Die Gabe der Jungfrau
Roman
Ein Dorf in der Kurpfalz um 1525. Anna Maria wächst auf einem Bauernhof auf. Zwei ihrer Brüder kämpfen im Krieg. Doch dann sieht Anna Maria die beiden im Traum und weiß, dass sie in Gefahr sind. Nun hält sie nichts mehr zu Hause,...
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Produktinformationen zu „Die Gabe der Jungfrau “
Ein Dorf in der Kurpfalz um 1525. Anna Maria wächst auf einem Bauernhof auf. Zwei ihrer Brüder kämpfen im Krieg. Doch dann sieht Anna Maria die beiden im Traum und weiß, dass sie in Gefahr sind. Nun hält sie nichts mehr zu Hause, denn sie verfügt über eine besondere Gabe.
Klappentext zu „Die Gabe der Jungfrau “
Die gefährliche Reise einer eigenwilligen jungen Frau in den Wirren der BauernkriegeEin Dorf in der Kurpfalz um 1525. Anna Maria wächst mit vier Brüdern auf einem Hof auf. Als ihr Vater zwei seiner Söhne in den Krieg schickt, damit sie für die Sache der Bauern kämpfen, versucht Anna Maria ihn umzustimmen, doch vergebens. Bevor die Brüder aufbrechen, geben sie ihrer Schwester das Versprechen, dass keiner ohne den anderen heimkehren wird. Doch dann sieht Anna Maria die beiden eines Nachts im Traum und weiß, dass sie in Gefahr sind. Nun hält sie nichts mehr zu Hause, denn sie verfügt über die Gabe, in ihren Träumen den Tod vorherzusehen ...
Lese-Probe zu „Die Gabe der Jungfrau “
Die Gabe der Jungfrau von Deana ZinßmeisterProlog
Frankenhausen 1525
Unaufhaltsam liefen dem jungen Mann Tränen über die Wangen, und wie den Regen spürte er sie nicht.
Keuchend saß er inmitten eines Waldstücks an einen Baumstamm gelehnt und presste den erstarrten Körper an sich. Der Halbmond erhellte den Nachthimmel, sodass er das Gesicht des Toten klar erkennen konnte.
Fast lautlos flüsterte er den Namen des toten Mannes und wischte mit seinen schmutzigen Fingern die Schlammkruste aus dessen Gesicht. Er verrieb den Moder auf der Haut, bis die Stirn des Toten fast sauber war. Dann drückte er seine Lippen darauf.
Weder die fahle Haut noch der Geruch störten ihn, denn es war sein Bruder, den er wie ein Kleinkind in den Armen hielt. Wieder berührte sein Mund die Stirn des Toten – ein letzter Kuss von Bruder zu Bruder.
Mit letzter Kraft und unter großer Anstrengung hatte er ihn seinem nassen Grab entrissen – ihn mit seinen eigenen Händen aus dem Erdboden geholt.
Der junge Mann spürte weder die Verletzungen, die er sich dabei zugezogen hatte, noch das Brennen der feinen Wunden auf den Fingerkuppen, wo er sich beim Graben die Haut abgerieben hatte. Auch den pochenden Schmerz, den seine tief eingerissenen Fingernägel verursachten, beachtete er nicht. Für ihn zählte nur, dass sein Bruder nicht mehr in fremder Erde lag. Jetzt war es an der Zeit, dessen letzten Wunsch zu erfüllen und ihn heimzubringen.
Gegenseitig hatten sie sich dieses Versprechen gegeben – damals, bevor sie in diesen verdammten Krieg gezogen waren, weil der Vater es von ihnen verlangt hatte.
»Bist du nun zufrieden, Vater?«, hätte er am liebsten in die Nacht hinausgeschrien. Doch er blieb stumm. Stattdessen fuhr er sich mit der Hand über die Augen und wischte die Tränen und die Erinnerung fort.
Die Zeit drängte.
