Der Zauber gestohlener Stunden
Wenn französischer Stil auf italienische Sinnlichkeit trifft - eine Ode an die Amour fou voller Lebenslust
Die Vollblutitalienerin Fosca hat ein turbulentes und bewegtes Leben hinter sich. Sie hat Männer geliebt, geheiratet, verflucht und...
Die Vollblutitalienerin Fosca hat ein turbulentes und bewegtes Leben hinter sich. Sie hat Männer geliebt, geheiratet, verflucht und...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Zauber gestohlener Stunden “
Wenn französischer Stil auf italienische Sinnlichkeit trifft - eine Ode an die Amour fou voller Lebenslust
Die Vollblutitalienerin Fosca hat ein turbulentes und bewegtes Leben hinter sich. Sie hat Männer geliebt, geheiratet, verflucht und verlassen. Die einst wohlbehütete Tochter aus gutem Hause wurde zu einer unbändigen und freiheitsliebenden Frau, die das Leben in vollen Zügen genoss. Doch nun, an ihrem Lebensabend, ist es für Fosca an der Zeit, dem letzten Menschen, der ihr geblieben ist, die Wahrheit zu erzählen und zu gestehen, was sie aus Liebe getan hat ...
Die Vollblutitalienerin Fosca hat ein turbulentes und bewegtes Leben hinter sich. Sie hat Männer geliebt, geheiratet, verflucht und verlassen. Die einst wohlbehütete Tochter aus gutem Hause wurde zu einer unbändigen und freiheitsliebenden Frau, die das Leben in vollen Zügen genoss. Doch nun, an ihrem Lebensabend, ist es für Fosca an der Zeit, dem letzten Menschen, der ihr geblieben ist, die Wahrheit zu erzählen und zu gestehen, was sie aus Liebe getan hat ...
Klappentext zu „Der Zauber gestohlener Stunden “
Wenn französischer Stil auf italienische Sinnlichkeit trifft - eine Ode an die Amour fou voller LebenslustDie Vollblutitalienerin Fosca hat ein turbulentes und bewegtes Leben hinter sich. Sie hat Männer geliebt, geheiratet, verflucht und verlassen. Die einst wohlbehütete Tochter aus gutem Hause wurde zu einer unbändigen und freiheitsliebenden Frau, die das Leben in vollen Zügen genoss. Doch nun, an ihrem Lebensabend, ist es für Fosca an der Zeit, dem letzten Menschen, der ihr geblieben ist, die Wahrheit zu erzählen und zu gestehen, was sie aus Liebe getan hat ...
Wenn französischer Stil auf italienische Sinnlichkeit trifft - eine Ode an die Amour fou voller LebenslustDie Vollblutitalienerin Fosca hat ein turbulentes und bewegtes Leben hinter sich. Sie hat Männer geliebt, geheiratet, verflucht und verlassen. Die einst wohlbehütete Tochter aus gutem Hause wurde zu einer unbändigen und freiheitsliebenden Frau, die das Leben in vollen Zügen genoss. Doch nun, an ihrem Lebensabend, ist es für Fosca an der Zeit, dem letzten Menschen, der ihr geblieben ist, die Wahrheit zu erzählen und zu gestehen, was sie aus Liebe getan hat ...
Lese-Probe zu „Der Zauber gestohlener Stunden “
Der Zauber gestohlener Stunden von Simonetta GreggioAus dem Französischen von Michaela Meßner
Mein Herz,
in der Blüte meiner Jugend bin ich eine Frau gewesen,
für die man andere verlassen hat. Jetzt bin ich schon seit
langem in dem Alter, in dem ich verlassen werde, und
mein damaliges Verhalten erscheint mir von einer solchen
Schamlosigkeit, von einer solchen Kaltblütigkeit, dass
eigentlich nur Einfalt dahinter stecken kann.
Ich sterbe, meine Constance. Du brauchst dich nicht
dagegen aufzulehnen, es bleibt keine Zeit mehr.
Aber zwei oder drei Dinge muss ich dir noch sagen.
There was an old woman
And nothing she had
And so this old woman
Was said to be mad
She'd nothing to lose
She'd nothing to fear
She's nothing to ask
She'd nothing to give
And when she did die
She'd nothing to leave
So sang Marie mit ihrer wundervoll zarten Sopranstimme,
nachdem sie dreißig Jahre zuvor der Bühne den Rücken
gekehrt hatte. Dieses Wiegenlied hatte Großmutter sich
für ihre Beerdigung ausgesucht. Sie hatte sich gewünscht,
dass Marie, ihre letzte noch lebende Jugendfreundin, dieses
Lied für sie singt.
Die Zeremonie war bis ins Detail geplant; Fosca nimmt
es - nahm es - mit solchen Inszenierungen recht genau.
Ich vermag immer noch nicht in der Vergangenheit
von ihr zu sprechen. Das wird schon noch kommen, ich
habe meine Lektion über die Zeit gut gelernt, eine Lektion,
die so alt ist wie die Welt: Die Zeit ist grausam -
und gütig.
»Nur die ersten Tränen sind bitter, die anderen mildern
bloß den Schmerz«, sagte sie.
... mehr
Seit Fosca von mir gegangen ist, habe ich nur noch geschlafen.
Vor allem in den letzten Tagen. Ich bin gerade
noch rechtzeitig aufgestanden, um ihr Lebwohl zu sagen,
zusammen mit den anderen. Ich hatte gar nicht gemerkt,
wie erschöpft ich war.
In meiner Tasche hielt ich ihren zusammengeknüllten
Brief.
Mein ganzes Leben lang habe ich geliebt, getrunken,
geraucht, gelacht, geschlafen, gelesen. Und zwar so
ausgiebig, dass man mir vorwarf, ich hätte des Guten
zu viel getan.
Ich zaudere noch - aus Schüchternheit, aus unange-
brachter Eitelkeit? - dir einzugestehen, dass dieses Ende,
an das ich immer noch nicht zu glauben vermag, gar
nicht so furchtbar bitter ist, weil ich voller Zufriedenheit
auf ein sehr bewegtes Leben zurückblicken kann. Daran
habe ich eine diebische Freude, als hätte ich dem Teufel
eine Nase gedreht; nicht Gott will uns verbieten zu sündigen,
sondern der Teufel möchte, dass wir das glauben,
denn er will uns von uns selbst entfernen, uns vom Leben
fernhalten. Leben, das hieß für mich immer, ihm seinen
rachitischen Hintern zu versohlen ...
Letztlich erscheint mir diese vorgebliche Verschwendung
von Jugend als die einzig annehmbare Art zu leben.
Das ist der Vorteil, wenn man die Liebe und die köstliche
Fata Morgana, die sie uns vorspiegelt, erst im vorgerückten
Alter erlebt.
Ich habe mich über sechzig Jahre lang mit Männern
herumgeschlagen. Ich habe sie geliebt, geheiratet, verflucht
und verlassen. Ich habe sie angebetet und verabscheut,
aber ich habe nie auf sie verzichten können.
