Die Deutschen und ihre Mythen
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Produktinformationen zu „Die Deutschen und ihre Mythen “
Klappentext zu „Die Deutschen und ihre Mythen “
Herfried Münkler schreibt über die Deutschen und ihre Geschichte im Spiegel ihrer Mythen. Dabei erweckt er alte Sagen - etwa um die Nibelungen - zu neuem Leben, besichtigt schicksalhafte Orte wie Weimar, Nürnberg oder den Rhein und lässt historische Persönlichkeiten wie Hermann den Cherusker, Friedrich den Großen oder den Papst auftreten - selbst die D-Mark fehlt nicht in diesem Reigen.In einer großen historischen Analyse zeigt Münkler, wie Mythen unsere nationale Identität geformt haben und welch motivierende und mobilisierende Kraft ihnen eignet - im Positiven wie im Negativen. Denn in der deutschen Geschichte gingen Mythos und Politik stets Hand in Hand. So dienten die Schlacht im Teutoburger Wald oder der Drachentöter Siegfried der inneren Militarisierung der Deutschen, und das «Unternehmen Barbarossa» führte sie direkt in den Untergang. Nach 1945 erblühte die Bundesrepublik im Mythos vom «Wirtschaftswunder», die DDR richtete sich am «antifaschistischen Widerstand» auf. Heute dagegen ist Deutschland ein mythenarmes Land - ist das ein Fluch oder ein Segen?
Ein aufschlussreiches Werk nicht nur über die Geschichte und Mentalität der Deutschen, sondern auch über die Politik der Gegenwart - souverän dargestellt und spannend zu lesen.
Lese-Probe zu „Die Deutschen und ihre Mythen “
Die Deutschen und ihre Mythen von Herfried Münkler Einleitung ... mehr
Verglichen mit ihren europäischen Nachbarn oder den USA, ist die Bundesrepublik Deutschland eine weithin mythenfreie Zone – zumindest, wenn es um politische Gründungs- und Orientierungsmythen geht: kein Sturm auf die Bastille mit anschließender glorreicher Revolution, die zum politischen Orientierungszeichen einer ganzen Epoche wurde, wie in Frankreich;1 kein Unabhängigkeitskrieg, in dem politische Werte durchgesetzt wurden, und keine Erzählungen über die zähe Selbstbehauptung kleiner Gruppen in einer feindlichen Umgebung, an der man sich ein Beispiel für gegenwärtige Herausforderungen nehmen könne, wie in den USA;2 keine ungebrochene Erinnerung an eine glanzvolle imperiale Epoche, in der man der Welt Ordnung und Zivilisation gegeben habe, aus der die Eliten Selbstbewusstsein ziehen, wie in England; und auch keine identitätsstiftende Erinnerung an Untergang und Wiedererstehung, an heroischen Widerstand, der am Schluss von Erfolg gekrönt gewesen ist, wie in Polen.3 Die Beispiele reichen vom Siegeskult bis zur stolzen Opfererzählung, vom politischen bis zum technologischen Führungsanspruch und zeigen die Bandbreite, innerhalb deren politische Mythen ihre Wirkung entfalten können. In Deutschland findet sich nichts Vergleichbares, lediglich die Erinnerung an das zweimalige politisch-militärische Scheitern in der ersten Hälft e des 20. Jahrhunderts und die furchtbaren Verbrechen des Nationalsozialismus, zunächst schamhaft beschwiegen, dann aber, zumindest von den Historikern, entschlossen aufgearbeitet. Auch das sind Großerzählungen, aus denen nationale Identität gewonnen wird, nur dass sie durchgängig mit negativen Vorzeichen versehen sind.4 Deutschland nimmt insofern eine Sonderstellung ein; kein anderes Land hat sich einer ähnlichen Erinnerungsarbeit unterworfen und die Zeichen moralischer Schande so sichtbar gemacht: nicht Japan, nicht Russland als Nachfolger der Sowjetunion und schon gar nicht Italien. Damit kann man als Deutscher einverstanden sein, aber Stolz will sich angesichts dessen, was da erinnert wird, nicht einstellen. Was aus der intensiven Beschäftigung mit der Vergangenheit