderte gern durch dieses Viertel am linken Seine-Ufer, über die Märkte, durch die Buchhandlungen oder die Plattenläden, wo ich mir die Rolling Stones und Bryan Ferry anhörte. Viele der Straßen waren nach den Studentenunruhen 1968 geteert worden, aber in der Rue Mouffetard lag noch das alte Kopfsteinpflaster. Deshalb traf ich mich immer hier in dem Eckcafé mit Gaby, weil dieser Ort Geschichte pur war.
Der Kellner gab den Traum von dem, was hätte sein können, auf und ging, worauf Gaby sich wieder mir zuwandte. »Also, erzähl mir mehr von dem Geist«, sagte sie und nippte an ihrem Espresso.
Ich blickte sie an, meine Hand nahe meiner Jackentasche. Bis zu diesem Moment war der Geist ein interessantes Rätsel gewesen, wie eine Vorahnung, die wahr wurde, oder eine unheimlich treffende Weissagung. Zeigte ich Gaby die Ohrringe, würde die Sache auf eine neue Ebene katapultiert: Wir beide müssten die Echtheit der Erscheinung akzeptieren. Allerdings könnte Gaby auch denken, dass ich mir alles ausgedacht hätte.
Ich holte tief Luft und griff in meine Tasche. »Nun ja, da ist noch mehr ...«
»Bonjour!«
Noch eine Unterbrechung. Diesmal war es Marcel, Gabys neuester Freund. Ich ließ die Ohrringe in der Tasche wieder los.
»Bonjour!«, antwortete Gaby und erwiderte Marcels Küsse. Ich begrüßte ihn ebenfalls und hoffte, dass er nur zufällig vorbeikam und gleich wieder ging. Trotz ihres so unterschiedlichen Äußeren - Gaby in ihrer schillernden Kleidung und Marcel in seinem Lacoste-Hemd und dem Sakko - schien er neuerdings überall aufzutauchen, wo Gaby war. Ich war schon freudig überrascht gewesen, als sie mich allein im Café erwartete.
»Was gibt's Neues?«, fragte Marcel, zündete sich eine Zigarette an und bedeutete einer Kellnerin, dass er einen Kaffee wünschte. Dann machte er es sich auf einem Stuhl bequem, und meine Hoffnung, Gaby für mich zu haben, schwand dahin.
»Paloma hat einen Geist gesehen«, sagte Gaby. »In ihrem Innenhof. «
Hätte sie das Buttermesser genommen und mir in den Bauch gerammt, wäre es kaum schmerzhafter gewesen. Ich hatte ihr meine Geschichte anvertraut, ihr allein, damit sie unser Geheimnis blieb.
»Aha!«, sagte Marcel, blies eine Rauchwolke aus und warf mir ein spöttisches Lächeln zu. »Das ist Palomas spanisches Blut. Alle Spanier glauben, dass sie von Geistern verfolgt werden. Ein Spanier ohne einen Geist ist wie Paris ohne den Eiffelturm. Das eine kann ohne das andere nicht existieren.«
Ich verzog das Gesicht. Gern hätte ich ihm gesagt, dass er nicht wüsste, was er redete. Ich war nur zur Hälfte Spanierin. Mein Vater war ... ist ... Franzose. Und mein Geist war real, kein Produkt meiner Einbildungskraft. Ganz abgesehen davon war der Eiffelturm 1889 erbaut worden, nachdem Paris schon über Jahrhunderte existiert hatte. Das alles sagte ich nicht, weil ich Gaby nicht verärgern wollte.
Sie wiederum himmelte Marcel zwar mit ihrem Blick an, musste aber dennoch bemerkt haben, dass er mich beleidigt hatte. Rasch lenkte sie das Gespräch auf die jüngsten Ereignisse in Spanien.
»Heute Morgen in der Vorlesung haben alle darüber geredet, was Francos Tod für Spanien bedeutet. Die meisten vermuten, dass Spanien nun den Notstand ausrufen wird und die Studenten und Arbeiter auf die Straßen gehen. Professor Audret denkt, man lässt eventuell die Republikaner frei, die im Bürgerkrieg verhaftet wurden, um die Leute zu beschwichtigen.«
Marcel strich sich über sein aschblondes Haar. »Aber Juan Carlos wurde zum König ernannt. Die Monarchie ist wiederhergestellt und die Diktatur vorbei, wie Franco versprochen hatte. Jetzt sollten die Spanier froh sein.«
Gaby blickte kurz zu mir. »Vielleicht wollen sie keine Monarchie «, erwiderte sie. »Es kann doch sein, dass sie das wollen, was sie vor dem Krieg hatten: eine Demokratie wie Frankreich.«
»Pfff«, machte Marcel und nahm einen Zug von seiner Zigarette. »Die Spanier können mit Demokratie nicht umgehen. Deshalb hatten sie ja den Bürgerkrieg. Sie sind nicht wie die Franzosen. Und die Republikaner haben den Kampf verloren, weil sie gespalten waren.«
Ich hielt meinen Mund, obwohl ich kochte. Diese herablassende Art der Franzosen war mir nicht neu. Marcels Eltern besaßen eine Ferienwohnung an der Costa Brava, folglich kannte er von Spanien nur Sonne, billiges Essen und billige Arbeitskräfte. Ich bezweifelte, dass er jemals über die Polizeiverhöre nachdachte, die viele durchlitten, oder die Gefangenen, die an ihren Füßen aufgehängt wurden. Die spanische Regierung mochte der Auslandspresse gegenüber behaupten, dass die politischen »Feinde« human behandelt wurden, während viele von ihnen garrottiert wurden. Was Mamie zu Marcel sagen würde, wäre sie hier, wusste ich genau : »Die Republikaner haben den Krieg verloren, weil die Deutschen und die Italiener Franco mit Flugzeugen und Truppen versorgten, während die Briten und die Franzosen zugeschaut und nichts getan haben.« Mir hingegen schien es sinnlos, eine Diskussion mit Marcel anzufangen. Was immer ich sagte, würde er nur belächeln, und lieber schwieg ich, als mich seinem Spott auszusetzen. Für jemanden, der immer noch bei seinen Eltern wohnte, hatte er eine ärgerliche Art zu reden, als wäre er der Weltexperte für alles. Was Gaby nicht durchschaute. Oder aber sie ignorierte es.
