Raubzug / Die Eingeschworenen Bd.1
Roman. Deutsche Erstausgabe
Die Eingeschworenen sind eine Gruppe von Wikingern, die auf ihren Raubzügen christliche Artefakte stehlen. Der junge Orm geht mit ihnen auf eine gefährliche, brutale und wagemutige Reise, auf der er auch in einen blutigen Kampf um ein legendäres Schwert gerät.
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Produktinformationen zu „Raubzug / Die Eingeschworenen Bd.1 “
Die Eingeschworenen sind eine Gruppe von Wikingern, die auf ihren Raubzügen christliche Artefakte stehlen. Der junge Orm geht mit ihnen auf eine gefährliche, brutale und wagemutige Reise, auf der er auch in einen blutigen Kampf um ein legendäres Schwert gerät.
Klappentext zu „Raubzug / Die Eingeschworenen Bd.1 “
Ein Bund von Kriegern - verschworen bis in den TodSie nennen sich die Eingeschworenen: eine Mannschaft von Wikingern, die Seite an Seite kämpfen - bis in den Tod. Auf ihren Raubzügen stehlen sie christliche Artefakte, ihre Welt ist geprägt von Brutalität und dem gnadenlosen Kampf ums Überleben. Zusammen mit den Eingeschworenen begibt sich der junge Orm auf eine Reise von gewaltigen Ausmaßen, die über die Weltmeere bis zu den Steppen Sibiriens führt. Im blutigen Wettstreit um ein legendäres Schwert muss er zwischen den todesmutigen Wikingern bestehen.
Ein Bund von Kriegern - verschworen bis in den TodSie nennen sich die Eingeschworenen: eine Mannschaft von Wikingern, die Seite an Seite kämpfen - bis in den Tod. Auf ihren Raubzügen stehlen sie christliche Artefakte, ihre Welt ist geprägt von Brutalität und dem gnadenlosen Kampf ums Überleben. Zusammen mit den Eingeschworenen begibt sich der junge Orm auf eine Reise von gewaltigen Ausmaßen, die über die Weltmeere bis zu den Steppen Sibiriens führt. Im blutigen Wettstreit um ein legendäres Schwert muss er zwischen den todesmutigen Wikingern bestehen.
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Raubzug - Die Eingeschworenen 1 von Robert LowKAPITEL 1
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Runenzeilen sind wie gewundene, reich verzierte Bänder. Sie gleichen der Weltschlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Eigentlich sind alle Geschichten verschlungene Schlangenknoten, denn nicht immer fängt das Leben mit der Geburt an und endet mit dem Tod. Auch mein eigenes Leben fängt erst mit meiner Wiederkehr von den Toten wirklich an.
Ich sah einen Balken über mir, knorrig und glattpoliert von den Netzen und Segeln, die darüberhingen. Eine Spinne, in der Kälte gestorben, wehte im Luftzug an einem Seidenfaden und verschwamm vor meinem Blick.
Ich kannte diesen Balken. Es war der Firstbalken des Naust, des Bootshauses von Björnshafen, und an diesen Netzen und Segeln hatte ich geschaukelt. Geschaukelt und gelacht, sorglos, in einem anderen Leben.
Ich lag auf dem Rücken und sah auf zu ihm und verstand nicht, warum er da war, denn ich war doch tot. Und dennoch formte mein Atem Dampfwölkchen in dem kalten Raum.
»Er ist aufgewacht.«
Es war eine knarrende Stimme, und wieder kippte und schaukelte alles, als ich versuchte, meinen Kopf in die Richtung zu drehen, aus der sie kam. Ich war nicht tot. Ich lag auf einer Pritsche und über mir schwamm ein Gesicht mit starkem Unterkiefer und einem Bart, struppig
wie eine Hecke. Weitere Gesichter erschienen hinter ihm, alle fremd und alle verschwommen, wie unter Wasser.
»Zurück, ihr hässlichen Fratzen. Lasst dem Jungen Platz zum Atmen. Finn Rosskopf, vor dir würde selbst Hel die Flucht ergreifen, also gehst du wohl jetzt am besten raus und holst seinen Vater.«
Das Gesicht mit dem struppigen Bart verfinsterte sich und verschwand. Die Stimme hatte ebenfalls ein Gesicht. Dieses hatte einen sauber gestutzten Bart und freundliche Augen. »Ich bin Illugi, der Godi der Eingeschworenen«, sagte er und klopfte mir beruhigend auf die Schulter. »Dein Vater kommt gleich, Junge. Du bist in Sicherheit.«
Sicherheit. Ein Priester sagt, ich sei in Sicherheit, also muss es wahr sein. Ein kurzes Traumbild, wie etwas, das in einem nächtlichen Gewitter blau-weiß aufblitzt: der Bär, der in einem Schauer von Schnee und splitterndem Holz durchs Dach bricht, brüllend, mit gewundenem Hals, ein riesiger weißer Berg ...
»Mein ... Vater?«
Die Stimme schien mir nicht zu gehören, aber der Fremde mit den freundlichen Augen, der Illugi hieß, nickte lächelnd. Hinter ihm bewegten sich Männer wie Schatten, ihre Stimmen bald lauter, bald leiser, wie rauschende Wogen.
Mein Vater. Also war er doch gekommen, um mich zu holen. An diesem Gedanken hielt ich fest, während Illugis Gesicht zu einem undeutlichen Fleck verschwamm. Auch die anderen verschwanden hinter ihm wie zerplatzende Blasen, während ich abermals in den dunklen Fluten des Schlafs versank.
Aber der Priester hatte gelogen. Ich war nicht in Sicherheit. Ich würde niemals wieder in Sicherheit sein.
Später, als ich mich aufsetzen und etwas Brühe trinken konnte, hatte sich die Geschichte in ganz Björnshafen herumgesprochen: die Geschichte von Orm, dem Töter des weißen Bären.
Als der weiße Bär - Ruriks Fluch - kam, um sich am Sohn zu rächen - und danach vermutlich am Vater -, war er es, der tapfere Orm, ein Knabe noch, der zum Mann wurde, der ihn ganz allein bekämpfte - neben der geköpften Leiche von Freydis, der Hexe. Einen Tag und eine Nacht hatte er gekämpft, bis er schließlich einen Speer in seinen Kopf und ein Schwert in sein Herz stieß.
Die Leute konnten es gar nicht oft genug hören, sagte mein Vater, als er zu mir kam und sich neben mein Bett kauerte. Er rieb sein graues, stoppeliges Kinn und fuhr sich mit der Hand durch das glatte, einstmals blonde Haar.
Mein Vater, Rurik. Der Mann, der mich bei seinem Bruder Gudleif in Björnshafen in Pflege gegeben hatte. Unter seinem Umhang hatte er mich getragen, als ich noch ein pausbackiger Knirps war. Das war in dem Jahr, als Eirik, genannt Blutaxt, in Jorvik seinen Thron verlor und in der Schlacht bei Stainmore fiel. Ich weiß allerdings nicht, ob dies wirklich Teil meiner Erinnerung ist oder nur ein Flicken auf dem Umhang meines Lebens, angeflickt von Halldis, Gudleifs Frau, die mich von allen Pflegekindern, die kamen und gingen, am meisten liebte, da ich mit ihr verwandt war.
Von ihr lernte ich alles über Schafe und Hühner und über den Anbau von Gemüse und Getreide. Sie füllte die Lücken in meinen Erinnerungen, saß erzählend am Feuer, während die Teppiche, die das Haus unterteilten, im Wind schwangen. Ein donnernder Wind, der die Balken der Häuser von Björnshafen oft erzittern ließ.
