Die Geliebte des Sarazenen
Historischer Roman
Leonore von Calven begibt sich auf Pilgerfahrt nach Jerusalem. Doch ihr Pilgergewand ist nur Schein. Der wahre Grund ihrer Reise ist ein anderer. Doch auch Karawanenführer Nadim, der Leonore in großer Gefahr das Leben rettet, verbirgt ein Geheimnis.
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Produktinformationen zu „Die Geliebte des Sarazenen “
Leonore von Calven begibt sich auf Pilgerfahrt nach Jerusalem. Doch ihr Pilgergewand ist nur Schein. Der wahre Grund ihrer Reise ist ein anderer. Doch auch Karawanenführer Nadim, der Leonore in großer Gefahr das Leben rettet, verbirgt ein Geheimnis.
Klappentext zu „Die Geliebte des Sarazenen “
Wagnisse der Liebe - eine Frau zwischen Orient und Okzident.Braunschweig zur Zeit der Kreuzzüge: Die junge Leonore von Calven begibt sich auf Wallfahrt nach Jerusalem. Was niemand weiß: Leonore trägt ihr Pilgergewand nur zum Schein. Der wahre Grund ihrer Reise muss verborgen bleiben.
Viele Gefahren lauern auf dem Weg in die Heilige Stadt. Doch die junge Frau findet hilfsbereite Gefährten - und sie ist nicht die Einzige, die ein Geheimnis hütet ...
Als Leonores Leben bedroht wird, rettet sie der Karawanenführer Nadim. Durch ihn taucht sie ein in eine faszinierende fremde Welt. Aber der Friede im Heiligen Land ist zerbrechlich. Und Leonore muss sich der Frage stellen, ob eine Christin einen Sarazenen lieben darf ...
Lese-Probe zu „Die Geliebte des Sarazenen “
Die Geliebte des Sarazenen von Christiane Lind St. Marien bei Bad Gandersheim, 1170
Die schwarze Gestalt beugte sich über sie wie ein riesiger Rabe. Leonore schreckte hoch und hob abwehrend die Arme. «Leonore, Kind, wach auf!», sagte der Unglücksvogel mit harscher Stimme. Endlich erwachte sie aus dem Dämmerschlaf und atmete auf. Das dunkle Wesen, das ihr solche Angst eingejagt hatte, war nur Schwester Methildis. Leonore versuchte sich im Licht des frühen Morgens zurechtzufinden. Hatte sie etwa die Laudes verschlafen? «Du musst aufstehen. Und zieh dir etwas Ordentliches an!» Ungewöhnlich drängend klang die Stimme der Benediktinerin, die sonst so ruhig und unerschütterlich wirkte. «Der Wagen deines Vaters wartet.» Leonore fuhr sich schläfrig durch die kurzen, dunklen Locken und versuchte, den Nachhall des Traumes abzuschütteln. Was hatte Schwester Methildis eben gesagt? «Mein Vater ist er etwa hier? Was wünscht er?» «Frag nicht, Kind.» Methildis' Stimme klang etwas sanfter. «Trage heute dein bestes Kleid. Ein neues Leben wartet auf dich. Dein Vater holt dich zu sich nach Braunschweig.» «Aber ...» Leonore setzte sich auf und fröstelte in der Kälte der Klosterzelle. Nun erst wurde sie sich der Bedeutung der Worte bewusst, mit denen die Nonne sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Leonore spürte, wie die Angst in ihr hochkroch. «Ich dachte ... ich habe gehofft, dass ich mein Leben hier mit Euch verbringen werde.» Die Benediktinerin beugte sich zu ihr hinab und strich ihr übers Haar. «Das haben wir alle erwartet. Doch dein Vater hat etwas anderes mit dir vor.»
