Die geschmierte Republik
Wie Politiker, Beamte und Wirtschaftsbosse sich kaufen lassen
Schiebereien im Sport, Schmiergeldzahlungen von Pharmakonzernen, Steuergeschenke gegen Parteispenden. In Deutschland gebe es keinen gesellschaftlichen Bereich, in dem nicht durch Bestechung von Menschen in Schlüsselpositionen nachgeholfen werde,...
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Produktinformationen zu „Die geschmierte Republik “
Schiebereien im Sport, Schmiergeldzahlungen von Pharmakonzernen, Steuergeschenke gegen Parteispenden. In Deutschland gebe es keinen gesellschaftlichen Bereich, in dem nicht durch Bestechung von Menschen in Schlüsselpositionen nachgeholfen werde, meint Bestsellerautor Thomas Wieczorek – und belegt es äußerst eindrucksvoll.
Klappentext zu „Die geschmierte Republik “
Es ist etwas faul in Deutschland, Korruption wohin man schaut: Ob es um systematische Schmiergeldzahlungen von Pharma- und Baukonzernen geht oder die bestens vergütete Zustimmung von Betriebsräten zum Stellenabbau, um Schiebereien im Sport oder lukrative Steuergeschenke gegen üppige Parteispenden - es gibt keinen gesellschaftlichen Bereich, in dem nicht durch Bestechung von Menschen in Schlüsselpositionen kräftig nachgeholfen wird. Thomas Wieczorek deckt die eklatanten Missstände auf. Sein Fazit: Der Kampf gegen die Korruption ist aussichtslos, solange die Mächtigen aus Politik, Wirtschaft und den Verbänden an diesen Machenschaften nichts ändern können - und wollen.
Lese-Probe zu „Die geschmierte Republik “
Die geschmierte Republik von Thomas WieczorekVorab
Korruption ist die Bewässerung vorhandener Sümpfe.
Wolfgang Gruner, Kabarettist (1926 - 2002)
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Ob zwanzig Haare viel oder wenig sind, so weiß es der Volksmund, kommt ganz darauf an: Auf dem Kopf sind das relativ wenige, in der Suppe relativ viele. So ähnlich ist es mit der Korruption.
Japan ist das Land des Lächelns, Finnland das Land der tausend Seen und Deutschland das Land der Korruption. Laut einer Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC) und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg gibt es allein in deutschen Behörden gut zwanzigtausend Korruptionsfälle jährlich. »Gefährdet« sind demnach vor allem Mitarbeiter aus dem gehobenen Dienst (42 Prozent). Zudem werden circa 40 Prozent der aufgedeckten Straftaten von Beamten der unteren Laufbahn wie auch in leitenden Positionen begangen. Die Studie ergab auch, dass maximal 80 Prozent der Straftaten angezeigt wurden. Rechnet man die Routinebestechung in der Wirtschaft und im Alltag der kleinen Leute dazu, so kommt man sicherlich auf weit über hunderttausend Fälle: dreihundert Korruptionsdelikte pro Jahr wären relativ wenig, dreihundert pro Tag sind relativ viel.
Und selbst dies ist nur ein Bruchteil. Die Dunkelziffer der Korruptionsdelikte schätzt »Deutschlands Korruptionsfahnder Nummer eins« , der frühere Frankfurter Oberstaatsanwalt Wolfgang Schaupensteiner, auf 95 Prozent. Erschwerend für die Ermittlungen ist ihm zufolge, dass die Opfer meist keine Einzelpersonen oder kleinere Gruppen sind, sondern dass es sich um die Steuerzahler, die Gemeinde oder den Staat handelt und dass es nur in Ausnahmefällen Zeugen gibt. Zudem handelt es sich um ein »Beziehungsgeflecht hochintelligenter Wirtschaftsstraftäter«, das »bis in die Spitzen der Behörden und großer Konzerne« reicht. Besonders beklagt Schaupensteiner den Mangel an politischer Unterstützung, weil »der Korruptionssumpf längst in die Ministerien geschwappt ist«.