Geduldig saß sie da und ihr kleiner viereckiger Webrahmen klapperte, während sie bunte Bänder aus Wolle webte und meine kindlichen Fragen beantwortete.
»Rurik kam nur einmal zurück und brachte ein weißes Bärenjunges mit«, so hatte sie erzählt. »Dein Vater sagte, Gudleif solle es für ihn großziehen und dass es ein Vermögen wert sei - und das war auch so. Aber natürlich blieb Rurik nicht lange genug, bis es so weit war. Immer mit der nächsten Flut wieder fort, so war er. Er war einfach nicht mehr derselbe, nachdem deine Mutter gestorben war.«
Und nun war er hier, wie ein Wal, der sich aus dem Meer an Land geworfen hatte.
Ich sah in sein braunes Gesicht, und da man sagte, wir sähen uns ähnlich, versuchte ich, es schöner zu finden, als es wahrscheinlich war. Er war von mittelgroßer Gestalt, das Haar jetzt silbern, das Gesicht von Wind und Wetter gegerbt und mit kurz geschnittenem Bart. Doch unter den dichten Augenbrauen, die herunterhingen wie Spinnenbeine, lachten seine Augen, selbst wenn er besorgt war.
Und was sah er? Einen Knaben, groß für sein Alter und mit breiten Schultern, der kindlichen Schmächtigkeit längst entwachsen, mit rotbraunem Haar, das ihm über die Augen fiel, wenn es nicht von jemandem mit einer Schere gestutzt wurde. Halldis hatte dies getan, solange sie noch lebte, aber seit sie an der Hustenkrankheit gestorben war, hatte niemand sich mehr darum gekümmert.
Ich sah ihn an mit denselben blauen Augen, wie er sie hatte, und betrachtete seine aufgeworfene Nase, und mit einem leichten Schrecken musste ich denken, dass ich auch einmal so aussehen würde.
»Du bist also doch gekommen«, sagte ich und kam mir im selben Moment recht dumm vor, denn es war ja offensichtlich, dass er gekommen war. Und er war nicht allein gekommen. Hinter ihm sah ich die Schiffsbesatzung, der er angehörte, Männer mit ernsten Gesichtern, die im Bootshaus von Björnshafen vorübergehend Quartier bezogen hatten. Gunnar Raudi hatte mich vor ihnen gewarnt.
»Warum sollte ich nicht kommen?«, erwiderte er schmunzelnd.
Wir wusste beide die Antwort auf diese Frage, aber mir wäre es lieber gewesen, er oder ich hätte sie laut ausgesprochen.
»Wenn ein Mann erfährt, dass seinem Sohn Gefahr droht ... nun, dann muss man als Vater handeln«, fuhr er fort, das Gesicht wie versteinert.
»Richtig«, sagte ich, wobei es mir durch den Kopf ging, dass er sich damit allerdings reichlich Zeit gelassen hatte und dass zehn Jahre mehr als eine kurze Verschnaufpause waren auf der Reise zu seinem Sohn. Aber ich schwieg, denn ich sah in seinen Augen ehrliche Verwunderung darüber, dass ich annehmen konnte, er würde mir nicht zur Hilfe eilen.
Erst später, als ich älter und erfahrener war, sollte mir klar werden, dass Rurik seiner Pflicht, für meine Erziehung zu sorgen, genau so gut nachgekommen war wie andere Väter, ja sogar besser als die meisten. Doch jetzt, als ich diesen unbekannten Mann betrachtete, diese grobknochige Gestalt, umgeben von seinen wilden Gesellen, und daran dachte, dass er es war, der mich zurückgelassen hatte, ohne seither auch nur einmal von sich hören zu lassen, geriet ich darüber so in Wut, dass ich kein Wort herausbrachte.
Er deutete es allerdings falsch, dachte wohl, es sei das freudige Wiedersehen, das mir die Sprache verschlug, oder das schreckliche Erlebnis, das hinter mir lag - der Marsch durch den Schnee, der Kampf mit dem Bären. Er nickte jedenfalls nur und lächelte. »Wer hätte gedacht, dass dieses verfluchte Bärenjunge einmal solch einen Ärger machen würde«, sagte er nachdenklich und rieb sich das Kinn mit seinen schwieligen Fingern. »Ich hatte es damals von einem Händler aus Gotland gekauft, der sagte, er habe es von einem Finnen. Ich wollte es eigentlich in Irland wieder verkaufen, es hätte einen schönen Pelzumhang für einen Jarl abgegeben, vielleicht hätte es jemand gezähmt, aber Gudleif, dieser Neiding, lässt es laufen. Tölpel. Nicht auszudenken! Fast hätte ich jetzt dadurch meinen Sohn verloren.«
Gudleif hatte damals geflucht, abwechselnd auf seinen Bruder, auf den Bären und auf den, den er im Verdacht hatte, dass er den Bären hatte laufen lassen. Das Tier war für seinen Käfig zu groß geworden, also hatte man es draußen angebunden und ihm haufenweise guten Hering zu fressen gegeben. Aber schließlich hatte sich der Thrall gefürchtet, auch nur in seine Nähe zu kommen.
Zunächst hatte man erleichtert aufgeatmet, als der Bär fort war, doch bei dem Gedanken, dass dieses Ungeheuer jetzt frei herumlief, hatte bald große Besorgnis um sich gegriffen. Gudleif und Bjarni und Gunnar Raudi hatten das Tier ein ganzes Jahr gesucht, ohne Erfolg. Sie hatten vielmehr noch einen guten Hund dabei verloren.
Die Worte stiegen in mir hoch, drängten sich wie Betrunkene, die alle gleichzeitig zur Tür eines brennenden Hauses hinauswollten. Da war er, mein Vater, und nicht ein Wort darüber, wo er die ganze Zeit gewesen war! Oder warum er mich so lange allein gelassen hatte, oder wie und wo wir gelebt hatten in den fünf Jahren, ehe er mich hierher brachte. Und auch kein Wort darüber, dass er es schließlich war, der diesen verfluchten Bären überhaupt erst angeschleppt hatte.
Es war zum Verrücktwerden. Mein Mund öffnete und schloss sich wie bei einem frisch gefangenen Dorsch. Doch er begriff noch immer nicht, sondern schlug mir nur auf die Schulter und sagte in barschem Ton: »Kannst du gehen? Einar ist im Haus und will dich sehen.«
Einar soll krepieren, hätte ich am liebsten gerufen. Und du genauso. Freydis ist tot wegen deines verfluchten Bären und weil du nicht da warst, um zu entscheiden, was mit ihm geschehen soll, bis jemand die Nase voll von dem Biest hatte und es laufen ließ. Wo warst du? Erzähl mir von meiner Vergangenheit, von meiner Mutter, woher ich komme! Ich weiß nichts über mich.
Stattdessen nickte ich nur und stand schwankend auf. Er kniete vor mir und half mir, mich anzukleiden, Hose und Schuhe, Kotte und Tunika, während ich mich auf ihn stützte und spürte, wie muskulös und drahtig er war.
Er roch nach Schweiß, Leder und nasser Wolle, und aus der Halsöffnung seiner Tunika wucherte Haar in gelockten Büscheln, überall, und es war dunkler als das Haar auf seinem Kopf und am Kinn.