... mehr
Es war bereits kurz nach Mitternacht, und er hatte noch viel zu tun.
Behutsam legte er den Leichnam seines Bruders auf den nassen Boden, stand auf und lockerte die steifen Glieder. Nun spürte er den Schmerz, doch er schenkte ihm keine Beachtung, sondern fasste den Toten unter den Armen, um ihn tiefer in den Wald zu ziehen. Erschrocken stellte er fest, dass dabei die Fersen der Leiche verräterische Spuren im aufgeweichten Boden hinterließen. Doch dann sah er, wie der Regen Tannennadeln und Laub über die Vertiefungen spülte und sie wieder verwischte.
›Als ob die Natur meinen Plan gutheißen würde‹, dachte er und zog seinen Bruder weiter ins dichte Gehölz. Dann hatte er einen geeigneten Platz für sein Vorhaben gefunden.
Vom Schweiß der Anstrengung und vom Regen durchnässt, bettete er den Toten behutsam zwischen zwei Bäume und sah sich um. Zufrieden nickte er und flüsterte kaum hörbar: »Hier soll es sein! Hier werde ich mein Versprechen einlösen.«
Kapitel 1
Mehlbach, ein kleiner Ort in der Kurpfalz, 1525
Die Luft war eisig und brannte doch wie Feuer in der Lunge der jungen Frau. Das flachsblonde Haar fiel strähnig und feucht auf ihre schmalen Schultern. Scheu schaute sie sich um.
Rauchschwaden hingen wie Nebel über der schneebedeckten Ebene, deren Erde wie mit Blut getränkt schien. Aufgespießte und zerstückelte Leiber von Toten, die ihr Leben auf dem Schlachtfeld ausgehaucht hatten, lagen zu Tausenden im Tal.
Verwundete wanden sich schreiend in ihren Schmerzen.
Als die junge Frau eine Bewegung wahrnahm, wandte sie den Kopf zur Seite. Sie sah einen Reiter, der sein Schwert wie zum Angriff über dem Kopf schwang und auf die verwundeten Männer zugaloppierte. Mit gezielten Hieben tötete er die am Boden liegenden Verletzten.
Verzerrt drangen die Schreie der Männer zu ihr herüber, berührten sie jedoch nicht. Gleichgültig wandte sie ihre Aufmerksamkeit von dem Reiter ab und ließ den Blick über das Schlachtfeld schweifen.
Die junge Frau wusste nicht, wie sie an diesen Ort gekommen war und was sie hier sollte – zumal sie die einzig Unbeteiligte zu sein schien.
Als sie weitergehen wollte, glaubte sie auf der Stelle zu treten.
Ihre Beine fühlten sich an, als ob sie durch Pfützen aus Blut, das ihr bis zu den Knien spritzte, watete. Sonderbarerweise schien es sie aber nicht zu stören. Auch dass Blut ihr weißes Gewand rot verfärbte, berührte sie nicht. Nur die vielen Toten um sie herum waren ihr unheimlich. Plötzlich stand sie dicht vor einem Totem. Er lag auf dem Bauch, und sie konnte sein Gesicht nicht erkennen.
Ihr Herz raste vor Angst, dass der Tote kein Unbekannter sein könnte. Zögerlich drehte die junge Frau den Leichnam auf den Rücken und blickte in die gebrochenen Augen eines Fremden. Auch das Gesicht des nächsten Toten war ihr nicht vertraut.
Sie beugte sich über jeden leblosen Körper, über den sie hinwegsteigen musste – jedes Mal von Furcht erfüllt, dass es ein bekanntes Gesicht sein könnte.
Nachdem sie in zahllose tote Gesichter geschaut hatte, ließ sie den Blick über das Feld schweifen. Rauch breitete sich aus, und nur noch schwach drangen die Schreie und Stimmen der Sterbenden an ihr Ohr. Erschöpft sank sie mitten hinein in eine Pfütze aus Schneematsch und Blut, was sie aber nicht zu erschrecken schien.