erwächst, ist ein politisches Selbstverständnis, das sich weder lautstark noch demonstrativ kommunizieren lässt. Man kann diesen Mangel freilich auch als Vorteil begreifen: Endlich ist es in Deutschland möglich, Politik jenseits mythischer Irrungen und Wirrungen, ohne narrative Verlockungen und frei vom Ballast eines geschichtlichen Wiederholungszwangs allein auf der Grundlage rationaler Interessenkalküle und diskursiven Erwägens zu betreiben. Aber so einfach sind die Dinge nicht. Das zu zeigen ist die Absicht dieses Buches. Es gibt keinen geraden Weg «vom Mythos zum Logos»,5 schon gar nicht in der Politik, und auch Max Webers gerne bemühte Entzauberungsdiagnose ist, genauer betrachtet, viel zu melancholisch, als dass sie als Trompetensignal des Fortschritts in eine bessere, weil vernünftigere Welt verstanden werden könnte.6 Tatsächlich ist man nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik keineswegs gänzlich ohne Mythen ausgekommen, nur waren diese nicht mehr auf die Politik, sondern auf den individuellen Wohlstand und dessen Zurschaustellung bezogen. Während man in der DDR versuchte, eine alternative Narration deutscher Geschichte gründungsmythisch aufzubereiten, in der Volksaufstände und revolutionäre Projekte an die Stelle der Kriege und Schlachten traten, verzichtete man im Westen auf einen offiziellen Gründungsmythos und begnügte sich damit, ein ausgesprochen symbolarmer Staat zu sein. Das wurde anfänglich durch den Provisoriumscharakter der Bundesrepublik erheblich erleichtert.7 So verlagerte sich das Bedürfnis nach mythischer Narration und symbolischer Repräsentation von Politik und Staat auf Markt und Konsum. Der Volkswagen wurde zum Zeichen des Dazugehörens, und der Mercedes war das Symbol des gelungenen Aufstiegs, die Bestätigung des Erfolgs. Überspitzt gesagt, löste der Mercedesstern das Eiserne Kreuz der Kriegsgeneration ab. Käfer und Golf dominierten die Märkte und prägten die Identität von Generationen, aber der Mercedes brachte zum Ausdruck, dass deutsche Leistung auch international wieder Respekt und Anerkennung fand. Janis Joplin sang: «Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes Benz.» Nachdem es mit Schlachtflotten und Panzerarmeen vorbei war, hat kaum etwas den deutschen Anspruch auf Weltgeltung so deutlich verkörpert wie das Automobil aus Stuttgart. Das hat der spätere Unternehmensvorstand Jürgen Schrempp nicht begriff en, als er Namen und Symbol leichtfertig für die Bezeichnung Daimler-Chrysler drangab – eine Fehlentscheidung, die mit Milliardenaufwand revidiert werden musste. Ein Blick auf den Mythos hätte der Konzernzentrale diese Verluste ersparen können. Mythen sind Ansammlungen symbolischen Kapitals, von denen man gut leben kann, solange man sie hegt und pflegt. Dieses symbolische Kapital ist jedoch auch schnell verspielt. Wie Schrempp die Bedeutung eines Namens und der angelagerten Symbolik unterschätzt hat, so neigen viele Politiker dazu, Narrationen im politischen Betrieb ein zu geringes Gewicht beizumessen.8 Vor allem, wenn Politik sich nicht in routiniertem Administrieren erschöpft , sondern einschneidende Reformen erforderlich werden oder politisches Neuland zu betreten ist, erlangen solche Narrative große Bedeutung. Mythen versichern dann, dass die zu meisternden Aufgaben bewältigt werden können, weil das damals auch gelungen ist. Sie schaff en Orientierung und Zuversicht und sind damit kognitive wie emotionale Ressourcen der Politik. Das hat sich bei der sogenannten Agenda 2010 des zweiten Kabinetts Schröder gezeigt, die ohne narrativ-symbolische Rückendeckung auskommen musste und nicht zuletzt deshalb keine ausreichende Unterstützung innerhalb der SPD fand. Man