Nachdem er sich einen Nizza-Salat mit Pommes frites bestellt, vertilgt und noch eine Zigarette geraucht hatte, verkündete Marcel, dass er einen Termin mit seinem Vorgesetzten hätte.
Gaby sah auf ihre Uhr. »Ich habe gar nicht gemerkt, dass es schon so spät ist«, sagte sie und stand auf. »In einer Viertelstunde ist meine nächste Vorlesung.«
Marcel bezahlte das Essen und die Kaffees. »Salut, Paloma!«, sagte er zu mir. »Und nimm dich in Acht vor noch mehr Geistern. «
Da war wieder das überhebliche Lächeln, für das ich ihn am liebsten geohrfeigt hätte.
Gaby küsste mich auf beide Wangen. »Wir sehen uns nächste Woche, oui?«
Der Moment, ihr die Ohrringe zu zeigen, war vorbei, und ich bezweifelte, dass sie mich beim nächsten Treffen überhaupt nach dem Geist fragen würde.
Ich sah Gaby und Marcel nach, die Arm in Arm die Straße entlanggingen. Anders als Gaby hatte ich keinerlei Erfahrung mit Männern. Die Gerüchte, dass alle männlichen Ballettschüler schwul waren, stimmten nicht, doch wir alle forderten uns bis zum Äußersten, um einen der wenigen begehrten Plätze zu bekommen, sodass keiner an etwas anderes als Tanzen dachte. Und bei Tänzern interessierte einen nur, ob sie stark genug waren, einen graziös hochzuheben. Ich dachte an die Stunden, die ich mit Mademoiselle Louvet arrangiert hatte, um mich für die nächste Auswahlrunde vorzubereiten. Ich musste einfach ins Opernballett, denn für alles andere war ich längst verdorben. Ein normales Leben war für mich keine Option mehr. Dazu war ich nie erzogen worden.
»Was soll das lange Gesicht?«
Ich drehte mich zu der älteren Frau um, die mich angesprochen hatte. Ihr Haar war feuerrot gefärbt, und die gemalten Augenbrauen stachen aus ihrem kräftig gepuderten Antlitz hervor. Sie sprach mit spanischem Akzent, doch ich kannte sie nicht.
Die Frau legte eine Hand auf meinen Arm. »Du bist jung! Du bist hübsch! Du solltest etwas tun, was dich glücklich macht. Hast du jemals über Tanzstunden nachgedacht?«
Die Absurdität ihrer Frage machte mich so perplex, dass ich nichts sagen konnte, als sie mir eine Broschüre in die Hand drückte. Es war das Faltblatt einer Schule für spanische Tänze in Montparnasse : Académie de Flamenco Carmen Rivas.
»Flamenco-Stunden?«, fragte ich.
»Sí.« Die Frau grinste. »Komm, es wird dir Spaß machen. Bei uns findest du nette Freunde.« Sie winkte mir zu, ehe sie weiterhuschte.
Ich ging zur Metrostation. Charaktertanz war an der Ballettschule nicht meine Stärke gewesen, was meine Lehrer verwunderte, weil ich Halbspanierin war. Vielleicht hatte mich auch Mamies Einstellung zum Flamenco abgeschreckt. Ich erinnerte mich, wie verächtlich sie das Gesicht verzog, als wir auf der Rue de la Huchette an einer Straßentänzergruppe vorbeigekommen waren. »Aber du bist Spanierin!«, hatte ich zu ihr gesagt. »Ich bin Katalanin«, korrigierte sie mich. »Der Flamenco kommt aus Andalusien. Franco zwang ganz Spanien das Bild von Stierkämpfen und Flamenco-Tänzern auf, und keines von beidem ist katalanische Tradition.«
Fast wollte ich das Faltblatt in den nächsten Papierkorb werfen, als die Ohrringe in meiner Tasche leise klimperten und meine Haut erwärmten, obgleich zwischen ihnen und meinem Oberschenkel zwei Lagen Kleidung waren. Bei diesem Effekt musste ich daran denken, wie ich Djagilew, meinen Nymphensittich, auf den Finger nahm und ihm den Hals kraulte. Vor Freude erwärmten sich dann seine kleinen Füße wie Heizplatten. Ich sah wieder auf die Broschüre. Komm, es wird dir Spaß machen ... Bei uns findest du nette Freunde. Der Anfängerkurs fand an einem Abend statt, an dem ich nicht bei Mamie unterrichtete. Ich liebte das klassische Ballett. Aber da sich das Opernballett mehr und mehr modernen Choreografien zuwandte, schadete es gewiss nicht, wenn in meinem Lebenslauf auch andere Tanzformen erwähnt wurden, oder? Ich steckte das Faltblatt in meine Tasche. Falls ich hinging, durfte ich es nicht Mamie erzählen.