Glaubt man der erwähnten Studie, so halten 48 Prozent der Bundesbürger Korruption in Behörden für stark verbreitet. »In der Bevölkerung besteht die Wahrnehmung, dass Bestechung und Unterschlagung in öffentlichen Verwaltungen üblich sind«, sagte PwC-Experte Steffen Salvenmoser.
Vorneweg in Sachen Korruption sind standesgemäß die Hauptstadtbehörden, wie ebenfalls PwC ermittelte. Demnach wurden bereits 68 Prozent (Bundesdurchschnitt: 52 Prozent) Opfer einschlägiger Kriminalität.
»Deutschland verliert im Kampf gegen die Korruption«, unkte Welt Online am 26. Oktober 2011. Nichts, aber auch gar nichts deutet darauf hin, dass die Mächtigen aus Politik, Wirtschaft und Finanzadel auch nur das Geringste an diesem fatalen Trend ändern könnten oder auch nur wollten. Ein paar schwarze Schafe sind wohl nie zu verhindern und auch nicht weiter schlimm. Wenn aber die ganze Herde aus schwarzen Schafen mit einer Handvoll weißen besteht und dies in unserer gegenwärtigen Wirtschaftsordnung bereits angelegt ist, dann herrscht Alarmstufe Rot - oder sollte es zumindest. In der aktuellen Weltrangliste der am wenigsten von Korruption betroffenen Staaten belegt Deutschland weit hinter dem Spitzentrio Dänemark, Neuseeland und Singapur nur knapp vor Barbados gemeinsam mit Österreich Platz 15 / 16 und wäre damit in der Fußballbundesliga in akuter Abstiegsgefahr.
Eigentlich ist nicht der gebührenpflichtige Intimkontakt das älteste Gewerbe der Welt, sondern die Korruption: War das verführerische Lächeln, mit dem Eva ihren Paradiesmitbewohner Adam zum verbotenen Apfelverzehr bewegte, etwas anderes als Bestechung? Und bereits Gaius Iulius Caesar sagte mit der Lex Iulia de repetundis der ausufernden Korruption den Kampf an, indem er Beamten verbot, Geld von Dritten anzunehmen. Der Religionswissenschaftler Karl Rennstich berichtet ausführlich über »Korruption in der Umwelt des Alten Testaments« und »Korruption in der Umwelt des Neuen Testaments«. Bestechung und Bestechlichkeit sind also alles andere als Modeerscheinungen. Allerdings zeigen sie sich in kapitalistisch regulierten Gesellschaften in einer ganz speziellen Variante.
1. Ist Korruption ein Problem unter vielen?
Korruption ist nicht irgendein Missstand. Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit, Menschenwürde, Vollbeschäftigung, Solidarität, Stabilität, Gesundheitswesen, Bildung, Altersversorgung: Praktisch jedes Problem könnte - isoliert betrachtet - unter heutigen Bedingungen prinzipiell gelöst werden. Anders verhält es sich mit der Korruption: Sie ist nicht irgendein Problem, sondern Hauptangelpunkt und Sargnagel nicht nur unserer Form der Marktwirtschaft, sondern jeder denkbaren Gesellschaftsordnung. »Jeder hat seinen Preis«: Wenn das zutrifft und nahezu alles käuflich ist, dann werden Gesetze und Politik nicht nach den Interessen der Bevölkerung gemacht, sondern meistbietend versteigert; und selbst diese Gesetze und Projekte werden ihrerseits durch Korruption missachtet oder ausgehebelt. Der Korruptionsforscher Werner Rügemer betont, die Korruption gehöre »zum systemischen Instrumentarium der ›unsichtbaren Hand< der ›Marktwirtschaft< in den Kapitaldemokratien«. Der gegenwärtige neoliberale Globalismus beinhalte »die bisher weitestgehende, nachhaltige Entfesselung der Korruption in der Geschichte«. Korruption werde »hier ständig modernisiert und legalisiert« und entziehe sich »in den meisten Fällen der öffentlichen Wahrnehmung«.
