Die Entdeckung der Liebe
Die 38-jährige Schriftstellerin Rivi fährt zum Begräbnis ihrer Freundin Michaela in ihre Heimatstadt Haifa. Dort entdeckt sie ihre alten Tagebücher und taucht beim Lesen ein in eine längst vergessene Welt: ihre Schulzeit, die politische Lage Israels Anfang der 70er, die Entdeckung der Literatur und die immer stärker werdende Zuneigung zu Michaela, ihrer Lehrerin. Zwischen den Frauen entwickelt sich eine heimliche Liebesgeschichte, die ihr Leben für immer verändert...
"Judith Katzir ist die mit Abstand begabteste der so genannten jungen israelischen Autorinnen. (...) Mit 'Die Entdeckung der Liebe' ist es Judith Katzir gelungen, ihren ersten Roman gleichsam zu umarmen, zu ergänzen und abzuschließen - eine große literarische Leistung." - Jüdische Zeitung
"Eine der interessantesten jüngeren Schriftstellerinnen Israels." - Frankfurter Allgemeine Zeitung
"Die Sätze der Autorin entfalten einen Sog, sie ziehen uns hinein." - Deutschlandradio
DieEntdeckung der Liebe von JudithKatzir
LESEPROBE
Als alles vorbei war, ging ich den Sandweg vom neuenzum alten Friedhof hinunter, den Berg im Rücken, an dessen Spitze dieniedrigen, weißen Häuser des Dorfes Kababir kauern, im schützenden Schatten dersteinernen Moschee mit der Kalkkuppel und den Zwillingsminaretten. Vorher, alsdie Bahre seitwärts geneigt wurde und dein weiß verhüllter Leichnam in dieGrube glitt, hatte ich mich dazu gezwungen, die Augen weit aufzumachen undhinzuschauen. Dann war mein Blick zur Linie des Bergkamms gewandert, der sichflimmernd vom frühherbstlich silbrigen Porzellanhimmel abhob. Ja, du bist nachHause zurückgekehrt, zum Karmel und zum Meer, das du liebtest, von nun an wirddas deine Aussicht sein. Von deinem Sohn hatte ich mich zuletzt verabschiedet, flüchtigseine feuchte, leblose Hand berührt und es vermieden, ihm in die Augen zublicken, während er mit einem fast automatenhaftem Kopfrucken nickte, seinezwei blauen Käferaugen stumpf wie immer. Was er wohl fühlte, was er begriff? Erwar erst zweiundzwanzig, doch sein blondes Haar wurde schon dünn, und seinRücken war gebeugt, als trüge er ein ganzes Leben auf dem Buckel. Ein Junge mitautistischen Zügen, ein fremdes, merkwürdiges Kind, ein spät entwickelter Säugling,der seine Mutter entbehrte und viel mehr sah als erlaubt; ein Embryo, dessenkleiner Körper unter der Last eines anderen Gewichts zerdrückt wurde und derbeleidigt mit den Beinen strampelte, aus einem Samen, der in einem kleinenPariser Hotel ein Ei getroffen hatte, eine verfehlte Idee. Eine federleichteHand landete auf meiner Schulter. Ich wandte meinen Kopf der hoch gewachsenenFrau mit dem grauen Bubikopf zu, und vor meinem Auge erstand das dünne, lockenköpfigeMädchen von damals, mit den hohen Backenknochen und der Adlernase, die jetztgerötet war, und dem Himmelblau in den Augen. In der Hand hielt sie einenStrauß Feldblumen. »Ich bin gerade angekommen, es tut mir schrecklich leid,dass ich mich verspätet habe«, schnaufte Asnat und schneuzte sich in ein weißesPapiertaschentuch. »Es war, wie es immer ist«, die Worte kamen mir zäh über dieLippen. »Aber sie war mit niemandem vergleichbar«, ihre Augen hefteten sicherstaunt auf mich. »Nein. Sie war einzig und allein sie.« »Hast dugesprochen?«, wollte sie wissen. »Hat man dich gebeten, etwas zu sagen?« »Ichwurde nicht gebeten. Ich habe ein Gedicht vorgelesen.« »Hat er Kaddischgesagt?« »Er hat etwas zusammengestottert, mit amerikanischem Akzent, Joel hatihm geholfen.« »Ich gehe mal hin, um sie zu begrüßen und ihr die Blumen zugeben.