Die Einsamkeit der Wölfe
Roman. Deutsche Erstveröffentlichung
Olivia hat bei einem Unfall ihren Vater verloren und ist selbst schwer gezeichnet. Alles, was ihr geblieben ist, ist die Liebe zu ihrem Enkel William und den Alaskawölfen. Doch als jemand Jagd auf die Wölfe macht, muss Olivia einen schweren Kampf aufnehmen.
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Produktinformationen zu „Die Einsamkeit der Wölfe “
Olivia hat bei einem Unfall ihren Vater verloren und ist selbst schwer gezeichnet. Alles, was ihr geblieben ist, ist die Liebe zu ihrem Enkel William und den Alaskawölfen. Doch als jemand Jagd auf die Wölfe macht, muss Olivia einen schweren Kampf aufnehmen.
Klappentext zu „Die Einsamkeit der Wölfe “
Für ihren Enkel stellt sich eine starke Frau der Vergangenheit und findet dabei ihre eigene ZukunftDas Leben in Pope County, Kentucky, ist hart. Niemand weiß das besser als Olivia Harker: Bei einem Unfall verlor sie ihren geliebten Vater und wurde selbst fürs Leben gezeichnet. Auch ihre Tochter wandte sich von ihr ab, kehrte aber noch einmal zurück, um ihren Sohn, den kleinen William, in Olivias Obhut zu übergeben. Die Liebe zu ihrem Enkel und zu den Alaskawölfen, die einst ihr Großvater hier angesiedelt hat , ist alles, was Olivia geblieben ist. Doch als jemand Jagd auf die Wölfe macht und schließlich auch William bedroht, stellt sich Olivia mutig einem übermächtigen Gegner entgegen ...
Lese-Probe zu „Die Einsamkeit der Wölfe “
Die Einsamkeit der Wölfe von Carolyn D. WallKAPITEL 1
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DAS LANGGEZOGENE HEULEN eines Wolfs fährt mir in die Knochen wie schlimme Zahnschmerzen. Oben am Berg knallen Schüsse, und das Echo entfernt sich, bis man es fast nicht mehr hört, sich nur noch daran erinnert.
Hier unten am Fuß des Bergs lebt jetzt keiner mehr außer mir, meinem Enkel Will'm und Ida. Den Jungen liebe ich mehr als mein Leben, aber mit Ida ist das eine andere Geschichte. Sie wohnt in der Holzhütte auf unserem Hof, und obwohl wir in Kentucky den kältesten Winter aller Zeiten haben, steht sie jetzt draußen, in eine Decke gehüllt, brabbelt Zitate aus der Bibel und flucht wie ein Holzfäller. Ihre weißen Haare stehen wirr vom Kopf ab wie bei einer Irren.
Ich bin Idas Kind. Demnach ist sie meine Mama. Mein Paps war Tate Harker, und ich wünschte, er wäre jetzt hier, anstatt drüben beim Klohaus in der Erde zu liegen.
Wer da auf die Wölfe schießt, hat hier jedenfalls nichts zu suchen.
»Ich bin mal 'ne Weile weg mit dem Jungen«, sage ich zu Ida.
Ich habe ihr ein gekochtes Ei, ein Butterbrot, einen Apfelschnitz in einem Tuch und einen Becher heißen Tee gebracht. Sie folgt mir nach drinnen und setzt sich auf ihr Bett. Ihre Gesichtshaut ist vom jahrelangen Rauchen gelb geworden, ihre Lippen sind dünn, und ihr Hals sieht so faltig aus wie der Kehllappen von einem Truthahn. Obwohl auf einer Kiste neben ihrem Bett ein zusammengefaltetes sauberes Nachthemd liegt, hat sie seit drei Wochen dasselbe an.
Paps hat mir erzählt, wie hübsch und lebhaft Ida war, als er sie zum ersten Mal sah. Sie ritt mit ihrem Esel in der Weltgeschichte umher und predigte mit Engelszungen. Sie bittet den Herrn immer noch täglich, sie von Trunkenbolden und Dieben und Leuten wie mir zu verschonen. Letzten Sommer hat sie sich Bibeln in sieben Sprachen kommen lassen und die Kartons dann nie aufgemacht. Es ist düster in Idas Hütte, und in der Luft hängt der Geruch von Salbe und Alter. Vielleicht liegt es an den ungeöffneten Kartons, obwohl mein Saul Ida schon vor vielen Jahren in die Hütte umquartiert hat. Dann ist er auch gestorben.
»Mit den falschen Zähnen kann ich kein' Apfel essen«, sagt Ida.
»Will'm hat ihn für dich aufgehoben.«
»Gefällt dir, was, dass ich in diesem Schweinestall hausen muss, während du mit dem Jungen fürstlich leben kannst.«
Fürstlich ist eine Küche mit kaltem Wasser hinter dem Lebensmittelladen. Will'm schläft in einem Alkoven neben dem Ofen. Ich habe das Schlafzimmer. Hier in der Hütte habe ich mich bemüht, Idas Leben zu verschönern, wollte ihr einen Tisch reinstellen und Vorhänge anbringen, aber sie sagt, nein, mit ihr sei es ohnehin bald vorbei.
»Ich bin mal 'ne Weile weg mit dem Jungen«, sage ich noch mal.
»Ich bete zu Gott, dass er dir deine Sünden vergibt, Olivia.«
Ida ist nicht das Einzige, was mir an den Nerven zerrt. Sorgen macht mir auch, dass die Leute zum Einkaufen kommen, aber kein Geld haben. Die meiste Zeit nehmen sie einfach mit, was sie brauchen. Will'm und ich schreiben alles auf, und die Leute bezahlen, wie sie es schaffen - manchmal mit Yams oder Gemüsezwiebeln oder einer Legehenne, wenn die Schulden aufgelaufen sind.
Wäre Paps jetzt hier, würde er mir sagen, dass alles gut wird.
»Beeil dich, wenn du mit willst«, sage ich zu Will'm.
