Der verlorene Ursprung
Der junge Anthropologe Daniel Queralt erkrankt lebensgefährlich und fällt ins Koma, ohne dass die Ärzte eine Ursache dafür feststellen können. Sein Bruder Arnau setzt alles daran, ihn zu retten. Er erfährt, dass Daniel mit der Entzifferung einer...
Der junge Anthropologe Daniel Queralt erkrankt lebensgefährlich und fällt ins Koma, ohne dass die Ärzte eine Ursache dafür feststellen können. Sein Bruder Arnau setzt alles daran, ihn zu retten. Er erfährt, dass Daniel mit der Entzifferung einer geheimnisvollen Schrift der Inka zu tun hatte. Seine Spurensuche führt Arnau zu den Ruinen von Tiahuanaco im Dschungel des Amazonasgebiets. Ist Daniel einem uralten Fluch zum Opfer gefallen?
"Unwiderstehliche Dynamik, die den Leser wie ein Sog bis zur letzten Seite treibt."
Kölner Stadtanzeiger
Der verlorene Ursprung von Matilde Asensi
LESEPROBE
Das Telefonklingelte. Ich konnte mich nicht bewegen. Endlich verstummte es, und ichschlief wieder ein. Augenblicke später klingelte es erneut. Einmal, zweimal,dreimal Stille. Alles war dunkel; es mußte Abendsein. Da fing der verfluchte Apparat schon wieder an. Ich schnellte hoch, saßkerzengerade im Bett, die Augen weit aufgerissen. Jetzt wußteich es wieder: Daniel!
»Licht!« rief ich. Die Lampe am Kopfende ging an. Die Uhr auf demNachttisch zeigte zehn nach acht. »Und frei sprechen.«Das System gab ein sanftes Klicken von sich, um mir anzuzeigen, daß es das Gespräch in meinem Namen entgegengenommen hatteund ich reden konnte.
»Arnau? Ich bin s, Ona.«
Schlaftrunkenrieb ich mir das Gesicht und fuhr mir durchs Haar, das wie ein Helm an meinemKopf klebte. Die restlichen Lampen im Zimmer gingen langsam von selbst an.
»Ich habegeschlafen«, nuschelte ich. »Bist du im Krankenhaus?«
»Nein, zuHause.«
»Okay, gib mir eine halbe Stunde, dann hole ich dich ab. Wenn duwillst, können wir dort in der Cafeteria zu Abend essen.«
»Nein,nein, Arnau«, wehrte sie hastig ab. »Deswegen rufe ichnicht an. Es ist nur Also, ich habe da auf Daniels Schreibtisch ein paarPapiere gefunden und Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Es istmerkwürdig und macht mir angst. Könntest du kommen undsie dir ansehen?«
Mir dröhnteder Schädel. »Papiere ? Was für Papiere?«
»Notizenvon ihm. Sehr merkwürdige Notizen. Vielleicht spinne ich ja, aber Laß uns nicht am Telefon darüber reden. Bitte komm, siehsie dir an und sag mir, was du davon hältst.«
»InOrdnung. Ich bin gleich bei dir.«
Ich hatteeinen Bärenhunger, deshalb schlang ich das Abendessen, das Magdalena für michhingestellt hatte, in Etappen hinunter, vor dem Duschen und während ich michanzog. Sollte ich wie immer eine Jeans anziehen oder doch besser etwas Bequemeresfür die Nacht im Krankenhaus? Schließlich entschied ich mich für letzteres.Jeans tragen ist ja fast eine Lebenseinstellung, aber um fünf in der Frühkönnen sie sich in perverse Folterinstrumente verwandeln. Also nahm ich die schwarzeHose von einem meiner Geschäftsanzüge, dazu einen Pulli und ein paar alteLederschuhe, die ich in meinem Ankleidezimmer fand. Rasieren war zum Glück nochnicht fällig, ich band mir nur die Haare zusammen und fertig. Ich nahm eine Jackeaus dem Garderobenschrank, steckte das Handy in die Innentasche, verstaute denLaptop in einem Rucksack für den Fall, daß ich dieseNacht zum Arbeiten käme, und machte mich auf den Weg zu Ona.