Und dann erblickte die junge Frau in der Mitte des Feldes einen jungen Mann. Er war niedergekniet, hatte seine Lanze als Stütze vor sich in den Boden gestemmt und hielt den Blick gesenkt. Sein Körper zitterte, und er blutete aus einer Wunde am Kopf. Obwohl sie sein Gesicht nicht sehen konnte, schien er ihr auf Anhieb vertraut.
Ein zweiter Mann stand neben dem Jüngling, versuchte ihm aufzuhelfen und redete auf ihn ein.
Zuerst verstand die junge Frau nur undeutlich, was er sagte, doch dann drangen die Worte »Es ist vorbei! Lass uns nach Hause gehen!« an ihr Ohr.
Sie glaubte die Stimme zu kennen, doch sie konnte ihr kein Gesicht zuordnen. Als sie den beiden Männern etwas zurufen wollte, kamen keine Laute über ihre Lippen.
Sie sah, wie der kniende Mann den Kopf schüttelte. Mit gebrochener Stimme sprach er: »Nun werden wir auf fremdem Boden sterben und in fremder Erde beerdigt werden!«
Bei diesen Worten brannten Tränen in den Augen der jungen Frau. Doch dann ergriff sie blankes Entsetzen, denn sie sah, wie der Reiter mit dem Schwert auf die beiden Männer zugaloppierte.
Sie erkannte die Gefahr und wollte die Ahnungslosen warnen, wollte auf sie zulaufen. Doch es war, als trete sie auf der Stelle. Völlig außer sich riss sie die Hände in die Höhe um zu winken, damit die beiden Männer die Gefahr erkennen würden.
Der fremde Reiter kam näher und näher. Erbarmungslos schwang er das Schwert über seinem Kopf. Da endlich lösten sich ihre Füße vom Boden, und sie rannte auf die beiden Unbekannten zu. Doch als sie kurz vor ihnen zum Stehen kam, bemerkte sie, dass die beiden Männer sie nicht wahrzunehmen schienen. Keiner der beiden zeigte eine Regung, gerade so, als sei sie unsichtbar. Dann flüsterte der am Boden Kniende: »Ich werde meine Liebste nie wieder sehen!«, und blickte ihr dabei geradewegs in die Augen. Voller Entsetzen erkannte die junge Frau nun den Verwundeten.
Schon spürte sie das Schnauben des Pferdes im Nacken, als ein Schrei sie aufschrecken ließ.
»Anna Maria, wach endlich auf! Herrgott Mädchen, du schreist ja den ganzen Hof zusammen.«
Erschrocken und verwirrt schaute Anna Maria in die weit aufgerissenen Augen von Lena, der Magd.
Ungläubig sah sie an sich herunter. Kein blutverschmiertes Kleid, kein Schlachtfeld, auf dem sie stand. Sie lag in ihrem Bett – daheim auf dem elterlichen Hof. Sie hatte nur einen furchtbaren Traum gehabt.
Doch als sie an die Worte dachte und sich an den Ritter mit dem Schwert in der Hand erinnerte, begann ihr Herz zu rasen.
Angst schien ihre Kehle zuzuschnüren.
»Sie sind in Gefahr und ahnen es nicht!«, flüsterte sie. Tränen verschleierten ihren Blick, als sie aufsprang und rief: »Ich muss sie warnen! Sonst werden sie sterben!«
»Wen musst du warnen? Wer ist in Gefahr?«
»Meine Brüder! Peter und Matthias!«
Ungläubig sah die Magd das Mädchen an. »Wie willst du das wissen?«
»Ich habe sie gesehen – mein Traum hat es mir verraten. Ich muss sie suchen.«
Schon war Anna Maria aus dem Bett gesprungen und wollte an der Magd vorbeistürmen. Diese ergriff ihr Handgelenk, um sie aufzuhalten.