Saudummes Vorhaben. Ich ziehe mein großes Wollcape und Handschuhe an. Sauls Gewehr nehme ich auch mit.
Will'm hat den Schlitten aus dem Schuppen geholt. Der Junge hat alte Stiefel und so viele Hemden übereinander an, dass er wie ein Wäschehaufen aussieht. Sein Gesicht ist unter seiner Wollmütze fast verschwunden, und ich kann nicht mal seine braunen Augen richtig erkennen. Ich weiß, dass er jetzt dasselbe denkt wie Paps immer: Irgendwas ist verletzt und braucht seine Hilfe.
Nächstes Jahr werde ich zweiundvierzig - bin zu alt und dickbeinig, um bergauf durch Schnee zu stapfen, der so hoch ist, dass mir die Hüftgelenke wehtun. Ich sollte zu Hause in meiner Küche stehen und die Bohnen von gestern Abend aufwärmen. Will'm folgt mir und zieht den Schlitten hinter sich her. Wir sind noch nicht weit gegangen, aber meine Finger sind schon steif gefroren und meine Zehen taub, und ich merke, dass ich das Licht falsch eingeschätzt habe. Da, wo der Schnee sauber und glatt ist, bleiben wir stehen, um Luft zu holen. Hier oben zwischen den Erlen und Kiefern ist es dunkler. Ich stelle die Laterne auf den Schlitten, zünde ein Streichholz an und halte die Flamme an den Docht.
Dort unten in Aurora, auf der linken Seite, gehen Lichter an, und ein oder zwei Autos pflügen durch den Schneematsch. »Wieder 'n Schuss!«, sagt Will'm. »Oma?«
Ich kann es nicht ausstehen, wenn er mich so anschaut, als könne ich jeden Mist im ganzen Pope County wieder richten. »Sie werden diesen Winter sowieso verhungern, Will'm.«
Aber das glaube ich eigentlich nicht, und Will'm weiß das.
Die Jäger werden bald daheim in ihren Wohnzimmern sitzen und Roggenwhiskey trinken und ein warmes Essen zu sich nehmen. Weiter oben, wo die Erlen aufhören, liegen eingerollt und hungrig die letzten der Alaskawölfe mit dem Silberfell. Außer ihnen gibt es keine Wölfe in Kentucky, und seit heute Abend sind wieder ein paar tot.
Auf einer Lichtung finden wir die zwei Rüden. Will'm starrt auf die dunklen runden Löcher in ihren Flanken. Beiden Tieren fehlt das rechte Ohr. Eine kleine graue Wölfin ist unter einen Busch gekrochen und liegt dort mit gefletschten Zähnen. Auch sie ist angeschossen und hat kein rechtes Ohr mehr. Das Blut von der Wunde ist ihr ins Auge und aufs Fell getropft. Die Ohren sind nirgendwo zu sehen.
Das sind nicht irgendwelche Wölfe. Die Alaskawölfe leben seit fünfundsechzig Jahren in Frieden auf dem Big Foley. Dann, vor einer Woche, wurde ein Rüde angeschossen, und man hat ihm ein Ohr abgeschnitten. Will'm und ich haben ihn gefunden und erledigt. Heute ist der Jäger zurückgekommen, und er war nicht allein.
»Verflucht«, sage ich. »Die hier hat Junge, Winterwelpen.« »Erschieß sie nicht«, sagt Will'm.
»Sie hat Blei in der Flanke und ist schon beinah verblutet.« »Lass sie uns mitnehmen.«
Ich denke vor allem eins: Ich weiß, wer das getan hat.
»Bleib auf Abstand, Junge.« Ich lege das Gewehr an. »Sie
würd uns schon auf der halben Strecke wegsterben.« »Sie ist aber noch nicht tot«, sagt Will'm.
Dieses verflixte Kind. Mir tut schon alles weh vor Kälte. Bestimmt wird es gleich wieder schneien, und dann finden wir unsere Spuren und die Felsnasen nicht mehr. Es wäre vernünftig, ihr einen sauberen Schuss zwischen die Augen zu setzen. Aber zwischen ihren Augen ist auch dieser feine Silberstreifen.
Ich frage mich, ob Will'm sich den Welpen verwandt fühlt. Irgendwann wird es so weit sein, dass ich ihm von Pauline erzählen muss, obwohl er nie gefragt hat. Er hat noch nicht begriffen, dass alle Kreaturen Gottes für sich selbst kämpfen müssen und dass den Letzten die Hunde beißen.
»Gib mir deinen Schal, Bub. Wir binden ihr die Schnauze zu und machen sie auf dem Schlitten fest.«
»Ich kann bei ihr sitzen«, sagt Will'm und grinst.
»Kommt nicht in Frage. Du gehst hinterher und hältst die Augen offen. Und nun tu, was ich dir sage, oder wir lassen sie hier.«
»Schon gut.«
»Und denk nicht mal im Traum dran, dass sie im Pfostenbett schläft. Drunter auch nicht. Und wenn sich bis morgen nichts getan hat, geb ich ihr den Rest.«
Keine leichte Aufgabe ohne Seil. Ich ziehe den Schlitten, Will'm stützt ihn. Mehr als einmal rutscht die Wölfin runter, und wir müssen anhalten, um sie wieder auf den Schlitten zu hieven und Plätze zu tauschen. Lieber Herrgott, ich versteh mich selbst von Tag zu Tag weniger. Ich bin so müde, dass die Wölfin und der Junge und Ida in meinem Kopf durchein- anderwirbeln, bis ich nicht mehr weiß, wer wer ist und wer mich am meisten braucht.
KAPITEL 2
WIR LEBEN DIE Wölfin in die Küche, auf eine Wolldecke in einer Ecke. Es wäre nicht recht, ein verletztes Tier in unserer Rattenfalle von einer Scheune zu lassen, wo es von einem hungrigen Rotluchs entdeckt werden kann - oder von Ida, wenn sie aus ihrer Hütte tritt. Der Atem der Wölfin rasselt, und sie hat die Augen geschlossen. Ihre Schnauze ist noch mit Will'ms Schal zugebunden - lose, so wie Paps es immer gemacht hat. Blut sickert aus der Stelle, wo vorher das Ohr war.