Die Calle Xiprer ist eine dieser schmalen Alleen, in denen noch alteEinfamilienhäuser stehen und die gutnachbarliche Atmosphäre einer Kleinstadtherrscht. Um dort hinzugelangen, muß man umständlichhügelauf und hügelab fahren, aber wer glaubt, den schlimmsten Stadtverkehrhinter sich zu haben und bloß noch parken zu müssen, der hat sich geirrt. Die Autosstehen links und rechts derart gedrängt, daß man ohneDosenöffner kaum die Straßenseite wechseln kann. Es wäre ein Wunder gewesen,hätte ich an diesem Abend etwas anderes vorgefunden, aber das Wunder ließ aufsich warten. Deshalb tat ich schließlich, was ich dort immer tat. Ich stellteden Wagen an einer Straßenecke gegen die Fahrtrichtung halb auf dem Bürgersteigab.
Mein Bruderwohnte im vierten Stock eines gar nicht so alten Gebäudes. Ich war überzeugt, daß dort außerdem eine Sippe von Klonen hauste, die ausirgendeinem mysteriösen Gen- Experiment hervorgegangen sein mußten,denn im Aufzug begegnete ich jedesmal einer exaktenKopie von Jabba. Dieses Phänomen trat in schönerRegelmäßigkeit auf und irritierte mich dermaßen, daßich Daniel einmal gefragt hatte, ob ihm das auch schon aufgefallen sei. Erhatte gelacht und mir dann erklärt, eine ziemlich große Großfamilie habe in demHaus gleich mehrere Wohnungen gemietet, und deren Mitglieder sähen Jabba in der Tat nicht unähnlich.
»Nichtunähnlich ?«
»Ich bittedich, sie sind riesig und haben rote Haare, das ist aber auch alles!«
»Wie ein Eidem andern, würde ich sagen.«
»Jetztübertreibst du aber!«
Aber heutewar mein Bruder nicht da, und ich konnte ihm nicht wie sonst erzählen, daß ich wieder mit einem der Klone im Aufzug gefahren war.In der Wohnungstür stand meine Schwägerin. Sie hatte sich offensichtlichbereits zurechtgemacht, um mit mir ins Krankenhaus zu fahren, dennoch wirktesie angegriffen und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sie begrüßte mich miteinem mitfühlenden Lächeln. »Du siehst müde aus, Arnau.«
»Ich habenicht so gut geschlafen.« Ich trat in die Diele. Aus demWohnzimmer kam mir ein winziger Gnom entgegen, das Gesicht halb in ein altesSchultertuch gekuschelt, das er wie Linus von den Peanuts hinter sichherschleifte.
»Er isttodmüde«, wisperte Ona. »Mach ihn nicht wach.«
Ich hattegar keine Gelegenheit dazu. Auf halbem Weg entschied sich der tuchumhüllte Gnomkehrtzumachen und tapste zu Onas Eltern zurück, dievor dem Fernseher saßen. Das Sofa stand in meinem Blickfeld, ich winkte ihnenvon der Wohnungstür aus einen Gruß zu, während mich meine Schwägerin am linkenArm in Daniels Arbeitszimmer zog.
»Das mußt du dir ansehen, Arnau!« Ona drückte auf den Lichtschalter.Das Arbeitszimmer meines Bruders war kleiner als mein Ankleideraum, aber erhatte es fertiggebracht, eine Unmenge Holzregaledarin unterzubringen. Sie reichten bis an die Decke und quollen über vonBüchern, Zeitschriften, Heften und Ordnern. Mitten in diesem Tohuwabohu brachsein Schreibtisch fast zusammen unter Mappen und Papieren, die er zueinsturzgefährdeten Wällen um den ausgeschalteten Laptop aufgetürmt hatte.Daneben lagen einige Notizzettel und ein Kugelschreiber.