... mehr
Leonore biss sich heftig auf die Unterlippe, eine alte Gewohnheit, die stets hervorbrach, wenn sie sich ängstigte. «Ich kenne ihn doch gar nicht.» «Hadere nicht, Kind. Eine Tochter muss dem Familienoberhaupt gehorchen. Pack nun deine Sachen und komm.» Mit diesen Worten ging Methildis und schloss die Tür des kargen Raums hinter sich. Leonore setzte sich auf und schüttelte benommen den Kopf. Ihr Vater. Warum ängstigten sie diese Worte? Müsste sie sich als gute Tochter nicht freuen, dass sie in den Schoß ihrer Familie zurückkehren durfte? Aber es war eine Familie, die sie nicht kannte. An die sie sich kaum noch erinnerte. Ihre Mutter war im Kindbett gestorben, und der Vater hatte seine Tochter in die Obhut der Benediktinerinnen gegeben, sobald sie das sechste Jahr erreicht hatte, und sich dann nicht weiter um sie gekümmert. Zehn Jahre lebte sie nun schon bei den Nonnen und betrachtete die Schwestern als ihre Familie. In Sankt Marien fühlte sie sich heimisch. Leonore fröstelte und rieb sich die Arme. Vorsichtig setzte sie ihre bloßen Füße auf den kalten Steinboden und eilte auf Zehenspitzen zu der Holztruhe, in der sie ihre wenigen Habseligkeiten aufbewahrte. Hastig zerrte sie die Kleidungsstücke heraus. Ein Lächeln zog über ihr Gesicht, als sie über die weiche Seide strich. Doch bald setzte sich wieder eine Kummerfalte auf ihre Stirn. Schwester Methildis hatte gut reden. Das beste Kleid anziehen. Die Wahl fiel leicht, wenn man nur zwei Kleider besaß. Beide hatte Leonore im letzten Jahr von ihrem Vater zugesandt bekommen und selbst umgearbeitet, damit sie ihrer zierlichen Gestalt passten. Eine noch größere Überraschung als das wertvolle Geschenk war die Nachricht gewesen, dass ihr Vater noch lebte. Gar nicht weit entfernt in Braunschweig lebte und offenbar nicht schlecht, wenn er ihr so prachtvolle Kleider schicken konnte. Zehn Jahre lang hatte sie geglaubt, ein Waisenkind zu sein, und plötzlich tauchte ihr Vater auf und mischte sich in ihr Leben ein. Sein Brief an die Äbtissin und die Anweisung, dass Leonore den Schleier nicht nehmen sollte, hatten das Mädchen tief erschüttert. Ihr Lebensweg, der so klar vorgezeichnet schien, hatte sich von einem Tag auf den anderen geändert. Schwester Methildis hatte versucht, sie zu beruhigen. «Dein Vater wollte sich alle Möglichkeiten offenhalten», meinte die Büchermeisterin und gab Leonore Handschriften zum Kopieren, um sie von ihren Sorgen abzulenken. «Vielleicht entscheidet er im nächsten Jahr, dass du für immer hier im Kloster bleiben kannst.» Doch Leonore hatte damals schon geahnt, dass es anders kommen würde. Niemand schickte einer Benediktinerin grundlos farbenfrohe Kleider. Viele Tage wartete sie, gekleidet in blaue oder türkisfarbene Seide. Wartete auf den Vater, der nicht kam. Viele Tage fürchtete sie, dass der fremde Vater sie zu sich nach Braunschweig rufen lassen würde und ihr ein Leben drohte, dem sie sich nicht gewachsen fühlte. Eine Welt, die sie schon vor langer Zeit gegen den Frieden des Klosters eingetauscht hatte. Doch die Wochen vergingen, und nichts geschah. Es schien, als hätte der Vater sie einfach wieder vergessen. Da legte Leonore die Kleider sorgfältig zusammen, verstaute sie in der Truhe und kleidete sich wieder in die Farben der Benediktinerinnen. Alle Gedanken an ihren Vater hatte sie mit den Kleidern verborgen. Heute nun kehrten die Ängste zurück. Draußen wartete ein Wagen, der sie aus Sankt Marien entführen würde. Zu einem Fremden, den sie Vater nennen sollte. Der türkisfarbene Stoff raschelte, als sie sich das Kleid überzog. Leonore schluckte, Tränen traten ihr in die Augen, und sie fühlte sich mit einem Mal, als ob sie an einem tiefen Abgrund stünde, kurz davor, hinuntergestoßen zu werden. Dabei wollte sie sich nur noch verkriechen. Sie warf sich aufs Bett, vergrub das Gesicht im Kissen und weinte