Der Wind trägt meinen Schmerz davon
Der aufrüttelnde Bericht einer palästinensischen Lehrerin und Mutter. Als die israelische Armee ihr Dorf zum Sperrgebiet erklärt, geraten Um Mohammed und ihre Familie zwischen die Fronten.
Ein Kontrollpunkt, wird zum fast unüberwindbaren Hinderniss - und Hass und Wut wachsen täglich.
Der aufrüttelnde Bericht einer palästinensischen Lehrerin und Mutter. Als die israelische Armee ihr Dorf zum Sperrgebiet erklärt, geraten Um Mohammed und ihre Familie zwischen die Fronten.
Ein Kontrollpunkt, wird zum fast unüberwindbaren Hinderniss - und Hass und Wut wachsen täglich.
Die Israelis bauen einen "Sicherheitszaun" im Westjordanland. Als Ende 2003 bei einem kleinen Dorf nicht weit von Dschenin ein Checkpoint errichtet wird, rebellieren die Einwohner erst, doch dann fügen sie sich in ihr Schicksal. Nur die Lehrerin Um Mohammed will sich nicht damit abfinden, dass sie sich nicht mehr frei bewegen darf. Wütend zerreißt sie den Passierschein.
Ihre Schule allerdings ist in Dschenin, und um zu ihren Schülerinnen zu gelangen, muss sie durch den Kontrollpunkt. Ohne Passierschein aber darf sie ihr Dorf weder betreten noch verlassen. Von einem Tag auf den anderen ist sie eine Gefangene - ohne Anklage, ohne Prozess, ohne Urteil ...
In seinem aufrüttelnden Bericht zeichnet Raid Sabbah das Porträt eines Menschen in verzweifelter Lage. Hautnah erfahren die Leser, wie Leid und Unterdrückung den Nahen Osten zum Pulverfass machen.
Der Wind trägt meinen Schmerz davon von Raid Sabbah
LESEPROBE
Dschenin hat das zerknitterte Gesicht eineralten, von Müdigkeit und Kummer geplagten Mutter, die an den vergeblichenVersuchen, ihren Kindern ein sicheres und warmes Zuhause zu geben, zusehendsverzweifelt. Lange hat sie sich dabei in Geduld geübt, und sie kennt dieLichtstreifen der Zeit, aber nun ist ihr Gesicht weiß, ein beunruhigendes Weiß,keine Blässe, sondern die Farbe unaufhörlicher Bestürzung. Und jede Falte darinist eine tiefe Wunde, ein grober und verletzter Ausdruck, weil sie von derGeschichte und den Menschen schikaniert, gedemütigt und misshandelt wurde.Dschenin, die nördlichste Stadt im Westjordanland, hat Grausamkeiten gesehen,die sie vor Wahn bersten lassen könnten, und von Monat zu Monat wird ihrPulsschlag schwächer, stirbt sie ganz langsam dahin bis zu dem Tag, an welchemihre Atmung aussetzen und sie ihre Augen geschlossen halten wird, weil sie ihrLeben nicht mehr ertragen kann. Unten in der Innenstadt, zwischen denzerschossenen Fassaden der Häuser, im Gewühl des vormittäglichen Verkehrs, derzäh durch die aufgerissenen Straßen fließt, versucht ein jeder, sich irgendwieseinen Lebensunterhalt zu verdienen. Überall sieht man Männer, die auf altenund schäbigen Karren Obst und Gemüse, Süßigkeiten, Emailletöpfe und -pfannen,Socken und Strümpfe, Tabakwaren, Spielzeug oder nutzlosen Nippes lautstarkfeilbieten. Gleichzeitig sitzen deprimierte Händler in den vereinzeltgeöffneten Geschäften der Ladenzeilen und hoffen auf Kunden, die zwar zuhaufdurch die Gassen schlendern, doch in diesen feuchtkühlen Dezembertagen nurselten zum Geldbeutel greifen, weil dessen kläglicher Inhalt gerade mal für dasNötigste reicht. Das geschäftige Treiben ist nicht mehr als ein regelmäßigwiederkehrendes Ritual, alltägliche Normalität zu wahren, diese festzuhalten,sie im Schein zu konservieren, um dem Vergessen Einhalt zu gebieten. Laut undhart ertönt der Widerhall von Gewehrschüssen im Stadtkern, wieder und wieder,dass selbst Umm Mohammed, die einige hundert Meter Luftlinie entfernt aus einemKlassenzimmer im vierten Stock schaut, erschrocken zusammenzuckt, während ihreSchülerinnen im Volkskundeunterricht mit einer Schularbeit beschäftigt sind. Imnächsten Augenblick dreht sie sich nach den zehnjährigen Mädchen um und blicktin die jungen aufhorchenden Gesichter. Es seien nur Salven, sagt sie, bestimmtbei einem Gedenkzug abgefeuert, also kein Grund zur Beunruhigung, und fordertalle auf, weiterzumachen. Die Klasse wendet sich wieder ihrer Aufgabe zu, einemAufsatz, und trotz der Tatsache, dass der Lärm von Schüssen und Detonationenein fester Bestandteil des Alltags geworden ist - wie die