»Mädchen, du sprichst wirres Zeug? Es war nur ein Traum!«
»Es war nicht nur ein Traum!«, antwortete Anna Maria mit ernster Stimme.
»Wo willst du sie suchen? Etwa auf dem Schlachtfeld? Als Frau? Anna Maria, das ist dummes Zeug.«
Wütend sah das Mädchen Lena an und wand sich aus deren Umklammerung. Unbeirrt begann es sich anzukleiden.
Die Stimme der Magd klang nun verärgert: »Deine Brüder kämpfen auf Geheiß eures Vaters bei diesen Aufständen. Er würde nie und nimmer gestatten, dass sie nach Hause kommen, nur weil du glaubst, dass sie in Gefahr sind. Du würdest deinen Vater und auch deine Brüder zum Gespött der Leute machen.«
»Verstehst du nicht? Sie werden sterben, wenn ich sie nicht heimhole!«
»Herrgott, Anna Maria, nimm Vernunft an. Selbst wenn du eine Vorsehung hattest, wie willst du ihnen helfen! Du bist eine Frau und begibst dich nur selbst in Gefahr! Vielleicht sind sie schon tot!«
»Nein, sind sie nicht! In meinem Traum war die Erde schneebedeckt, doch jetzt ist Ende September. Ich muss sie gefunden haben, bevor der erste Schnee fällt.«
Als die Magd Anna Marias entschlossenen Blick sah, wusste sie, dass nichts und niemand das Mädchen aufhalten konnte.
Lena wusste, wie sehr Anna Maria ihre beiden Brüder liebte.
Schon seit frühester Kindheit hatten die drei immer zusammengehalten. Als die Mutter starb, waren Anna Maria deren Aufgaben und Pflichten zugefallen. Besonders für ihren jüngeren Bruder Matthias fühlte sie sich verantwortlich und mit ihrem älteren Bruder Peter verstand sie sich ohne Worte. Lena ließ Anna Marias Arm los.
Für einen Moment schloss die Magd die Augen und atmete tief durch. Dann sah sie Anna Maria an und sagte: »Nun gut, erzähl mir deinen Traum!«
Noch am selben Vormittag suchte Anna Maria ihren Vater in der Stube auf. Daniel Hofmeister stand am Fenster und rief dem Gesinde die letzten Anweisungen zu. Als sie ins Zimmer trat, fragte er überrascht: »Was willst du?«
Seit dem frühen Morgen hatte Anna Maria sich das Gespräch mit dem Vater in Gedanken zurechtgelegt. Sie wusste, wie sie es beginnen und wie sie seine Einwände niederreden wollte. Doch jetzt, als sie vor ihm stand, versagte ihr die Stimme.
Hofmeister baute sich vor seiner Tochter auf, stemmte die Hände in die Hüften und sah sie herausfordernd an. Als noch immer kein Ton über ihre Lippen kam, fuhr er sie an: »Bist wohl
in Schwierigkeiten, was?«
Entsetzt schüttelte Anna Maria den Kopf, schwieg aber weiter.
Der Bauer verlor nun endgültig die Geduld und raunzte mürrisch: »Verschwinde und mach dich an deine Arbeit!«
Anna Maria wusste, dass sie jetzt etwas sagen musste, sonst wäre die Gelegenheit vertan. Stockend erzählte sie von ihrem Traum und dem Plan, die Brüder zu retten.
Schweigend hörte Hofmeister ihr zu und zeigte keinerlei Regung. Als sie geendet hatte, drehte er sich zum Fenster. Anna Maria stand da und wartete. Nach einer Weile fragte sie leise:
»Vater, gibst du mir deinen Segen?«
Er blickte sie wieder an, und seine Augen waren kalt.