Ona tratan den Tisch, beugte sich über die Zettel, ohne etwas zu verschieben, und legteden Zeigefinger darauf. »Komm schon, lies das«, sagte sie leise.
Ich hatteden Rucksack noch über der Schulter, gab aber dem Drängen in Onas Stimme nach und trat an den Tisch. Direkt vor ihrerFingerspitze erkannte ich einige Sätze in der Handschrift meines Bruders, diezunächst recht leserlich, gegen Ende jedoch kaum mehr zu entziffern war:
»Mana huyarinqui lunthata? Hörst du nicht, Dieb? Jiwañta[ ] Du bist tot [ ], anatatäta chakxaña, du hast damit gespielt, den Balken von derTür zu nehmen. Jutayañäta allintarapiña, du wirst den Totengräber rufen, chhärma, noch heute nacht. Die anderen (sie) jiwanaqañapxijumaru, sterben alle überall für dich. Achakay, akapacha chhaqtañi jumaru. Ach, dieseWelt wird nicht mehr sichtbar sein für dich! Kamachi[ ], Gesetz [ ], lawt ata, verschlossenmit Schlüssel, Yäp «
Und alshätte Daniel langsam das Bewußtsein verloren, währendseine Hand weiterzuschreiben suchte, gingen dieBuchstaben in einzelne Linien über, in unsichere Zacken, die unvermittelt abbrachen.
Ich war wievom Donner gerührt, las das Geschriebene ungläubig noch ein zweites und eindrittes Mal.
»Was hältstdu davon?« fragte Onaunruhig. »Findest du das nicht auch merkwürdig?«
Ich machteden Mund auf, brachte aber keinen Ton hervor. Nein, ausgeschlossen. Es wareinfach lächerlich anzunehmen, diese Sätze könnten etwas mit Daniels Krankheitzu tun haben. Ja, sie beschrieben seinen Zustand Punkt für Punkt, und, ja, sie klangenbedrohlich. Doch konnte ein Mensch, der seinen Verstand beisammenhatte, ernsthaftglauben, daß ein Zusammenhang bestand zwischen dem,was mein Bruder vor seiner Erkrankung geschrieben hatte, und dem, was danngeschah? Wurden hier denn jetzt alle verrückt?
»Ich weißnicht, was ich sagen soll, Ona. Ehrlich, ich weiß es nicht.«
»Nur,Daniel hat daran gearbeitet, als er !«
»Ich weiß.Wir dürfen jetzt nicht den Kopf verlieren!« Onas Finger krampften sich um die Lehne von DanielsSchreibtischstuhl, daß die Knöchel weiß wurden.
»Überlegdoch mal, Ona«, sagte ich beschwichtigend. »Wie solltedieser Zettel die Agnosie und dieses verfluchte Cotardsyndrom ausgelöst haben? Sicher, auf den ersten Blicksieht es aus, als gäbe es einen Zusammenhang, aber das ist unmöglich, das ist grotesk!«
Einenschier endlosen Moment lang rührten wir uns nicht, starrten schweigend aufDaniels Notizen. Je öfter ich die Sätze las, desto größer wurden meine Angstund mein Argwohn. Und wenn sie nun doch eine Wirkung auf ihn gehabt hatten?Wenn ihn das, was er da gelesen und übersetzt hatte, nun so beeindruckt hatte, daß sein Unterbewußtsein ihm einenbösen Streich gespielt und diesen Fluch in eine tatsächliche Krankheitumgesetzt hatte? Ich wollte Onas lebhafte Phantasienicht weiter anregen und behielt meine Gedanken für mich - aber sie erschienenmir nicht vollkommen abwegig. Vielleicht war Daniel zu stark in seine Arbeitinvolviert gewesen oder zu erschöpft von seiner Forschung; vielleicht hatte erdie Grenzen der Belastbarkeit weit überschritten und mehr Zeit und Kraft inseine Karriere investiert, als gut für ihn war. Es konnte, es mußte eine vernünftige Erklärung geben, und wenn dasGekritzel auf diesem Zettel tausendmal den Anschein erweckte, Daniel seihypnotisiert worden