Kriminelle Spitzenpolitiker kommen ohne Gefängnisstrafe davon, weil ihre Inhaftierung angeblich dem »Ansehen der Republik« und dem »Vertrauen in die Politik« schaden würde. Schwarzarbeitgeber gehen nahezu straffrei aus, weil - wie es heißt - eine hohe Geldbuße und erst recht ein Gefängnisaufenthalt Arbeitsplätze gefährde. Die entsprechende Beeinflussung (Bestechung) des Behördenapparats und der Justiz reicht vom Karrieresprung bis zur Strafversetzung - eine Drohung oder deren Umsetzung ist schließlich nichts anderes als negative Korruption: Erpressung ist »Bestechung umgekehrt«. Ein Steuerprüfer fährt plötzlich Ferrari, ein Baudezernent legt sich eine Jacht zu, ein Umweltkontrolleur zieht ins Villenviertel - und der kritische Bürger, sofern er es überhaupt mitbekommt, denkt sich seinen Teil. Aber dies sind nur die Spitzen eines gigantischen Eisbergs.
Korruption, wohin man blickt: Ob Zustimmung von Betriebsräten zu Lohnkürzung und Stellenabbau, Sicherung von Staatsaufträgen, Genehmigung eigentlich verbotener Waffenexporte, Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken, geschönte Umweltgutachten oder Bestechung von Ärzten durch Pharmakonzerne und Steuergeschenke gegen »Parteispenden« - es gibt kaum einen Bereich, in dem nicht durch Bestechung nachgeholfen wird. In diesen, aber auch bei anderen spektakulären Fällen wie etwa Steuerhinterziehung oder abnorm günstigen Angeboten an Privatleute werden ehrliche (oder auch nur naive) Firmenmitarbeiter oder Staatsbedienstete bestochen oder massiv bedroht, strafversetzt und sogar rausgeworfen bzw. zwangspensioniert. Die meist jährlich erscheinenden Fallsammlungen der Rechnungshöfe und des Bundes der Steuerzahler sind fast so umfangreich wie die Telefonbücher einer Großstadt - Konsequenzen gibt es aber in der Regel keine.
Zu den unermesslichen Schäden für Leib und Leben sowie für den Staatshaushalt kommen die ideellen. Die Kleinen nehmen sich ein Beispiel an den hochkriminellen »Eliten«. Für »kleine Aufmerksamkeiten« gibt's den früheren Termin beim Arzt, Friseur oder Anwalt, den besseren Tisch im Restaurant, das Zimmer mit Meerblick, und beim TÜV oder bei der Fahrprüfung lässt man schon mal fünf gerade sein. Auch Gebrauchtwagen gibt's zuweilen erheblich billiger, und den Gewinn zu Lasten des Autohausbesitzers teilen sich Verkäufer und Käufer. Und so weiter, und so fort.
2. Ist Korruption lebensgefährlich?
Nicht selten bedroht und kostet Korruption Menschenleben. Man spart aus Kostengründen an notwendigen Sicherheitstests, verwendet minderwertiges bzw. untaugliches Material oder exportiert illegal Waffen in Krisengebiete, frei nach der Devise: »Wird schon gutgehen, das merkt doch keiner.« Die Bayer AG bestach gemeinsam mit anderen Pharma-Riesen japanische Regierungsmitglieder, um anderswo verbotene HIV-infizierte Blutermedikamente verkaufen zu können. Ergebnis: Tausende HIV-Infizierte, über hundert Tote, 100 Millionen Euro Schadenersatz durch Bayer. Das Bahnunglück von Eschede am 3. Juni 1998 mit einhunderteins Toten und achtundachtzig Schwerverletzten war auf Materialermüdung, schlampige Wartung und, laut Eisenbahn-Bundesamt, schwere Verletzungen der Organisations- und Verkehrssicherungspflicht zurückzuführen. Hier hatte der Bahn-Vorstand offenbar direkt in das Prüfungsverfahren des Bundesbahn-Zentralamtes eingegriffen. Ertappte Lieferanten und Verkäufer von Gammelfleisch treffen auf »zugedrückte Augen«. Und wenn's doch auffliegt, hält man die Namen der schuldigen Firmen möglichst geheim. Störanfällige AKWs werden am Netz gelassen, die Strompreise dem »guten Willen« der Konzerne überlassen. Genauso gut könnte man an einen Tiger appellieren, Vegetarier zu werden. Im Gegenzug für derlei Entgegenkommen winken den Willigen und Pflegeleichten »legale« Parteispenden, traumhafte Dankeschönjobs oder als Info-Veranstaltungen getarnte Traumreisen.