Übersetzung: Sabine Schilasky
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Am 24. November, dem Tag nach der Beisetzung von Spaniens Diktator Generalísimo Franco, sah ich meinen ersten Geist. Der Morgen begann ziemlich unspektakulär. Ich wachte um sechs Uhr auf und streckte meine Arme und Beine, bevor ich aus dem Bett stieg. Es war noch dunkel, weshalb ich die Nachttischlampe mit dem Blumenschirm anknipste. Im fleckigen Licht zog ich meinen Trikotanzug und Strumpfhosen an. Meine Haarnadeln und das Stirnband waren in der Kommodenschublade. Ich steckte mir rasch das Haar nach hinten, wie ich es gewohnt war, bevor ich den Morgenmantel gegen die kühle Herbstluft überzog und in meine Hausschuhe schlüpfte.
Der Flur war dunkel, doch ich fand auch blind in die Küche. Leise schlich ich an Mamies Zimmer vorbei. Meine Großmutter, die ich »Mamie« nannte, wenn wir Französisch sprachen, und »Iaia«, wenn wir uns auf Katalanisch unterhielten, hatte einen tiefen Schlaf. Nicht einmal eine aufgeschreckte Rinderherde hätte sie wecken können; trotzdem bewegte ich mich lautlos, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte. Mamie sagte, keine Ballerina sollte vor neun aufstehen, geschweige denn vor neun Uhr trainieren. Aber ich war mit Gaby in ihrer Vorlesungspause in einem Café verabredet, und nachmittags musste ich Unterricht geben. Trotz der Ereignisse des letzten Sommers konnte ich meine täglichen Übungen an der Stange und ohne Stange nicht aufgeben, selbst wenn das bedeutete, dass ich früh aufstehen musste. Lieber würde ich auf Schlaf und Essen verzichten als auf meine Pliés, Tendus, Ronds de jambe und die Dehnübungen. Sie waren für mich so unverzichtbar wie das Atmen.
Ich schaltete das Licht über dem Herd ein und gab acht, meinen Nymphensittich Djagilew in seinem abgedeckten Käfig nicht zu wecken. Den australischen Papagei mit dem russischen Namen hatte Mamie mir zu meinem achtzehnten Geburtstag geschenkt, und er machte immerfort Lärm. Sobald die ersten Sonnenstrahlen morgens in die Küche fielen, begann er, Takte aus Mozarts »Alla Turca« zu pfeifen. Ich drehte den Wasserhahn auf und füllte einen Stieltopf mit Wasser. Auf der Küchenbank lag eine Ausgabe von El Diario, der spanischen Emigrantenzeitung. Das Blatt wandte sich an jene Exilspanier, die 1939, nach dem Bürgerkrieg, nach Frankreich geflohen waren. Auf dem Titel waren Fotos von Franco abgebildet, vom jungen Mann bis zum alten Diktator. Im Artikel stand, dass er zwei Wochen vor seinem dreiundachtzigsten Geburtstag gestorben war und auf einem Gefallenenfriedhof beigesetzt werden sollte. Der Absatz war mit Rotstift durchgestrichen worden, und daneben hatte Mamie geschrieben: »Faschistische Gefallene!« Ihrer Schrift sah man die Energie und Verbitterung deutlich an. Sonst schrieb sie weit vornehmer, damenhafter, und wären wir zwei nicht die einzigen Bewohner hier, hätte ich gedacht, dass es jemand anders geschrieben hatte.
Ich stand am Fenster, während ich darauf wartete, dass der Kaffee gebrüht war. Der Geruch von frischem Weißbrot wehte aus der Bäckerei auf der anderen Straßenseite herüber. Ich hob die Spitzengardine an und sah eine Schlange wartender Hausfrauen auf dem Gehweg vor dem Geschäft. Leidenschaft trieb sie früh aus dem Bett, so wie mich. Ihre galt dem Ziel, das beste Pain frais für ihre Familien zu bekommen, und dafür verzichteten sie gern auf Schlaf. Bei mir war es das Tanzen. Nichts schenkte mir größere Befriedigung, als mich in einer schönen Arabesque zu strecken oder einen eleganten Grand jeté zu vollführen, auch wenn ich sieben Tage die Woche von morgens bis in die Nacht dafür üben musste.
Das aufsteigende bittersüße Aroma verriet mir, dass der Kaffee fertig war. Ich ließ die Gardine los und bemerkte zum ersten Mal, dass sie ausgefranst war. Dann griff ich nach einer Tasse und einer Untertasse aus der bunt zusammengewürfelten Sammlung geblümten und schlichten Porzellans im Schrank. Als ich mich setzte und an dem honigdicken Gebräu nippte, berührte meine Lippe etwas Raues, und ich sah, dass die Tasse angeschlagen war. Mamie war penibel ordentlich, doch im Gegensatz zu meiner Mutter konnte sie mit angestoßenen Tassen oder ausgefransten Gardinen leben. »Schönheit steckt immer im Detail, Paloma«, hatte Mama früher gesagt. Nun war sie nicht mehr da, und meine Großmutter und ich wurstelten uns ohne sie durch unser angeschlagenes, ausgefranstes Leben.
Zum Ballettstudio meiner Großmutter gab es zwei Eingänge, einen direkt von unserer Küche aus, einen anderen im Treppenhaus neben unserer Wohnungstür. Ich nahm den Schlüssel vom Haken an der Küchentür und ging ins Studio. Durch die Fenster, die in den Hof des Wohnhauses zeigten, drang erstes Morgenlicht herein, deshalb machte ich die Lampen nicht an. Obwohl der Boden täglich gefegt und gewischt wurde, lag jener Staub und Modergeruch in der Luft des geschlossenen Saals, wie er für alte Pariser Gebäude typisch war.