hat aus der Not eine Tugend zu machen versucht, indem man die einzelnen Reformmaßnahmen mit einer explizit technischen Symbolik umgab, etwa die Hartz-Reformen durchnummerierte oder das Zieljahr der Reformen «Zwanzig-Zehn» aussprach. Aber das waren Symboliken, die eher negative Empfindungen hervorriefen als die politische Phantasie stimulierten. Die Entstehung der Linkspartei9 und die Abwanderung größerer Wählerschichten von der Sozialdemokratie ist – jedenfalls zum Teil – eine Folge des narrativen wie symbolischen Mangels, mit der dieses Projekt in Gang gesetzt wurde. Das Defizit politischer Mythen in Deutschland hat also einen Preis, und der besteht im Fehlen von Großerzählungen, die Zutrauen und Mut erzeugen und politische Reformen begleiten und absichern können. Der Befund mag überraschen: Mangel an politischen Mythen und struktureller Konservatismus gehen offenbar Hand in Hand. Nun hat aber, wie die deutsche Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zeigt, ein überbordender Reichtum an politischen Mythen ebenfalls seinen Preis, und der war mit Sicherheit größer als der, den die Bonner und die Berliner Republik für ihre Mythenfeindlichkeit bisher zu zahlen hatten. Unter dem Einfluss der Französischen Revolution und der sich in ihrem Gefolge entwickelnden politischen Dynamik hatte Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland eine Suche nach Nationalmythen und Nationalhelden eingesetzt, die an die Stelle der in der Jahrhundertmitte versiegten neostoischen Heroenmythik der höfischen Gesellschaft trat.10 Vom wieder aufgefundenen Nibelungenlied bis zu Goethes Faust und Tacitus’ Germania, vom Cheruskerfürsten Hermann/Arminius über den Stauferkaiser Barbarossa bis zum Reformator Luther wurden literarische Texte und historische Personen auf ihre Tauglichkeit zu politischen Gründungs- und Orientierungsmythen getestet. In sagenumwobene Orte, literarische Texte und historische Ereignisse wurde eine Bedeutung investiert, durch die sie über sich hinauswiesen, Geheimnisse bargen oder heilsgeschichtliche Versprechen enthielten. Der Dichter Wilhelm Raabe hat von den drei großen sinnbehafteten Bergen beziehungsweise Burgen Deutschlands gesprochen, in denen sich Vergangenheit und Zukunft des Landes spiegelten: dem Brocken, dem Kyffhäuser und der Wartburg.11 Mit der Reichsgründung setzte eine «Verdenkmalung» der Landschaft ein, durch die bestimmten mythisch besetzten Orten eine sakrale Aura verliehen wurde.12 Das Arminiusdenkmal im Teutoburger Wald und das Barbarossadenkmal auf dem Kyffäuser, das Niederwalddenkmal oberhalb von Rüdesheim und das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig, zuvor bereits die Walhalla nahe Regensburg und die Ehrenhalle bei Kelheim sind damals entstanden, die Wartburg wurde grundlegend restauriert, und der Kölner Dom, dessen Bau Mitte des 16. Jahrhunderts eingestellt worden war, wurde nunmehr vollendet.13 Die Brüder Grimm sammelten nicht nur hessische Märchen, sondern auch deutsche Sagen, die Romantiker Brentano und Arnim edierten Lieder und Gedichte in der berühmten Sammlung Des Knaben Wunderhorn, und fast möchte man meinen, hier habe sich überhaupt erst zugetragen, was Max Weber ein Jahrhundert später dann für beendet erklärte: die Verzauberung der Welt. Dabei waren beileibe nicht alle Verzauberungen genuin politisch, aber fast alle erwiesen sich als politisch anschlussfähig, zumindest derart, dass sie etwas zur Identität der Nation beisteuerten und das vorgeblich Besondere, Einmalige der Deutschen fassbar machten. In diesem Sinne befriedigen politische Mythen ein kollektives Distinktionsbedürfnis, wobei sie es selten bei bloßer Abgrenzung belassen, sondern