Doch meine Gedanken ließen mich nicht los, sie kreisten und schrien ununterbrochen, wie Seeschwalben um einen frischen Fang. Ich dachte an die Jahre, die zwischen uns und dem Wyrd des weißen Bären lagen. Wie lange war es her, dass er sich befreit hatte? Sechs Jahre? Vielleicht acht?
Doch in diesem Winter hatte er mich gesucht, hatte mich irgendwie aufgespürt und hatte mir - durch seinen Tod - meinen Vater wiedergegeben, wie ein Opfer, das man Odin bringt.
Das Wyrd ließ mich erschauern. Die drei Schwestern, die Nornen, die den Schicksalsfaden eines jeden Menschen spannen - sie hatten angefangen, meinen Lebensfaden zu einem merkwürdigen Teppich zu verweben.
Ich zog meinen Gürtel fest und mein Vater, nachdem er mir die Beinwickel angelegt hatte, richtete sich auf, hielt mir Bjarnis Schwert hin. Es war vom Blut gereinigt und sauberer als zuvor, denn es waren weniger rote Flecken darauf als damals, als ich es gestohlen hatte.
»Es gehört mir nicht«, sagte ich halb beschämt, halb trotzig. Er neigte den Kopf zur Seite wie ein Vogel, und ich erzählte ihm meine Geschichte.
Das Schwert hatte Bjarni gehört, der viele Jahre Gudleifs Rudergenosse gewesen war. Er und Gudleif hatten mich gelehrt, wie man damit umgeht, bis Gunnar Raudi es eines Tages nicht länger ausgehalten hatte. Er hatte es genommen, vor sich auf den Boden gespuckt und mir gezeigt, wie man es in einem wirklichen Kampf einsetzt.
»Wenn du vor einem Schildwall stehst, Junge«, hatte er gesagt, »dann vergiss die eleganten Hiebe. Ziel auf ihre dreckigen Füße. Hau sie ihnen an den Knöcheln ab. Dann ramm es nach oben, unter den Schild und unters Kettenhemd, direkt in die Eier. Das ist sowieso der einzige Körperteil, den du erreichst.«
Und dann zeigte er mir, wie man den Schwertgriff zum Kampf einsetzen kann, außerdem den Schild, die Knie, die Ellbogen und die Zähne, während Gudleif und Bjarni ganz still dabeistanden.
Damals begriff ich, dass sie vor Gunnar Raudi Angst hatten. Später erfuhr ich - natürlich von Halldis -, dass Gunnar in Björnshafen lebte, seit er Bjarni und Gudleif das Leben gerettet hatte, in Dyfflin, wo sie an einem völlig missratenen Raubzug teilgenommen hatten. Alle dachten, sie seien tot, und dann, zwei Jahre später, tauchten sie wieder auf, mit einem gestohlenen Schiff. Sie machten Sklaven und überall erzählt man sich Geschichten von Gunnars Wagemut. Die beiden verdankten ihm ihr Leben und schuldeten ihm eine Bleibe, solange er atmete.
»Ich habe es Gudleif gestohlen«, gestand ich meinem Vater, »als mir klar war, dass er nichts sehnlicher wünschte, als dass ich sterben würde, im Schnee, auf dem Weg zu Freydis' Hof.«
Er strich sich den Bart, runzelte die Stirn und nickte. »Ja, Gunnar erwähnte es, als er mir die Nachricht schickte.«
Das war der Tag, an dem meine Welt zerbrach. Ein Tag, der damit angefangen hatte, dass Gudleif auf seinem Thron saß, mit den Schiffsrümpfen zu beiden Seiten und in kostbare Pelze gehüllt. Er wollte sich als großer Jarl aufspielen und sah doch nur aus wie ein mürrischer alter Kater.
Bjarni war letztes Jahr gestorben und Halldis das Jahr davor. Jetzt schimpfte Gudleif über die Kälte und vermied es, viel hinauszugehen. Er saß da, düster und in sich zusammengesunken, nur der alte Caomh war bei ihm, der Thrall, den er in einem Christentempel in Dyfflin aufgegriffen und zu seinem Sklaven gemacht hatte. Etwas entfernt saß die ebenso alte Helga an ihrem Webstuhl, schickte das Webschiffchen hin und her und grinste mich mit ihren beiden letzten Zähnen an, während Gunnar Raudi, den man in dem düsteren, verräucherten Raum kaum ausmachen konnte, an einem Lederriemen arbeitete.
»Ich traue mir den Weg zu den oberen Weiden dieses Jahr nicht zu«, hatte Gudleif zu mir gesagt. »Aber die Herde muss heruntergebracht werden, außerdem wartet Freydis auf wichtige Vorräte.«
Der Winter war früh gekommen, der Schnee wirbelte um Snaefjel und der Frost hatte dem Land alle Farbe genommen, so dass nur die schwarzen Skelette der Bäume aufragten, auf grauem Hintergrund und unter einem grauen Himmel. Selbst das Meer war schiefergrau. »Es hat schon geschneit«, erinnerte ich ihn. »Der Schnee ist womöglich schon zu tief, um die Pferde herunterzubringen.« Ich verkniff es mir, zu bemerken, dass ich ihn schon vor Wochen daran erinnert hatte, als die Hänge noch frei gewesen waren.
Stille, bis auf das Klappern des Webstuhls und das Zischen des viel zu feuchten Holzes im Feuer. Bei Halldis hätte es das nicht gegeben.
Endlich hatte Gudleif sich geregt und gesagt: »Schon möglich. In dem Fall musst du dort überwintern und sie im Frühjahr herunterbringen. Freydis wird schon damit zurechtkommen.«
Das war keine verlockende Aussicht. Freydis war etwas sonderbar. Um ehrlich zu sein, die meisten hielten sie für eine Volva, eine Hexe. Ich hatte sie in all den Jahren noch nie gesehen, obwohl ihr Hof nicht weiter als einen Tagesmarsch über die niedrigsten Hänge entfernt lag. Sie kümmerte sich um Gudleifs beste Hengste und Stuten auf den oberen Weiden, und sie verstand ihr Handwerk.
Dies alles ging mir durch den Kopf. Ich wusste aber auch, selbst wenn Freydis vorgesorgt hatte, würde nicht genug Futter da sein, um die Herde über den Winter zu bringen, und der versprach hart zu werden. Und für uns beide würden die Vorräte wahrscheinlich auch nicht reichen.
Ich sagte es ihm, doch Gudleif zuckte die Schultern. Ich sagte auch, dass Gunnar Raudi für diese Aufgabe vielleicht besser geeignet war, denn das war meine ehrliche Meinung. Gudleif zuckte wieder nur die Schultern, und als ich Gunnar Raudi ansah, schien der da am Feuer viel zu sehr mit seinem Lederriemen beschäftigt, um auch nur aufzusehen.
Also hatte ich meine Sachen gepackt und mir das kräftigste Pony genommen. Ich überlegte noch, was ich für Freydis mitnehmen sollte, als Gunnar Raudi in den Stall kam. Und dort, in der dämmrigen Wärme, machte er mir mit einem kurzen Satz alles klar.
»Er hat nach seinen Söhnen gesandt.«
Das war es also. Gudleif würde sterben. Seine Söhne, Björn und Steinkel, würden von ihren Pflegeeltern zurückkommen, um ihr Erbe anzutreten, und ich war ... überflüssig. Wahrscheinlich hoffte er, dass ich es nicht schaffen würde, damit wären alle seine Probleme gelöst.