Ich holte meine Ballettschuhe aus dem Schrank und hockte mich auf den Boden, um sie anzuziehen. Während ich die Bänderenden in die Schuhe stopfte, dachte ich an Mamies wütendes Gekritzel in der Zeitung. Als Kind hatte ich meine Großmutter oft nach ihrer Vergangenheit in Spanien gefragt, aber dann schürzte sie nur die Lippen, und alles Licht schwand aus ihren Augen. »Wenn du größer bist, vielleicht«, antwortete sie. Schon damals begriff ich, dass meine Fragen ihr wehtaten, und so lernte ich, sie nicht mehr auf ihr Leben vor Paris anzusprechen.
Ich legte meinen Morgenmantel und die Hausschuhe auf den Klavierhocker. Unsere Begleitpianistin, Madame Carré, würde später kommen, um Beethoven und Schubert zu den Übungen unserer Schülerinnen zu spielen. Allein übte ich lieber im Stillen, folgte meinem Körper statt dem Takt. Aus dem Demi-pliés ging ich ins Grand-pliés und genoss es, die Kraft und Biegsamkeit meiner Beine zu spüren. Ich erschauderte, als sich die Erinnerung an den letzten Juni in meine Gedanken drängte, an das Debakel in der Ballettschule. Rasch schloss ich die Augen und schob das Bild fort, wie ich schwitzend und mit einem Anfall von Übelkeit vor dem Anschlagbrett stand. Jahrelanges Training hatte mich gelehrt, mich vollkommen auf ein Ziel zu konzentrieren, bis ich es erreicht hatte, und ich wollte meine Träume jetzt nicht aufgeben.
Nach einer Stunde an der Stange war ich bereit, einige der freien Übungen zu machen. Ich stellte mich vor die verspiegelte Wand vorne im Studio und wollte mit einer Tendu-Kombination beginnen, als plötzlich das Licht draußen flackerte. Es war so seltsam, dass ich davon abgelenkt wurde. Ein Gewitter so früh am Morgen ? Im November ? Verwundert trat ich ans Fenster. Und da sah ich sie, mitten im Hof, als wartete sie auf jemanden. Anfangs erkannte ich gar nicht, dass sie ein Geist war, fragte mich nur angesichts ihres welligen schwarzen Haars und des stolz gereckten Kinns, ob sie Spanierin war. Sie gehörte nicht zu den anderen Exilspanierinnen, die Mamie kannte und die gelegentlich in unserer Wohnung zusammenkamen. Mein erster Gedanke war, dass sie eine Mutter sein musste, die hergekommen war, um sich auf dem Weg zur Arbeit nach Stunden für ihr Kind zu erkundigen.
Ich öffnete das Fenster und rief ihr zu: »Bonjour, Madame! Un moment, s'il vous plaît.«
Dann schnappte ich mir meine Stulpen und eine Jacke aus dem Schrank und zog mir weite Stiefel über die Spitzenschuhe. Bevor ich ins Treppenhaus lief, griff ich nach einem Faltblatt von unserer Schule, in dem die Unterrichtszeiten aufgeführt waren. Erst auf halbem Weg nach unten kam mir der Gedanke, dass die Hoftür um diese Zeit noch verriegelt sein müsste. Wie war die Frau hereingekommen? Wir hatten keine Concierge, weil mein Großvater nichts von ihnen hielt. Er hatte jeden außerhalb der Familie als potenziellen Spion betrachtet.
Unten angekommen, öffnete ich die Tür zum Hof. Sogleich biss mir die kalte Luft in die Wangen, und ich fröstelte. Die Frau war nicht mehr da. Wo konnte sie hin sein? Auf einmal fühlte ich, dass mich jemand beobachtete. Ich wandte mich um und entdeckte sie bei dem alten Brunnen, der längst nicht mehr benutzt wurde. Mir stockte der Atem. Ihre Ausstrahlung erinnerte mich an die großen Solotänzer des Pariser Balletts: majestätisch. Ihr Gesicht war nur beinahe oval und die Nase über dem kräftigen, roten Mund breit und flach. Aber ihre Augen ... Noch nie hatte ich solche Augen gesehen. Sie waren wie schwarze Muscheln, die unter der Wasseroberfläche schimmerten, von einer Tiefe, die keinen Zweifel ließ, dass die Frau nicht von dieser Welt war.
Langsam bewegte sie sich auf mich zu, einen Arm mit tänzerischer Grazie aus dem Cape gestreckt. Ihre Hand verharrte nahe meiner, als wollte sie mir etwas geben. Unwillkürlich öffnete ich meine Hand, und zwei kleine Objekte fielen hinein. Ich blickte nach unten und sah ein Paar goldene Ohrringe. Verwundert schaute ich wieder hoch, doch die Frau war genauso plötzlich verschwunden, wie sie gekommen war, und es blieb nichts außer dem Echo ihrer Schritte und den Ohrringen in meiner Hand.
2
Evelina
Liebste Schwester!
Nun ist das Monstrum endlich tot! Sollen sie Francos Leichnam ruhig alle Ehren zukommen lassen, die sie wollen, denn seine Seele wird in der Hölle verrotten, zusammen mit denen der anderen Teufel, Hitler und Mussolini! Sollen die Führer Europas und Amerikas nur dem Mann Respekt erweisen, der ihre Hilfe annahm, ohne eine Gegenleistung zu erbringen, und der ihre Politik der Nichteinmischung nutzte, um die rechtmäßige Regierung Spaniens zu stürzen und Tausende zu ermorden. Wissen sie nicht, wie verhasst Franco war? Dass seine Herrschaft auf Unterdrückung gründete? Francos Tod, so erfreulich er auch sein mag, weckt zu viele düstere Erinnerungen in mir. Vielleicht wird die Zeit irgendwann erhellen, was ich gegenwärtig nicht zu sehen oder zu erinnern ertrage. Man sagt, nun, da er fort ist, wird ein neues Spanien entstehen, doch solche Versprechen hörten wir schon früher und wurden bitter enttäuscht. Nicht einmal hier, im französischen Exil, fühle ich mich vollkommen sicher. Und ebenso fürchte ich nach wie vor um deine Sicherheit, sogar im fernen Australien.