Ich staple Anmachholz im Ofen auf und zünde es an. Hole eine Dose weiße Bohnen aus dem Schrank und schütte sie in einen Topf. Mit einem Teelöffel lasse ich ein paar Bohnen ins Maul der Wölfin gleiten, aber sie verdreht die Augen.
»Wir müssen unsere Arbeit erledigen«, sage ich und richte mich auf.
Will'm steht mitten in der Küche. Über unserem Tisch hängt eine gelbe Glühbirne. »Aber wenn wir sie nicht verarzten, stirbt sie.«
»Das ist halt manchmal so.«
»Wie bei der Frau von Wing Harris?«
Ich schaue ihn scharf an. »Hörst du mir auf mit Wings Frau.«
»Weiß doch jeder, dass sie von Tag zu Tag schwächer wird.« Aber ich will nichts davon hören. »Geh raus und hol das Holz, solang du noch deinen Mantel anhast.«
Im Ausguss liegen Kartoffelschalen, und ich sammle sie ein und stecke sie in die Tasche. Auf der Veranda trete ich den Schnee weg, der sich an der Hintertür angesammelt und in Matsch verwandelt hat. Nehme die Eimer von ihren Haken und klopfe das Eis vom Boden. Will'm stapft mir hinterdrein und die Treppe runter. Ich wünschte, er hätte Wing nicht erwähnt.
Als Wing und ich jung waren, gab es nicht ein einziges Geheimnis zwischen uns. Aber seit zwanzig Jahren wechseln wir die Straßenseite, damit wir uns nicht begegnen. Und wenn wir uns heutzutage in Ruse's Cafe über den Weg laufen, sagen wir nur guten Tag.
Unterm Strich habe ich also eine irrsinnige Mama, die über hundert verstaubte Bibeln ihr Eigen nennt, einen schlaksigen Burschen mit einem empfindsamen Herzen und keinen Mann, zu dem ich mich legen kann. Und eine sterbende Alaskawölfin in meiner Küche.
Draußen im Dunkeln zerrt Will'm die Axt aus einem Holzscheit. "Vielleicht können wir wenigstens ihr Ohr zusammennähn?"
Verflucht. Vor vielen Jahren hat Ida Paps beim Klohaus begraben. Seit damals trample ich zehnmal am Tag über ihn hinweg. Auch jetzt, auf dem Weg zum Brunnenhaus. Paps war ein Tierarzt, der sich alles selbst beigebracht hat, und wurde von vielen geliebt, aber auf seinem Grab steht nicht mal ein Stock. Eines Tages werd ich ihn zu Saul auf den Berg rüberschaffen und einen echten Grabstein aufstellen.
Fast dreizehn Jahre war ich mit Saul verheiratet. Als er starb, habe ich Junk Hanley einen Dollar bezahlt, damit er einen flachen Pflasterstein verlegt, auf dem geschrieben steht, dass Saul Cross ein geliebter Ehemann und Vater war. Nicht dass ich ihn so über die Maßen geliebt hätte.
Meine Stiefel brechen durch den verharschten dunklen Schnee, und an meinem Hemd haften Eisklümpchen. Ich schiebe die Tür auf, stelle die Laterne auf den Boden, schütte Futter in den einen Eimer und fülle den anderen mit Kartoffeln. Dann schneide ich eine Zwiebelschnur ab. Morgen geh ich die Bestände in den Kisten und Regalen im Laden durch und stell die letzten Dosen mit Limabohnen und Backpulver auf. Wenn die Leute ihre Rechnungen nicht allmählich bezahlen, kann ich wohl nichts mehr bestellen.
Ich gehe in den Stall zu den Ziegen, werfe ihnen die Schalen hin und zerschlage mit dem Stiel einer Hacke die Eisschicht auf dem Trinktrog. Hier draußen ist es so dunkel, dass ich kaum die Umrisse von Idas Hütte und den angebundenen Esel im Hof erkennen kann. Obwohl Ida sich über ihr Abendessen ereifert hat, bin ich mir sicher, dass sie alles aufgegessen hat und jetzt mit brennender Pfeife eingeschlafen ist. Eines Tages wird sie uns noch das Dach überm Kopf abbrennen, und wenn es so weit ist, hoffe ich, dass der Esel auch draufgeht. Auf der anderen Seite vom Hof hackt Will'm Anmachholz.
Ich zerschlage auch das Eis auf den flachen Schalen, aber die sechs Hühner würden lieber verdursten als sich aus ihrem Nest bewegen.
Teufel auch. Vielleicht habe ich die Wölfin Will'm zuliebe mitgenommen - oder vielleicht wegen Paps, der seine Klinik damals unter der Küche eingerichtet hat. Ich war jahrelang nicht dort unten, und ich will auch jetzt nicht runtergehen. Aber ich hole die Laterne, die auf der Veranda hängt. Will'm macht große Augen, als ich den Schlüssel vom Haken nehme und die Kellertür aufschließe.
Auf der Treppe machen meine Stiefel ein dumpfes Geräusch, aber der Boden unten besteht aus festgetretener Erde. Es gibt keinen Strom da, und es stinkt zum Himmel, wie Saul gesagt hätte. Kein Wunder, dass er keinen Fuß dort reinsetzen wollte, so schimmlig und staubig und voller Spinnweben wie der Keller war. Saul meinte immer, Paps könne nicht recht bei Trost sein, weil er sich so oft da unten bei seinen Viechern aufhielt und den Rest der Zeit im Werkzeugschuppen mit seiner Schwarzbrennerei verbrachte.
Der Keller hat seit vielen Jahren kein Licht mehr gesehen. Es riecht übel, als sei hier etwas gestorben und verwest, obwohl Paps nur selten Patienten verloren hat. Der Gestank kommt aus dem unterirdischen Gang, den er zwischen Keller und Schuppen angelegt hat, damit er nicht durch anderthalb Meter hohen Schnee stapfen musste, um in die Schwarzbrennerei zu kommen. Beide Ausgänge sind mit Brettern vernagelt.