Gunnar Raudi sah mir ins Gesicht, in dem sich mein Entsetzen spiegelte. Er schwieg, stand nur da in der Dunkelheit des Stalls. Ein Pferd schnaubte und stampfte, das Stroh raschelte und mir fiel nichts weiter ein, als zu sagen: »Also deshalb ist das Faering nicht da. Ich hatte mich schon gewundert.«
Gunnar Raudi lächelte grimmig. »Nein. Er hat die Nachricht durchs Tal geschickt. Das Faering ist nicht da, weil ich Krel und Einauge damit nach Laugarsfjel rudern ließ, um Rurik eine Nachricht zu schicken.«
Besorgt sah ich ihn an. »Weiß Gudleif davon?«
Er schüttelte den Kopf und zuckte die Schultern. »Er bekommt schon lange nicht mehr alles mit. Und selbst wenn er es erfährt, was kann er machen? Vielleicht hätte er es selbst getan, wenn jemand es erwähnt hätte.« Im Dunkeln war sein Gesicht eine einzige graue Fläche, die keine Regung verriet. Aber er fuhr fort: »Ein Marsch durch den Schnee ist nicht so schlimm. Immer noch besser, als hier zu sein, wenn Rurik ankommt.«
»Wenn du das glaubst, dann geh du doch und ich bleibe hier«, erwiderte ich bitter und erwartete ein sarkastisches Lachen und eine brummige Antwort. Stattdessen, und zu meiner großen Überraschung - und zu seiner eigenen wohl auch, dachte ich später -, legte er mir die Hand auf die Schulter.
»Es ist besser so, Junge. Was Rurik mitbringt, dürfte schlimmer sein als eine erfrorene Nase.«
Das machte mir Angst und ich musste weiterfragen. Seine Augen blitzten in der Dunkelheit.
»Ich spreche von Einar dem Schwarzen und seinen Männern«, sagte er in einem Ton, der jede weitere Erklärung überflüssig machte.
Ich lachte, aber ich hörte selbst, wie unecht es klang. »Wenn er kommt.«
Ich sah ihn an und auch er sah mich an und beide wussten wir, dass es die Wahrheit war. Mit mir war es wie mit dem weißen Bären: Er gehörte einem anderen, der ihn nicht wollte, und er fiel zur Last. Vielleicht, so hatte ich dort im Stall gedacht, würde mein Vater die Nachricht gar nicht bekommen. Und selbst wenn er sie bekam, vielleicht würde er sich nicht darum scheren ...
Mein Vater unterbrach meine Erzählung mit einem Brummen, als hätte ihn jemand in die Rippen gestoßen. Aber als ich sein ärgerliches Gesicht sah, schämte ich mich, dass ich diesen Zweifel ausgesprochen hatte.
Ich fuhr fort und sagte ihm, dass ich keine Gewissensbisse hatte, als ich Bjarnis Schwert an mich nahm. Und auch nicht wegen der großen Menge Salz, noch wegen der anderen Vorräte, mit denen ich mich reichlich versorgte. Scheiß auf Björnshafen. Scheiß auf Gudleif und seine beiden Söhne.
Hier musste mein Vater grinsen.
Bjarnis Schwert mitzunehmen, fiel mir da schon schwerer, denn ein Schwert ist etwas, das man nicht ohne Not stiehlt. Es war wertvoll, und mehr noch, es war das Zeichen eines Kriegers und eines angesehenen Mannes.
Die Griechen in Konstantinopel - die sich Römer nennen, aber kein Latein sprechen - denken, dass alle Nordmänner Dänen sind, und dass alle Dänen in Kettenhemden und mit Schwertern kämpfen. In Wahrheit haben die meisten von uns nur einen Sax, eine Art Küchenmesser, so lang wie ein Unterarm. Damit kann man ein Huhn schlachten, einen Fisch ausnehmen - oder einen Menschen töten.
Man lernt, damit umzugehen, denn Kettenhemden sind für die meisten unerschwinglich.
Jeder gute Hieb tötet, wenn man nicht ausweicht, und du blockst einen Hieb nur ab, wenn es unbedingt notwendig ist, damit die Klinge deines kostbaren Sax' keine Scharten bekommt.
Ein Schwert dagegen war ein magischer Gegenstand, dem man sich nur mir Ehrfurcht näherte. Doch ich nahm das Schwert des toten Bjarni aus Bosheit, nahm es einfach vom Haken in der Halle, während Gudleif im Schlaf grunzte und furzte. Am anderen Morgen brach ich in aller Frühe auf, ehe er merkte, dass es fehlte.
Bjarni würde es sicher merken, aber ich machte selbst meinen Frieden mit ihm und betete zum großen, starken Thor um Fürsprache. Dann fügte ich noch ein Gebet an Odin hinzu, der mit den kürzlich Gestorbenen sprach, denn er hatte selbst neun Nächte an der Weltesche gehangen, um die geheime Weisheit zu erlangen. Danach noch ein Gebet zu Jesus, dem weißen Christus, der wie Odin ebenfalls an einem Baum gehangen hatte.
»Das war richtig und gut überlegt«, unterbrach mein Vater den Bericht. »Man kann nie genug Hilfe von oben haben, selbst wenn diese Christus-Anbeter ein komischer Haufen sind. Sie sagen, sie wollen nicht kämpfen, und doch sind sie sehr wohl imstande, Krieger mit scharfen Klingen auszuschicken. Was das Schwert anbelangt - na-ja, Bjarni braucht es nicht mehr, und Gudleif -; ihm sollte es gleichgültig sein. Am besten fragst du Einar. Er wird dir erlauben, es zu behalten, nach allem, was du getan hast.«
Ich schwieg. Wie konnte ich ihnen sagen, was ich getan hatte? Dass ich mich vor Angst bepisst hatte. Dass ich gerannt war und Freydis sterbend zurückgelassen hatte.
Beim ersten Anblick dieser riesigen Bärenspuren im Schnee, vielleicht zwei Wochen, nachdem ich mich zu ihrem Hof durchgekämpft hatte, hatte Freydis die Türen verrammelt und verriegelt. An dem Abend, als er kam, hatten wir beim Schein der Glut im Feuerloch Suppe und Brot gegessen und dem Knarren der Balken und dem Rascheln des Strohs in den Stallungen gelauscht. Ich legte mich hin und umklammerte Bjarnis Schwert. Dieses, zusammen mit einem alten Eschenspeer ihres verstorbenen Mannes, der Holzaxt und Freydis' Küchenmessern, waren unsere einzigen Waffen. Ich starrte in die Glut und versuchte, nicht an den Bären zu denken, der draußen schnüffelnd herumstrich.
Ich wusste, wessen Bär es war, und ich dachte, er sei gekommen, um sich nach all den Jahren an mir zu rächen.
Ich musste eingeschlafen sein, denn ein leiser Gesang weckte mich. Freydis saß da, nackt und mit gekreuzten Beinen. Ihr Körper war vom Feuer beleuchtet, das lange, offene Haar fiel über ihr Gesicht und mit der einen Hand hielt sie den aufrechten Eschenspeer. Vor ihr lagen verschiedene ... Gegenstände.
Ich sah einen kleinen Tierschädel, die Zähne im Feuerschein blutrot, die Augenhöhlen schwärzer als die Nacht. Es lagen da auch ein Lederbeutel und diverse geschnitzte Gegenstände, und davor saß Freydis und summte - ein monotoner, brummender Singsang, der mich erschauern ließ.