Ich dachte, mit der Zeit würde ich schon von ihnen
loskommen: Dabei hatte ich die Rechnung ohne dieses
Herz gemacht, denn es ging immer schon alles nach
seinem Kopf. Ich war immer nur dann bis ins Mark
erschüttert, habe immer nur dann wirklich meine Seele
verloren, wenn ich das Spiel der Liebe gespielt habe.
Hingabe ist das Einzige, worauf es ankommt: Wozu sollte
man sich vor diesem Liebesdelirium in Acht nehmen,
warum sollte man sich überhaupt in Acht nehmen? Aus
der körperlichen Liebe wurde oft eine geistige - manchmal
ging ich auch den umgekehrten Weg.
Die Liebe - denn es geht hier um Liebe, und nicht um
das Aneinanderreiben zweier Körper - war meine Art, die
Welt zu verstehen. In der Liebe treffen das Geheimnis und
das Heilige aufeinander.
Aber nach all der Wärme der Männer, die mich so
schützend umhüllt hat, erscheint mir die große Kälte,
die mich erwartet, nur umso abscheulicher. Kein Arm ist
stark genug, um mich in der Nacht, die da kommt, vor
ihr bewahren zu können.
Noch ein Wiegenlied - diesmal ein japanisches; zu einer
seltsamen Klangfolge, die einem Saiteninstrument entlockt
wurde und sich anhörte wie das Rascheln verdörrter Maisblätter
in der Sonne, erhob sich eine brüchige, atemlose
Stimme. Ich kannte die Frau, die da sang und sich auf der
Koto begleitete: Es war Junko, die zweite Frau von Foscas
zweitem Ehemann.
Junko sah aus wie eine alte Puppe mit dem Gesicht eines
Apfels, den man zu lange im Ofen gelassen hat. Sie
trug ein langes, staubschwarzes, aschegraues Kleid, eine
Farbe, die sie zu verkörpern schien.
Eyo eyo edirioya eyo eyo a datako seraé.
Das Wiegenlied war monoton; ihre Stimme erstarb,
dann begann sie von neuem und endete mit einem
Schluchzer. Die Maiskörner rieselten noch ein bisschen
weiter, flochten echohafte Rosenkränze, dann verstummten
auch sie.
In dem Raum nebenan wurde Gelächter laut. Arbeiter
reinigten mit einem Schlauch den angrenzenden Saal,
ohne daran zu denken, was sich gerade unmittelbar hinter
den Wänden abspielte. Ich hätte mich jetzt unwohl fühlen
können, aber letztlich musste ich insgeheim lächeln.
Das Leben ging weiter. Man konnte ja nicht gerade behaupten,
Fosca sei zu früh von uns gegangen, das nun doch
nicht, oder man habe nicht damit rechnen können. Sie war
ziemlich alt. Siebenundachtzig Jahre, das ist fast ein Jahrhundert.
Letztens passierte mir etwas ... In der Konditorei, die ich
betreten hatte, weil ein Stück Erdbeerkuchen mich unwiderstehlich
angezogen hatte, machte der Konditor mir ein
Kompliment über mein Lächeln. Mit einem Schlag waren
meine Rückenschmerzen und meine tausend Wehwehchen
vergessen. Ich richtete mich auf wie eine beiß wütige
Schlange. Der junge Mann setzte noch hinzu: »Wissen
Sie, wenn ich das sage, dann ist das keine Anmache, Sie
könnten ja meine Großmutter sein ...«
Ach, Constance ... Männer sind grausam, wenn sie zärtlich sind.
Sie waren meine große Schwäche. Meine einzige, denn
sonst habe ich nicht viel gesündigt. Mein Gewissen wirft
mir nur ein paar Feigheiten und Nachlässigkeiten vor,
aber kaum sündhafte Vergnügungen.
Und das war's dann auch schon, ehrwürdige alte
Damen gibt es wirklich.
Die samtene Stimme von Marylin Monroe sang »Bye bye baby.«
Du weißt ja schon, dass ich dir das Haus, das Auto und
mein ganzes Hab und Gut hinterlassen habe. Mein Notar
wird sich darum kümmern, sobald ich unter der Erde
bin. Ich lasse dir auch im Kühlschrank die Wachteln mit
Gänseleber, ein paar gebratene Kapaune und ganze Mahlzeiten,
die ich mir für dich ausgedacht habe. Für jedes
dieser Abendessen findest du in der Küche einen Zettel mit
Weinvorschlägen, auf dem auch draufsteht, wo genau sie
im Keller lagern.
Wahrscheinlich wirst du auch ein Auge auf meine
Habseligkeiten werfen, und sei es auch nur, um sie zu ordnen
- und sie dann loszuwerden. Du wirst einen wüsten
Haufen von Dingen finden, die nur für mich eine Bedeutung
haben. Vielleicht wirst du auf einen Ring stoßen, der
aus einem Bierdosenverschluss gemacht ist, er war eine
Stunde lang mein Verlobungsring, und auf die Herzensgeheimnisse
einer Lolita ...
Ich habe dir viel erzählt, aber nicht alles. Du hast viele
Dinge verstanden, aber nicht alle.
Als Marilyns Stimme verstummte, wollte ich Foscas Reisedecke
und ihren Spazierstock mit dem Silberknauf auf den
Sarg legen. Damit sie nicht frieren musste und dort, wo sie
hinging, laufen konnte, ohne zu ermüden.
Hinten in der Halle tat sich eine Tür weit auf, die
schlichte Kiste aus hellem Holz glitt langsam in ihren
schwarzen Schlund. Eine weiße Blume fiel herunter.
Ich sah niemanden an, als ich aus dem Friedhof kam. Es
hatte angefangen zu regnen. Ich hätte mir so gewünscht,
dass mich jemand draußen mit einem großen Regenschirm
erwartet, mich in die Arme nimmt und ganz, ganz fest drückt.
Objects in the mirror are closer than they appear
Bei meiner ersten Begegnung mit Fosca war es Liebe auf
den ersten Blick gewesen. An einem späten Frühlingsmorgen
vor genau drei Jahren war ich in Venedig; der Gui-
decca-Kanal war so von Licht durchflutet, dass meine Augen
schmerzten. Die ersten Schwalben tanzten hoch oben
am Himmel.
Ich saß auf der Terrasse des Calle del Vento, eines sehr
einfachen Restaurants. Vor mir stand eine Flasche Weißwein,
auf dem Tisch lag ein Stapel Zeitungen. Ich wartete
auf meine gebratenen Fische, das Tischtuch flatterte
in der kühlen Brise, das Haar fiel mir ins Gesicht. Ich war
schweigsam und müde.
Eine alte Dame mit hellem Haar setzte sich in meine
Nähe, ein Glas Weißwein in der Hand, vor sich einen Stapel
Zeitungen. Sie bestellte gebratene Fische.