Alles ist wie früher: die Strohballen, der lange Tisch an der Wand, die rostigen Drahtkäfige und Tragebehälter, die Eimer, eine Heugabel und Schaufeln, Kisten, ein paar zerbrochene Laternen. Angesichts der langen vergitterten Gehege und Wasserschalen überkommt mich schlagartig eine heftige Übelkeit. Aber es ist nicht die Erinnerung an Paps, die ich unter diesem Haus fürchte.
»Hier unten könnt man ja sterben, so feucht ist es.« Ich nehme eine staubige braune Flasche und andere Sachen aus einem Regal - eine große Schere und eine Packung Operationsnadeln -, und dann gehen wir wieder nach oben ins Licht. Ich schließe die Tür ab und hänge den Schlüssel an den Haken.
Aus meinem Nähkorb hole ich weißen Faden und reiße sauberen Baumwollstoff für den Verband in Quadrate und lange Streifen. Das Chloroform ist nicht mehr richtig wirksam, aber was anderes haben wir nicht. Wir waschen uns mit heißem Wasser und Seife die Hände und hocken uns auf den Boden. Als die Graue so weit wie möglich weggedämmert ist, schneide ich das verfilzte Fell am Bauch ab. Sie zuckt und verdreht die Augen, während ich das Fell abrasiere und in die Wunde greife. Mein Gesicht fühlt sich schmerzhaft angespannt an, und aus meinen Augen rinnt das Wasser nur so raus.
»Was meinst du, wer das gemacht hat?«, fragt Will'm.
Ich habe die Kugel zu fassen gekriegt und ziehe die Hand zurück. Gieße Wasserstoffperoxyd auf die Wunde und sehe zu, wie es aufschäumt. Messe ein Stück Faden ab, beiße es mit den Zähnen von der Rolle und halte die Nadel ins Licht. Fluche leise vor mich hin, weil meine Augen auch nicht mehr das sind, was sie mal waren. Dann zeige ich Will'm, wie er die Haut an der Wunde zusammenhalten soll, und fange mit dem Nähen an. Das machen wir auch beim Ohr der Wölfin, und danach säubern wir ihr Auge, so gut es geht. Sie zuckt und winselt. Unter der Männerhose, die ich außer Baumwollkleid, Strickjacke und langen Unterhosen trage, bin ich schweißnass.
Will'm meint, er könne ja ein Gebet sprechen.
»Tu das«, sage ich. »Und wenn du schon dabei bist, kannst du auch gleich für die Jäger beten. Denen werd ich nämlich die Hölle heißmachen, das kann ich dir sagen.«
KAPITEL 3
ICH HABE NICHTS, was ich der Wölfin gegen die Schmerzen geben könnte. Eine zerstoßene Kräuterpastille oder eine von Carters' Leberpillen wäre nutzlos, und ich will es nicht wagen, ihr noch mal Chloroform zu verabreichen. Ich werde mal Dooby vom Drugstore fragen, was bei der Heilung helfen könnte - wenn die Graue nicht ohnehin bis zum nächsten Morgen die Küche in Stücke gelegt und uns aufgefressen hat. Ihr Atem ist schwach, und wenn ich ihre Augen mal zu sehen kriege, dann sind sie gelb und ruhelos vor Angst.
Gott steh mir bei, sollte sie in der Nacht sterben, und ich hab sie dann am Hals. Ein guter Samariter zu sein heißt nicht immer, dass man auch Gutes tut. Tagtäglich sterben Menschen im Namen der Liebe.
Zwischen Küche und Laden habe ich einen Vorhang angebracht. Das einzige Schlafzimmer liegt im vorderen Teil des Hauses, durch eine Tür mit der Küche verbunden. Ich habe Angst um Will'm, der in seiner Schlafnische nur zweieinhalb Meter von der Wölfin entfernt wäre. Deshalb nehmen wir unser Abendessen mit und hocken uns in die Mitte von meinem Pfostenbett. Ich liebe dieses Zimmer mit der hohen Decke, dem Bett mit der Federmatratze, dem alten Kleiderschrank und dem Korbschaukelstuhl. In dem ehemaligen Wandschrank befinden sich jetzt ein Klosett, ein gesprungener Spiegel und eine Glühbirne.
Ich erzähle Will'm, wie mein Paps mal einen Eselhasen beruhigt hat, dessen Bein so kaputt war, dass der Knochen rausstand. Wir sitzen da in unseren Nachthemden, und ich breche uns Brot ab, das wir in die Bohnensuppe tunken, und wir reden von Ida und der Grauen und davon, was wir am nächsten Tag machen wollen.
»Oma?«, sagt Will'm. »Ihre Jungen sterben doch ohne sie, nicht?«
»Wenn sie nicht schon tot sind.«
»Können wir vielleicht morgen früh nach ihnen schaun?« »Du musst zur Schule, und selbst wenn ich die Kleinen finde - ihr geht's so schlecht, sie kann die nicht säugen.«
»Wir können uns was überlegen, wie wir sie füttern.« »Nee, können wir nicht.«
Am nächsten Morgen werden wir wissen, ob die Mamawölfin am Leben bleibt oder stirbt. Und der Herr steh mir bei, wenn Ida aufsteht und reinspaziert kommt, um ihren Tee und ihren Haferbrei abzuholen.
Ich decke den Jungen zu und lege mich im Dunkeln neben ihn, mit dem Gesicht zu ihm. Gegen Morgen dämmere ich weg und schlafe, bis ich wegen irgendwas aufschrecke. Ich steige in meine Stiefel, schlüpfe in einen Flanellmorgenmantel und gehe in die Küche. Auf dem Boden liegen zerbissene Schnurstücke und blutige Stofffetzen. Das Linoleum und das Fensterbrett sind voller Blutflecken. Das Fenster ist zersplittert. Die Graue ist verschwunden.