»Wie kannst du erwarten, dass ich solch einen dummen Plan billigen würde? Da draußen herrscht Krieg. Gesinde, Bauern und Söldner kämpfen für die Rechte der armen Leute. Glaubst du, dass sie auf ein dummes Mädchen Rücksicht nehmen würden? Wie kannst du Weibsbild glauben, dass du die beiden Burschen finden würdest? Du weißt von der Welt da draußen gar nichts! Dein Platz ist hier auf dem Hof – nirgends sonst!«
Als er sich wieder umdrehen wollte, schrie Anna Maria: »Du hast sie in ihren Untergang geschickt, obwohl ich dich angefleht habe, sie nicht ziehen zu lassen. Sie haben keine Erfahrung und müssen für etwas kämpfen, was du für richtig hältst. Warum bist du nicht selbst gegangen?« Zorn lag in ihrer Stimme.
Bevor Anna Maria in der engen Kammer zurückweichen konnte, war der Vater mit einem Schritt bei ihr und gab ihr eine schallende Ohrfeige. Ihr Gesicht brannte wie Feuer, doch sie jammerte nicht und fasste sich auch nicht mit der Hand an die Wange. Mit trotzigem Blick sah sie den Vater an.
Hofmeisters Gesichtsausdruck war hart geworden. Anna Maria erkannte, dass er sich beherrschen musste, denn er hielt die Hände zu Fäusten geballt.
Sie fürchtete, dass er von seiner Meinung nicht ablassen würde, deshalb sagte sie gefasst: »In der Nacht, als sich Mutter von mir verabschiedete, habe ich ihr geschworen, dass ich auf meine Brüder aufpassen würde.«
Als ihr Vater aber selbst bei der Erwähnung der Mutter keinerlei Regung zeigte, verließ Anna Maria ohne ein weiteres Wort das Zimmer.
Copyright © dieser Ausgabe 2010 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Behutsam legte er den Leichnam seines Bruders auf den nassen Boden, stand auf und lockerte die steifen Glieder. Nun spürte er den Schmerz, doch er schenkte ihm keine Beachtung, sondern fasste den Toten unter den Armen, um ihn tiefer in den Wald zu ziehen. Erschrocken stellte er fest, dass dabei die Fersen der Leiche verräterische Spuren im aufgeweichten Boden hinterließen. Doch dann sah er, wie der Regen Tannennadeln und Laub über die Vertiefungen spülte und sie wieder verwischte.
›Als ob die Natur meinen Plan gutheißen würde‹, dachte er und zog seinen Bruder weiter ins dichte Gehölz. Dann hatte er einen geeigneten Platz für sein Vorhaben gefunden.
Vom Schweiß der Anstrengung und vom Regen durchnässt, bettete er den Toten behutsam zwischen zwei Bäume und sah sich um. Zufrieden nickte er und flüsterte kaum hörbar: »Hier soll es sein! Hier werde ich mein Versprechen einlösen.«
Kapitel 1
Mehlbach, ein kleiner Ort in der Kurpfalz, 1525
Die Luft war eisig und brannte doch wie Feuer in der Lunge der jungen Frau. Das flachsblonde Haar fiel strähnig und feucht auf ihre schmalen Schultern. Scheu schaute sie sich um.
Rauchschwaden hingen wie Nebel über der schneebedeckten Ebene, deren Erde wie mit Blut getränkt schien. Aufgespießte und zerstückelte Leiber von Toten, die ihr Leben auf dem Schlachtfeld ausgehaucht hatten, lagen zu Tausenden im Tal.
Verwundete wanden sich schreiend in ihren Schmerzen.
Als die junge Frau eine Bewegung wahrnahm, wandte sie den Kopf zur Seite. Sie sah einen Reiter, der sein Schwert wie zum Angriff über dem Kopf schwang und auf die verwundeten Männer zugaloppierte. Mit gezielten Hieben tötete er die am Boden liegenden Verletzten.
Verzerrt drangen die Schreie der Männer zu ihr herüber, berührten sie jedoch nicht. Gleichgültig wandte sie ihre Aufmerksamkeit von dem Reiter ab und ließ den Blick über das Schlachtfeld schweifen.