Sie sah mich an, ich sah sie an.
Wir redeten lange miteinander, bis wir kalte Hände
und Füße bekamen. Das Alter ist nur eine Facette des
Lebens. Das hat sie mir damals beigebracht. Es wurde
Abend, und wir blieben sitzen, zusammengekauert auf
den Steinstufen zwischen der Stadt und dem Hafen, auf
der Grenze zwischen dem festen Erdboden und der Wasserstadt.
Unser Gedächtnis bewahrt ganze Dialoge auf, zeigt uns
den lebendigen Ausdruck eines toten Gesichts, dabei erinnert
man sich oft nicht einmal daran, was man am Vorabend
gegessen hat. Bei dieser ersten Begegnung sagte sie
fast wortwörtlich zu mir:
»Lieben Sie sie, Ihre Freunde, Ihre Geliebten, lieben
Sie sie mit aller Kraft, geben Sie das Schönste, das Sie in
sich tragen. Wenn Sie so alt sind wie ich, sind Sie verloren,
denn nur wenige werden Sie als junge und schöne Frau
gekannt haben, Sie werden für alle eine alte Frau sein. Das
Schlimme am Alter ist nicht der Verlust der Kraft, sondern
der Verlust derer, die man liebt.«
Fosca gestand mir, dass sie nach Venedig gekommen
war, weil sie dort ein letztes Rendezvous hatte.
Vor etwa zehn Tagen machten wir uns zu dieser Reise auf
den Weg, der Frühling hatte gerade begonnen.
Wir luden geschwind mein Kleinmädchengepäck und
Foscas Herzoginnenkoffer in ihren Wagen, einen gebraucht
gekauften Silver Shadow Baujahr 1974, der letztlich billiger
war als ein neuer Mercedes, ein Auto, das aus recht unerfindlichen
Gründen plötzlich kaputtging und dann aus
ebenso unerfindlichen Gründen plötzlich wieder fuhr.
Ganz ähnlich wie bei uns, bei Fosca und mir.
Diesen Rolls hatte Fosca ganz spontan gekauft, zehn
Minuten nachdem sie ihn im Schaufenster eines Vertragshändlers
gesehen hatte, wo er seit tausend Jahren Staub
ansetzte, wechselte ein Scheck den Besitzer. »Weißt du,
meine Liebe, in meinem Alter ist es erlaubt, dass man seinen
Spleen als Liebhaberei bezeichnet.«
Fosca erzählte mir, sie treibe einen »wahren fetischistischen
Kult« um die kleine Spirit-of-Ecstasy-Figur, »sie ist
mein Wächter, mein Schutzengel«.
Wir legten die Straßenkarten bereit und tankten den
Wagen voll. Im Rückspiegel entfernte sich der Eiffelturm
in strahlender Abendrobe. Der Leuchtturm blieb lange unsere
Eskorte am Himmel, von der Porte d'Italie bis zum
Ring, bei der Ausfahrt auf die Autobahn Richtung Süden.
Ich saß am Steuer, sie erzählte mir was.
Sie zündete sich mit einem alten Zippo, das sie aus der
Tasche geholt hatte, eine Zigarette an. Ich hatte Fosca nie
zuvor rauchen sehen. Sie klappte geräuschvoll den Verschluss
zu, als wollte sie ihrer Geste Nachdruck verleihen.
Ich fand sie lustig, manchmal war sie richtig kindisch. Sie
wirkte oft sehr viel jugendlicher als ich, weil ich mir das
nicht gestatte.
Ich bin nicht wie die jungen Frauen meiner Altersklasse.
Ich habe oft den Eindruck, einer anderen Zeit anzugehören,
einer anderen Generation. Ich fühle mich älter und
zugleich kindlicher. Ich wuchs ohne Freunde auf, in der
Schule hatte ich keine Kameraden. Großmutter machte
sich über mich lustig, indem sie sagte, ich sei »ein klassisches
junges Mädchen«.
Sie zog mich in ihren Bann, dabei habe ich nie einem
Menschen vertraut. Sie beobachtete mich ganz unauffällig.
Mit großer Zärtlichkeit, das schon, aber sie beobachtete
mich. War Fosca falsch? Ich denke eher, sie war vorsichtig,
hatte einen geheimen Plan.
Ich gab einen Teil meiner Unabhängigkeit auf, als ich
beschloss, bei ihr zu wohnen, nachdem sie mir vor wenigen
Monaten ihr Leid gestanden hatte. Es lenkte mich von
meiner eigenen Unrast ab, von meinen Ängsten, meinen
schlaflosen Nächten. Ich beglückwünschte mich täglich zu
diesem Entschluss.
Fosca stieß eine kleine Rauchsäule aus. Als sie weitersprach,
klang ihre Stimme heiser.
»Ich habe an dem Tag mit dem Rauchen aufgehört, als
ich merkte, dass ich mit einer brennenden Zigarette zwischen
den Lippen unter der Dusche stand, und eine zweite
zwischen den Fingern hielt ... Das war ganz bestimmt der
rechte Moment. Natürlich geschah das nicht aus heiterem
Himmel, ein paar Vorzeichen hat es schon gegeben. Ich
bekam zum Beispiel Lust auf eine Zigarette, während ich
bereits eine rauchte. Ich muss immer bis zum Äußersten
gehen, um herauszufinden, ob ich wirklich von etwas lassen will.«
Sie nahm noch einen Zug, dann drückte sie die Kippe
in dem sauberen Aschenbecher aus. Wir waren noch nicht
über die letzten Vorstadtsiedlungen des Großraums Paris
hinausgekommen, als Fosca mir schon ihre Geschichten
zu erzählen begann. Ich hörte ihr sehr gerne zu, das wusste
sie ... Und sie nutzte es aus.
»Ich bin am Ende meines Lebens angekommen. Das ist
nicht lustig, glaub mir: Was habe ich es geliebt, dieses Leben,
aus dem ich nun scheiden muss!«
»Wenn ich sage, dass meine Tage gezählt sind, so heißt
das gar nichts. Unser aller Tage sind gezählt. Doch wäh-
rend man gewöhnlich das Ufer nicht sehen kann, weil es
im Schatten der Zeit und der Umstände verborgen liegt, so
bringen Alter und Krankheit mir dieses Ende in Sicht. Ich
lasse diesem Körper, den ich so geliebt habe und der mir
so gute Dienste geleistet hat, die letzte Pflege angedeihen.
Ich bin auf eine lüsterne Art enthaltsam - und auf eine
artige Weise lüstern gewesen. Ich habe einer Philosophie
angehangen, die dem Körper seine Freiheit lässt und dem
Geist seine Reinheit; ich habe mich im Bett des Epikureismus
geaalt. Das schmal ist, aber sauber.«
Großmutter liebte schöne Formulierungen. Ich mochte
es, wenn sie im Stil von Marguerite Yourcenar oder Barbey
d'Aurevilly sprach, um mich mit ihrer großen Belesenheit
zu beeindrucken und mir dabei ganz nebenbei ihre Sicht
des Lebens aufs Auge zu drücken.