»Grundgütiger.«
Ich öffne die Hintertür, gehe vorsichtig über die Veranda, um nicht auf dem Eis auszurutschen, und die Treppe runter. Der Himmel ist bleigrau und scheint die Luft anzuhalten. Blutige Spuren führen zum Schuppen und an dem vereisten Pick-up vorbei zur Scheune. Und da sehe ich die Graue - alle viere von sich gestreckt, auf der Seite liegend. Unter ihrem Rumpf breitet sich eine Blutlache im Schnee aus. Sechs Meter weiter steht Ida im Nachthemd. Sie hat Paps' alte Winchester angelegt, und ihr Kopf ist noch zurückgelegt vom Rückstoß.
Übersetzung: Sibylle Schmidt
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011
by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
DAS LANGGEZOGENE HEULEN eines Wolfs fährt mir in die Knochen wie schlimme Zahnschmerzen. Oben am Berg knallen Schüsse, und das Echo entfernt sich, bis man es fast nicht mehr hört, sich nur noch daran erinnert.
Hier unten am Fuß des Bergs lebt jetzt keiner mehr außer mir, meinem Enkel Will'm und Ida. Den Jungen liebe ich mehr als mein Leben, aber mit Ida ist das eine andere Geschichte. Sie wohnt in der Holzhütte auf unserem Hof, und obwohl wir in Kentucky den kältesten Winter aller Zeiten haben, steht sie jetzt draußen, in eine Decke gehüllt, brabbelt Zitate aus der Bibel und flucht wie ein Holzfäller. Ihre weißen Haare stehen wirr vom Kopf ab wie bei einer Irren.
Ich bin Idas Kind. Demnach ist sie meine Mama. Mein Paps war Tate Harker, und ich wünschte, er wäre jetzt hier, anstatt drüben beim Klohaus in der Erde zu liegen.
Wer da auf die Wölfe schießt, hat hier jedenfalls nichts zu suchen.
»Ich bin mal 'ne Weile weg mit dem Jungen«, sage ich zu Ida.
Ich habe ihr ein gekochtes Ei, ein Butterbrot, einen Apfelschnitz in einem Tuch und einen Becher heißen Tee gebracht. Sie folgt mir nach drinnen und setzt sich auf ihr Bett. Ihre Gesichtshaut ist vom jahrelangen Rauchen gelb geworden, ihre Lippen sind dünn, und ihr Hals sieht so faltig aus wie der Kehllappen von einem Truthahn. Obwohl auf einer Kiste neben ihrem Bett ein zusammengefaltetes sauberes Nachthemd liegt, hat sie seit drei Wochen dasselbe an.
Paps hat mir erzählt, wie hübsch und lebhaft Ida war, als er sie zum ersten Mal sah. Sie ritt mit ihrem Esel in der Weltgeschichte umher und predigte mit Engelszungen. Sie bittet den Herrn immer noch täglich, sie von Trunkenbolden und Dieben und Leuten wie mir zu verschonen. Letzten Sommer hat sie sich Bibeln in sieben Sprachen kommen lassen und die Kartons dann nie aufgemacht. Es ist düster in Idas Hütte, und in der Luft hängt der Geruch von Salbe und Alter. Vielleicht liegt es an den ungeöffneten Kartons, obwohl mein Saul Ida schon vor vielen Jahren in die Hütte umquartiert hat. Dann ist er auch gestorben.
»Mit den falschen Zähnen kann ich kein' Apfel essen«, sagt Ida.
»Will'm hat ihn für dich aufgehoben.«
»Gefällt dir, was, dass ich in diesem Schweinestall hausen muss, während du mit dem Jungen fürstlich leben kannst.«
Fürstlich ist eine Küche mit kaltem Wasser hinter dem Lebensmittelladen. Will'm schläft in einem Alkoven neben dem Ofen. Ich habe das Schlafzimmer. Hier in der Hütte habe ich mich bemüht, Idas Leben zu verschönern, wollte ihr einen Tisch reinstellen und Vorhänge anbringen, aber sie sagt, nein, mit ihr sei es ohnehin bald vorbei.
»Ich bin mal 'ne Weile weg mit dem Jungen«, sage ich noch mal.
»Ich bete zu Gott, dass er dir deine Sünden vergibt, Olivia.«
Ida ist nicht das Einzige, was mir an den Nerven zerrt. Sorgen macht mir auch, dass die Leute zum Einkaufen kommen, aber kein Geld haben. Die meiste Zeit nehmen sie einfach mit, was sie brauchen. Will'm und ich schreiben alles auf, und die Leute bezahlen, wie sie es schaffen - manchmal mit Yams oder Gemüsezwiebeln oder einer Legehenne, wenn die Schulden aufgelaufen sind.
Wäre Paps jetzt hier, würde er mir sagen, dass alles gut wird.
»Beeil dich, wenn du mit willst«, sage ich zu Will'm.
Saudummes Vorhaben. Ich ziehe mein großes Wollcape und Handschuhe an. Sauls Gewehr nehme ich auch mit.
Will'm hat den Schlitten aus dem Schuppen geholt. Der Junge hat alte Stiefel und so viele Hemden übereinander an, dass er wie ein Wäschehaufen aussieht. Sein Gesicht ist unter seiner Wollmütze fast verschwunden, und ich kann nicht mal seine braunen Augen richtig erkennen. Ich weiß, dass er jetzt dasselbe denkt wie Paps immer: Irgendwas ist verletzt und braucht seine Hilfe.
Nächstes Jahr werde ich zweiundvierzig - bin zu alt und dickbeinig, um bergauf durch Schnee zu stapfen, der so hoch ist, dass mir die Hüftgelenke wehtun. Ich sollte zu Hause in meiner Küche stehen und die Bohnen von gestern Abend aufwärmen. Will'm folgt mir und zieht den Schlitten hinter sich her. Wir sind noch nicht weit gegangen, aber meine Finger sind schon steif gefroren und meine Zehen taub, und ich merke, dass ich das Licht falsch eingeschätzt habe. Da, wo der Schnee sauber und glatt ist, bleiben wir stehen, um Luft zu holen. Hier oben zwischen den Erlen und Kiefern ist es dunkler. Ich stelle die Laterne auf den Schlitten, zünde ein Streichholz an und halte die Flamme an den Docht.