über das Geschick, das ihr Leben getroffen hatte. In ihrer Verzweiflung hatte sie nicht bemerkt, dass Schwester Methildis zurückgekehrt war. «Komm, Kind, es wird Zeit.» Die Nonne reichte ihr die Hand und zog sie hoch. Leonore wischte sich die Augen und versuchte Fassung zu gewinnen. Ihr kamen leicht die Tränen, aber Weinen würde jetzt nicht helfen. Nein, sie wollte stark und tapfer sein und ihrem Vater gefasst gegenübertreten. Eilig kleidete sie sich an, faltete das blaue Kleid zusammen und legte es sorgfältig in einen Beutel. Die wenigen anderen Kleidungsstücke, die ihr gehörten, folgten. Obenauf legte sie ihren größten Schatz, ein Pergament mit Bibelworten, das ihr die Büchermeisterin geschenkt hatte. Sie nickte Schwester Methildis zu und warf einen letzten Blick in die Kammer, in der sie einen Großteil ihres bisherigen Lebens verbracht hatte. Stumm schlich Leonore hinter der alten Nonne her, versuchte, die Gänge, durch die sie so häufig gelaufen war, mit den Augen in sich aufzunehmen, um sich später an sie erinnern zu können. Im Hintergrund hörte sie die vertrauten Geräusche des Tagesbeginns im Kloster. Die Schwestern strebten in die kleine Kapelle zu den Laudes. Nie hätte Leonore geglaubt, dass sie mit Sehnsucht an das Morgengebet denken würde. Heute würde sie das Kloster verlassen, ohne noch einmal dem Offizium nachkommen zu können. Wehmütig erinnerte sie sich an die vielen, vielen Morgen, an denen sie, knapp an Zeit, die Gänge entlanggeeilt war, um noch rechtzeitig zu den Morgengebeten in der Kapelle zu sein. Wie oft hatte sie sich gewünscht, noch etwas schlafen zu können, sich in die Decke zu schmiegen, und hatte die eiserne Disziplin der Benediktinerinnen gefürchtet. Als Kind hatte sie ihre Mühe mit den Ritualen und Regeln der Schwestern gehabt, hatte oft mit sich und dem Leben gehadert, weil es sie an diesen Ort geführt hatte. Im Laufe der Jahre aber lernte Leonore die Sicherheit und Beständigkeit zu schätzen, die das Klosterleben ihr bot. Bald konnte sie sich ein Leben außerhalb des Klosters kaum mehr vorstellen. Sie genoss es, jeden Tag ihren Aufgaben im Kräutergarten oder in der Bibliothek nachzugehen. Sie lächelte, als sie an die geliebten Arbeiten dachte. Wie gern hegte und pflegte sie die Kräuter und Pflanzen im Klostergarten. Stunde um Stunde hatte sie unter der Anleitung von Schwester Flordelis vor den Beeten gekniet, die warme Erde gerochen und sich den Setzlingen gewidmet. Jede einzelne Pflanze liebten die Nonnen, Schnecken und andere Schädlinge verfolgten sie dagegen mit aller Härte. Für Leonore blieb der Garten ein freundlicher Ort, wo sie ihren Gedanken nachhängen und einer Tätigkeit nachgehen konnte, die sie beherrschte. Jedes Jahr wieder bewunderte sie die Schöpfung, wenn aus den Samen und Setzlingen Kräuter und Blumen erwuchsen. Neben dem Kräutergarten galt ihre Liebe der Arbeit in der Klosterbibliothek. Die Stunden, in denen sie Bücher abschrieb und mit größter Sorgfalt Buchstaben auf Pergamente malte, zählten für Leonore zu den schönsten Augenblicken ihres Lebens. Zwischen den Schriftrollen, unter der Anleitung von Schwester Methildis, hatte das unglückliche Kind eine Welt entdeckt, in der es nicht ungeschickt und fehl am Platze wirkte, sondern für die es alle Fähigkeiten und Fertigkeiten mitbrachte. Nach kurzer Zeit beherrschte sie die Kunst des Schreibens und der Büchermalerei so gut wie ihre Lehrmeisterin. Wer nur würde jetzt ihren Platz einnehmen und die Pergamente kopieren? Etwa Walpurga mit den dicken Händen und ungeschickten Fingern, die stets Tinte über die Schriftrollen verschüttete? Oder, schlimmer noch, Margaret, die Quirlige, die nie stillsitzen konnte und sich ständig verschrieb? Leonore seufzte. Warum musste sie alles aufgeben, um nach Braunschweig zu reisen? In eine fremde Stadt, zu einem Unbekannten, der sich ihr Vater