Kaum irgendwo wird die Vermutung, dass die Raffgier ohne alle Skrupel und Grenzen zu unserer Marktwirtschaft gehört wie das Plagiat zu Guttenberg, so nachhaltig bestätigt wie bei ihrem legitimen Kind, der Korruption. Eines der Kennzeichen der Marktwirtschaft ist die Konkurrenz, und zwar auf buchstäblich allen Ebenen: Wenn irgendein Marktteilnehmer im Kampf gegen die anderen Marktteilnehmer unlautere Mittel einsetzt, sind die anderen gezwungen mitzumachen. Wenn daher überhaupt eingeräumt wird, dass man sich unsauberer Methoden bedient hat, dann fehlt niemals der Hinweis, der Konkurrent habe ja schließlich angefangen.
In Deutschland war die Bestechung bei Auslandsgeschäften bis 1999 sogar steuerlich absetzbar und bis August 2002 immer noch völlig legal. Josef Wieland, Professor für Wirtschaftsethik in Konstanz, meint hierzu: »In der Republik galt eben die offizielle Doktrin, dass man in Ländern der Dritten Welt ohne Bestechung gar nicht arbeiten kann.«
3. Richtet Korruption die Gesellschaft zugrunde?
Der durch Korruption verursachte materielle und ideelle Schaden für die Gesellschaft liegt auf der Hand. Wenn Verträge nichts mehr wert sind, wenn Politiker pauschal unter Korruptionsverdacht stehen und man letztlich niemandem mehr trauen kann, richtet sich die Gesellschaft selbst zugrunde. Schon nennt der Volksmund seine Eliten »Ritter der offenen Hand« oder »die besten Politiker, die man für Geld kaufen kann«.
Die Tragikomödie der Korruption besteht darin, dass sie einerseits zwar nicht in der Theorie, wohl aber in der Praxis zwangsläufige Voraussetzung freier Märkte ist - ohne Bestechung läuft in verschiedenen Branchen oder Regionen nichts. Andererseits treibt die Korruptionskonkurrenz die Bestechungskosten ins Uferlose, so dass Korruption unterm Strich für alle Unternehmen teurer ist als ehrlicher Wettbewerb. Darüber hinaus verhindert Korruption systematisch den technischen Fortschritt, also die »Entwicklung der Produktivkräfte«. Noch bestens in Erinnerung ist der Maut-Skandal von 2003: Statt ein funktionstüchtiges System wie das der Schweiz zu übernehmen, schanzte das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Daimler und der Telekom den Auftrag zu. Schaden: 6,5 Mrd. Euro.
Was also tun gegen die allgegenwärtige Korruptionsseuche? Zwar schreibt die US-amerikanische Korruptionsforscherin Susan Rose-Ackerman 1996 in einem Anflug von neoliberalem schwarzem Humor: »Wenn der Staat weder Exporte verbieten noch Geschäftslizenzen vergeben und Subventionen verteilen kann« - also letztlich keinerlei Befugnisse mehr hat -, »wäre Bestechung sinnlos.« Aber selbst eine (bislang nur im neoliberalen Modell existierende) völlig freie und nur durch den Polizeistaat abgesicherte Marktwirtschaft wäre schnell am Ende, wenn die Schlüsselpositionen und Schalthebel der Macht mafiös unterwandert würden, denn, wie Susan Rose-Ackerman betont, auch der schlankeste Staat hat Bereitschaftspolizisten mit Ermessensspielraum - also mit Korruptionspotenzial. So beißt sich die Katze in den Schwanz.