Die junge Frau wusste nicht, wie sie an diesen Ort gekommen war und was sie hier sollte – zumal sie die einzig Unbeteiligte zu sein schien.
Als sie weitergehen wollte, glaubte sie auf der Stelle zu treten.
Ihre Beine fühlten sich an, als ob sie durch Pfützen aus Blut, das ihr bis zu den Knien spritzte, watete. Sonderbarerweise schien es sie aber nicht zu stören. Auch dass Blut ihr weißes Gewand rot verfärbte, berührte sie nicht. Nur die vielen Toten um sie herum waren ihr unheimlich. Plötzlich stand sie dicht vor einem Totem. Er lag auf dem Bauch, und sie konnte sein Gesicht nicht erkennen.
Ihr Herz raste vor Angst, dass der Tote kein Unbekannter sein könnte. Zögerlich drehte die junge Frau den Leichnam auf den Rücken und blickte in die gebrochenen Augen eines Fremden. Auch das Gesicht des nächsten Toten war ihr nicht vertraut.
Sie beugte sich über jeden leblosen Körper, über den sie hinwegsteigen musste – jedes Mal von Furcht erfüllt, dass es ein bekanntes Gesicht sein könnte.
Nachdem sie in zahllose tote Gesichter geschaut hatte, ließ sie den Blick über das Feld schweifen. Rauch breitete sich aus, und nur noch schwach drangen die Schreie und Stimmen der Sterbenden an ihr Ohr. Erschöpft sank sie mitten hinein in eine Pfütze aus Schneematsch und Blut, was sie aber nicht zu erschrecken schien.
Und dann erblickte die junge Frau in der Mitte des Feldes einen jungen Mann. Er war niedergekniet, hatte seine Lanze als Stütze vor sich in den Boden gestemmt und hielt den Blick gesenkt. Sein Körper zitterte, und er blutete aus einer Wunde am Kopf. Obwohl sie sein Gesicht nicht sehen konnte, schien er ihr auf Anhieb vertraut.
Ein zweiter Mann stand neben dem Jüngling, versuchte ihm aufzuhelfen und redete auf ihn ein.
Zuerst verstand die junge Frau nur undeutlich, was er sagte, doch dann drangen die Worte »Es ist vorbei! Lass uns nach Hause gehen!« an ihr Ohr.
Sie glaubte die Stimme zu kennen, doch sie konnte ihr kein Gesicht zuordnen. Als sie den beiden Männern etwas zurufen wollte, kamen keine Laute über ihre Lippen.
Sie sah, wie der kniende Mann den Kopf schüttelte. Mit gebrochener Stimme sprach er: »Nun werden wir auf fremdem Boden sterben und in fremder Erde beerdigt werden!«
Bei diesen Worten brannten Tränen in den Augen der jungen Frau. Doch dann ergriff sie blankes Entsetzen, denn sie sah, wie der Reiter mit dem Schwert auf die beiden Männer zugaloppierte.
Sie erkannte die Gefahr und wollte die Ahnungslosen warnen, wollte auf sie zulaufen. Doch es war, als trete sie auf der Stelle. Völlig außer sich riss sie die Hände in die Höhe um zu winken, damit die beiden Männer die Gefahr erkennen würden.
Der fremde Reiter kam näher und näher. Erbarmungslos schwang er das Schwert über seinem Kopf. Da endlich lösten sich ihre Füße vom Boden, und sie rannte auf die beiden Unbekannten zu. Doch als sie kurz vor ihnen zum Stehen kam, bemerkte sie, dass die beiden Männer sie nicht wahrzunehmen schienen. Keiner der beiden zeigte eine Regung, gerade so, als sei sie unsichtbar. Dann flüsterte der am Boden Kniende: »Ich werde meine Liebste nie wieder sehen!«, und blickte ihr dabei geradewegs in die Augen. Voller Entsetzen erkannte die junge Frau nun den Verwundeten.