Aber ich ging ihren großen Phrasen nicht auf den Leim.
Und sie auch nicht.
»Ich bin in der Klemme, Constanze: Ich hatte gedacht,
es wäre einfach, dir alles zu erzählen! Ohne etwas auszulassen!
Ich werde unanständig sein müssen. Ich werde dich
zum Erröten bringen. Zumindest hoffe ich das.
Alles in meinem Leben ist so sinnlich gewesen: eine Orangenblüte
am Morgen, das Streicheln einer Straßenkatze, das
frisch geschnittene Heu des Sommers. Auf einer von der
Sonne gewärmten Steintreppe sitzen und Kaffee trinken, an
einem Morgen, der die kühle Nachtluft vertreibt.«
Sie verstummte für ein paar Minuten, dann fügte sie hinzu:
»Ich habe all meine Kraft aus den Männern gezogen.
Sie haben mir den Takt vorgegeben. Mit ihrer Sanftheit.
Man muss ihnen nur die Möglichkeit lassen, weißt du,
das Recht zu sein. Es ist hart, ein Mann zu werden: Daher
müssen sie diese Sanftheit verbergen. Ein sanfter Mann
trägt das Kind in sich, das er einmal war, und den Greis,
der er einmal sein wird, seine Gewalttätigkeit und den
Stolz, zu wissen und zu verzichten. Er ist sanfter als ein
Vater und eine Mutter, süßer als ein Schluck Wasser für
einen, der am Verdursten ist. Ein zärtlicher Mann, das ist
die Zartheit der ganzen Welt. Das ist die Spucke auf einem
aufgeschlagenen Knie und die letzte Dezemberrose und die
Schnauze deines Hundes, der dir bei deinem ersten Kummer
das Gesicht ableckt.«
Noch ein Schweigen. Noch ein Seufzer.
»Die Stärke eines Mannes ist seine Sanftheit.«
In Fontainebleau bekam ich Lust, die Autobahn zu verlassen.
Ringsum duftete es nach Wald und Moos, nach grüner
Natur und frischen Blättern. Die Luft war mild, am
Himmel stand ein Halbmond. Ich war hungrig, Fosca tat
so, als wäre sie das auch.
»Na, dann lass uns mal was zwischen die Kiemen schieben.
Mir bleibt keine Zeit mehr, für gar nichts, also hab
ich für alles Zeit.«
Großmutter kippte eine dreiviertel Flasche Meursault
hinunter, aber ihre Morchelpoularde blieb unangetastet.
Ich trank nur ein Glas von diesem Wein, den ich nicht so
recht mochte, er war ölig, mit Tränen am Glasrand und
einem sehr dichten Bukett. Fosca trank ihren Weißwein
gerne zu kalt. Die Widersprüche einer Kennerin. Bevor ich
sie kennen lernte, ernährte ich mich von Haribo-Erdbee-
ren, Cola und Cornflakes. Von zähen Sandwiches, Schinken,
Kartoffelbrei, Hörnchennudeln, Dosenmilch und
Nutella. Ich bin immer dünn gewesen. Es war wirklich ein
Zufall, dass ich mir an dem Tag, an dem wir uns in dieser
Trattoria in Venedig begegneten, eine ordentliche Portion
bestellt hatte.
Nach dem Abendessen wollte ich weiterfahren. Außerdem
wollte ich, dass Fosca schläft, dass sie sich ausruht
und wieder zu Kräften kommt. Ich hatte einfach Lust zuzuschauen,
wie sich vor mir das Asphaltband entrollt, wie
die Bäume vorbeiziehen, wollte das Schauspiel der Straße genießen.
Genau dieser Augenblick ist für mich immer der Inbegriff
des Reisens gewesen: wenn alles brüchig wird, wenn
man die Dinge aus einem anderen Blickwinkel betrachten
kann, wenn der persönliche Tagesrhythmus gestört wird,
wenn man auf der Hut sein muss, weil nichts von vorn herein
bekannt ist, und man sich in Acht nehmen muss.
Ich übe - oder übte, denn jetzt ist alles auf Stand-by geschaltet
- einen seltsamen Beruf aus: Ich hielt Ausschau
nach »touristischen Produkten« für Reiseveranstalter, die
ich dann testete. Ganz selten tat ich einen Glücksgriff, aber
meistens war es der reine Horror, lauter komfortable Hühnerställe
von äußerst zweifelhaftem Geschmack. Es gab
auch Regionen, in denen die Kriege Spuren des Elends
hinterlassen hatten - ein neues Marktsegment -, sehr gefragt
beim so genannten Nischentourismus. Ich reiste an
Orte, an denen es absolut nichts zu sehen gab - das war
unglaublich erholsam. Ich bewegte mich zwischen Luxus
und Elend, im Taumel einer Einsamkeit, die ihre eigenen
Grenzen zu erweitern sucht. Doch das Fantastische und
Perverse an der Einsamkeit ist ja gerade das Grenzenlose.
Als ich Fosca in Venedig begegnete, kam ich gerade aus
Casablanca. Eine Reise wie viele andere auch und doch insofern
besonders, als ich dort extrem isoliert war und diese
chaotische Stadt überaus ermüdend fand.
Marrakesch - Casa
Der Zug von Marrakesch nach Casablanca braucht dreieinhalb
Stunden für eine Strecke von etwas mehr als zweihundert
Kilometern.
Als ich in Casablanca ankam, waren die Straßen leergefegt,
weil gerade ein Fußballspiel stattfand - das Endspiel
gegen Tunesien. Kein Taxi am Bahnhof, oder wenn, dann
ohne Fahrer, Motor abgeschaltet. Keine Menschenseele weit
und breit, weder am Fahrkartenschalter noch am Zeitungskiosk.
Ich wartete, das Gepäck zu meinen Füßen, während
die Stille um mich herum beunruhigend wurde. Schließlich
hielt ein kleines Taxi. Ich musste selbst die Koffer auf das
Dach des Fiat Panda hieven und grummelte dabei: »Was für
ein Service!«, aber der Fahrer tat so, als höre er nichts. Dann
düsten wir hupend und in einem Höllentempo in die leere
Stadt. Bei den roten Ampeln, die wir überfuhren, ohne das
Tempo zu drosseln, schloss ich die Augen und krallte mich
an der klebrigen Tür fest. Als wir im Hotel ankamen, hatte
der Fahrer rote Augen, als habe er Crack geraucht. Er forderte
einen Zuschlag »fürs Gepäck«. Da habe ich an die-
sem Tag zum ersten Mal so richtig von Herzen gelacht. Das
Hotel, ein Dritte-Welt-Vier-Sterne-Hotel, sah erbärmlich
aus: Goldverzierungen, Teppiche, die stanken wie alte Putz-
lumpen, eingestaubte künstliche Blumen.