Du hast mich gefragt, wie es Paloma geht. Leider hat meine Enkelin in ihrem jungen Leben bereits zu viele Schicksalsschläge hinnehmen müssen: den Tod meiner geliebten Julieta, die Enttäuschung durch ihren Vater, das Pech bei ihrer Bewerbung an der Pariser Oper. Als ich heute Morgen aufstand, war Paloma schon angekleidet und rumorte in der Küche herum. Sie wirkte durcheinander, ließ Dinge fallen, als hätte sie etwas verschreckt. Obgleich sie Catherine Deneuves toupierte Frisur nachahmt und ihre goldbraunen Augen mit Eyeliner betont, sah sie in ihrem Samtmantel und dem Schal so jung und zerbrechlich aus, dass ich sie am liebsten auf den Schoß genommen und mit Tomatenbrot gefüttert hätte, wie ich es tat, als sie noch ein Kind war. Sie war in Eile, eine Freundin zu treffen, die an der Sorbonne studiert. Gern hätte ich sie gefragt, was geschehen war, das sie derart nervös machte, ließ es aber bleiben. Dieser Tage erzählt sie mir längst nicht mehr alles. Erlebt sie einen Tiefschlag, zieht sie sich in ihre eigene Welt zurück und meidet jeden, der sie zwingen könnte, sich der Realität zu stellen. Immer noch übt sie sechs bis sieben Stunden täglich und geht eifrig die Post durch, als könnte alles, was letzten Juni geschehen ist, wieder rückgängig gemacht und ihr doch ein Platz beim Pariser Opernballett angeboten werden. Diese vermaledeite Arielle Marineau! Sie hat Julieta immer gehasst, und jetzt, wo ihre Rivalin nicht mehr lebt, rächt sie sich an deren unschuldiger Tochter. Sie wäre den Belastungen einer professionellen Tänzerin nicht gewachsen - was für ein Unsinn! Seit ihrer Kindheit trainiert Paloma außerordentlich hart und ist geschaffen dafür, eine Solotänzerin zu sein. Marineau genießt zu große Macht, und die übrigen Prüfer, die gesehen haben müssen, wie außergewöhnlich Paloma ist, trauten sich nicht, gegen die Ballettchefin zu stimmen. So geht es in der Welt des Tanzes zu: Schönheit und Verrat.
Immer wieder sage ich zu ihr, Paloma, so ist das Leben. Du schmiedest einen Plan, und jemand kommt und durchkreuzt ihn. Aber du darfst dich nicht in die Niederlage fügen. Finde einen anderen Weg, deinen Traum wahr zu machen. Das sage ich zu ihr. Die Pariser Oper ist nicht das einzige große Ballett, und Paloma hatte Angebote von Talentsuchern aus New York und London. Doch ich bin nicht sicher, ob sie mir überhaupt zuhört. Es ist, als glaubte sie, die Erinnerung an ihre Mutter nur wachhalten zu können, indem sie in deren Fußstapfen tritt. Julieta machte ihren Abschluss an der Pariser Opernballettschule mit Bravour, also muss Paloma es auch; Julieta wurde mit neunzehn zur Première danseuse und mit zwanzig zur Solotänzerin, also muss sie es auch schaffen, obwohl solch ein rasanter Aufstieg höchst selten ist. Und so geht es immer weiter. Paloma erkennt nicht, dass sie eine andere Tänzerin ist als ihre Mutter. Julieta besaß übermenschliche Kräfte. Mein armer Liebling weigerte sich sogar bis zum Allerletzten, Morphium zu nehmen. Aber Paloma ... tja, du hattest ja nie Gelegenheit, sie tanzen zu sehen: Dieses dünne, stille Mädchen lebt auf der Bühne auf, bewegt sich mit einer Schönheit und Zartheit, dass es einem das Herz bricht. Was soll ich nur tun ? Je mehr ich rede, umso mehr zieht sie sich zurück. Also sage ich nichts und beschränke mich darauf, sie vor allem zu schützen, was ihr empfindliches Gemüt beunruhigen könnte oder ihren ohnedies ängstlichen Geist erschrecken. Ich habe furchtbare Sorge, dass sie etwas zu sehr aufregen und zerbrechen könnte. Und ich kann nur hoffen und beten, dass die Zeit ihre Wunden heilt.
Es wird spät, und meine Augen sind schwächer als früher, deshalb mache ich jetzt Schluss. Ich verspreche dir, bald wieder zu schreiben.
Ich küsse dich, in Liebe,
Evelina
3
Paloma
»Mon Dieu, Paloma !«, rief Gaby, die mich mit ihren strahlend blauen Augen ansah. »Ein Geist ?«
Ich blickte mich in dem Café in der Rue Mouffetard um, wo wir auf unseren Kaffee warteten. Der Mann neben uns hatte sich vom plötzlichen Ansturm der Studenten nicht in seiner Zeitungslektüre stören lassen, und zum Glück vermochte es Gabys Ausruf ebenso wenig.
