Die Drachen
Einst lebten Menschen und Fabelwesen einträchtig nebeneinander. Doch dann stürzt Phuram, den man fortan als Sonnengott verehrt, das herrschende Dreigestirn der Drachen in den Abgrund und vernichtet alle, die sich ihm nicht beugen.
Mit dem Mut der...
Einst lebten Menschen und Fabelwesen einträchtig nebeneinander. Doch dann stürzt Phuram, den man fortan als Sonnengott verehrt, das herrschende Dreigestirn der Drachen in den Abgrund und vernichtet alle, die sich ihm nicht beugen.
Mit dem Mut der Verzweiflung machen sich neun Auserwählte auf den Weg in die Tote Stadt, denn nur ihnen ist es prophezeit, Phurams Taten zu rächen.
Die Drachen und JuliaConrad
LESEPROBE
Der verkaufte Schriftgelehrte
In demMarktstädtchen Kuskal in der Nähe von Fort Timlach war man vollauf beschäftigtmit den Vorbereitungen für den monatlichen Sklavenmarkt, der immer einGroßereignis für das verschlafene Nest war. Schon im Morgengrauen erschienendie Händler mit ihren Echsenkarren, die eiserne Käfige auf Rädern hinter sichherzogen, alle voll gepackt mit Sklaven. Dann kamen Soldaten, die denkaiserlichen Transport aus Thurazim begleiteten, einen mächtigen rollendenKäfig voll ausgestoßener Soldaten, ungetreuer Beamter, diebischer Lakaien undin Ungnade gefallener Mätressen.
Dieser Transport erregte bei den Käufern immer die größte Neugier,waren doch vornehme Leute aus Thurazim darunter. Wer Glück hatte und sich aufsHandeln verstand, konnte zu einem günstigen Preis eine Dame erwerben, die vorkurzem noch die Geliebte eines Höflings gewesen war, oder einen Beamten, derlesen und schreiben konnte und sich mit der Steuer auskannte, auch wenn man ihmgenau auf die Finger sehen musste.
Jannis, derdie Tage seit seiner Verstoßung in einem Zustand dumpfer Verwirrung verbrachthatte, sodass er kaum wahrnahm, was um ihn herum geschah, wachte aus seinerUmnachtung auf, als er von groben Fäusten gepackt und aus dem Käfig gezerrt wurde.Mit allen anderen, die in die Sklaverei verkauft wurden, musste er sich ineiner langen Reihe aufstellen. Einer nach dem anderen marschierten sie an demBeamten vorbei, der überprüfte, ob die Person mit der Eintragung auf der Listeübereinstimmte. Dann bekam Jannis, wie jeder andere auch, eine Tafel um denHals gehängt, auf der seine Fähigkeiten angepriesen wurden:
JANNIS, EIN SCHRIFTGELEHRTER, 35 JAHRE ALT, GESUND UND OHNEKÖRPERLICHE MÄNGEL, KANN FLIESSEND LESEN UND SCHREIBT EINE SCHÖNE HANDSCHRIFT. FOLGSAMUND WOHLERZOGEN.
Mit dieserKennzeichnung versehen, wurde er die hölzerne Treppe auf die Schaubühnehinaufgetrieben und dort an einen Pfosten gekettet.
Inzwischenhatte sich der Marktplatz immer mehr mit Menschen gefüllt. Von allen Seitenwehte der Duft von Essen herbei -schließlich machte das zähe Feilschenhungrig-, und ein betäubendes Stimmengewirr füllte den Platz rund um denBabona-Baum. Die Händler überschrieen einander beim Anpreisen ihrer Ware,während die Käufer ebenso lautstark daran herummäkelten, um den Preis zudrücken. Die Verfehlungen, die zu der harten Strafe geführt hatten, wurdenniemals angegeben, sonst hätte man einen Großteil der Ware gewiss nicht an denMann gebracht. Den Käufern war klar, dass sie die Katze im Sack kauften, undso hieß es allerorten: »Was, so viel Geld verlangt ihr für den? Wer weiß, wasder für ein Schurke ist, der mich bestiehlt und ausplündert! Und die Schöneda, hat sie nicht einen Makel, den ich erst später erkenne? Mehr als zweiKaisermünzen gebe ich nicht!«
Soldatendrängten die Kauflustigen zurück, die die Schaubühne stürmen wollten, um sichhandgreiflich von den behaupteten Qualitäten der Ware zu überzeugen. Jannisbeobachtete mit fassungslosem Entsetzen, wie kräftige Gutsherrinnen den insAuge gefassten Arbeitssklaven die Oberarmmuskeln drückten, sie mit der Faust inden harten Bauch knufften und in die Hinterbacken kniffen. Andere wurden anweitaus intimeren Stellen geprüft, sodass sich der Gelehrte an den Pfostenpresste und den Bauch einzog, bis er kaum noch atmen konnte vor Angst, eines dieserWeiber könnte ihm zwischen die Beine fassen.