Schon spürte sie das Schnauben des Pferdes im Nacken, als ein Schrei sie aufschrecken ließ.
»Anna Maria, wach endlich auf! Herrgott Mädchen, du schreist ja den ganzen Hof zusammen.«
Erschrocken und verwirrt schaute Anna Maria in die weit aufgerissenen Augen von Lena, der Magd.
Ungläubig sah sie an sich herunter. Kein blutverschmiertes Kleid, kein Schlachtfeld, auf dem sie stand. Sie lag in ihrem Bett – daheim auf dem elterlichen Hof. Sie hatte nur einen furchtbaren Traum gehabt.
Doch als sie an die Worte dachte und sich an den Ritter mit dem Schwert in der Hand erinnerte, begann ihr Herz zu rasen.
Angst schien ihre Kehle zuzuschnüren.
»Sie sind in Gefahr und ahnen es nicht!«, flüsterte sie. Tränen verschleierten ihren Blick, als sie aufsprang und rief: »Ich muss sie warnen! Sonst werden sie sterben!«
»Wen musst du warnen? Wer ist in Gefahr?«
»Meine Brüder! Peter und Matthias!«
Ungläubig sah die Magd das Mädchen an. »Wie willst du das wissen?«
»Ich habe sie gesehen – mein Traum hat es mir verraten. Ich muss sie suchen.«
Schon war Anna Maria aus dem Bett gesprungen und wollte an der Magd vorbeistürmen. Diese ergriff ihr Handgelenk, um sie aufzuhalten.
»Mädchen, du sprichst wirres Zeug? Es war nur ein Traum!«
»Es war nicht nur ein Traum!«, antwortete Anna Maria mit ernster Stimme.
»Wo willst du sie suchen? Etwa auf dem Schlachtfeld? Als Frau? Anna Maria, das ist dummes Zeug.«
Wütend sah das Mädchen Lena an und wand sich aus deren Umklammerung. Unbeirrt begann es sich anzukleiden.
Die Stimme der Magd klang nun verärgert: »Deine Brüder kämpfen auf Geheiß eures Vaters bei diesen Aufständen. Er würde nie und nimmer gestatten, dass sie nach Hause kommen, nur weil du glaubst, dass sie in Gefahr sind. Du würdest deinen Vater und auch deine Brüder zum Gespött der Leute machen.«
»Verstehst du nicht? Sie werden sterben, wenn ich sie nicht heimhole!«
»Herrgott, Anna Maria, nimm Vernunft an. Selbst wenn du eine Vorsehung hattest, wie willst du ihnen helfen! Du bist eine Frau und begibst dich nur selbst in Gefahr! Vielleicht sind sie schon tot!«
»Nein, sind sie nicht! In meinem Traum war die Erde schneebedeckt, doch jetzt ist Ende September. Ich muss sie gefunden haben, bevor der erste Schnee fällt.«
Als die Magd Anna Marias entschlossenen Blick sah, wusste sie, dass nichts und niemand das Mädchen aufhalten konnte.
Lena wusste, wie sehr Anna Maria ihre beiden Brüder liebte.
Schon seit frühester Kindheit hatten die drei immer zusammengehalten. Als die Mutter starb, waren Anna Maria deren Aufgaben und Pflichten zugefallen. Besonders für ihren jüngeren Bruder Matthias fühlte sie sich verantwortlich und mit ihrem älteren Bruder Peter verstand sie sich ohne Worte. Lena ließ Anna Marias Arm los.
Für einen Moment schloss die Magd die Augen und atmete tief durch. Dann sah sie Anna Maria an und sagte: »Nun gut, erzähl mir deinen Traum!«
Noch am selben Vormittag suchte Anna Maria ihren Vater in der Stube auf. Daniel Hofmeister stand am Fenster und rief dem Gesinde die letzten Anweisungen zu. Als sie ins Zimmer trat, fragte er überrascht: »Was willst du?«
Seit dem frühen Morgen hatte Anna Maria sich das Gespräch mit dem Vater in Gedanken zurechtgelegt. Sie wusste, wie sie es beginnen und wie sie seine Einwände niederreden wollte. Doch jetzt, als sie vor ihm stand, versagte ihr die Stimme.