Die beiden dicken Empfangsdamen sahen ziemlich nuttig
aus, eingezwängt in unsaubere Jacken. Ihre schweren
Brüste brachten ihre Blusen schier zum Bersten. Der Nagellack
war abgeplatzt, außerdem hatten sie sehr lange Nägel
und eine angeknabberte Nagelhaut.
Sie hatten Hände wie Pornostars. Sie hätten Schwestern
sein können, dabei sahen sie sich gar nicht ähnlich.
Vom Fenster meines Zimmers aus sah ich unten ein Dächermeer
funkeln, das mich an andere elende Städte erinnerte,
Tirana, Mexico City, Priština; an der Wand gegenüber
prangte ein zehn Meter hohes Foto über einem Parkplatz. Es
war eine Nescafé-Werbung. Ein junger Typ mit weichen Zügen
und kunstvoll zerzauster Mähne hält eine rote Tasse in
der Hand. Bekleidet mit einem nicht allzu tief ausgeschnittenen,
ärmellosen Unterhemd und einer blassblauen Pyjamahose
betrachtet er den Horizont. Die junge Frau neben
ihm ist rätselhafter. Schwarze Locken umrahmen ein verkrampft
lächelndes Gesicht. Man könnte meinen, die junge
Frau habe soeben in der Hochzeitsnacht entdeckt, dass ihr
Gatte einen Pimmel von drei Zentimetern hat. Sie stellt sich
mutig dieser Entdeckung, die eine Hand umschließt eine
Tasse Nescafé, die andere hält vorsichtig ein Stück Baguette,
das sie ihm jeden Moment um die Ohren hauen könnte.
Der Ausschnitt des Pyjamas ist ein bisschen groß, aber das
war wahrscheinlich Absicht, sollte nach Kuschelmorgen aussehen,
bei ihm unten, bei ihr oben.
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2010 bei Blanvalet,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe
Random House GmbH, München.
Copyright © 2005 by Editions Stock
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
by Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Umschlaggestaltung: © HildenDesign, München
Redaktion: Ingola Lammers
ED Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN: 978-3-442-37467-0
www.blanvalet.de
Seit Fosca von mir gegangen ist, habe ich nur noch geschlafen.
Vor allem in den letzten Tagen. Ich bin gerade
noch rechtzeitig aufgestanden, um ihr Lebwohl zu sagen,
zusammen mit den anderen. Ich hatte gar nicht gemerkt,
wie erschöpft ich war.
In meiner Tasche hielt ich ihren zusammengeknüllten
Brief.
Mein ganzes Leben lang habe ich geliebt, getrunken,
geraucht, gelacht, geschlafen, gelesen. Und zwar so
ausgiebig, dass man mir vorwarf, ich hätte des Guten
zu viel getan.
Ich zaudere noch - aus Schüchternheit, aus unange-
brachter Eitelkeit? - dir einzugestehen, dass dieses Ende,
an das ich immer noch nicht zu glauben vermag, gar
nicht so furchtbar bitter ist, weil ich voller Zufriedenheit
auf ein sehr bewegtes Leben zurückblicken kann. Daran
habe ich eine diebische Freude, als hätte ich dem Teufel
eine Nase gedreht; nicht Gott will uns verbieten zu sündigen,
sondern der Teufel möchte, dass wir das glauben,
denn er will uns von uns selbst entfernen, uns vom Leben
fernhalten. Leben, das hieß für mich immer, ihm seinen
rachitischen Hintern zu versohlen ...
Letztlich erscheint mir diese vorgebliche Verschwendung
von Jugend als die einzig annehmbare Art zu leben.
Das ist der Vorteil, wenn man die Liebe und die köstliche
Fata Morgana, die sie uns vorspiegelt, erst im vorgerückten
Alter erlebt.
Ich habe mich über sechzig Jahre lang mit Männern
herumgeschlagen. Ich habe sie geliebt, geheiratet, verflucht
und verlassen. Ich habe sie angebetet und verabscheut,
aber ich habe nie auf sie verzichten können.
Ich dachte, mit der Zeit würde ich schon von ihnen
loskommen: Dabei hatte ich die Rechnung ohne dieses
Herz gemacht, denn es ging immer schon alles nach
seinem Kopf. Ich war immer nur dann bis ins Mark
erschüttert, habe immer nur dann wirklich meine Seele
verloren, wenn ich das Spiel der Liebe gespielt habe.
Hingabe ist das Einzige, worauf es ankommt: Wozu sollte
man sich vor diesem Liebesdelirium in Acht nehmen,
warum sollte man sich überhaupt in Acht nehmen? Aus
der körperlichen Liebe wurde oft eine geistige - manchmal
ging ich auch den umgekehrten Weg.
Die Liebe - denn es geht hier um Liebe, und nicht um
das Aneinanderreiben zweier Körper - war meine Art, die
Welt zu verstehen. In der Liebe treffen das Geheimnis und
das Heilige aufeinander.
Aber nach all der Wärme der Männer, die mich so
schützend umhüllt hat, erscheint mir die große Kälte,
die mich erwartet, nur umso abscheulicher. Kein Arm ist
stark genug, um mich in der Nacht, die da kommt, vor
ihr bewahren zu können.
Noch ein Wiegenlied - diesmal ein japanisches; zu einer
seltsamen Klangfolge, die einem Saiteninstrument entlockt
wurde und sich anhörte wie das Rascheln verdörrter Maisblätter
in der Sonne, erhob sich eine brüchige, atemlose
Stimme. Ich kannte die Frau, die da sang und sich auf der
Koto begleitete: Es war Junko, die zweite Frau von Foscas
zweitem Ehemann.
Junko sah aus wie eine alte Puppe mit dem Gesicht eines
Apfels, den man zu lange im Ofen gelassen hat. Sie
trug ein langes, staubschwarzes, aschegraues Kleid, eine
Farbe, die sie zu verkörpern schien.
Eyo eyo edirioya eyo eyo a datako seraé.
Das Wiegenlied war monoton; ihre Stimme erstarb,
dann begann sie von neuem und endete mit einem
Schluchzer. Die Maiskörner rieselten noch ein bisschen
weiter, flochten echohafte Rosenkränze, dann verstummten
auch sie.
In dem Raum nebenan wurde Gelächter laut. Arbeiter
reinigten mit einem Schlauch den angrenzenden Saal,
ohne daran zu denken, was sich gerade unmittelbar hinter
den Wänden abspielte. Ich hätte mich jetzt unwohl fühlen
können, aber letztlich musste ich insgeheim lächeln.
Das Leben ging weiter. Man konnte ja nicht gerade behaupten,
Fosca sei zu früh von uns gegangen, das nun doch
nicht, oder man habe nicht damit rechnen können. Sie war
ziemlich alt. Siebenundachtzig Jahre, das ist fast ein Jahrhundert.