Plötzlichtrat in der Menge unmittelbar vor Jannis eine merkwürdige Stille ein, sodasser aufblickte. Das Geschrei war verstummt, und die eben noch drängelndenMenschen wichen zurück vor einer hoch gewachsenen Frau im Kapuzenmantel, die mitlangsamen, selbstsicheren Schritten auf die Schaubühne zuging. Vor Jannisblieb sie stehen und betrachtete ihn.
Dann zogsie sich die Kapuze vom Kopf und enthüllte einen üppigen Schopf gekrausteraschblonder Haare. Das Gesicht war nicht wirklich schön, aber ungemeineindrucksvoll, mit starken, kantigen Zügen, leuchtenden grünen Augen und einembreiten Mund, in dem - wie es dem verängstigten Gelehrten schien - doppelt soviele Zähne steckten wie bei anderen Leuten. Sie waren auch merklich länger undspitzer und von einer gelblichen Farbe wie altes Elfenbein. Es sah seltsam undunheimlich aus, als die Frau sie in einem wölfischen Lächeln entblößte.
Noch merkwürdigerals das erschreckende Gebiss der Fremden war jedoch ein schlankes, vierfüßigesTier, das die Frau begleitete wie ein Hund. Es war so groß wie einsiebenjähriges Kind, hatte Kopf und Körper einer Eidechse Lind auch die grünbraun-goldengescheckte Schlangenhaut eines Reptils, aber mandelförmige, bernsteingelbe understaunlich menschliche Augen. Auch seine zierlichen Hände warenmenschenähnlich, wenn man davon absah, dass sie nur vier Finger aufwiesen. Eslief einmal auf allen vieren, dann wieder watschelte es mit einem komischspreizbeinigen Schritt auf den Hinterpfoten, wobei es sich mit seinem langenkräftigen Schwanz abstützte. Tief unter all der Furcht und Scham in Jannisregte sich der Schriftgelehrte und registrierte, dass er das seltene Privileghatte, einen lebenden Mesri zu sehen.
Dann jedochschlugen die Wellen des Entsetzens wieder über ihm zusammen, denn er hörte dasGewisper der Umstehenden ...
»Seht nur,die Zauberin Umbra ist da!«
»Gewisswird sie wieder einen Mann kaufen, um ihn in ihrem Kessel zu kochen.«
»Der Dickedort, was meinst du? Wird die Menschenfresserin den Dicken kaufen?«
»Nein, siehdoch, Umbra betrachtet den Dünnen, der so elend aussieht! «
»Was willsie denn aus dem kochen? Hühnersuppe etwa?«
»Still!Halt doch den Mund, Dummkopf! Wenn sie deine losen Reden hört, kann es sein,dass sie einen Bann auf dich wirft und dich in ein Schwein verwandelt, wie siees auch früher schon getan hat! «
Während derunglückliche Jannis all diese Reden mit anhören musste, betrachtete die Frauihn immer eindringlicher aus ihren grünen Augen. Dann fragte sie ihn, wann ergeboren sei, wann seine Eltern gestorben seien, und befahl ihm den blauenKittel bis über den Nabel hochzuziehen. Jannis gehorchte in allem wie ein Schlafwandler.Erst als die Frau zufrieden nickte und mit dem Händler einig wurde, was erkosten solle, erwachte er aus seiner Betäubung und stieß einen gellendenEntsetzensschrei aus. »Kochen - Kessel - Schwein verwandeln«, kreischte er wieim Wahnsinn und fiel ohnmächtig am Fuß des Pfostens nieder.
»Ladet ihnauf meinen Karren«, befahl die Frau. »Er wird schon von selber wiederaufwachen.«
© Piper VerlagGmbH, München 2005
- Autor: Julia Conrad
- 2005, 6, 508 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 3492700799
- ISBN-13: 9783492700795
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