Hofmeister baute sich vor seiner Tochter auf, stemmte die Hände in die Hüften und sah sie herausfordernd an. Als noch immer kein Ton über ihre Lippen kam, fuhr er sie an: »Bist wohl
in Schwierigkeiten, was?«
Entsetzt schüttelte Anna Maria den Kopf, schwieg aber weiter.
Der Bauer verlor nun endgültig die Geduld und raunzte mürrisch: »Verschwinde und mach dich an deine Arbeit!«
Anna Maria wusste, dass sie jetzt etwas sagen musste, sonst wäre die Gelegenheit vertan. Stockend erzählte sie von ihrem Traum und dem Plan, die Brüder zu retten.
Schweigend hörte Hofmeister ihr zu und zeigte keinerlei Regung. Als sie geendet hatte, drehte er sich zum Fenster. Anna Maria stand da und wartete. Nach einer Weile fragte sie leise:
»Vater, gibst du mir deinen Segen?«
Er blickte sie wieder an, und seine Augen waren kalt.
»Wie kannst du erwarten, dass ich solch einen dummen Plan billigen würde? Da draußen herrscht Krieg. Gesinde, Bauern und Söldner kämpfen für die Rechte der armen Leute. Glaubst du, dass sie auf ein dummes Mädchen Rücksicht nehmen würden? Wie kannst du Weibsbild glauben, dass du die beiden Burschen finden würdest? Du weißt von der Welt da draußen gar nichts! Dein Platz ist hier auf dem Hof – nirgends sonst!«
Als er sich wieder umdrehen wollte, schrie Anna Maria: »Du hast sie in ihren Untergang geschickt, obwohl ich dich angefleht habe, sie nicht ziehen zu lassen. Sie haben keine Erfahrung und müssen für etwas kämpfen, was du für richtig hältst. Warum bist du nicht selbst gegangen?« Zorn lag in ihrer Stimme.
Bevor Anna Maria in der engen Kammer zurückweichen konnte, war der Vater mit einem Schritt bei ihr und gab ihr eine schallende Ohrfeige. Ihr Gesicht brannte wie Feuer, doch sie jammerte nicht und fasste sich auch nicht mit der Hand an die Wange. Mit trotzigem Blick sah sie den Vater an.
Hofmeisters Gesichtsausdruck war hart geworden. Anna Maria erkannte, dass er sich beherrschen musste, denn er hielt die Hände zu Fäusten geballt.
Sie fürchtete, dass er von seiner Meinung nicht ablassen würde, deshalb sagte sie gefasst: »In der Nacht, als sich Mutter von mir verabschiedete, habe ich ihr geschworen, dass ich auf meine Brüder aufpassen würde.«
Als ihr Vater aber selbst bei der Erwähnung der Mutter keinerlei Regung zeigte, verließ Anna Maria ohne ein weiteres Wort das Zimmer.
Copyright © dieser Ausgabe 2010 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Deana Zinßmeister
Deana Zinßmeister widmet sich seit einigen Jahren ganz dem Schreiben historischer Romane. Bei ihren Recherchen wird sie von führenden Fachleuten unterstützt, und für ihren Bestseller »Das Hexenmal« ist sie sogar den Fluchtweg ihrer Protagonisten selbst abgewandert. Die Autorin lebt mit ihrer Familie im Saarland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Deana Zinßmeister
- 2010, 511 Seiten, Maße: 11,8 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442470366
- ISBN-13: 9783442470365
- Erscheinungsdatum: 08.02.2010
Rezension zu „Die Gabe der Jungfrau “
"Fesselnd und farbenprächtig - ein historischer Roman, den man nicht mehr aus der Hand legen möchte." Iny Lorentz
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