nannte? Warum hatte er sie in all den Jahren nicht ein einziges Mal besucht, sondern schickte jetzt nach ihr wie nach Gesinde? Schwester Methildis drehte sich zu ihr um, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. «Komm, Kind.» Die Nonne lächelte ihr zu. «Wir Frauen müssen uns in unser Schicksal fügen. So will es unsere Bestimmung.» «Aber nein!», brach es aus Leonore heraus. «Das ist nicht wahr. Es ist doch nicht das Schicksal, das über mein Leben entscheidet. Sondern ein Fremder, der nach so vielen Jahren kommt und sich mein Vater nennt.» Eine Welle von Angst überkam sie plötzlich, und sie fiel vor der alten Nonne auf die Knie. «Bitte, Schwester Methildis, bitte. Liefert mich nicht der Welt und ihren Schrecken aus. Alles will ich tun, jeden Dienst, den Ihr mir auftragt. Ich werde auch jede Handarbeit und Stickerei ohne Murren verrichten, die Ihr mir gebt. Aber bitte schickt mich nicht fort.» Die Nonne schüttelte nur stumm den Kopf. Mit sanfter, aber kräftiger Hand zog sie das Mädchen empor. «Es ist nicht an uns, über dein Leben zu bestimmen, mein Kind. Füge dich in dein Schicksal und vertraue dem Herrn. Vergiss nie, der Mensch denkt, doch Gott lenkt.» Leonore sank in sich zusammen, als sie erkannte, dass von Methildis keine Hilfe zu erwarten war. Wenn nicht einmal die Büchermeisterin ihr zur Seite stand, von wem konnte sie dann noch Unterstützung erhoffen? Sollte sie vielleicht fliehen? Sich verstecken, sich dem Willen des Mannes entziehen, der über sie bestimmen wollte wie über eine Handelsware? Einfach loslaufen, bis zum Tor, hinausstürmen und ihr Glück allein versuchen, schoss es ihr durch den Kopf. Doch sofort wurde ihr bewusst, wie töricht dieser Plan war. Wohin konnte ein Mädchen schon fliehen, wenn es ein ehrbares Leben behalten wollte? Wovon sollte sie leben? Manchmal flüsterten die Novizinnen einander Geschichten über gefallene Jungfrauen zu und schüttelten mit einem Schauder der Entrüstung die Köpfe. Nein, das Leben einer geflohenen Nonne war nichts, was sie vernünftigerweise in Erwägung ziehen konnte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihr Schicksal wie alle Frauen anzunehmen und sich dem Willen ihres Vaters zu beugen. Leonore schickte ein Stoßgebet zur Muttergottes und bat um Beistand und Hilfe für die kommende Zeit. Mit hängenden Schultern folgte sie Methildis auf den Hof und schlich zum Tor. Das neue Kleid kratzte. Der edle Stoff und die leuchtenden Farben wirkten plötzlich schal, schien es ihr doch, als hätte sie dafür ihr Leben verkauft. Chunegundis, die Pförtnerin, blickte ihnen neugierig entgegen. Neben ihr wartete Mutter Hildegard, die Äbtissin. Wie stets strahlte sie Ruhe und Zufriedenheit aus. Leonore hatte sich oft gewünscht, so gelassen und furchtlos durchs Leben gehen zu können wie die Klostervorsteherin. Mutter Hildegard umarmte Leonore und flüsterte einen Segen. Dann zog sie ein silbernes Kreuz aus dem Ärmel ihres Habits hervor und überreichte es Leonore. «Bitte, meine Tochter. An dem Tag, an dem der Herr dich in unsere Obhut befahl, gab dir deine Amme dieses Schmuckstück als Erinnerung an deine Mutter mit.» Die Äbtissin zuckte die Achseln. «Da du dich dem Herrn Jesu Christi anvermählen wolltest, hielt ich es nicht für klug, dich an dein altes Leben zu erinnern. Doch nun ...» Die Äbtissin umarmte Leonore, hängte ihr schnell das Kreuz um, das an einer zarten Kette hing, und eilte davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Mit ihr schwand Leonores letzte Hoffnung. Nur Mutter Hildegard hätte sie vor dem Ansinnen ihres Vaters retten können. «Sei vorsichtig in der Welt.» Chunegundis blickte Leonore mit tiefem Ernst in die Augen. «Und halte dich an die Gebote. Möge der Herr dich schützen.» Leonore schluckte. Zum ersten Mal, seitdem sich vor Jahren die Pforte des Klosters hinter ihr geschlossen hatte, öffnete sich das