Überlegenheitsvorstellungen und Dominanzansprüche wecken. Das ist vor allem dort der Fall, wo sich Gegenmythen entwickeln, wie im 19. Jahrhundert zwischen Deutschland und Frankreich14 und seit den 1950er Jahren noch einmal zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Sie beziehen ihre Kraft daraus, dass sie das Selbstbewusstsein der Gegenseite in Frage stellen. Das zeigt sich in der Kontrastierung von Versailles mit der Fluss- und Burgenlandschaft am Mittelrhein: auf der einen Seite die als künstlich betrachtete Einheit von Schloss und Park und auf der anderen Seite die als natürlich gefeierte Rheinlandschaft mit ihren tiefen Geheimnissen und den sich an die Natur anschmiegenden architektonischen Einsprengseln der Klöster, Kirchen und Burgen. Das war ein radikaler Gegenentwurf zu Versailles, der sich nicht nur gegen Frankreich, sondern auch gegen die Nachahmer des Französischen in Deutschland richtete. Oder «Rom» wurde zum Gegenbild des aufrechten, guten Deutschen stilisiert, beziehungsweise das, was als deutsch gelten sollte, wurde als Gegenentwurf zu all dem entfaltet, was sich mit «Rom» verbinden ließ. Der Franzosenkaiser Napoleon und der Cheruskerfürst Hermann sind ein weiteres Gegensatzpaar, das für die mythische Kontrastierung von imperialem Anspruch und antiimperialem Widerstand steht, oder auch Napoleon und Königin Luise, der französische Satan und die preußische Heilige. Derart scharf ausgeprägte Gegensätze sollten Feindbilder markieren und das Selbstbild verdeutlichen. Zum System der Gegenmythen gehören auch konkurrierende Inanspruchnahmen ein und derselben Tradition, wie dies bei der frühneuzeitlichen Debatte über Karl den Großen der Fall war, den sowohl Franzosen als auch Deutsche für sich reklamierten.15 Andere Beispiele sind das Straßburger Münster und der Bamberger Reiter, mit denen gegen Frankreich ein deutscher Anspruch auf die wahre und echte Gotik geltend gemacht wurde.16 Der Mythisierungsschub des 19. Jahrhunderts erfasste nicht nur den Raum, sondern griff in Gestalt eines politischen Heiligenkalenders mit Gedenk- und Feiertagen auch auf die Zeit aus. Das Kirchenjahr verlor sein Sakralitätsmonopol. Nun wurden die Jahrestage großer Schlachten oder politischer Gründungsereignisse ebenfalls mit Weihen versehen, die Dankbarkeit und Verpflichtung erzeugen sollten. In der Regel wurden die politischen Festtage mit Aufzügen und Militärparaden gefeiert. In der DDR lebte diese Tradition fort, während die Bundesrepublik sich auf Festansprachen mit musikalischer Umrahmung in geschlossenen Räumen beschränkte. Die bundesrepublikanische Linie eines reduzierten politischen Festkalenders bei Verzicht auf Militärparaden und Vorbeimärsche ist in der Berliner Republik übernommen worden. Der Sakralitätsverzicht politischer Festtage korrespondiert dem Mangel an gründungsmythischen Erzählungen. So ist der «Tag der deutschen Einheit» für die regionalen Schausteller wichtiger als für die republikanische Verfassungskultur Deutschlands.17 Im Prinzip führt die sakrale Aufladung des politischen Alltags jedoch zu Immobilismus. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch zur obengemachten Beobachtung, dass politische Mythen bei der Unterstützung tiefgreifender Reformmaßnahmen hilfreich sind, während ihr Fehlen einen strukturellen Konservatismus befördert. Politische Mythen wirken nämlich in ihrer dreifachen Gliederung von narrativer Variation, ikonischer Verdichtung und ritueller Inszenierung keineswegs einsinnig im Sinne eines die Veränderung unterstützenden Faktors, sondern können auch den Kräft en der Beharrung zur Seite stehen. Mit narrativer Variation ist dabei gemeint, dass Mythen nicht bloß weitererzählt, sondern