»Unglaublich«, fuhr sie fort. »Das ist faszinierend!« Ihr Gesicht leuchtete vor Neugier.
Ich hatte befürchtet, dass ihr Studium der Rechts- und Politikwissenschaften sie zu einer Zynikerin gemacht hatte, und halbwegs erwartet, dass sie meinen Geisteszustand infrage stellen würde, als ich ihr von der unwirklichen Besucherin heute Morgen erzählte. Mir jedenfalls zitterten noch die Hände, und ich hatte versehentlich die Metrohaltestelle verpasst, weil ich in Gedanken damit beschäftigt gewesen war, wie die Erscheinung so schnell hatte verschwinden können.
»Wer könnte sie sein?«, fragte Gaby.
»Ich habe keine Ahnung.«
»Aber was hat das zu bedeuten?« Gaby strich sich mit einer Hand durch ihr schokoladenbraunes Haar. »Wenn ein Geist kommt, hat er entweder noch etwas zu beenden oder will vor etwas warnen.«
Ich befühlte die Ohrringe in meiner Jackentasche. Zweifellos hatte der Geist dieser Frau sie mir persönlich geben wollen, doch warum? Noch hatte ich Gaby nichts von den Ohrringen oder davon, wie die Naturgesetze gestört wurden, erzählt. Ich hatte beschlossen, sie ihr erst zu zeigen, wenn sie mir die Geschichte von dem Geist glaubte.
Aus dem Augenwinkel sah ich den jungen, schlaksigen Kellner, der sich mit unseren Kaffees zwischen den Tischen hindurchschlängelte. Wir unterbrachen unser Gespräch. Er stellte uns die Tassen hin, legte für jede von uns eine Serviette daneben und wollte gehen, als Gaby aufblickte. Sie war immer schön, heute jedoch besonders umwerfend in ihrer Nadelstreifenhose mit Schlag und dem kurzen Blumenkimono unter der offenen Jacke. Der Mode entsprechend trug sie keinen BH, sodass ihre kleinen, wohlgeformten Brüste bei jeder ihrer Bewegungen im Takt mit ihren Locken wippten. Der Kellner erstarrte.
»Darf ich Ihnen sonst noch etwas bringen, Mesdemoiselles?«, fragte er. »Möchten Sie ein Baguette oder eine Suppe? Einen Croque-Monsieur vielleicht ?« Der Höflichkeit halber sprach er uns beide an, würdigte mich jedoch keines Blickes.
»Oh, nein, nein«, antwortete Gaby mit einem strahlenden Lächeln. »Ich achte auf meine Figur.«
Einen Moment lang stand der Kellner vor ihr, öffnete seinen Mund und schloss ihn wieder. Offensichtlich faszinierte ihn Gabys Figur ebenfalls.
Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück. So gern ich Gaby auch die Ohrringe zeigen würde, hatte ich gelernt, geduldig zu sein, wann immer ein Mann unser Gespräch unterbrach. Oft wünschte ich, ich könnte wie sie sein: sorglos, charmant, jederzeit offen für einen harmlosen Flirt. Aber das konnte ich nicht. Während Gaby sehr extrovertiert und kontaktfreudig war, blieb ich hoffnungslos in meinem Kokon gefangen.
Der Kellner gab sein Bestes, Gaby zu einem Treffen nach der Arbeit zu überreden, was ihm nicht gelingen würde. Sie flirtete viel, war aber wählerisch, und er war nicht ihr Typ. Gewohnt charmant schmeichelte sie dem Kellner und erstickte zugleich jede Hoffnung auf eine Verabredung im Keim. Unterdes betrachtete ich meine Hände und fragte mich, warum ich Gaby von dem Geist erzählte, nicht Mamie.
Freundschaft zu schließen war mir nie leicht gefallen. Gaby und ich hatten uns vor Jahren in Mamies Ballettschule kennengelernt, bevor ich an der Ballettschule der Pariser Oper angenommen wurde. Auch Gaby war eine vielversprechende Schülerin gewesen, bis sie in die Pubertät kam und ihre Liebe zum Tanz dem größeren Interesse an Jungs wich. Manchmal glaubte ich, Gaby würde meine Gesellschaft tatsächlich genießen. Sie besaß das Talent, anderen zuzuhören und ihnen das Gefühl zu geben, sie wären faszinierend. In anderen Momenten ertappte ich mich bei dem Verdacht, dass sie nur mit mir in Kontakt blieb, um ihr Spanisch zu verbessern; das war nötig, wenn sie ihr Ziel, in den diplomatischen Dienst zu gehen, erreichen wollte. Sicherlich war sie nicht meine engste Vertraute. Die war und blieb Mamie. Andererseits wusste ich, sollte ich Mamie von dem Geist erzählen, würde sie glauben, ich hätte durch den Druck des letzten Jahres den Verstand verloren. Und irgendjemandem musste ich es erzählen.
Ich atmete den schweren Geruch des Cafés ein - Kaffee, Wein, Knoblauch, Brot und würziger Zigarettenrauch. Für mich waren es die klassischen Gerüche des Quartier Latin. Ich schlenderte gern durch dieses Viertel am linken Seine-Ufer, über die Märkte, durch die Buchhandlungen oder die Plattenläden, wo ich mir die Rolling Stones und Bryan Ferry anhörte. Viele der Straßen waren nach den Studentenunruhen 1968 geteert worden, aber in der Rue Mouffetard lag noch das alte Kopfsteinpflaster. Deshalb traf ich mich immer hier in dem Eckcafé mit Gaby, weil dieser Ort Geschichte pur war.