Ich umklammerte den mit Haifischleder beschlagenen Griff von Bjarnis altem Schwert, während die Verstorbenen sich um uns drängten. Ihre Augen glitzerten in den dunklen Höhlen der Totenschädel, die farblos waren wie der Nebel.
Hatte Freydis sie zur Hilfe gerufen? Rief sie den Bären an oder versuchte sie, einen Schild gegen ihn zu errichten? Ich weiß es nicht. Doch dies weiß ich: Als der Bär gegen die Wand schlug, dröhnte das Haus wie eine Glocke und ich sprang auf, halb nackt, das Schwert in der Hand ...
Ich sah zu meinem Vater auf und schüttelte den Kopf, doch meine Erinnerungen ließen sich nicht einfach abschütteln wie Wassertropfen.
Ein letztes kurzes Aufblitzen der gekrümmten Pfote.
...
Übersetzung: Christine Naegele
Copyright © NU der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Runenzeilen sind wie gewundene, reich verzierte Bänder. Sie gleichen der Weltschlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Eigentlich sind alle Geschichten verschlungene Schlangenknoten, denn nicht immer fängt das Leben mit der Geburt an und endet mit dem Tod. Auch mein eigenes Leben fängt erst mit meiner Wiederkehr von den Toten wirklich an.
Ich sah einen Balken über mir, knorrig und glattpoliert von den Netzen und Segeln, die darüberhingen. Eine Spinne, in der Kälte gestorben, wehte im Luftzug an einem Seidenfaden und verschwamm vor meinem Blick.
Ich kannte diesen Balken. Es war der Firstbalken des Naust, des Bootshauses von Björnshafen, und an diesen Netzen und Segeln hatte ich geschaukelt. Geschaukelt und gelacht, sorglos, in einem anderen Leben.
Ich lag auf dem Rücken und sah auf zu ihm und verstand nicht, warum er da war, denn ich war doch tot. Und dennoch formte mein Atem Dampfwölkchen in dem kalten Raum.
»Er ist aufgewacht.«
Es war eine knarrende Stimme, und wieder kippte und schaukelte alles, als ich versuchte, meinen Kopf in die Richtung zu drehen, aus der sie kam. Ich war nicht tot. Ich lag auf einer Pritsche und über mir schwamm ein Gesicht mit starkem Unterkiefer und einem Bart, struppig
wie eine Hecke. Weitere Gesichter erschienen hinter ihm, alle fremd und alle verschwommen, wie unter Wasser.
»Zurück, ihr hässlichen Fratzen. Lasst dem Jungen Platz zum Atmen. Finn Rosskopf, vor dir würde selbst Hel die Flucht ergreifen, also gehst du wohl jetzt am besten raus und holst seinen Vater.«
Das Gesicht mit dem struppigen Bart verfinsterte sich und verschwand. Die Stimme hatte ebenfalls ein Gesicht. Dieses hatte einen sauber gestutzten Bart und freundliche Augen. »Ich bin Illugi, der Godi der Eingeschworenen«, sagte er und klopfte mir beruhigend auf die Schulter. »Dein Vater kommt gleich, Junge. Du bist in Sicherheit.«
Sicherheit. Ein Priester sagt, ich sei in Sicherheit, also muss es wahr sein. Ein kurzes Traumbild, wie etwas, das in einem nächtlichen Gewitter blau-weiß aufblitzt: der Bär, der in einem Schauer von Schnee und splitterndem Holz durchs Dach bricht, brüllend, mit gewundenem Hals, ein riesiger weißer Berg ...
»Mein ... Vater?«
Die Stimme schien mir nicht zu gehören, aber der Fremde mit den freundlichen Augen, der Illugi hieß, nickte lächelnd. Hinter ihm bewegten sich Männer wie Schatten, ihre Stimmen bald lauter, bald leiser, wie rauschende Wogen.
Mein Vater. Also war er doch gekommen, um mich zu holen. An diesem Gedanken hielt ich fest, während Illugis Gesicht zu einem undeutlichen Fleck verschwamm. Auch die anderen verschwanden hinter ihm wie zerplatzende Blasen, während ich abermals in den dunklen Fluten des Schlafs versank.
Aber der Priester hatte gelogen. Ich war nicht in Sicherheit. Ich würde niemals wieder in Sicherheit sein.
Später, als ich mich aufsetzen und etwas Brühe trinken konnte, hatte sich die Geschichte in ganz Björnshafen herumgesprochen: die Geschichte von Orm, dem Töter des weißen Bären.
Als der weiße Bär - Ruriks Fluch - kam, um sich am Sohn zu rächen - und danach vermutlich am Vater -, war er es, der tapfere Orm, ein Knabe noch, der zum Mann wurde, der ihn ganz allein bekämpfte - neben der geköpften Leiche von Freydis, der Hexe. Einen Tag und eine Nacht hatte er gekämpft, bis er schließlich einen Speer in seinen Kopf und ein Schwert in sein Herz stieß.
Die Leute konnten es gar nicht oft genug hören, sagte mein Vater, als er zu mir kam und sich neben mein Bett kauerte. Er rieb sein graues, stoppeliges Kinn und fuhr sich mit der Hand durch das glatte, einstmals blonde Haar.
Mein Vater, Rurik. Der Mann, der mich bei seinem Bruder Gudleif in Björnshafen in Pflege gegeben hatte. Unter seinem Umhang hatte er mich getragen, als ich noch ein pausbackiger Knirps war. Das war in dem Jahr, als Eirik, genannt Blutaxt, in Jorvik seinen Thron verlor und in der Schlacht bei Stainmore fiel. Ich weiß allerdings nicht, ob dies wirklich Teil meiner Erinnerung ist oder nur ein Flicken auf dem Umhang meines Lebens, angeflickt von Halldis, Gudleifs Frau, die mich von allen Pflegekindern, die kamen und gingen, am meisten liebte, da ich mit ihr verwandt war.
Von ihr lernte ich alles über Schafe und Hühner und über den Anbau von Gemüse und Getreide. Sie füllte die Lücken in meinen Erinnerungen, saß erzählend am Feuer, während die Teppiche, die das Haus unterteilten, im Wind schwangen. Ein donnernder Wind, der die Balken der Häuser von Björnshafen oft erzittern ließ.
Geduldig saß sie da und ihr kleiner viereckiger Webrahmen klapperte, während sie bunte Bänder aus Wolle webte und meine kindlichen Fragen beantwortete.
»Rurik kam nur einmal zurück und brachte ein weißes Bärenjunges mit«, so hatte sie erzählt. »Dein Vater sagte, Gudleif solle es für ihn großziehen und dass es ein Vermögen wert sei - und das war auch so. Aber natürlich blieb Rurik nicht lange genug, bis es so weit war. Immer mit der nächsten Flut wieder fort, so war er. Er war einfach nicht mehr derselbe, nachdem deine Mutter gestorben war.«
Und nun war er hier, wie ein Wal, der sich aus dem Meer an Land geworfen hatte.
Ich sah in sein braunes Gesicht, und da man sagte, wir sähen uns ähnlich, versuchte ich, es schöner zu finden, als es wahrscheinlich war. Er war von mittelgroßer Gestalt, das Haar jetzt silbern, das Gesicht von Wind und Wetter gegerbt und mit kurz geschnittenem Bart. Doch unter den dichten Augenbrauen, die herunterhingen wie Spinnenbeine, lachten seine Augen, selbst wenn er besorgt war.