Dort unten in Aurora, auf der linken Seite, gehen Lichter an, und ein oder zwei Autos pflügen durch den Schneematsch. »Wieder 'n Schuss!«, sagt Will'm. »Oma?«
Ich kann es nicht ausstehen, wenn er mich so anschaut, als könne ich jeden Mist im ganzen Pope County wieder richten. »Sie werden diesen Winter sowieso verhungern, Will'm.«
Aber das glaube ich eigentlich nicht, und Will'm weiß das.
Die Jäger werden bald daheim in ihren Wohnzimmern sitzen und Roggenwhiskey trinken und ein warmes Essen zu sich nehmen. Weiter oben, wo die Erlen aufhören, liegen eingerollt und hungrig die letzten der Alaskawölfe mit dem Silberfell. Außer ihnen gibt es keine Wölfe in Kentucky, und seit heute Abend sind wieder ein paar tot.
Auf einer Lichtung finden wir die zwei Rüden. Will'm starrt auf die dunklen runden Löcher in ihren Flanken. Beiden Tieren fehlt das rechte Ohr. Eine kleine graue Wölfin ist unter einen Busch gekrochen und liegt dort mit gefletschten Zähnen. Auch sie ist angeschossen und hat kein rechtes Ohr mehr. Das Blut von der Wunde ist ihr ins Auge und aufs Fell getropft. Die Ohren sind nirgendwo zu sehen.
Das sind nicht irgendwelche Wölfe. Die Alaskawölfe leben seit fünfundsechzig Jahren in Frieden auf dem Big Foley. Dann, vor einer Woche, wurde ein Rüde angeschossen, und man hat ihm ein Ohr abgeschnitten. Will'm und ich haben ihn gefunden und erledigt. Heute ist der Jäger zurückgekommen, und er war nicht allein.
»Verflucht«, sage ich. »Die hier hat Junge, Winterwelpen.« »Erschieß sie nicht«, sagt Will'm.
»Sie hat Blei in der Flanke und ist schon beinah verblutet.« »Lass sie uns mitnehmen.«
Ich denke vor allem eins: Ich weiß, wer das getan hat.
»Bleib auf Abstand, Junge.« Ich lege das Gewehr an. »Sie
würd uns schon auf der halben Strecke wegsterben.« »Sie ist aber noch nicht tot«, sagt Will'm.
Dieses verflixte Kind. Mir tut schon alles weh vor Kälte. Bestimmt wird es gleich wieder schneien, und dann finden wir unsere Spuren und die Felsnasen nicht mehr. Es wäre vernünftig, ihr einen sauberen Schuss zwischen die Augen zu setzen. Aber zwischen ihren Augen ist auch dieser feine Silberstreifen.
Ich frage mich, ob Will'm sich den Welpen verwandt fühlt. Irgendwann wird es so weit sein, dass ich ihm von Pauline erzählen muss, obwohl er nie gefragt hat. Er hat noch nicht begriffen, dass alle Kreaturen Gottes für sich selbst kämpfen müssen und dass den Letzten die Hunde beißen.
»Gib mir deinen Schal, Bub. Wir binden ihr die Schnauze zu und machen sie auf dem Schlitten fest.«
»Ich kann bei ihr sitzen«, sagt Will'm und grinst.
»Kommt nicht in Frage. Du gehst hinterher und hältst die Augen offen. Und nun tu, was ich dir sage, oder wir lassen sie hier.«
»Schon gut.«
»Und denk nicht mal im Traum dran, dass sie im Pfostenbett schläft. Drunter auch nicht. Und wenn sich bis morgen nichts getan hat, geb ich ihr den Rest.«
Keine leichte Aufgabe ohne Seil. Ich ziehe den Schlitten, Will'm stützt ihn. Mehr als einmal rutscht die Wölfin runter, und wir müssen anhalten, um sie wieder auf den Schlitten zu hieven und Plätze zu tauschen. Lieber Herrgott, ich versteh mich selbst von Tag zu Tag weniger. Ich bin so müde, dass die Wölfin und der Junge und Ida in meinem Kopf durchein- anderwirbeln, bis ich nicht mehr weiß, wer wer ist und wer mich am meisten braucht.
KAPITEL 2
WIR LEBEN DIE Wölfin in die Küche, auf eine Wolldecke in einer Ecke. Es wäre nicht recht, ein verletztes Tier in unserer Rattenfalle von einer Scheune zu lassen, wo es von einem hungrigen Rotluchs entdeckt werden kann - oder von Ida, wenn sie aus ihrer Hütte tritt. Der Atem der Wölfin rasselt, und sie hat die Augen geschlossen. Ihre Schnauze ist noch mit Will'ms Schal zugebunden - lose, so wie Paps es immer gemacht hat. Blut sickert aus der Stelle, wo vorher das Ohr war.
Ich staple Anmachholz im Ofen auf und zünde es an. Hole eine Dose weiße Bohnen aus dem Schrank und schütte sie in einen Topf. Mit einem Teelöffel lasse ich ein paar Bohnen ins Maul der Wölfin gleiten, aber sie verdreht die Augen.
»Wir müssen unsere Arbeit erledigen«, sage ich und richte mich auf.
Will'm steht mitten in der Küche. Über unserem Tisch hängt eine gelbe Glühbirne. »Aber wenn wir sie nicht verarzten, stirbt sie.«
»Das ist halt manchmal so.«
»Wie bei der Frau von Wing Harris?«
Ich schaue ihn scharf an. »Hörst du mir auf mit Wings Frau.«
»Weiß doch jeder, dass sie von Tag zu Tag schwächer wird.« Aber ich will nichts davon hören. »Geh raus und hol das Holz, solang du noch deinen Mantel anhast.«
Im Ausguss liegen Kartoffelschalen, und ich sammle sie ein und stecke sie in die Tasche. Auf der Veranda trete ich den Schnee weg, der sich an der Hintertür angesammelt und in Matsch verwandelt hat. Nehme die Eimer von ihren Haken und klopfe das Eis vom Boden. Will'm stapft mir hinterdrein und die Treppe runter. Ich wünschte, er hätte Wing nicht erwähnt.