Der Kellner gab den Traum von dem, was hätte sein können, auf und ging, worauf Gaby sich wieder mir zuwandte. »Also, erzähl mir mehr von dem Geist«, sagte sie und nippte an ihrem Espresso.
Ich blickte sie an, meine Hand nahe meiner Jackentasche. Bis zu diesem Moment war der Geist ein interessantes Rätsel gewesen, wie eine Vorahnung, die wahr wurde, oder eine unheimlich treffende Weissagung. Zeigte ich Gaby die Ohrringe, würde die Sache auf eine neue Ebene katapultiert: Wir beide müssten die Echtheit der Erscheinung akzeptieren. Allerdings könnte Gaby auch denken, dass ich mir alles ausgedacht hätte.
Ich holte tief Luft und griff in meine Tasche. »Nun ja, da ist noch mehr ...«
»Bonjour!«
Noch eine Unterbrechung. Diesmal war es Marcel, Gabys neuester Freund. Ich ließ die Ohrringe in der Tasche wieder los.
»Bonjour!«, antwortete Gaby und erwiderte Marcels Küsse. Ich begrüßte ihn ebenfalls und hoffte, dass er nur zufällig vorbeikam und gleich wieder ging. Trotz ihres so unterschiedlichen Äußeren - Gaby in ihrer schillernden Kleidung und Marcel in seinem Lacoste-Hemd und dem Sakko - schien er neuerdings überall aufzutauchen, wo Gaby war. Ich war schon freudig überrascht gewesen, als sie mich allein im Café erwartete.
»Was gibt's Neues?«, fragte Marcel, zündete sich eine Zigarette an und bedeutete einer Kellnerin, dass er einen Kaffee wünschte. Dann machte er es sich auf einem Stuhl bequem, und meine Hoffnung, Gaby für mich zu haben, schwand dahin.
»Paloma hat einen Geist gesehen«, sagte Gaby. »In ihrem Innenhof. «
Hätte sie das Buttermesser genommen und mir in den Bauch gerammt, wäre es kaum schmerzhafter gewesen. Ich hatte ihr meine Geschichte anvertraut, ihr allein, damit sie unser Geheimnis blieb.
»Aha!«, sagte Marcel, blies eine Rauchwolke aus und warf mir ein spöttisches Lächeln zu. »Das ist Palomas spanisches Blut. Alle Spanier glauben, dass sie von Geistern verfolgt werden. Ein Spanier ohne einen Geist ist wie Paris ohne den Eiffelturm. Das eine kann ohne das andere nicht existieren.«
Ich verzog das Gesicht. Gern hätte ich ihm gesagt, dass er nicht wüsste, was er redete. Ich war nur zur Hälfte Spanierin. Mein Vater war ... ist ... Franzose. Und mein Geist war real, kein Produkt meiner Einbildungskraft. Ganz abgesehen davon war der Eiffelturm 1889 erbaut worden, nachdem Paris schon über Jahrhunderte existiert hatte. Das alles sagte ich nicht, weil ich Gaby nicht verärgern wollte.
Sie wiederum himmelte Marcel zwar mit ihrem Blick an, musste aber dennoch bemerkt haben, dass er mich beleidigt hatte. Rasch lenkte sie das Gespräch auf die jüngsten Ereignisse in Spanien.
»Heute Morgen in der Vorlesung haben alle darüber geredet, was Francos Tod für Spanien bedeutet. Die meisten vermuten, dass Spanien nun den Notstand ausrufen wird und die Studenten und Arbeiter auf die Straßen gehen. Professor Audret denkt, man lässt eventuell die Republikaner frei, die im Bürgerkrieg verhaftet wurden, um die Leute zu beschwichtigen.«
Marcel strich sich über sein aschblondes Haar. »Aber Juan Carlos wurde zum König ernannt. Die Monarchie ist wiederhergestellt und die Diktatur vorbei, wie Franco versprochen hatte. Jetzt sollten die Spanier froh sein.«
Gaby blickte kurz zu mir. »Vielleicht wollen sie keine Monarchie «, erwiderte sie. »Es kann doch sein, dass sie das wollen, was sie vor dem Krieg hatten: eine Demokratie wie Frankreich.«
»Pfff«, machte Marcel und nahm einen Zug von seiner Zigarette. »Die Spanier können mit Demokratie nicht umgehen. Deshalb hatten sie ja den Bürgerkrieg. Sie sind nicht wie die Franzosen. Und die Republikaner haben den Kampf verloren, weil sie gespalten waren.«
Ich hielt meinen Mund, obwohl ich kochte. Diese herablassende Art der Franzosen war mir nicht neu. Marcels Eltern besaßen eine Ferienwohnung an der Costa Brava, folglich kannte er von Spanien nur Sonne, billiges Essen und billige Arbeitskräfte. Ich bezweifelte, dass er jemals über die Polizeiverhöre nachdachte, die viele durchlitten, oder die Gefangenen, die an ihren Füßen aufgehängt wurden. Die spanische Regierung mochte der Auslandspresse gegenüber behaupten, dass die politischen »Feinde« human behandelt wurden, während viele von ihnen garrottiert wurden. Was Mamie zu Marcel sagen würde, wäre sie hier, wusste ich genau : »Die Republikaner haben den Krieg verloren, weil die Deutschen und die Italiener Franco mit Flugzeugen und Truppen versorgten, während die Briten und die Franzosen zugeschaut und nichts getan haben.« Mir hingegen schien es sinnlos, eine Diskussion mit Marcel anzufangen. Was immer ich sagte, würde er nur belächeln, und lieber schwieg ich, als mich seinem Spott auszusetzen. Für jemanden, der immer noch bei seinen Eltern wohnte, hatte er eine ärgerliche Art zu reden, als wäre er der Weltexperte für alles. Was Gaby nicht durchschaute. Oder aber sie ignorierte es.