Letztens passierte mir etwas ... In der Konditorei, die ich
betreten hatte, weil ein Stück Erdbeerkuchen mich unwiderstehlich
angezogen hatte, machte der Konditor mir ein
Kompliment über mein Lächeln. Mit einem Schlag waren
meine Rückenschmerzen und meine tausend Wehwehchen
vergessen. Ich richtete mich auf wie eine beiß wütige
Schlange. Der junge Mann setzte noch hinzu: »Wissen
Sie, wenn ich das sage, dann ist das keine Anmache, Sie
könnten ja meine Großmutter sein ...«
Ach, Constance ... Männer sind grausam, wenn sie zärtlich sind.
Sie waren meine große Schwäche. Meine einzige, denn
sonst habe ich nicht viel gesündigt. Mein Gewissen wirft
mir nur ein paar Feigheiten und Nachlässigkeiten vor,
aber kaum sündhafte Vergnügungen.
Und das war's dann auch schon, ehrwürdige alte
Damen gibt es wirklich.
Die samtene Stimme von Marylin Monroe sang »Bye bye baby.«
Du weißt ja schon, dass ich dir das Haus, das Auto und
mein ganzes Hab und Gut hinterlassen habe. Mein Notar
wird sich darum kümmern, sobald ich unter der Erde
bin. Ich lasse dir auch im Kühlschrank die Wachteln mit
Gänseleber, ein paar gebratene Kapaune und ganze Mahlzeiten,
die ich mir für dich ausgedacht habe. Für jedes
dieser Abendessen findest du in der Küche einen Zettel mit
Weinvorschlägen, auf dem auch draufsteht, wo genau sie
im Keller lagern.
Wahrscheinlich wirst du auch ein Auge auf meine
Habseligkeiten werfen, und sei es auch nur, um sie zu ordnen
- und sie dann loszuwerden. Du wirst einen wüsten
Haufen von Dingen finden, die nur für mich eine Bedeutung
haben. Vielleicht wirst du auf einen Ring stoßen, der
aus einem Bierdosenverschluss gemacht ist, er war eine
Stunde lang mein Verlobungsring, und auf die Herzensgeheimnisse
einer Lolita ...
Ich habe dir viel erzählt, aber nicht alles. Du hast viele
Dinge verstanden, aber nicht alle.
Als Marilyns Stimme verstummte, wollte ich Foscas Reisedecke
und ihren Spazierstock mit dem Silberknauf auf den
Sarg legen. Damit sie nicht frieren musste und dort, wo sie
hinging, laufen konnte, ohne zu ermüden.
Hinten in der Halle tat sich eine Tür weit auf, die
schlichte Kiste aus hellem Holz glitt langsam in ihren
schwarzen Schlund. Eine weiße Blume fiel herunter.
Ich sah niemanden an, als ich aus dem Friedhof kam. Es
hatte angefangen zu regnen. Ich hätte mir so gewünscht,
dass mich jemand draußen mit einem großen Regenschirm
erwartet, mich in die Arme nimmt und ganz, ganz fest drückt.
Objects in the mirror are closer than they appear
Bei meiner ersten Begegnung mit Fosca war es Liebe auf
den ersten Blick gewesen. An einem späten Frühlingsmorgen
vor genau drei Jahren war ich in Venedig; der Gui-
decca-Kanal war so von Licht durchflutet, dass meine Augen
schmerzten. Die ersten Schwalben tanzten hoch oben
am Himmel.
Ich saß auf der Terrasse des Calle del Vento, eines sehr
einfachen Restaurants. Vor mir stand eine Flasche Weißwein,
auf dem Tisch lag ein Stapel Zeitungen. Ich wartete
auf meine gebratenen Fische, das Tischtuch flatterte
in der kühlen Brise, das Haar fiel mir ins Gesicht. Ich war
schweigsam und müde.
Eine alte Dame mit hellem Haar setzte sich in meine
Nähe, ein Glas Weißwein in der Hand, vor sich einen Stapel
Zeitungen. Sie bestellte gebratene Fische.
Sie sah mich an, ich sah sie an.
Wir redeten lange miteinander, bis wir kalte Hände
und Füße bekamen. Das Alter ist nur eine Facette des
Lebens. Das hat sie mir damals beigebracht. Es wurde
Abend, und wir blieben sitzen, zusammengekauert auf
den Steinstufen zwischen der Stadt und dem Hafen, auf
der Grenze zwischen dem festen Erdboden und der Wasserstadt.
Unser Gedächtnis bewahrt ganze Dialoge auf, zeigt uns
den lebendigen Ausdruck eines toten Gesichts, dabei erinnert
man sich oft nicht einmal daran, was man am Vorabend
gegessen hat. Bei dieser ersten Begegnung sagte sie
fast wortwörtlich zu mir:
»Lieben Sie sie, Ihre Freunde, Ihre Geliebten, lieben
Sie sie mit aller Kraft, geben Sie das Schönste, das Sie in
sich tragen. Wenn Sie so alt sind wie ich, sind Sie verloren,
denn nur wenige werden Sie als junge und schöne Frau
gekannt haben, Sie werden für alle eine alte Frau sein. Das
Schlimme am Alter ist nicht der Verlust der Kraft, sondern
der Verlust derer, die man liebt.«
Fosca gestand mir, dass sie nach Venedig gekommen
war, weil sie dort ein letztes Rendezvous hatte.
Vor etwa zehn Tagen machten wir uns zu dieser Reise auf
den Weg, der Frühling hatte gerade begonnen.
Wir luden geschwind mein Kleinmädchengepäck und
Foscas Herzoginnenkoffer in ihren Wagen, einen gebraucht
gekauften Silver Shadow Baujahr 1974, der letztlich billiger
war als ein neuer Mercedes, ein Auto, das aus recht unerfindlichen
Gründen plötzlich kaputtging und dann aus
ebenso unerfindlichen Gründen plötzlich wieder fuhr.
Ganz ähnlich wie bei uns, bei Fosca und mir.
Diesen Rolls hatte Fosca ganz spontan gekauft, zehn
Minuten nachdem sie ihn im Schaufenster eines Vertragshändlers
gesehen hatte, wo er seit tausend Jahren Staub
ansetzte, wechselte ein Scheck den Besitzer. »Weißt du,
meine Liebe, in meinem Alter ist es erlaubt, dass man seinen
Spleen als Liebhaberei bezeichnet.«
Fosca erzählte mir, sie treibe einen »wahren fetischistischen
Kult« um die kleine Spirit-of-Ecstasy-Figur, »sie ist
mein Wächter, mein Schutzengel«.
Wir legten die Straßenkarten bereit und tankten den
Wagen voll. Im Rückspiegel entfernte sich der Eiffelturm
in strahlender Abendrobe. Der Leuchtturm blieb lange unsere
Eskorte am Himmel, von der Porte d'Italie bis zum
Ring, bei der Ausfahrt auf die Autobahn Richtung Süden.