Tor nun wieder für sie. Sie holte tief Luft und spähte hinaus. Methildis folgte ihr und zeigte auf einen Wagen. Zwei Pferde waren davorgespannt und stampften mit den Hufen, als ob sie es nicht erwarten könnten, sich auf den Weg nach Braunschweig zu machen. Neben ihnen stand ein Mann und schaute Leonore entgegen. Sie musterte ihn verstohlen und erschrak. Verwegen sah er aus, mit dunklen Augen und erdfarbenen Haaren. Sollte sie etwa allein mit ihm reisen? Allein mit einem Mann? Leonores Kehle zog sich zusammen, und sie spürte, wie ihre Hände zu zittern begannen. «Bitte, ich weiß doch nichts von der Welt.» Mit letzter Verzweiflung schaute sie sich zu Schwester Methildis um. «Ich will auch gar nichts von ihr wissen. Bitte, kann ich nicht doch einfach bei Euch bleiben?» Doch die Nonne schüttelte den Kopf und hob die Hände in einer hilflosen Geste. Hastig umarmte sie Leonore und segnete sie mit einem Kreuzzeichen. Mit einem letzten Nicken drehte Methildis sich um und ging zur Pforte. Die Tür schloss sich mit einem dumpfen Schlag hinter ihr. 2
eonore stand allein im Halbdunkel und musterte den Wagen und die Pferde, weil sie sich nicht traute, den Mann offen anzusehen. Sie spürte den Blick des Kerls auf sich ruhen, der immer noch schweigend neben dem Fuchs und dem Rappen stand. Leonore trat von einem Fuß auf den anderen und kratzte sich verlegen am Arm. Sollte sie auf den Mann zugehen, oder musste eine Frau warten, bis er sie zum Kommen aufforderte? Wie sollte sie einen Knecht ansprechen? Oder gehörte er nicht zum Gesinde? Nicht einmal die einfachsten Regeln des Lebens außerhalb der Klostermauern kannte sie, das wurde ihr jetzt bewusst. Sie spürte, wie die Röte ihr den Hals und die Wangen hinaufkroch. Einen flüchtigen Gedanken lang ärgerte sie sich über ihre Schwäche, dann nahm sie sich schließlich zusammen und näherte sich zögernd dem Gefährt. Helle Leinenplanen bedeckten die Seiten des Leiterwagens, der Leonore an die Wagen erinnerte, mit denen die Bauern Waren ins Kloster brachten oder Gemüse und Obst für den Markt abholten. Sollte es möglich sein, in einem derartig einfachen Gefährt die Strecke bis nach Braunschweig zu überwinden? Sie schluckte. Der Weg würde sicher zwei Tagesreisen in Anspruch nehmen. Zwei Tage und zwei Nächte allein mit diesem Mann! Was mutete ihr Vater ihr nur zu? Der Wagenlenker grinste ihr unverhohlen entgegen, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Leonore sandte einen stummen Hilferuf an den heiligen Eustachius und bat um Beistand in dieser schlimmen Stunde. Da schob sich eine Hand aus dem Wageninnern und schlug die Plane zur Seite. Eine Frau, nur wenige Jahre älter als Leonore, schaute heraus und rief ihr zu: «Nun komm schon, Mädchen. Der Weg nach Braunschweig dauert seine Zeit. Und dein Vater wartet nicht gern.» Ihre helle Stimme klang ungeduldig. Wer immer diese Frau auch war, Leonore erschien sie wie ein Geschenk des Himmels. Wenigstens musste sie die Fahrt nach Braunschweig nicht allein mit dem Mann verbringen. Sie holte tief Luft und drängte die Tränen zurück. Vorsichtig kletterte sie in das Wageninnere und nahm auf einer Holzbank Platz. Die Frau, die sie zur Eile gedrängt hatte, stand mit dem Rücken zu ihr und beugte sich über eine Truhe. Leonore räusperte sich. Die andere schaute kurz auf, nickte ihr zu und beugte sich noch etwas tiefer. Endlich tauchte sie auf und setzte sich Leonore gegenüber. «Hier, nimm die Cappe.» Sie reichte Leonore einen dunkelgrauen Stoff. Als sie Leonores fragenden Blick sah, schüttelte die Frau den Kopf. «Das ist ein Reisemantel. Los, zieh ihn über. Oder willst du dein Gewand mit dem Schmutz der Straße ruinieren? Außerdem hält er warm, die Nächte können noch frisch sein.» Leonore nickte zum Dank. «Wer seid Ihr?», flüsterte sie und räusperte sich erneut, um Gewalt über ihre Stimme zu bekommen. schwatzen.