Und was sah er? Einen Knaben, groß für sein Alter und mit breiten Schultern, der kindlichen Schmächtigkeit längst entwachsen, mit rotbraunem Haar, das ihm über die Augen fiel, wenn es nicht von jemandem mit einer Schere gestutzt wurde. Halldis hatte dies getan, solange sie noch lebte, aber seit sie an der Hustenkrankheit gestorben war, hatte niemand sich mehr darum gekümmert.
Ich sah ihn an mit denselben blauen Augen, wie er sie hatte, und betrachtete seine aufgeworfene Nase, und mit einem leichten Schrecken musste ich denken, dass ich auch einmal so aussehen würde.
»Du bist also doch gekommen«, sagte ich und kam mir im selben Moment recht dumm vor, denn es war ja offensichtlich, dass er gekommen war. Und er war nicht allein gekommen. Hinter ihm sah ich die Schiffsbesatzung, der er angehörte, Männer mit ernsten Gesichtern, die im Bootshaus von Björnshafen vorübergehend Quartier bezogen hatten. Gunnar Raudi hatte mich vor ihnen gewarnt.
»Warum sollte ich nicht kommen?«, erwiderte er schmunzelnd.
Wir wusste beide die Antwort auf diese Frage, aber mir wäre es lieber gewesen, er oder ich hätte sie laut ausgesprochen.
»Wenn ein Mann erfährt, dass seinem Sohn Gefahr droht ... nun, dann muss man als Vater handeln«, fuhr er fort, das Gesicht wie versteinert.
»Richtig«, sagte ich, wobei es mir durch den Kopf ging, dass er sich damit allerdings reichlich Zeit gelassen hatte und dass zehn Jahre mehr als eine kurze Verschnaufpause waren auf der Reise zu seinem Sohn. Aber ich schwieg, denn ich sah in seinen Augen ehrliche Verwunderung darüber, dass ich annehmen konnte, er würde mir nicht zur Hilfe eilen.
Erst später, als ich älter und erfahrener war, sollte mir klar werden, dass Rurik seiner Pflicht, für meine Erziehung zu sorgen, genau so gut nachgekommen war wie andere Väter, ja sogar besser als die meisten. Doch jetzt, als ich diesen unbekannten Mann betrachtete, diese grobknochige Gestalt, umgeben von seinen wilden Gesellen, und daran dachte, dass er es war, der mich zurückgelassen hatte, ohne seither auch nur einmal von sich hören zu lassen, geriet ich darüber so in Wut, dass ich kein Wort herausbrachte.
Er deutete es allerdings falsch, dachte wohl, es sei das freudige Wiedersehen, das mir die Sprache verschlug, oder das schreckliche Erlebnis, das hinter mir lag - der Marsch durch den Schnee, der Kampf mit dem Bären. Er nickte jedenfalls nur und lächelte. »Wer hätte gedacht, dass dieses verfluchte Bärenjunge einmal solch einen Ärger machen würde«, sagte er nachdenklich und rieb sich das Kinn mit seinen schwieligen Fingern. »Ich hatte es damals von einem Händler aus Gotland gekauft, der sagte, er habe es von einem Finnen. Ich wollte es eigentlich in Irland wieder verkaufen, es hätte einen schönen Pelzumhang für einen Jarl abgegeben, vielleicht hätte es jemand gezähmt, aber Gudleif, dieser Neiding, lässt es laufen. Tölpel. Nicht auszudenken! Fast hätte ich jetzt dadurch meinen Sohn verloren.«
Gudleif hatte damals geflucht, abwechselnd auf seinen Bruder, auf den Bären und auf den, den er im Verdacht hatte, dass er den Bären hatte laufen lassen. Das Tier war für seinen Käfig zu groß geworden, also hatte man es draußen angebunden und ihm haufenweise guten Hering zu fressen gegeben. Aber schließlich hatte sich der Thrall gefürchtet, auch nur in seine Nähe zu kommen.
Zunächst hatte man erleichtert aufgeatmet, als der Bär fort war, doch bei dem Gedanken, dass dieses Ungeheuer jetzt frei herumlief, hatte bald große Besorgnis um sich gegriffen. Gudleif und Bjarni und Gunnar Raudi hatten das Tier ein ganzes Jahr gesucht, ohne Erfolg. Sie hatten vielmehr noch einen guten Hund dabei verloren.
Die Worte stiegen in mir hoch, drängten sich wie Betrunkene, die alle gleichzeitig zur Tür eines brennenden Hauses hinauswollten. Da war er, mein Vater, und nicht ein Wort darüber, wo er die ganze Zeit gewesen war! Oder warum er mich so lange allein gelassen hatte, oder wie und wo wir gelebt hatten in den fünf Jahren, ehe er mich hierher brachte. Und auch kein Wort darüber, dass er es schließlich war, der diesen verfluchten Bären überhaupt erst angeschleppt hatte.
Es war zum Verrücktwerden. Mein Mund öffnete und schloss sich wie bei einem frisch gefangenen Dorsch. Doch er begriff noch immer nicht, sondern schlug mir nur auf die Schulter und sagte in barschem Ton: »Kannst du gehen? Einar ist im Haus und will dich sehen.«
Einar soll krepieren, hätte ich am liebsten gerufen. Und du genauso. Freydis ist tot wegen deines verfluchten Bären und weil du nicht da warst, um zu entscheiden, was mit ihm geschehen soll, bis jemand die Nase voll von dem Biest hatte und es laufen ließ. Wo warst du? Erzähl mir von meiner Vergangenheit, von meiner Mutter, woher ich komme! Ich weiß nichts über mich.
Stattdessen nickte ich nur und stand schwankend auf. Er kniete vor mir und half mir, mich anzukleiden, Hose und Schuhe, Kotte und Tunika, während ich mich auf ihn stützte und spürte, wie muskulös und drahtig er war.
Er roch nach Schweiß, Leder und nasser Wolle, und aus der Halsöffnung seiner Tunika wucherte Haar in gelockten Büscheln, überall, und es war dunkler als das Haar auf seinem Kopf und am Kinn.
Doch meine Gedanken ließen mich nicht los, sie kreisten und schrien ununterbrochen, wie Seeschwalben um einen frischen Fang. Ich dachte an die Jahre, die zwischen uns und dem Wyrd des weißen Bären lagen. Wie lange war es her, dass er sich befreit hatte? Sechs Jahre? Vielleicht acht?
Doch in diesem Winter hatte er mich gesucht, hatte mich irgendwie aufgespürt und hatte mir - durch seinen Tod - meinen Vater wiedergegeben, wie ein Opfer, das man Odin bringt.
Das Wyrd ließ mich erschauern. Die drei Schwestern, die Nornen, die den Schicksalsfaden eines jeden Menschen spannen - sie hatten angefangen, meinen Lebensfaden zu einem merkwürdigen Teppich zu verweben.
Ich zog meinen Gürtel fest und mein Vater, nachdem er mir die Beinwickel angelegt hatte, richtete sich auf, hielt mir Bjarnis Schwert hin. Es war vom Blut gereinigt und sauberer als zuvor, denn es waren weniger rote Flecken darauf als damals, als ich es gestohlen hatte.
»Es gehört mir nicht«, sagte ich halb beschämt, halb trotzig. Er neigte den Kopf zur Seite wie ein Vogel, und ich erzählte ihm meine Geschichte.
Das Schwert hatte Bjarni gehört, der viele Jahre Gudleifs Rudergenosse gewesen war. Er und Gudleif hatten mich gelehrt, wie man damit umgeht, bis Gunnar Raudi es eines Tages nicht länger ausgehalten hatte. Er hatte es genommen, vor sich auf den Boden gespuckt und mir gezeigt, wie man es in einem wirklichen Kampf einsetzt.