Ich saß am Steuer, sie erzählte mir was.
Sie zündete sich mit einem alten Zippo, das sie aus der
Tasche geholt hatte, eine Zigarette an. Ich hatte Fosca nie
zuvor rauchen sehen. Sie klappte geräuschvoll den Verschluss
zu, als wollte sie ihrer Geste Nachdruck verleihen.
Ich fand sie lustig, manchmal war sie richtig kindisch. Sie
wirkte oft sehr viel jugendlicher als ich, weil ich mir das
nicht gestatte.
Ich bin nicht wie die jungen Frauen meiner Altersklasse.
Ich habe oft den Eindruck, einer anderen Zeit anzugehören,
einer anderen Generation. Ich fühle mich älter und
zugleich kindlicher. Ich wuchs ohne Freunde auf, in der
Schule hatte ich keine Kameraden. Großmutter machte
sich über mich lustig, indem sie sagte, ich sei »ein klassisches
junges Mädchen«.
Sie zog mich in ihren Bann, dabei habe ich nie einem
Menschen vertraut. Sie beobachtete mich ganz unauffällig.
Mit großer Zärtlichkeit, das schon, aber sie beobachtete
mich. War Fosca falsch? Ich denke eher, sie war vorsichtig,
hatte einen geheimen Plan.
Ich gab einen Teil meiner Unabhängigkeit auf, als ich
beschloss, bei ihr zu wohnen, nachdem sie mir vor wenigen
Monaten ihr Leid gestanden hatte. Es lenkte mich von
meiner eigenen Unrast ab, von meinen Ängsten, meinen
schlaflosen Nächten. Ich beglückwünschte mich täglich zu
diesem Entschluss.
Fosca stieß eine kleine Rauchsäule aus. Als sie weitersprach,
klang ihre Stimme heiser.
»Ich habe an dem Tag mit dem Rauchen aufgehört, als
ich merkte, dass ich mit einer brennenden Zigarette zwischen
den Lippen unter der Dusche stand, und eine zweite
zwischen den Fingern hielt ... Das war ganz bestimmt der
rechte Moment. Natürlich geschah das nicht aus heiterem
Himmel, ein paar Vorzeichen hat es schon gegeben. Ich
bekam zum Beispiel Lust auf eine Zigarette, während ich
bereits eine rauchte. Ich muss immer bis zum Äußersten
gehen, um herauszufinden, ob ich wirklich von etwas lassen will.«
Sie nahm noch einen Zug, dann drückte sie die Kippe
in dem sauberen Aschenbecher aus. Wir waren noch nicht
über die letzten Vorstadtsiedlungen des Großraums Paris
hinausgekommen, als Fosca mir schon ihre Geschichten
zu erzählen begann. Ich hörte ihr sehr gerne zu, das wusste
sie ... Und sie nutzte es aus.
»Ich bin am Ende meines Lebens angekommen. Das ist
nicht lustig, glaub mir: Was habe ich es geliebt, dieses Leben,
aus dem ich nun scheiden muss!«
»Wenn ich sage, dass meine Tage gezählt sind, so heißt
das gar nichts. Unser aller Tage sind gezählt. Doch wäh-
rend man gewöhnlich das Ufer nicht sehen kann, weil es
im Schatten der Zeit und der Umstände verborgen liegt, so
bringen Alter und Krankheit mir dieses Ende in Sicht. Ich
lasse diesem Körper, den ich so geliebt habe und der mir
so gute Dienste geleistet hat, die letzte Pflege angedeihen.
Ich bin auf eine lüsterne Art enthaltsam - und auf eine
artige Weise lüstern gewesen. Ich habe einer Philosophie
angehangen, die dem Körper seine Freiheit lässt und dem
Geist seine Reinheit; ich habe mich im Bett des Epikureismus
geaalt. Das schmal ist, aber sauber.«
Großmutter liebte schöne Formulierungen. Ich mochte
es, wenn sie im Stil von Marguerite Yourcenar oder Barbey
d'Aurevilly sprach, um mich mit ihrer großen Belesenheit
zu beeindrucken und mir dabei ganz nebenbei ihre Sicht
des Lebens aufs Auge zu drücken.
Aber ich ging ihren großen Phrasen nicht auf den Leim.
Und sie auch nicht.
»Ich bin in der Klemme, Constanze: Ich hatte gedacht,
es wäre einfach, dir alles zu erzählen! Ohne etwas auszulassen!
Ich werde unanständig sein müssen. Ich werde dich
zum Erröten bringen. Zumindest hoffe ich das.
Alles in meinem Leben ist so sinnlich gewesen: eine Orangenblüte
am Morgen, das Streicheln einer Straßenkatze, das
frisch geschnittene Heu des Sommers. Auf einer von der
Sonne gewärmten Steintreppe sitzen und Kaffee trinken, an
einem Morgen, der die kühle Nachtluft vertreibt.«
Sie verstummte für ein paar Minuten, dann fügte sie hinzu:
»Ich habe all meine Kraft aus den Männern gezogen.
Sie haben mir den Takt vorgegeben. Mit ihrer Sanftheit.
Man muss ihnen nur die Möglichkeit lassen, weißt du,
das Recht zu sein. Es ist hart, ein Mann zu werden: Daher
müssen sie diese Sanftheit verbergen. Ein sanfter Mann
trägt das Kind in sich, das er einmal war, und den Greis,
der er einmal sein wird, seine Gewalttätigkeit und den
Stolz, zu wissen und zu verzichten. Er ist sanfter als ein
Vater und eine Mutter, süßer als ein Schluck Wasser für
einen, der am Verdursten ist. Ein zärtlicher Mann, das ist
die Zartheit der ganzen Welt. Das ist die Spucke auf einem
aufgeschlagenen Knie und die letzte Dezemberrose und die
Schnauze deines Hundes, der dir bei deinem ersten Kummer
das Gesicht ableckt.«
Noch ein Schweigen. Noch ein Seufzer.
»Die Stärke eines Mannes ist seine Sanftheit.«
In Fontainebleau bekam ich Lust, die Autobahn zu verlassen.
Ringsum duftete es nach Wald und Moos, nach grüner
Natur und frischen Blättern. Die Luft war mild, am
Himmel stand ein Halbmond. Ich war hungrig, Fosca tat
so, als wäre sie das auch.
»Na, dann lass uns mal was zwischen die Kiemen schieben.
Mir bleibt keine Zeit mehr, für gar nichts, also hab
ich für alles Zeit.«
Großmutter kippte eine dreiviertel Flasche Meursault
hinunter, aber ihre Morchelpoularde blieb unangetastet.