Konsequent zu Ende gedacht, wäre dieser Teufelskreis der Korruption nicht nur die Götterdämmerung des Rechtsstaats und der Marktwirtschaft, sondern sogar jeglicher Zivilisation. Denn spätestens seit Thomas Hobbes wissen wir, dass »der Mensch dem Menschen ein Wolf« und folglich das ungeregelte und gesetzlose Zusammenleben ein »Krieg jeder gegen jeden« sein kann. In seinem Hauptwerk Leviathan schreibt Hobbes, »dass, solange Menschen ohne eine gemeinsame Macht leben, die sie alle in Bann hält, sie sich in dem Zustand befinden, den man Krieg nennt; und dabei handelt es sich um einen Krieg aller Menschen gegen alle Menschen«.
Auch Reichskanzler Otto von Bismarck sah dieses Problem, das sich als Krieg Arm gegen Reich anbahnte. Nur diese Angst, nicht etwa irgendein christlich-moralischer Gedanke, war das Motiv seiner Sozialreformen.
Aufschlussreich, dass selbst der bedeutendste Politiker des Deutschen Reichs die Gesellschaft offenbar vorwiegend in Bestechende und Bestochene aufteilt und dies augenscheinlich für normal hielt. Dies entspricht der von Immanuel Kant angedachten These des deutsch-österreichischen Staatsrechtlers Georg Jellinek (1851 - 1911) von der normativen Kraft des Faktischen: Wenn zu viele Leute ständig Gesetze, Vorschriften oder gesellschaftliche Spielregeln missachten und meistens ohne Strafe oder Blamage davonkommen, gilt dieses Verhalten irgendwann als normal. Das gilt für Bierdosenberge nach Freilichtkonzerten, Spickzettel bei Examensklausuren und »Souvenirs« in Form von Kneipengläsern genauso wie für Versicherungsbetrug, Steuerschummelei und eben Korruption. Für einen Zwanziger ist plötzlich doch noch ein Hotelzimmer frei, und für eine Gratis-Flatrate in Papas Restaurant wird aus der Fünf in Mathe die versetzungsrettende Vier. Dass Korruption überhaupt entsteht und zum Normalzustand wird, ist freilich nur möglich durch den völlig tabulosen Eigennutz, den viele Neoliberale für genetisch bedingt halten, ähnlich wie Rassisten die Intelligenz ganzer Völker. Bestechung und Bestechlichkeit, also strafbare, vertragswidrige oder schlicht unmoralische und asoziale Handlungen im großen Maßstab setzen dieser kruden Theorie nach voraus, dass dem Menschen der skrupellose Egoismus quasi in die Wiege gelegt sei, dass also Regeln wie »Geld regiert die Welt« und »Jeder hat seinen Preis« Naturgesetze seien wie Schwerkraft und Thermodynamik. Die windige Hypothese vom homo oeconomicus - zu Deutsch etwa: Raffke oder Gierschlund - ist aber tatsächlich ein Kernstück der neoliberalen »Lehre« und ihrer Unterabteilung »Neue Politische Ökonomie«. Deren Begründer Antony Downs gibt zu Protokoll: »Wenn wir von rationalem Verhalten sprechen, meinen wir stets rationales Verhalten, dem primär eigennützige Absichten zugrunde liegen.« Folglich erscheinen Solidarität, Rücksichtnahme und erst recht Altruismus als »irrational«, und wenn Wissenschaftler »irrational« sagen oder schreiben, dann meinen sie meist »nicht ganz dicht«, »Sprung in der Schüssel« oder »therapiebedürftig«: Ehrlich währt am längsten - diese Volksweisheit bedeutet entgegen einem verbreiteten Irrtum ja nicht, dass Ehrlichkeit sich langfristig auszahlt, sondern dass man damit am längsten braucht, es zu etwas zu bringen.