oder etwasin der Art. Was, zum Teufel, wußte ich denn schon überirgendwelche blöden Hexensprüche und Verwünschungen? Ich wandte zögernd denBlick von dem Zettel ab und schaute Ona an, die zumir aufsah. Ihre Augen waren verweint und gerötet. »Du hast recht, Arnau«, sagte sie leise. »Du hast vollkommen recht. Es ist Unsinn, ich weiß ja. Für einen Moment habe ichgedacht, das alles «
Ich legteihr einen Arm um die Schulter und zog sie an mich. Widerstandslos ließ sie esgeschehen. Sie war völlig am Ende. »Es ist für uns alle nicht leicht, Ona. Wir sind mit den Nerven fertig und machen uns umDaniel schreckliche Sorgen. Wenn man Angst hat, klammert man sich an jedenStrohhalm. Vielleicht hast du gedacht, wenn alles mit einer Art Fluch zu tunhätte, könnte man es mit ein bißchen Gegenzauberheilen, war es das?«
Sie fuhrsich mit der Hand über die Stirn, als wollte sie diese verrückten Gedankenwegwischen. »Komm, laß uns ins Krankenhaus fahren«,sagte sie und löste sich lächelnd aus meinem Arm. »Clifford und deine Muttermüssen hundemüde sein.« Während sie ihre Sachenzusammensuchte und sich von ihren Eltern und ihrem Sohn verabschiedete, bliebich weiter vor die- sem gottverdammten Zettel stehen.In meinem Kopf schwirrte es wie ein Schwarm Stechmücken im Sommer.
Das Custòdia war nicht weit entfernt, und eigentlich lohnte essich nicht, das Auto zu nehmen, aber wir dachten an den Morgen, wieübernächtigt und müde wir sein und wie endlos uns diese zehn Minuten zu Fußvorkommen würden.
»An was hatDaniel eigentlich genau gearbeitet?« fragte ich Ona, als wir vor einer roten Ampel halten mußten.
MeineSchwägerin seufzte. »An diesem bescheuerten ethnolinguistischenForschungsprojekt über die Inka«, schnaubte sie. »Marta, die Doctora des Fachbereichs, hat ihn kurz vor Weihnachtengefragt, ob er an dem Projekt mitarbeiten wolle. Eine überaus wichtigeStudie , hat sie gesagt. Eine Veröffentlichung, die das Ansehen der Fakultätsteigern wird Diese Schlange! Sie wollte bloß, daßDaniel für sie schuftet, damit sie am Schluß wieimmer die Lorbeeren ernten kann. Du weißt ja, wie das läuft.«
Mein Bruderwar Dozent für Anthropologie der Sprache an der UAB, der UniversidadAutónoma de Barcelona, im Fachbereich Sozial- undKulturanthropologie. Er war von jeher ein hervorragender Student gewesen, hatteakademische Auszeichnungen gesammelt und mit seinen knapp siebenundzwanzig Jahrenerreicht, was nur zu erreichen war. Trotzdem, und das wunderte mich, fühlte ersich mir anscheinend unterlegen. Nicht, daß er dasoffen gesagt hätte, aber seine häufigen Bemerkungen über meine Geschäfte und meinGeld ließen für mich keinen Zweifel daran. Und diese Konkurrenz war wohl auchder Grund, weshalb er sich so in seine Arbeit gekniet hatte. Vor der Erkrankungwaren seine Zukunftsaussichten jedenfalls glänzend gewesen.