Ich trank nur ein Glas von diesem Wein, den ich nicht so
recht mochte, er war ölig, mit Tränen am Glasrand und
einem sehr dichten Bukett. Fosca trank ihren Weißwein
gerne zu kalt. Die Widersprüche einer Kennerin. Bevor ich
sie kennen lernte, ernährte ich mich von Haribo-Erdbee-
ren, Cola und Cornflakes. Von zähen Sandwiches, Schinken,
Kartoffelbrei, Hörnchennudeln, Dosenmilch und
Nutella. Ich bin immer dünn gewesen. Es war wirklich ein
Zufall, dass ich mir an dem Tag, an dem wir uns in dieser
Trattoria in Venedig begegneten, eine ordentliche Portion
bestellt hatte.
Nach dem Abendessen wollte ich weiterfahren. Außerdem
wollte ich, dass Fosca schläft, dass sie sich ausruht
und wieder zu Kräften kommt. Ich hatte einfach Lust zuzuschauen,
wie sich vor mir das Asphaltband entrollt, wie
die Bäume vorbeiziehen, wollte das Schauspiel der Straße genießen.
Genau dieser Augenblick ist für mich immer der Inbegriff
des Reisens gewesen: wenn alles brüchig wird, wenn
man die Dinge aus einem anderen Blickwinkel betrachten
kann, wenn der persönliche Tagesrhythmus gestört wird,
wenn man auf der Hut sein muss, weil nichts von vorn herein
bekannt ist, und man sich in Acht nehmen muss.
Ich übe - oder übte, denn jetzt ist alles auf Stand-by geschaltet
- einen seltsamen Beruf aus: Ich hielt Ausschau
nach »touristischen Produkten« für Reiseveranstalter, die
ich dann testete. Ganz selten tat ich einen Glücksgriff, aber
meistens war es der reine Horror, lauter komfortable Hühnerställe
von äußerst zweifelhaftem Geschmack. Es gab
auch Regionen, in denen die Kriege Spuren des Elends
hinterlassen hatten - ein neues Marktsegment -, sehr gefragt
beim so genannten Nischentourismus. Ich reiste an
Orte, an denen es absolut nichts zu sehen gab - das war
unglaublich erholsam. Ich bewegte mich zwischen Luxus
und Elend, im Taumel einer Einsamkeit, die ihre eigenen
Grenzen zu erweitern sucht. Doch das Fantastische und
Perverse an der Einsamkeit ist ja gerade das Grenzenlose.
Als ich Fosca in Venedig begegnete, kam ich gerade aus
Casablanca. Eine Reise wie viele andere auch und doch insofern
besonders, als ich dort extrem isoliert war und diese
chaotische Stadt überaus ermüdend fand.
Marrakesch - Casa
Der Zug von Marrakesch nach Casablanca braucht dreieinhalb
Stunden für eine Strecke von etwas mehr als zweihundert
Kilometern.
Als ich in Casablanca ankam, waren die Straßen leergefegt,
weil gerade ein Fußballspiel stattfand - das Endspiel
gegen Tunesien. Kein Taxi am Bahnhof, oder wenn, dann
ohne Fahrer, Motor abgeschaltet. Keine Menschenseele weit
und breit, weder am Fahrkartenschalter noch am Zeitungskiosk.
Ich wartete, das Gepäck zu meinen Füßen, während
die Stille um mich herum beunruhigend wurde. Schließlich
hielt ein kleines Taxi. Ich musste selbst die Koffer auf das
Dach des Fiat Panda hieven und grummelte dabei: »Was für
ein Service!«, aber der Fahrer tat so, als höre er nichts. Dann
düsten wir hupend und in einem Höllentempo in die leere
Stadt. Bei den roten Ampeln, die wir überfuhren, ohne das
Tempo zu drosseln, schloss ich die Augen und krallte mich
an der klebrigen Tür fest. Als wir im Hotel ankamen, hatte
der Fahrer rote Augen, als habe er Crack geraucht. Er forderte
einen Zuschlag »fürs Gepäck«. Da habe ich an die-
sem Tag zum ersten Mal so richtig von Herzen gelacht. Das
Hotel, ein Dritte-Welt-Vier-Sterne-Hotel, sah erbärmlich
aus: Goldverzierungen, Teppiche, die stanken wie alte Putz-
lumpen, eingestaubte künstliche Blumen.
Die beiden dicken Empfangsdamen sahen ziemlich nuttig
aus, eingezwängt in unsaubere Jacken. Ihre schweren
Brüste brachten ihre Blusen schier zum Bersten. Der Nagellack
war abgeplatzt, außerdem hatten sie sehr lange Nägel
und eine angeknabberte Nagelhaut.
Sie hatten Hände wie Pornostars. Sie hätten Schwestern
sein können, dabei sahen sie sich gar nicht ähnlich.
Vom Fenster meines Zimmers aus sah ich unten ein Dächermeer
funkeln, das mich an andere elende Städte erinnerte,
Tirana, Mexico City, Priština; an der Wand gegenüber
prangte ein zehn Meter hohes Foto über einem Parkplatz. Es
war eine Nescafé-Werbung. Ein junger Typ mit weichen Zügen
und kunstvoll zerzauster Mähne hält eine rote Tasse in
der Hand. Bekleidet mit einem nicht allzu tief ausgeschnittenen,
ärmellosen Unterhemd und einer blassblauen Pyjamahose
betrachtet er den Horizont. Die junge Frau neben
ihm ist rätselhafter. Schwarze Locken umrahmen ein verkrampft
lächelndes Gesicht. Man könnte meinen, die junge
Frau habe soeben in der Hochzeitsnacht entdeckt, dass ihr
Gatte einen Pimmel von drei Zentimetern hat. Sie stellt sich
mutig dieser Entdeckung, die eine Hand umschließt eine
Tasse Nescafé, die andere hält vorsichtig ein Stück Baguette,
das sie ihm jeden Moment um die Ohren hauen könnte.
Der Ausschnitt des Pyjamas ist ein bisschen groß, aber das
war wahrscheinlich Absicht, sollte nach Kuschelmorgen aussehen,
bei ihm unten, bei ihr oben.
1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2010 bei Blanvalet,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe
Random House GmbH, München.
Copyright © 2005 by Editions Stock
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
by Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Umschlaggestaltung: © HildenDesign, München
Redaktion: Ingola Lammers
ED Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN: 978-3-442-37467-0
www.blanvalet.de
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Autoren-Porträt von Simonetta Greggio
Simonetta Greggio, 1961 in Padua geboren, lebt seit mehr als zwanzig Jahren in Frankreich. Als Journalistin und Autorin hat sie u. a. für die Kultzeitschrift "City" gearbeitet sowie diverse Reportagen, Porträts, Gastrokritiken und Reiseführer verfasst.
Bibliographische Angaben
- Autor: Simonetta Greggio
- 2010, 160 Seiten, Maße: 12,5 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Michael Meßner
- Übersetzer: Michaela Meßner
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442374677
- ISBN-13: 9783442374670
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