»Wenn du vor einem Schildwall stehst, Junge«, hatte er gesagt, »dann vergiss die eleganten Hiebe. Ziel auf ihre dreckigen Füße. Hau sie ihnen an den Knöcheln ab. Dann ramm es nach oben, unter den Schild und unters Kettenhemd, direkt in die Eier. Das ist sowieso der einzige Körperteil, den du erreichst.«
Und dann zeigte er mir, wie man den Schwertgriff zum Kampf einsetzen kann, außerdem den Schild, die Knie, die Ellbogen und die Zähne, während Gudleif und Bjarni ganz still dabeistanden.
Damals begriff ich, dass sie vor Gunnar Raudi Angst hatten. Später erfuhr ich - natürlich von Halldis -, dass Gunnar in Björnshafen lebte, seit er Bjarni und Gudleif das Leben gerettet hatte, in Dyfflin, wo sie an einem völlig missratenen Raubzug teilgenommen hatten. Alle dachten, sie seien tot, und dann, zwei Jahre später, tauchten sie wieder auf, mit einem gestohlenen Schiff. Sie machten Sklaven und überall erzählt man sich Geschichten von Gunnars Wagemut. Die beiden verdankten ihm ihr Leben und schuldeten ihm eine Bleibe, solange er atmete.
»Ich habe es Gudleif gestohlen«, gestand ich meinem Vater, »als mir klar war, dass er nichts sehnlicher wünschte, als dass ich sterben würde, im Schnee, auf dem Weg zu Freydis' Hof.«
Er strich sich den Bart, runzelte die Stirn und nickte. »Ja, Gunnar erwähnte es, als er mir die Nachricht schickte.«
Das war der Tag, an dem meine Welt zerbrach. Ein Tag, der damit angefangen hatte, dass Gudleif auf seinem Thron saß, mit den Schiffsrümpfen zu beiden Seiten und in kostbare Pelze gehüllt. Er wollte sich als großer Jarl aufspielen und sah doch nur aus wie ein mürrischer alter Kater.
Bjarni war letztes Jahr gestorben und Halldis das Jahr davor. Jetzt schimpfte Gudleif über die Kälte und vermied es, viel hinauszugehen. Er saß da, düster und in sich zusammengesunken, nur der alte Caomh war bei ihm, der Thrall, den er in einem Christentempel in Dyfflin aufgegriffen und zu seinem Sklaven gemacht hatte. Etwas entfernt saß die ebenso alte Helga an ihrem Webstuhl, schickte das Webschiffchen hin und her und grinste mich mit ihren beiden letzten Zähnen an, während Gunnar Raudi, den man in dem düsteren, verräucherten Raum kaum ausmachen konnte, an einem Lederriemen arbeitete.
»Ich traue mir den Weg zu den oberen Weiden dieses Jahr nicht zu«, hatte Gudleif zu mir gesagt. »Aber die Herde muss heruntergebracht werden, außerdem wartet Freydis auf wichtige Vorräte.«
Der Winter war früh gekommen, der Schnee wirbelte um Snaefjel und der Frost hatte dem Land alle Farbe genommen, so dass nur die schwarzen Skelette der Bäume aufragten, auf grauem Hintergrund und unter einem grauen Himmel. Selbst das Meer war schiefergrau. »Es hat schon geschneit«, erinnerte ich ihn. »Der Schnee ist womöglich schon zu tief, um die Pferde herunterzubringen.« Ich verkniff es mir, zu bemerken, dass ich ihn schon vor Wochen daran erinnert hatte, als die Hänge noch frei gewesen waren.
Stille, bis auf das Klappern des Webstuhls und das Zischen des viel zu feuchten Holzes im Feuer. Bei Halldis hätte es das nicht gegeben.
Endlich hatte Gudleif sich geregt und gesagt: »Schon möglich. In dem Fall musst du dort überwintern und sie im Frühjahr herunterbringen. Freydis wird schon damit zurechtkommen.«
Das war keine verlockende Aussicht. Freydis war etwas sonderbar. Um ehrlich zu sein, die meisten hielten sie für eine Volva, eine Hexe. Ich hatte sie in all den Jahren noch nie gesehen, obwohl ihr Hof nicht weiter als einen Tagesmarsch über die niedrigsten Hänge entfernt lag. Sie kümmerte sich um Gudleifs beste Hengste und Stuten auf den oberen Weiden, und sie verstand ihr Handwerk.
Dies alles ging mir durch den Kopf. Ich wusste aber auch, selbst wenn Freydis vorgesorgt hatte, würde nicht genug Futter da sein, um die Herde über den Winter zu bringen, und der versprach hart zu werden. Und für uns beide würden die Vorräte wahrscheinlich auch nicht reichen.
Ich sagte es ihm, doch Gudleif zuckte die Schultern. Ich sagte auch, dass Gunnar Raudi für diese Aufgabe vielleicht besser geeignet war, denn das war meine ehrliche Meinung. Gudleif zuckte wieder nur die Schultern, und als ich Gunnar Raudi ansah, schien der da am Feuer viel zu sehr mit seinem Lederriemen beschäftigt, um auch nur aufzusehen.
Also hatte ich meine Sachen gepackt und mir das kräftigste Pony genommen. Ich überlegte noch, was ich für Freydis mitnehmen sollte, als Gunnar Raudi in den Stall kam. Und dort, in der dämmrigen Wärme, machte er mir mit einem kurzen Satz alles klar.
»Er hat nach seinen Söhnen gesandt.«
Das war es also. Gudleif würde sterben. Seine Söhne, Björn und Steinkel, würden von ihren Pflegeeltern zurückkommen, um ihr Erbe anzutreten, und ich war ... überflüssig. Wahrscheinlich hoffte er, dass ich es nicht schaffen würde, damit wären alle seine Probleme gelöst.
Gunnar Raudi sah mir ins Gesicht, in dem sich mein Entsetzen spiegelte. Er schwieg, stand nur da in der Dunkelheit des Stalls. Ein Pferd schnaubte und stampfte, das Stroh raschelte und mir fiel nichts weiter ein, als zu sagen: »Also deshalb ist das Faering nicht da. Ich hatte mich schon gewundert.«
Gunnar Raudi lächelte grimmig. »Nein. Er hat die Nachricht durchs Tal geschickt. Das Faering ist nicht da, weil ich Krel und Einauge damit nach Laugarsfjel rudern ließ, um Rurik eine Nachricht zu schicken.«
Besorgt sah ich ihn an. »Weiß Gudleif davon?«
Er schüttelte den Kopf und zuckte die Schultern. »Er bekommt schon lange nicht mehr alles mit. Und selbst wenn er es erfährt, was kann er machen? Vielleicht hätte er es selbst getan, wenn jemand es erwähnt hätte.« Im Dunkeln war sein Gesicht eine einzige graue Fläche, die keine Regung verriet. Aber er fuhr fort: »Ein Marsch durch den Schnee ist nicht so schlimm. Immer noch besser, als hier zu sein, wenn Rurik ankommt.«
»Wenn du das glaubst, dann geh du doch und ich bleibe hier«, erwiderte ich bitter und erwartete ein sarkastisches Lachen und eine brummige Antwort. Stattdessen, und zu meiner großen Überraschung - und zu seiner eigenen wohl auch, dachte ich später -, legte er mir die Hand auf die Schulter.