Als Wing und ich jung waren, gab es nicht ein einziges Geheimnis zwischen uns. Aber seit zwanzig Jahren wechseln wir die Straßenseite, damit wir uns nicht begegnen. Und wenn wir uns heutzutage in Ruse's Cafe über den Weg laufen, sagen wir nur guten Tag.
Unterm Strich habe ich also eine irrsinnige Mama, die über hundert verstaubte Bibeln ihr Eigen nennt, einen schlaksigen Burschen mit einem empfindsamen Herzen und keinen Mann, zu dem ich mich legen kann. Und eine sterbende Alaskawölfin in meiner Küche.
Draußen im Dunkeln zerrt Will'm die Axt aus einem Holzscheit. "Vielleicht können wir wenigstens ihr Ohr zusammennähn?"
Verflucht. Vor vielen Jahren hat Ida Paps beim Klohaus begraben. Seit damals trample ich zehnmal am Tag über ihn hinweg. Auch jetzt, auf dem Weg zum Brunnenhaus. Paps war ein Tierarzt, der sich alles selbst beigebracht hat, und wurde von vielen geliebt, aber auf seinem Grab steht nicht mal ein Stock. Eines Tages werd ich ihn zu Saul auf den Berg rüberschaffen und einen echten Grabstein aufstellen.
Fast dreizehn Jahre war ich mit Saul verheiratet. Als er starb, habe ich Junk Hanley einen Dollar bezahlt, damit er einen flachen Pflasterstein verlegt, auf dem geschrieben steht, dass Saul Cross ein geliebter Ehemann und Vater war. Nicht dass ich ihn so über die Maßen geliebt hätte.
Meine Stiefel brechen durch den verharschten dunklen Schnee, und an meinem Hemd haften Eisklümpchen. Ich schiebe die Tür auf, stelle die Laterne auf den Boden, schütte Futter in den einen Eimer und fülle den anderen mit Kartoffeln. Dann schneide ich eine Zwiebelschnur ab. Morgen geh ich die Bestände in den Kisten und Regalen im Laden durch und stell die letzten Dosen mit Limabohnen und Backpulver auf. Wenn die Leute ihre Rechnungen nicht allmählich bezahlen, kann ich wohl nichts mehr bestellen.
Ich gehe in den Stall zu den Ziegen, werfe ihnen die Schalen hin und zerschlage mit dem Stiel einer Hacke die Eisschicht auf dem Trinktrog. Hier draußen ist es so dunkel, dass ich kaum die Umrisse von Idas Hütte und den angebundenen Esel im Hof erkennen kann. Obwohl Ida sich über ihr Abendessen ereifert hat, bin ich mir sicher, dass sie alles aufgegessen hat und jetzt mit brennender Pfeife eingeschlafen ist. Eines Tages wird sie uns noch das Dach überm Kopf abbrennen, und wenn es so weit ist, hoffe ich, dass der Esel auch draufgeht. Auf der anderen Seite vom Hof hackt Will'm Anmachholz.
Ich zerschlage auch das Eis auf den flachen Schalen, aber die sechs Hühner würden lieber verdursten als sich aus ihrem Nest bewegen.
Teufel auch. Vielleicht habe ich die Wölfin Will'm zuliebe mitgenommen - oder vielleicht wegen Paps, der seine Klinik damals unter der Küche eingerichtet hat. Ich war jahrelang nicht dort unten, und ich will auch jetzt nicht runtergehen. Aber ich hole die Laterne, die auf der Veranda hängt. Will'm macht große Augen, als ich den Schlüssel vom Haken nehme und die Kellertür aufschließe.
Auf der Treppe machen meine Stiefel ein dumpfes Geräusch, aber der Boden unten besteht aus festgetretener Erde. Es gibt keinen Strom da, und es stinkt zum Himmel, wie Saul gesagt hätte. Kein Wunder, dass er keinen Fuß dort reinsetzen wollte, so schimmlig und staubig und voller Spinnweben wie der Keller war. Saul meinte immer, Paps könne nicht recht bei Trost sein, weil er sich so oft da unten bei seinen Viechern aufhielt und den Rest der Zeit im Werkzeugschuppen mit seiner Schwarzbrennerei verbrachte.
Der Keller hat seit vielen Jahren kein Licht mehr gesehen. Es riecht übel, als sei hier etwas gestorben und verwest, obwohl Paps nur selten Patienten verloren hat. Der Gestank kommt aus dem unterirdischen Gang, den er zwischen Keller und Schuppen angelegt hat, damit er nicht durch anderthalb Meter hohen Schnee stapfen musste, um in die Schwarzbrennerei zu kommen. Beide Ausgänge sind mit Brettern vernagelt.
Alles ist wie früher: die Strohballen, der lange Tisch an der Wand, die rostigen Drahtkäfige und Tragebehälter, die Eimer, eine Heugabel und Schaufeln, Kisten, ein paar zerbrochene Laternen. Angesichts der langen vergitterten Gehege und Wasserschalen überkommt mich schlagartig eine heftige Übelkeit. Aber es ist nicht die Erinnerung an Paps, die ich unter diesem Haus fürchte.
»Hier unten könnt man ja sterben, so feucht ist es.« Ich nehme eine staubige braune Flasche und andere Sachen aus einem Regal - eine große Schere und eine Packung Operationsnadeln -, und dann gehen wir wieder nach oben ins Licht. Ich schließe die Tür ab und hänge den Schlüssel an den Haken.