Gebetsrufe desMuezzins -, kann Umm Mohammed ihre abermals verharmlosenden Äußerungen über dieSchüsse nicht fassen. Sie lässt sich am Lehrerpult nieder, und nachdenklichschweift ihr Blick über die vor ihr sitzenden Kinder, die gerade ihre Heimatporträtieren, jenes Land, von welchem die meisten nichts anderes kennen als diedurchlöcherten Gemäuer dieser Stadt. Zu Stundenbeginn, als Umm Mohammed leereBlätter ausgeteilt und ihre Schülerinnen mit der Aufgabenstellung vertrautgemacht hatte, fingen sie an zu schreiben, eifrig und strebsam. Doch Chada, einMädchen in der zweiten Reihe, starrte auf das leere Papier, und ihre Augenfüllten sich mit Tränen, weil sie nicht wusste, was sie hätte schreiben sollen.Und obgleich sie versuchte, ihre Hilflosigkeit zu verbergen, indem sie ihreweinenden Augen hinter dem Arm versteckte, konnte jede im Raum ihr leisesSchluchzen vernehmen, und einige drehten sich mitleidig zu ihr um. Doch nur solange, bis ihre Lehrerin ihnen einen strengen Blick zuwarf und sich ihrerverzweifelten Schülerin annahm. Chada war erst vor wenigen Wochen nach langerAbwesenheit wieder in die Schule zurückgekehrt. Ihr Vater war von bewaffnetenpalästinensischen Kämpfern vor dem Haus erschossen worden - irgendjemand hattebehauptet, dass er ein israelischer Spitzel, ein Kollaborateur gewesen sei. Siewurde in der Nacht durch das Geschrei der aufgebrachten Männer geweckt undhatte verschlafen aus dem Fenster ihres Zimmers beobachtet, wie ihre Mutter dieGruppe anflehte, ihren Mann zu verschonen, wieder und immer wieder, kreischend,schreiend, bis Schüsse fielen und Chada sich mit den Händen die Augen zuhielt:Sie wollte nicht sehen, was sich bereits als Gewissheit in ihr Gehirneingebrannt hatte und ihr die Stimme raubte, die sie erst Monate späterwiedererlangte. Behutsam wischte Umm Mohammed mit einem Taschentuch Chada dieTränen aus dem Gesicht und bat sie, aus dem Fenster des Klassenzimmers zublicken und die Dinge, die sie sehe, zu beschreiben. Viel war es nicht, abergenug, um eine Seite zu füllen und ihre Gedanken nicht in die Erinnerungabgleiten zu lassen, sondern sie lediglich damit zu beschäftigen, einStillleben zu malen, mit Wörtern, auch wenn dies nicht dem Thema ihrer Arbeitentsprach. Plötzlich erschallt das Klingeln zum Unterrichtsschluss, welchessich in Umm Mohammeds Ohren wie das Geschrei eines fordernden Babys anhört. DieKlasse bleibt noch anstandslos sitzen, bis die Lehrerin alle Arbeiten eingesammelt hat und mit einem »Bis morgen!« die Erlaubniserteilt, das Zimmer zu verlassen. Während die Schülerinnen freudighinausstürmen, sortiert sie ihre Unterlagen und packt sie in ihre graueKunstledertasche. Dann schaut sie durch die Reihen, ob nicht eines der Mädchenetwas vergessen hat, schließt die Fenster und macht sich auf den Weg, ihrenMann von seiner Schule abzuholen. Sie tritt auf die Hauptstraße und schlängeltsich durch den stockenden Verkehr der Innenstadt hindurch, vorbei an dem Duftvon frisch gemahlenem Kaffee und frittierten Falafeln. Da bemerkt sie, dass siesich wie eine Person fühlt, die sich vollkommen von ihrer Umgebung abgespaltenhat, diese nur flüchtig und ganz am Rande wahrnimmt, weil sie in ihren Gedankenversunken ist und sich unentwegt die Fragen stellt, was sie tun solle und wassie tun werde. Sie kann diese Endlosschleife der Gedanken nicht lenken, dennsie resultiert aus den unaufhörlichen Versuchen der vergangenen Monate, sichgegen den Mauerbau zu engagieren, auch wenn ihr klar war, dass sie ihn nichtaufhalten konnte. Dennoch musste sie etwas unternehmen. Sie hat unzähligeE-Mails und Briefe an Menschenrechtsorganisationen geschrieben, sie um Rat undHilfe gebeten und auch Hunderte von Telefonaten geführt mit verschiedenen Abteilungender Autonomiebehörde, mit Anwälten, israelischen wie auch palästinensischen,aber immer ohne jeden Erfolg. »Liebe Frau, uns sind die Hände gebunden«, wareine der Antworten, die sie am häufigsten zu hören bekam. Und jeden Tag, wennsie nachmittags nach Um Al-Rihan zurückfuhr, war die Mauer im Vergleich zumVortag in der Länge, Höhe und Breite gewachsen, hatte sich unaufhaltsamKilometer um Kilometer in das Land hineingefressen.