In gewisser Weise stimmt das sogar: Da bekanntlich jede Gemeinschaft ihre Menschen »erzieht«, setzt sich eben in einer ausschließlich auf Selbstbereicherung orientierten neoliberalen Gesellschaft der vor nichts zurückschreckende Profitjäger am besten durch, und »Der Ehrliche ist der Dumme«.
Mit Vorsicht zu genießen ist allerdings auch das pauschale Jammern über eine »gefühlskalte Egoistengesellschaft«. Macht man den Leuten nämlich weis, sie hielten sich so ziemlich als Einzige an Recht und Gesetz, an die Regeln von Anstand und Moral, dann fühlen sie sich irgendwann tatsächlich als ausgenutzte »arme Irre« und beteiligen sich fortan lieber am Hauen und Stechen aller gegen alle: Jeder ist sich selbst der Nächste. Und diese Haltung kann leicht um sich greifen wie eine Seuche. Ein einziger Drängler an der Bushaltestelle kann eine geordnete Warteschlange in eine schubsende Horde verwandeln, und ein einziger hupender Autofahrer im Berufsverkehrsstau initiiert oft ein ganzes Hupkonzert. Aber sind wir als Kinder dieses Wirtschaftssystems nicht alle so? Der Herdentrieb funktioniert jedenfalls auch in die andere Richtung: »Oder-Hochwasser erzeugt eine Welle der Hilfsbereitschaft in ganz Deutschland« - so oder ähnlich lauteten 1997 zahllose Schlagzeilen. Überhaupt ist die Spendenbereitschaft der Deutschen bei Katastrophen in aller Welt geradezu sprichwörtlich; und auch Gastfreundschaft, Nachbarschaftshilfe, ja sogar großzügige Trinkgelder und die Freude am Schenken (auch wenn man nicht damit angeben kann) sind so gar nicht vereinbar mit dem Leitbild des homo oeconomicus, nach dessen Logik die Normalbürger samt und sonders Bekloppte und die schamlosen Raffzähne die »Rationalen« wären.
Denn tatsächlich sind die Raffgierigen nach wie vor in der Minderheit. Glaubt man einer Forsa-Studie, dann dreht sich bei den Deutschen keineswegs alles um den Mammon. Für 98 Prozent ist Gesundheit am wichtigsten, für 97 Prozent hat das Lebensumfeld die zweitgrößte Bedeutung. Danach folgen mit 88 Prozent das Einkommen, mit 78 Prozent die Partnerbeziehung und mit 67 Prozent der Beruf.
Und schließlich: Selbst die übelsten Profitgeier vererben ihr wie auch immer angeeignetes Vermögen ihren Nachkommen. Müssten sie es nicht vielmehr in neoliberaler Egoistenmanier zum großen Teil verprassen nach dem Motto: »Nach mir die Sintflut«? Spätestens hier erweist sich das Modell des homo oeconomicus als reine Propagandaphrase. Insofern gleicht ein Neoliberaler einem katholischen Pfarrer, der die Keuschheit vor der Ehe predigt, es aber selbst mit der Haushälterin treibt. Wenn nun verbissene Verteidiger des homo oeconomicus nach dem Motto »War doch gar nicht so gemeint« zu retten versuchen, was nicht mehr zu retten ist, und sich darauf herausreden wollen, diese Karikatur sei ausschließlich als wirtschaftliches Verhaltensmodell gedacht, dann erinnert das an die makabre Bemerkung, privat wäre Joseph Goebbels doch ein treusorgender Familienvater gewesen.
Derlei kindischer Rechtfertigung erteilt der Greifswalder BWL-Professor und Ethikforscher Steffen Fleßa eine klare Absage: »Für die Unternehmen wird der homo oeconomicus noch weiter verkürzt auf die Gewinnmaximierung ... [er] ist nur noch ein Zerrbild seiner selbst. Das Verhalten des homo oeconomicus wird immer mehr zum Maßstab für alle Aspekte menschlicher Existenz ... Das Modell, das ursprünglich nur helfen sollte, das wirtschaftliche Handeln zu erklären, wird zum Maßstab aller Dinge. Aus der neutralen Beschreibung wird plötzlich eine Tugend, auf die sich alle Menschen verpflichten sollen. Das Modell wird zum Imperialisten und unterwirft alle anderen Dimensionen.«
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© 2012 Knaur Taschenbuch
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Ob zwanzig Haare viel oder wenig sind, so weiß es der Volksmund, kommt ganz darauf an: Auf dem Kopf sind das relativ wenige, in der Suppe relativ viele. So ähnlich ist es mit der Korruption.