« »Sie sind schön. Sie hätte sie geliebt«, sagte ich und erinnerte michan einen anderen Strauß, den du einmal Asnat, deiner besten Freundin, nachmonatelangem Zerwürfnis zu ihrem fünfzehnten Geburtstag brachtest, derenhimmelblaue Augen sich damals in tiefer Freude geweitet hatten. »Bist du mitdem Wagen hier?«, fragte Asnat. »Sonst kannst du mit mir nach Tel Avivzurückfahren. Du wohnst doch jetzt in Tel Aviv, oder?« »Ja, aber ich bleibehier. Ich muss noch ein paar Dinge zu Ende bringen.« »Verwandte besuchen?« »Auch«,nickte ich und erinnerte mich an den Teil unserer Familie, der auf dem altenFriedhof liegt, Großmutter und Großvater unter einem Stein, und meine Mutterfür sich allein zwischen ihnen und dem Weg. »Ich habe irgendwo gelesen, dass dueine Tochter bekommen hast«, sagte Asnat. »Inzwischen habe ich noch eine.Karmel wird bald elf und Noga ist zwei. Und du?« »Meine Kinder sind schongroß«, lächelte sie, »Tamar studiert Kunst in New York, und Roi ist beimMilitär.« Als wir uns das letzte Mal begegnet waren - und es war gleichzeitigdas erste Mal gewesen -, hatte sie noch nicht vorgehabt zu heiraten. Wann wardas noch mal? Im Sommer neunundsiebzig, vor zweiundzwanzig Jahren. »Schreibstdu etwas Neues für uns?«, erkundigte sie sich. »Ich habe alle deine Büchergelesen, sie bringen mir immer den Karmel, seinen Wind, seine Veilchen undseine Kiefernzapfen zurück.« »In letzter Zeit streiche ich hauptsächlich«,entschuldigte ich mich. Früher, als ich jung war, waren meine Worte gewandter undklüger als ich. Mit den Jahren wurde ich reif und weiser, und nun hinkten dieWörter erschöpft und befangen hinterher. Plötzlich umarmte sie mich. »Du musstüber sie schreiben«, flüsterte sie in mein Ohr, »über euch beide.« »Ja«, ichzögerte, »mein Gedächtnis ist voller weißer Flecken. Ich muss das Tagebuchfinden, das ich damals geschrieben habe. Es ist irgendwo vergraben.« Ja,dorthin würde ich gehen, ins Katastrophengebiet, zu dem Ort, an dem die Flammeerblühte und lebendig begraben wurde. Ich würde zum Wadi hinuntergehen, zuunserer Zwergkiefer, das Versteck unter dem flachen Felsen suchen und nach denHeften graben, obwohl kaum eine Chance bestand, dass ich sie nach zwanzigRegenwintern noch finden würde. Doch jetzt, wo dein Leib in der Erde ruhte,durfte ich jene Jahre aus ihrem Grab holen, über die ich nie geschrieben, vondenen ich fast niemandem erzählt hatte und von denen ich selbst nur schwerglauben konnte, dass sie, dass wir beide so waren, und die ich tief in mirversenkt hatte. »Rufst du mich einmal an, Rivi? Ich stehe im Telefonbuch. Treffenwir uns auf einen Kaffee?« Asnats Hände ergriffen meine Schultern, und ihreAugen voller Himmelblau, die die Zeit nicht getrübt hatten, musterten bekümmertmein Gesicht. »Als wir uns das letzte Mal begegnet sind, warst du wirklich nochein kleines Mädchen. Was das Leben doch für Scherze mit uns treibt Ich kannkaum glauben, dass ich schon fünfzig bin.« »Ich rufe an«, sagte ich und wusstegleichzeitig, dass auch sie wusste, dass ich es nicht tun würde. Asnatstreichelte wie tröstend meinen Arm und wandte sich zum Gehen, und ichbetrachtete ihre lange Gestalt, wie sie den Weg hinunterging und sich neben denErdhügel kniete, der mit Steinen und Blumen bedeckt war und das Holztäfelchen mitdeinem Namen trug. (...)
© btb Verlag
Übersetzung: Barbara Linner
Barbara Linner, geb. 1955 in Mchen, studierte Judaistik, Orientalistik und sosteuropsche Geschichte. Sie ist ersetzerin von u. a. David Grossman, Batya Gur, Judith Katzir, Jehoschua Kenaz, Etgar Keret.
- Autor: Judith Katzir
- 2006, 384 Seiten, Maße: 12,1 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Dtsch. v. Barbara Linner
- Übersetzer: Barbara Linner
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442734223
- ISBN-13: 9783442734221
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