© DroemerKnaur
Autoren-Porträt vonRaid Kassab Abdallah Sabbah
Raid Kassab Abdallah Sabbah, geboren 1973 in Konstanz,arbeitet als Journalist, Drehbuchautor und Dokumentarfilmer. Zur Zeit studierter an der Filmakademie Baden-Württemberg. Seine Familie stammt aus Dschenin imWestjordanland.
Interview mitRaid Sabbah
Wie haben Sie Umm Mohammed, eine Lehrerin, derenLeben im Westjordanland Sie schildern, kennen gelernt?
Umm Mohammed lernte ichzufällig bei der Familie ihrer Schwester Umm Asem kennen, als ich dort zumAbendessen eingeladen war. Umm Mohammed schlief dort, weil sie bereits eineWoche zuvor ihren Passierschein zerrissen hatte. Von da an trafen wir uns jedenTag. Ich begleitete sie und ihren Mann Abu Mohammed, ob nach Salem oder in dieSchule. Dabei schilderten sie mir die ganze Vorgeschichte und die Kette vonEreignissen, die es zu der Situation hatte kommen lassen, in der sich UmmMohammed zu diesem Zeitpunkt befand.
Was hat Sie am stärksten an dieser Frau beeindruckt?
Was mich an Umm Mohammedfasziniert oder vielmehr in ihren Bann gezogen hat, war ihre starkePersönlichkeit als Frau, die der eines Mannes in der arabischen Gesellschaft innichts nachsteht. Aber ihr Wille kehrte sich gegen sie und brachte sie in einezuweilen schier ausweglose Situation. Sie musste sich nach und nacheingestehen, dass es auch die leisen Töne oder kleinen Dinge des Lebens sind,die den Widerstand und Kampf gegen die Besatzung ausmachen.
Nach dem Lesen bleiben starke Zweifel, ob dieMehrzahl der Palästinenser je mit Israel in Koexistenz leben könnte. Wieschätzen Sie dies ein? Hat der Frieden eine Chance?
Natürlich gibt es einereale Chance für den Frieden. Die Frage ist nur, wie man diesen erreicht. Ichglaube nicht, dass es ausreicht, lediglich die Bereitschaft einer Lösung immerwieder aufs Neue zu bekunden. Und man kann politisch gewiss nichts ausrichten,wenn man nicht die Menschen berücksichtigt, die viele Narben aus dem Jahrzehnteandauernden Konflikt mit sich tragen. Ich möchte es an einem Beispielfestmachen: die "Roadmap (to peace)" oder aber der"Friedensprozess" aus den Jahren 1993 bis 2000. Ich glaube nicht imGeringsten, dass es einen Prozess, einen Fahrplan oder einen Weg zum Friedengeben kann. Meine Überzeugung ist vielmehr, dass nur gegenseitige Achtung unddie Friedfertigkeit des Einzelnen zu einer dauerhaften Lösung führen. Dies sindMaximen, die nur durch die Erziehung und Ausbildung erreicht werden können. Nurgedeiht gegenwärtig die schändliche Krankheit der Ignoranz auf dem fruchtbarenNährboden der von Politik und Medien geschürten Ängste...
Stimmen Sie zu, dass sich Israel und Palästinapolitisch aufeinander zu bewegen müssen, um den Nahost-Konflikt zumindest zuentschärfen?
Wie ich bereits in einerder vorhergehenden Antworten gesagt habe, bin ich überzeugt, dass gerade die gegenseitigeIgnoranz eine der tragenden Säulen des Übels ist. Deshalb ist eine Annäherungbeider Gesellschaften wichtig und entscheidend. Hierbei geht es mir vor allemum die Menschen, nicht um die Politik. Es ist erschreckend, wie wenig dieisraelische Gemeinschaft über die Zustände im Westjordanland und imGaza-Streifen weiß. Andersherum ist es jedoch auch nicht besser. Doch sobaldder eine lernt, dem anderen zuzuhören, sobald ein Verständnis für den anderenentsteht, wird der Umgang miteinander selbst im politischen Kontext auf eineandere Ebene gehoben. Nur leben wir in einer Zeit, in welcher die Fähigkeit zurEinfühlung verkümmert ist...
Was wollen Sie dem deutschen Leser mit diesemLebensbericht vermitteln? Welche Reaktionen auf Ihr Buch wünschen Sie sich?
Ich würde mir wünschen,dass vielleicht der eine oder andere sich mehr mit den tatsächlichen Realitätendes Alltags der Menschen auseinandersetzt.
Die Fragen stellte Mathias Voigt, literaturtest.de.
- Autor: Raid Sabbah
- 2004, 239 Seiten, Maße: 14,6 x 21,7 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: DROEMER KNAUR
- ISBN-10: 342627311X
- ISBN-13: 9783426273111
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Der Wind trägt meinen Schmerz davon".
Kommentar verfassen