»Hast du ander Uni Bescheid gesagt, was passiert ist?«
»Ja, ichhabe heute früh angerufen, bevor ich mich hingelegt habe. Sie brauchen dieKrankmeldung, damit sie jemanden als Vertretung einstellen können.«
Wirschlängelten uns durch eine Traube schweigender Menschen ins Custòdia-Krankenhaus. Ein sonderbares Gefühl, wieder hierzu sein, an diesem fremden und bedrückenden Ort. Und doch empfand ich ihnbereits als einen Teil meines Lebens, als gehörte er zu mir wie meine Familie. Daß Clifford und meine Mutter da waren, trug sicher dazubei, doch eigentlich waren die Gefühle schuld, die mich bei Daniels Anblicküberkamen. Er lag noch genauso da wie am Morgen, als wir ihn verlassen hatten.Sein Zustand habe sich nicht gebessert, berichtete meine Mutter, aber auchnicht verschlechtert. Das sei ein sehr gutes Zeichen.
»Heute mittag hat der Psychiater, Dr. Hernández,nach ihm gesehen«, erklärte sie weiter, gemütlich im Sessel sitzend; sie wirktekein bißchen müde. »Übrigens ein ganz reizender Mensch!Nicht, Clifford? So liebenswürdig und warmherzig! Er hat uns sehr beruhigenkönnen, nicht wahr, Clifford?«
Cliffordstand am Bett seines Sohnes und beachtete sie nicht weiter. Vermutlich hatte ersich den ganzen Tag kaum von der Stelle gerührt. Ich ging zu ihm hin, stelltemich neben ihn und sah wie er auf meinen Bruder hinunter. Daniels Augen waren offenund doch ohne jeden Blick. Er schien nichts von dem wahrzunehmen, was um ihnher gesprochen wurde.
»Diego also Dr. Hernández, hat uns versichert, daß es Daniel bald wieder gutgeht,weil nämlich die Medikamente, die er bekommt, zwei oder drei Tage brauchen, bissie anschlagen, das hat er uns erklärt, nicht, Clifford? Nächste Woche ist Danielwieder zu Hause, ihr werdet sehen! Ona, Liebes, stelldoch die Tasche nicht auf den Boden Schau, dort ist der Schrank. Übrigens,ein fürchterliches Krankenhaus! Wieso habt ihr ihn nicht in eine Privatklinikgebracht? Hier gibt es ja noch nicht einmal Stühle für alle!«Sie richtete sich empört in ihrem Sessel auf. »Clifford, sei doch so gut und sieh einmal nach, ob die Schwestern in dieser Schicht ein bißchen entgegenkommender sind und uns noch einen Stuhlüberlassen. Die haben doch allen Ernstes behauptet, es gebe auf der ganzenStation keinen freien Stuhl mehr, glaubt man das? Eine Frechheit! Aber sag dasdenen mal ins Gesicht, diesen diesen Drachen in ihren weißen Kitteln. Was fürunangenehme Personen! Nicht, Clifford? Aber warum gehst du denn nicht undfragst? Bestimmt überlassen sie uns jetzt wenigstens ein Bänkchen oder einenHocker oder, was weiß ich einen Schemel Einerlei, irgend etwas zum Sitzen!«
Und ja,natürlich überließen sie uns etwas, nämlich einen der grünen Plastikstühle ausdem Warteraum. Allerdings erst, als meine Mutter durch die Tür der Stationverschwunden war und feststand, daß sie vor demMorgen nicht wieder auftauchen würde. Die Krankenschwestern hatten dieStuhlfrage wohl persönlich genommen, was ich ihnen, ehrlich gesagt, nichtverdenken konnte. Ich hoffte inständig, daß Cliffordund meine Mutter sich an den Zugangscode für meine Wohnung erinnerten, dennandernfalls sah ich mich schon, wie ich sie auf der Polizeiwache in der Via Laietana loseiste.