»Es ist besser so, Junge. Was Rurik mitbringt, dürfte schlimmer sein als eine erfrorene Nase.«
Das machte mir Angst und ich musste weiterfragen. Seine Augen blitzten in der Dunkelheit.
»Ich spreche von Einar dem Schwarzen und seinen Männern«, sagte er in einem Ton, der jede weitere Erklärung überflüssig machte.
Ich lachte, aber ich hörte selbst, wie unecht es klang. »Wenn er kommt.«
Ich sah ihn an und auch er sah mich an und beide wussten wir, dass es die Wahrheit war. Mit mir war es wie mit dem weißen Bären: Er gehörte einem anderen, der ihn nicht wollte, und er fiel zur Last. Vielleicht, so hatte ich dort im Stall gedacht, würde mein Vater die Nachricht gar nicht bekommen. Und selbst wenn er sie bekam, vielleicht würde er sich nicht darum scheren ...
Mein Vater unterbrach meine Erzählung mit einem Brummen, als hätte ihn jemand in die Rippen gestoßen. Aber als ich sein ärgerliches Gesicht sah, schämte ich mich, dass ich diesen Zweifel ausgesprochen hatte.
Ich fuhr fort und sagte ihm, dass ich keine Gewissensbisse hatte, als ich Bjarnis Schwert an mich nahm. Und auch nicht wegen der großen Menge Salz, noch wegen der anderen Vorräte, mit denen ich mich reichlich versorgte. Scheiß auf Björnshafen. Scheiß auf Gudleif und seine beiden Söhne.
Hier musste mein Vater grinsen.
Bjarnis Schwert mitzunehmen, fiel mir da schon schwerer, denn ein Schwert ist etwas, das man nicht ohne Not stiehlt. Es war wertvoll, und mehr noch, es war das Zeichen eines Kriegers und eines angesehenen Mannes.
Die Griechen in Konstantinopel - die sich Römer nennen, aber kein Latein sprechen - denken, dass alle Nordmänner Dänen sind, und dass alle Dänen in Kettenhemden und mit Schwertern kämpfen. In Wahrheit haben die meisten von uns nur einen Sax, eine Art Küchenmesser, so lang wie ein Unterarm. Damit kann man ein Huhn schlachten, einen Fisch ausnehmen - oder einen Menschen töten.
Man lernt, damit umzugehen, denn Kettenhemden sind für die meisten unerschwinglich.
Jeder gute Hieb tötet, wenn man nicht ausweicht, und du blockst einen Hieb nur ab, wenn es unbedingt notwendig ist, damit die Klinge deines kostbaren Sax' keine Scharten bekommt.
Ein Schwert dagegen war ein magischer Gegenstand, dem man sich nur mir Ehrfurcht näherte. Doch ich nahm das Schwert des toten Bjarni aus Bosheit, nahm es einfach vom Haken in der Halle, während Gudleif im Schlaf grunzte und furzte. Am anderen Morgen brach ich in aller Frühe auf, ehe er merkte, dass es fehlte.
Bjarni würde es sicher merken, aber ich machte selbst meinen Frieden mit ihm und betete zum großen, starken Thor um Fürsprache. Dann fügte ich noch ein Gebet an Odin hinzu, der mit den kürzlich Gestorbenen sprach, denn er hatte selbst neun Nächte an der Weltesche gehangen, um die geheime Weisheit zu erlangen. Danach noch ein Gebet zu Jesus, dem weißen Christus, der wie Odin ebenfalls an einem Baum gehangen hatte.
»Das war richtig und gut überlegt«, unterbrach mein Vater den Bericht. »Man kann nie genug Hilfe von oben haben, selbst wenn diese Christus-Anbeter ein komischer Haufen sind. Sie sagen, sie wollen nicht kämpfen, und doch sind sie sehr wohl imstande, Krieger mit scharfen Klingen auszuschicken. Was das Schwert anbelangt - na-ja, Bjarni braucht es nicht mehr, und Gudleif -; ihm sollte es gleichgültig sein. Am besten fragst du Einar. Er wird dir erlauben, es zu behalten, nach allem, was du getan hast.«
Ich schwieg. Wie konnte ich ihnen sagen, was ich getan hatte? Dass ich mich vor Angst bepisst hatte. Dass ich gerannt war und Freydis sterbend zurückgelassen hatte.
Beim ersten Anblick dieser riesigen Bärenspuren im Schnee, vielleicht zwei Wochen, nachdem ich mich zu ihrem Hof durchgekämpft hatte, hatte Freydis die Türen verrammelt und verriegelt. An dem Abend, als er kam, hatten wir beim Schein der Glut im Feuerloch Suppe und Brot gegessen und dem Knarren der Balken und dem Rascheln des Strohs in den Stallungen gelauscht. Ich legte mich hin und umklammerte Bjarnis Schwert. Dieses, zusammen mit einem alten Eschenspeer ihres verstorbenen Mannes, der Holzaxt und Freydis' Küchenmessern, waren unsere einzigen Waffen. Ich starrte in die Glut und versuchte, nicht an den Bären zu denken, der draußen schnüffelnd herumstrich.
Ich wusste, wessen Bär es war, und ich dachte, er sei gekommen, um sich nach all den Jahren an mir zu rächen.
Ich musste eingeschlafen sein, denn ein leiser Gesang weckte mich. Freydis saß da, nackt und mit gekreuzten Beinen. Ihr Körper war vom Feuer beleuchtet, das lange, offene Haar fiel über ihr Gesicht und mit der einen Hand hielt sie den aufrechten Eschenspeer. Vor ihr lagen verschiedene ... Gegenstände.
Ich sah einen kleinen Tierschädel, die Zähne im Feuerschein blutrot, die Augenhöhlen schwärzer als die Nacht. Es lagen da auch ein Lederbeutel und diverse geschnitzte Gegenstände, und davor saß Freydis und summte - ein monotoner, brummender Singsang, der mich erschauern ließ.
Ich umklammerte den mit Haifischleder beschlagenen Griff von Bjarnis altem Schwert, während die Verstorbenen sich um uns drängten. Ihre Augen glitzerten in den dunklen Höhlen der Totenschädel, die farblos waren wie der Nebel.
Hatte Freydis sie zur Hilfe gerufen? Rief sie den Bären an oder versuchte sie, einen Schild gegen ihn zu errichten? Ich weiß es nicht. Doch dies weiß ich: Als der Bär gegen die Wand schlug, dröhnte das Haus wie eine Glocke und ich sprang auf, halb nackt, das Schwert in der Hand ...
Ich sah zu meinem Vater auf und schüttelte den Kopf, doch meine Erinnerungen ließen sich nicht einfach abschütteln wie Wassertropfen.
Ein letztes kurzes Aufblitzen der gekrümmten Pfote.
...
Übersetzung: Christine Naegele
Copyright © NU der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Robert Low
Robert Low ist Journalist und Autor. Mit 19 Jahren war er als Kriegsberichterstatter in Vietnam. Seitdem hat ihn sein Beruf in zahlreiche Krisengebiete der Welt geführt. Um seine Abenteuerlust zu befriedigen, nimmt er regelmäßig an Nachstellungen von Wikingerschlachten teil. Robert Low lebt in Largs, Schottland - dem Ort, wo die Wikinger schließlich besiegt wurden.
Bibliographische Angaben
- Autor: Robert Low
- 2012, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung:Naegele, Christine
- Übersetzer: Christine Naegele
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453409051
- ISBN-13: 9783453409057
- Erscheinungsdatum: 12.12.2011
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