auch fort- und umerzählt werden und dass die dabei zu beobachtenden Variationen spezifisch politische Deutungsleistungen darstellen, in denen einer Neuorientierung des politischen Verbandes vorgearbeitet wird. Vor allem am Barbarossa-, aber auch am Nibelungenmythos ist das zu beobachten. Unter ikonischer Verdichtung ist nicht bloß Verbildlichung, sondern auch Statuarisierung zu verstehen, insofern die einmal durchgesetzte Ikonik ein sehr viel größeres Beharrungsvermögen gegenüber Varianten aufweist als die Erzählung. Als Hypothese lässt sich somit formulieren, dass Narrative eher die Veränderung befördern, während Bilder und Denkmäler, die den Mythos zur Darstellung bringen, sowie die ihm gewidmeten Feste einen überwiegend bewahrenden Charakter haben. Das ist nicht verwunderlich, da Narrationen am wandlungsfähigsten sind, umerzählt und modifiziert werden können, wohingegen die mit Ikonisierung und Ritualisierung verbundene Sakralität Personen, Ereignisse und Berichte unverfügbar macht und Variationen unter Häresieverdacht stellt. Demgegenüber eröffnet der Verzicht auf politische Sakralisierung erhöhte Flexibilität und schafft die Möglichkeit, Perspektiven auszuloten, die im Mythos nicht vorgesehen sind. Andernfalls sind schmerzliche Prozesse der Desakralisierung unvermeidlich, wie man sie in den Städten der ehemaligen DDR zu Beginn der 1990er Jahre erleben konnte, als Denkmäler abgebaut und Straßen umbenannt wurden.18 Halten wir fest: In politischen Mythen wird das Selbstbewusstsein eines politischen Verbandes zum Ausdruck gebracht, beziehungsweise dieses Selbstbewusstsein speist sich aus ihnen. Sie sind die narrative Grundlage der symbolischen Ordnung eines Gemeinwesens, die insbesondere dann in Anspruch genommen werden muss, wenn sich Symboliken nicht mehr von selbst erschließen oder wenn es gilt, sie zu verändern. In einer solchen Situation sind politische Mythen und Symbole Angriff en von innen wie von außen ausgesetzt, und dabei stellen mythische Narrationen die wichtigste Verteidigungslinie der symbolischen Ordnung dar. Selbstverständlich sind politische Mythen aber auch off ensiv einsetzbar, indem mit ihnen die Ansprüche eines politischen Gegners in Zweifel gezogen oder bestritten werden können. Die Angriff e auf die symbolische Ordnung können sehr unterschiedlicher Art sein: Gegen architektonische Zeichen sind sie meist gewaltsam. Der mit physischen Mitteln durchgeführte Denkmalsturz, die Politik des Sprengstoff s, wie sie etwa unter Walter Ulbricht betrieben wurde, um Erinnerungen auszulöschen und das kollektive Gedächtnis der politischen Gemeinschaft neu programmieren zu können, ist freilich mit narrativen Mitteln nicht abzuwehren.19 Aber die Politik des Sprengstoff s ist selbst auf die Begleitung durch Narrationen angewiesen; sonst erschiene sie als bloßer Vandalismus. Sie muss begründende Erzählungen dafür anbieten, warum das Abräumen früherer Symbolsysteme kein Verlust, sondern eine Befreiung ist. Solche demonstrativen Desymbolisierungen sind jedoch eher selten. Dass sie in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts mehrfach vorgekommen sind, hat mit deren Brüchen und Verwerfungen zu tun. Vergleichbares ist bei den europäischen Nachbarn nicht zu beobachten. In der Regel verläuft die Entheiligung von Plätzen und Gebäuden schleichend: Sie leiden über längere Zeit an der Erosion ihrer Symbolik, dementsprechend erfolgen auch keine Investitionen in ihren physischen Erhalt mehr, und es beginnt ein zunächst unmerklicher Verfall, bis zuletzt nur noch bedeutungslos gewordene Trümmer zu beseitigen sind. Der entscheidende Punkt in diesem Prozess ist die mythische Narration: Wenn ihre Kraft versiegt, verliert