Onasetzte sich in den Sessel und vertiefte sich in ein Buch, und ich zog den Stuhlan diesen Rollkasten mit ausklappbarer Verlängerung, der mal als Nachttisch,mal dem Pflegepersonal als Arbeitsfläche diente. Ich schob die Box mitPapiertüchern zur Seite, die Wasserflasche, Daniels Glas und die Augentropfen, diewir ihm regelmäßig geben mußten, da seine Bindehaut auszutrocknendrohte, weil er nicht oft genug blinzelte. Ich zog den kleinen Rechner aus demRucksack (ein leistungsstarkes Gerät, das trotzdem kaum mehr als ein Kilo wog),klappte ihn auf und schob ihn auf der Ablage zurecht, bis ich einigermaßen bequemtippen konnte und Platz für das Handy blieb, das ich für den Zugang zumIntranet von Ker-Central brauchte. Ich wollte einenBlick in die Post werfen, um zu sehen, was anstand, und die Unterlagen lesen,die Núria für mich vorbereitet hatte.
Eine halbeStunde gelang es mir, zu arbeiten und alles um mich herum zu vergessen. Ich warvöllig darin vertieft, die dringendsten Angelegenheiten der Firma zu erledigen,als ich zusammenfuhr. Daniel hatte aufgelacht. Es war ein düsteres Lachen, undein Blick über den Rand des Bildschirms zeigte mir, daßseine Lippen zu einem schrägen Grinsen verzerrt wa- ren.Ehe ich reagieren konnte, war Ona bereits aus demSessel aufgesprungen und beugte sich besorgt über Daniel, der weiter schieflächelte und die Lippen bewegte, als wollte er etwas sagen.
»Was hastdu denn, Daniel?« Sie streichelte ihm über Stirn undWangen.
»Lawt ata.« Er lachte erneut dieses trostloseLachen.
»Was hat ergesagt?« Ich trat ans Bett.
»KeineAhnung, ich habe es nicht verstanden!«
»Ich bintot«, kam es tonlos von Daniel. »Ich bin tot, weil die Yatirimich bestraft haben.«
»Um Himmelswillen, mein Liebling, rede doch nicht solchen Unsinn!«
»Wasbedeutet lawt ata, Daniel?«Ich stützte mich mit der Hand auf sein Kopfkissen, aber er drehte den Kopf wegund schwieg beharrlich.
»Laß ihn, Arnau.«Ona gab sich geschlagen und kehrte zu ihrem Buch unddem Sessel zurück. »Er sagt bestimmt nichts mehr. Du weißt doch, was er für einDickkopf ist.«
AberDaniels grausiges Lachen und seine Worte ließen mir keine Ruhe. Welche Sprachemochte das sein?
»Quechua oder Aymara«, sagte Ona sofort, als ich sie fragte.
»WahrscheinlichAymara. Quechua war die offizielleSprache der Inka, aber im Südosten ihres Reichs wurde Aymaragesprochen. Daniel mußte für seine Arbeit bei Marta Torrent beides lernen.«
»In denpaar Monaten?« Ich nahm meinen Stuhl und drehte ihn um, so daßich Ona ansehen konnte. Die Energieverwaltung desLaptops hatte die vorgenommenen Änderungen gespeichert und den Monitorausgeschaltet. Wenn ich nicht bald die Maus bewegte oder eine Taste drückte,würde das Programm auch die Festplatte abschalten.