Copyright © 2010 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
eonore stand allein im Halbdunkel und musterte den Wagen und die Pferde, weil sie sich nicht traute, den Mann offen anzusehen. Sie spürte den Blick des Kerls auf sich ruhen, der immer noch schweigend neben dem Fuchs und dem Rappen stand. Leonore trat von einem Fuß auf den anderen und kratzte sich verlegen am Arm. Sollte sie auf den Mann zugehen, oder musste eine Frau warten, bis er sie zum Kommen aufforderte? Wie sollte sie einen Knecht ansprechen? Oder gehörte er nicht zum Gesinde? Nicht einmal die einfachsten Regeln des Lebens außerhalb der Klostermauern kannte sie, das wurde ihr jetzt bewusst. Sie spürte, wie die Röte ihr den Hals und die Wangen hinaufkroch. Einen flüchtigen Gedanken lang ärgerte sie sich über ihre Schwäche, dann nahm sie sich schließlich zusammen und näherte sich zögernd dem Gefährt. Helle Leinenplanen bedeckten die Seiten des Leiterwagens, der Leonore an die Wagen erinnerte, mit denen die Bauern Waren ins Kloster brachten oder Gemüse und Obst für den Markt abholten. Sollte es möglich sein, in einem derartig einfachen Gefährt die Strecke bis nach Braunschweig zu überwinden? Sie schluckte. Der Weg würde sicher zwei Tagesreisen in Anspruch nehmen. Zwei Tage und zwei Nächte allein mit diesem Mann! Was mutete ihr Vater ihr nur zu? Der Wagenlenker grinste ihr unverhohlen entgegen, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Leonore sandte einen stummen Hilferuf an den heiligen Eustachius und bat um Beistand in dieser schlimmen Stunde. Da schob sich eine Hand aus dem Wageninnern und schlug die Plane zur Seite. Eine Frau, nur wenige Jahre älter als Leonore, schaute heraus und rief ihr zu: «Nun komm schon, Mädchen. Der Weg nach Braunschweig dauert seine Zeit. Und dein Vater wartet nicht gern.» Ihre helle Stimme klang ungeduldig. Wer immer diese Frau auch war, Leonore erschien sie wie ein Geschenk des Himmels. Wenigstens musste sie die Fahrt nach Braunschweig nicht allein mit dem Mann verbringen. Sie holte tief Luft und drängte die Tränen zurück. Vorsichtig kletterte sie in das Wageninnere und nahm auf einer Holzbank Platz. Die Frau, die sie zur Eile gedrängt hatte, stand mit dem Rücken zu ihr und beugte sich über eine Truhe. Leonore räusperte sich. Die andere schaute kurz auf, nickte ihr zu und beugte sich noch etwas tiefer. Endlich tauchte sie auf und setzte sich Leonore gegenüber. «Hier, nimm die Cappe.» Sie reichte Leonore einen dunkelgrauen Stoff. Als sie Leonores fragenden Blick sah, schüttelte die Frau den Kopf. «Das ist ein Reisemantel. Los, zieh ihn über. Oder willst du dein Gewand mit dem Schmutz der Straße ruinieren? Außerdem hält er warm, die Nächte können noch frisch sein.» Leonore nickte zum Dank. «Wer seid Ihr?», flüsterte sie und räusperte sich erneut, um Gewalt über ihre Stimme zu bekommen. schwatzen.
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Autoren-Porträt von Christiane Lind
Christiane Lind, Jahrgang 1964, wuchs im niedersächsischen Zonenrandgebiet auf. Heute lebt sie abwechselnd mit einem Ehemann in Duisburg und fünf Katern in Kassel. Die promovierte Sozialwissenschaftlerin arbeitete in unterschiedlichen Berufen, bis sie sich als Unternehmensberaterin und Sozialforscherin selbstständig machte. Neben Sachbüchern und Artikeln in Fachzeitschriften hat Christiane Lind bereits zahlreiche Kurzgeschichten veröffentlicht.
Bibliographische Angaben
- Autor: Christiane Lind
- 2010, 384 Seiten, Maße: 11,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 349925459X
- ISBN-13: 9783499254598
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