der Ort, auf den sie sich bezieht, seine Bedeutung. In der deutschen Geschichte ist ein unmerkliches Dahinscheiden jedoch die Ausnahme; die Regel waren heftige Kämpfe um politische Mythen, bei denen diese umerzählt wurden, um sie neuen politischen Zielen anzupassen, oder sie wurden zerstört, indem man sie ihrer narrativen Umkleidungen entledigte und den ideologischen Kern bloßstellte. Wird dieser Kern sichtbar, verliert der Mythos seine Kraft. Man sieht die in ihm nur noch verborgenen Interessen. Mythen- und Ideologiekritik sind insofern eng miteinander verwandt. Es kommt deswegen nicht von ungefähr, wenn im Folgenden immer wieder auf Heinrich Heine Bezug genommen wird, der ein genialer Fortspinner und Umdeuter mythischer Erzählungen war. Solche Kämpfe können nur dann geführt werden, wenn die Mythen weit verbreitet und bekannt sind. Dazu bedarf es einer sozialen Schicht, die mit Mythen und Symbolen so gut vertraut ist, dass sie auch nur im Zungenschlag hörbare Pointen wahrzunehmen vermag, um sich an ihnen zu vergnügen oder über sie zu erregen. Diese Schicht war in Deutschland das Bildungsbürgertum. Mit seinem Niedergang haben jene mythischen Narrationen an Relevanz verloren, die auf die Kenntnis von Kunst und Literatur angewiesen waren. Wenn, wie sich am Schluss des Buches zeigen wird, für die politische Mythik heute Fernsehunterhalter und Prominente, Werbedesigner und Bildzeitungsredakteure von größerer Bedeutung sind als Historiographen und Literaten, Maler, Bildhauer und Schriftsteller, so hat das auch mit der Veränderung der medialen Systeme zu tun, vor allem aber mit der politischen Marginalisierung des deutschen Bildungsbürgertums. Politische Mythen haben in allen europäischen Nationen eine wichtige Rolle gespielt,20 Deutschland allerdings war ein regelrechtes Dorado der politischen Mythographie. Das hängt mit der politischen Deutungshoheit des Bildungsbürgertums21 und mit der verspäteten Staatsbildung zusammen: Bis 1871 waren Mythen und Symbole die einzige Repräsentation der Nation. Das hatte zur Folge, dass die nationalen Erwartungen und Anstrengungen auf das Feld des Symbolischen verwiesen waren. Was im politischen Erfahrungsraum nicht der Fall war, wurde mit umso größerer Intensität in den Erwartungshorizont22 hineingeschrieben, und der wurde über weite Strecken durch Mythen illustriert. Heinrich Heine hat das deutsche Streben ins «Luftrevier» verspottet, aber kaum einer hat besser gewusst als er, welche gewaltige Kraft von diesen «Hirngespinsten» ausgehen konnte.
© 2009 by Rowohlt Berlin Verlag GmbH, Berlin
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Autoren-Porträt von Herfried Münkler
Herfried Münkler, geboren 1951, ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Viele seiner Bücher gelten als Standardwerke, etwa «Die Deutschen und ihre Mythen» (2009), das mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, sowie «Der Große Krieg» (2013), «Die neuen Deutschen» (2016), «Der Dreißigjährige Krieg» (2017) oder «Marx, Wagner, Nietzsche» (2021), die alle monatelang auf der «Spiegel»-Bestsellerliste standen. Zuletzt erschien «Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert», ebenfalls ein «Spiegel»-Bestseller. Herfried Münkler wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Wissenschaftspreis der Aby-Warburg-Stiftung und dem Carl Friedrich von Siemens Fellowship.
Bibliographische Angaben
- Autor: Herfried Münkler
- 2009, 4. Aufl., 608 Seiten, 17 Schwarz-Weiß-Abbildungen, mit Abbildungen, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt, Berlin
- ISBN-10: 3871346071
- ISBN-13: 9783871346071
- Erscheinungsdatum: 03.03.2009
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