Nachdem er sich einen Nizza-Salat mit Pommes frites bestellt, vertilgt und noch eine Zigarette geraucht hatte, verkündete Marcel, dass er einen Termin mit seinem Vorgesetzten hätte.
Gaby sah auf ihre Uhr. »Ich habe gar nicht gemerkt, dass es schon so spät ist«, sagte sie und stand auf. »In einer Viertelstunde ist meine nächste Vorlesung.«
Marcel bezahlte das Essen und die Kaffees. »Salut, Paloma!«, sagte er zu mir. »Und nimm dich in Acht vor noch mehr Geistern. «
Da war wieder das überhebliche Lächeln, für das ich ihn am liebsten geohrfeigt hätte.
Gaby küsste mich auf beide Wangen. »Wir sehen uns nächste Woche, oui?«
Der Moment, ihr die Ohrringe zu zeigen, war vorbei, und ich bezweifelte, dass sie mich beim nächsten Treffen überhaupt nach dem Geist fragen würde.
Ich sah Gaby und Marcel nach, die Arm in Arm die Straße entlanggingen. Anders als Gaby hatte ich keinerlei Erfahrung mit Männern. Die Gerüchte, dass alle männlichen Ballettschüler schwul waren, stimmten nicht, doch wir alle forderten uns bis zum Äußersten, um einen der wenigen begehrten Plätze zu bekommen, sodass keiner an etwas anderes als Tanzen dachte. Und bei Tänzern interessierte einen nur, ob sie stark genug waren, einen graziös hochzuheben. Ich dachte an die Stunden, die ich mit Mademoiselle Louvet arrangiert hatte, um mich für die nächste Auswahlrunde vorzubereiten. Ich musste einfach ins Opernballett, denn für alles andere war ich längst verdorben. Ein normales Leben war für mich keine Option mehr. Dazu war ich nie erzogen worden.
»Was soll das lange Gesicht?«
Ich drehte mich zu der älteren Frau um, die mich angesprochen hatte. Ihr Haar war feuerrot gefärbt, und die gemalten Augenbrauen stachen aus ihrem kräftig gepuderten Antlitz hervor. Sie sprach mit spanischem Akzent, doch ich kannte sie nicht.
Die Frau legte eine Hand auf meinen Arm. »Du bist jung! Du bist hübsch! Du solltest etwas tun, was dich glücklich macht. Hast du jemals über Tanzstunden nachgedacht?«
Die Absurdität ihrer Frage machte mich so perplex, dass ich nichts sagen konnte, als sie mir eine Broschüre in die Hand drückte. Es war das Faltblatt einer Schule für spanische Tänze in Montparnasse : Académie de Flamenco Carmen Rivas.
»Flamenco-Stunden?«, fragte ich.
»Sí.« Die Frau grinste. »Komm, es wird dir Spaß machen. Bei uns findest du nette Freunde.« Sie winkte mir zu, ehe sie weiterhuschte.
Ich ging zur Metrostation. Charaktertanz war an der Ballettschule nicht meine Stärke gewesen, was meine Lehrer verwunderte, weil ich Halbspanierin war. Vielleicht hatte mich auch Mamies Einstellung zum Flamenco abgeschreckt. Ich erinnerte mich, wie verächtlich sie das Gesicht verzog, als wir auf der Rue de la Huchette an einer Straßentänzergruppe vorbeigekommen waren. »Aber du bist Spanierin!«, hatte ich zu ihr gesagt. »Ich bin Katalanin«, korrigierte sie mich. »Der Flamenco kommt aus Andalusien. Franco zwang ganz Spanien das Bild von Stierkämpfen und Flamenco-Tänzern auf, und keines von beidem ist katalanische Tradition.«
Fast wollte ich das Faltblatt in den nächsten Papierkorb werfen, als die Ohrringe in meiner Tasche leise klimperten und meine Haut erwärmten, obgleich zwischen ihnen und meinem Oberschenkel zwei Lagen Kleidung waren. Bei diesem Effekt musste ich daran denken, wie ich Djagilew, meinen Nymphensittich, auf den Finger nahm und ihm den Hals kraulte. Vor Freude erwärmten sich dann seine kleinen Füße wie Heizplatten. Ich sah wieder auf die Broschüre. Komm, es wird dir Spaß machen ... Bei uns findest du nette Freunde. Der Anfängerkurs fand an einem Abend statt, an dem ich nicht bei Mamie unterrichtete. Ich liebte das klassische Ballett. Aber da sich das Opernballett mehr und mehr modernen Choreografien zuwandte, schadete es gewiss nicht, wenn in meinem Lebenslauf auch andere Tanzformen erwähnt wurden, oder? Ich steckte das Faltblatt in meine Tasche. Falls ich hinging, durfte ich es nicht Mamie erzählen.
Übersetzung: Sabine Schilasky
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Belinda Alexandra
Belinda Alexandra ist die Tochter einer russischen Mutter und eines australischen Vaters. Seit ihrer Jugend pflegt sie ihre zwei großen Leidenschaften: das Reisen und das Schreiben. Ihr Debütroman "Die weiße Gardenie" wurde auf Anhieb ein internationaler Erfolg. 2011 erschien im Weltbild Buchverlag ihr Bestseller "Der Duft der wilden Rose". Die Autorin lebt in Sydney.
Bibliographische Angaben
- Autor: Belinda Alexandra
- 2013, 1, 576 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863652010
- ISBN-13: 9783863652012
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