Aus meinem Nähkorb hole ich weißen Faden und reiße sauberen Baumwollstoff für den Verband in Quadrate und lange Streifen. Das Chloroform ist nicht mehr richtig wirksam, aber was anderes haben wir nicht. Wir waschen uns mit heißem Wasser und Seife die Hände und hocken uns auf den Boden. Als die Graue so weit wie möglich weggedämmert ist, schneide ich das verfilzte Fell am Bauch ab. Sie zuckt und verdreht die Augen, während ich das Fell abrasiere und in die Wunde greife. Mein Gesicht fühlt sich schmerzhaft angespannt an, und aus meinen Augen rinnt das Wasser nur so raus.
»Was meinst du, wer das gemacht hat?«, fragt Will'm.
Ich habe die Kugel zu fassen gekriegt und ziehe die Hand zurück. Gieße Wasserstoffperoxyd auf die Wunde und sehe zu, wie es aufschäumt. Messe ein Stück Faden ab, beiße es mit den Zähnen von der Rolle und halte die Nadel ins Licht. Fluche leise vor mich hin, weil meine Augen auch nicht mehr das sind, was sie mal waren. Dann zeige ich Will'm, wie er die Haut an der Wunde zusammenhalten soll, und fange mit dem Nähen an. Das machen wir auch beim Ohr der Wölfin, und danach säubern wir ihr Auge, so gut es geht. Sie zuckt und winselt. Unter der Männerhose, die ich außer Baumwollkleid, Strickjacke und langen Unterhosen trage, bin ich schweißnass.
Will'm meint, er könne ja ein Gebet sprechen.
»Tu das«, sage ich. »Und wenn du schon dabei bist, kannst du auch gleich für die Jäger beten. Denen werd ich nämlich die Hölle heißmachen, das kann ich dir sagen.«
KAPITEL 3
ICH HABE NICHTS, was ich der Wölfin gegen die Schmerzen geben könnte. Eine zerstoßene Kräuterpastille oder eine von Carters' Leberpillen wäre nutzlos, und ich will es nicht wagen, ihr noch mal Chloroform zu verabreichen. Ich werde mal Dooby vom Drugstore fragen, was bei der Heilung helfen könnte - wenn die Graue nicht ohnehin bis zum nächsten Morgen die Küche in Stücke gelegt und uns aufgefressen hat. Ihr Atem ist schwach, und wenn ich ihre Augen mal zu sehen kriege, dann sind sie gelb und ruhelos vor Angst.
Gott steh mir bei, sollte sie in der Nacht sterben, und ich hab sie dann am Hals. Ein guter Samariter zu sein heißt nicht immer, dass man auch Gutes tut. Tagtäglich sterben Menschen im Namen der Liebe.
Zwischen Küche und Laden habe ich einen Vorhang angebracht. Das einzige Schlafzimmer liegt im vorderen Teil des Hauses, durch eine Tür mit der Küche verbunden. Ich habe Angst um Will'm, der in seiner Schlafnische nur zweieinhalb Meter von der Wölfin entfernt wäre. Deshalb nehmen wir unser Abendessen mit und hocken uns in die Mitte von meinem Pfostenbett. Ich liebe dieses Zimmer mit der hohen Decke, dem Bett mit der Federmatratze, dem alten Kleiderschrank und dem Korbschaukelstuhl. In dem ehemaligen Wandschrank befinden sich jetzt ein Klosett, ein gesprungener Spiegel und eine Glühbirne.
Ich erzähle Will'm, wie mein Paps mal einen Eselhasen beruhigt hat, dessen Bein so kaputt war, dass der Knochen rausstand. Wir sitzen da in unseren Nachthemden, und ich breche uns Brot ab, das wir in die Bohnensuppe tunken, und wir reden von Ida und der Grauen und davon, was wir am nächsten Tag machen wollen.
»Oma?«, sagt Will'm. »Ihre Jungen sterben doch ohne sie, nicht?«
»Wenn sie nicht schon tot sind.«
»Können wir vielleicht morgen früh nach ihnen schaun?« »Du musst zur Schule, und selbst wenn ich die Kleinen finde - ihr geht's so schlecht, sie kann die nicht säugen.«
»Wir können uns was überlegen, wie wir sie füttern.« »Nee, können wir nicht.«
Am nächsten Morgen werden wir wissen, ob die Mamawölfin am Leben bleibt oder stirbt. Und der Herr steh mir bei, wenn Ida aufsteht und reinspaziert kommt, um ihren Tee und ihren Haferbrei abzuholen.
Ich decke den Jungen zu und lege mich im Dunkeln neben ihn, mit dem Gesicht zu ihm. Gegen Morgen dämmere ich weg und schlafe, bis ich wegen irgendwas aufschrecke. Ich steige in meine Stiefel, schlüpfe in einen Flanellmorgenmantel und gehe in die Küche. Auf dem Boden liegen zerbissene Schnurstücke und blutige Stofffetzen. Das Linoleum und das Fensterbrett sind voller Blutflecken. Das Fenster ist zersplittert. Die Graue ist verschwunden.
»Grundgütiger.«
Ich öffne die Hintertür, gehe vorsichtig über die Veranda, um nicht auf dem Eis auszurutschen, und die Treppe runter. Der Himmel ist bleigrau und scheint die Luft anzuhalten. Blutige Spuren führen zum Schuppen und an dem vereisten Pick-up vorbei zur Scheune. Und da sehe ich die Graue - alle viere von sich gestreckt, auf der Seite liegend. Unter ihrem Rumpf breitet sich eine Blutlache im Schnee aus. Sechs Meter weiter steht Ida im Nachthemd. Sie hat Paps' alte Winchester angelegt, und ihr Kopf ist noch zurückgelegt vom Rückstoß.
Übersetzung: Sibylle Schmidt
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011
by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Carolyn D. Wall
Carolyn D. Wall ist als freiberufliche Lektorin, Journalistin und Dozentin für Creative Writing tätig. Sie lebt mit ihrem Mann in Oklahoma City.
Bibliographische Angaben
- Autor: Carolyn D. Wall
- 2011, 350 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Schmidt, Sibylle
- Übersetzer: Sibylle Schmidt
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442470676
- ISBN-13: 9783442470679
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