»Für deinenBruder ist Sprachenlernen ein Klacks, wußtest du dasnicht?«
»Trotzdem.«
»Na ja «Sie lächelte gequält. »Er hat wirklich hart gear- beitet, seit er bei Marta angefangen hat. Wie gesagt, eshatte ihn gepackt. Er kam von der Uni, hat etwas gegessen und ist dann bisabends hinter seinem Schreibtisch verschwunden. Aber mit dem Quechualernen hat er ziemlich schnell aufgehört und sichganz auf das Aymara konzentriert. Das hat erjedenfalls gesagt.«
»DieserText den du mir gezeigt hast, war das auch Aymara?«
»Anzunehmen.«
»Und seineArbeit über die Inka, dieses wie hast du das genannt? EthnolinguistischesForschungsprojekt?«
»Ja.«
»Was inaller Welt ist das?«
»Die Ethnolinguistik ist ein Zweig der Anthropologie und untersuchtdie Beziehungen zwischen der Sprache und der Kultur eines Volkes«, erklärte siegeduldig. »Wie du weißt, kannten die Inka keine Schrift, und folglich beruhteihre Kultur auf mündlicher Überlieferung.«
Zuunterstellen, ich wisse das, war sehr freundlich von Ona.Bei mir weckte dies alles nur vage Erinnerungen an Schulstunden über dieEntdeckung Amerikas, über Kolumbus, die drei Karavellen und die KatholischenKönige. Hätte ich auf einer Karte zeigen sollen, wo die Inka, die Maya und dieAzteken gelebt hatten, ich wäre ganz schön ins Schleudern geraten.
»DanielsChefin Marta Torrent ist eine Koryphäe auf dem Gebiet.« Meine Schwägerin verzog das Gesicht. Offenbar konnte siediese Marta nicht ausstehen und fand es unmöglich, daßDaniel für sie gearbeitet hatte. »Sie hat jede Mengewissenschaftliche Werke veröffentlicht, schreibt für Fachzeitschriften ausaller Welt und wird zu allen Anthropologen-Kongressen eingeladen, bei denen esum Lateinamerika geht. Sie ist eine bedeutende Persönlichkeit. Und eineaufgeblasene und arrogante Ziege.« Ona schlugselbstgefällig die Beine übereinander und warf den Kopf zurück. »Hier, inKatalonien, sitzt sie nicht nur auf dem Lehrstuhl für Kultur- undSozialanthropologie an der UAB, nein, sie leitet auch das Zentrum fürinternationale und interkulturelle Lateinamerikastudien, und sie istVorsitzende des Katalanischen Instituts für iberoamerikanische Zusammenarbeit. Jetztverstehst du vielleicht, wieso Daniel für sie arbeiten mußte:Hätte er ihr Angebot abgelehnt, er hätte seine Uni-Karriere an den Nagel hängenkönnen.« Mein Bruder wälzte sich unruhig im Bett, warfden Kopf hin und her und schlug mit den Händen wie mit Flügeln. Hin und wiedermurmelte er dasselbe unverständliche Wort: lawt ata.Es mußte einen Grund geben, daßer ständig darauf zurückkam, doch der war für uns nicht ersichtlich. Danielflüsterte kaum hörbar »lawt ata« und warf sichunruhig herum; dann wiederholte er es mit einem Lachen, und anschließend war ereine Weile still, bis das Ganze wenig später von vorn anfing. »Okay, inOrdnung.« Ich strich mir über die stoppeligen Wangen. »Lassen wir diese Martaeinmal außen vor. Woran genau hat er eigentlich gearbeitet?«
Ona griffträge nach dem Buch, das aufgeschlagen über der Armlehne des Sessels lag, schobdas Lesezeichen zwischen die Seiten, klappte das Buch zu und ließ es in ihrenSchoß rutschen. »Ich weiß nicht, ob ich «
»Ona, ich bitte dich, ich will doch Daniel oder dieser Doctora nicht die Ideen klauen.«
Sie zog anden Ärmeln ihres Pullovers, bis sie die Hände darin vergraben konnte. »Ich weißdoch, Arnau, ich weiß! Aber Daniel hat mir ständigeingeschärft, daß ich mit niemandem darüber redensoll.«
»Nun, du mußt es wissen Ich versuche ja bloß zu begreifen, washier eigentlich vor sich geht.«
EinenMoment saß Ona in Gedanken versunken da, dann trafsie eine Entscheidung. »Du redest mit niemandem darüber, ja?«
© UllsteinBuchverlage
Übersetzung:Svenja Becker
- Autor: Matilde Asensi
- 2007, 528 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548607373
- ISBN-13: 9783548607375
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