Japan ist das Land des Lächelns, Finnland das Land der tausend Seen und Deutschland das Land der Korruption. Laut einer Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers (PwC) und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg gibt es allein in deutschen Behörden gut zwanzigtausend Korruptionsfälle jährlich. »Gefährdet« sind demnach vor allem Mitarbeiter aus dem gehobenen Dienst (42 Prozent). Zudem werden circa 40 Prozent der aufgedeckten Straftaten von Beamten der unteren Laufbahn wie auch in leitenden Positionen begangen. Die Studie ergab auch, dass maximal 80 Prozent der Straftaten angezeigt wurden. Rechnet man die Routinebestechung in der Wirtschaft und im Alltag der kleinen Leute dazu, so kommt man sicherlich auf weit über hunderttausend Fälle: dreihundert Korruptionsdelikte pro Jahr wären relativ wenig, dreihundert pro Tag sind relativ viel.
Und selbst dies ist nur ein Bruchteil. Die Dunkelziffer der Korruptionsdelikte schätzt »Deutschlands Korruptionsfahnder Nummer eins« , der frühere Frankfurter Oberstaatsanwalt Wolfgang Schaupensteiner, auf 95 Prozent. Erschwerend für die Ermittlungen ist ihm zufolge, dass die Opfer meist keine Einzelpersonen oder kleinere Gruppen sind, sondern dass es sich um die Steuerzahler, die Gemeinde oder den Staat handelt und dass es nur in Ausnahmefällen Zeugen gibt. Zudem handelt es sich um ein »Beziehungsgeflecht hochintelligenter Wirtschaftsstraftäter«, das »bis in die Spitzen der Behörden und großer Konzerne« reicht. Besonders beklagt Schaupensteiner den Mangel an politischer Unterstützung, weil »der Korruptionssumpf längst in die Ministerien geschwappt ist«.
Glaubt man der erwähnten Studie, so halten 48 Prozent der Bundesbürger Korruption in Behörden für stark verbreitet. »In der Bevölkerung besteht die Wahrnehmung, dass Bestechung und Unterschlagung in öffentlichen Verwaltungen üblich sind«, sagte PwC-Experte Steffen Salvenmoser.
Vorneweg in Sachen Korruption sind standesgemäß die Hauptstadtbehörden, wie ebenfalls PwC ermittelte. Demnach wurden bereits 68 Prozent (Bundesdurchschnitt: 52 Prozent) Opfer einschlägiger Kriminalität.
»Deutschland verliert im Kampf gegen die Korruption«, unkte Welt Online am 26. Oktober 2011. Nichts, aber auch gar nichts deutet darauf hin, dass die Mächtigen aus Politik, Wirtschaft und Finanzadel auch nur das Geringste an diesem fatalen Trend ändern könnten oder auch nur wollten. Ein paar schwarze Schafe sind wohl nie zu verhindern und auch nicht weiter schlimm. Wenn aber die ganze Herde aus schwarzen Schafen mit einer Handvoll weißen besteht und dies in unserer gegenwärtigen Wirtschaftsordnung bereits angelegt ist, dann herrscht Alarmstufe Rot - oder sollte es zumindest. In der aktuellen Weltrangliste der am wenigsten von Korruption betroffenen Staaten belegt Deutschland weit hinter dem Spitzentrio Dänemark, Neuseeland und Singapur nur knapp vor Barbados gemeinsam mit Österreich Platz 15 / 16 und wäre damit in der Fußballbundesliga in akuter Abstiegsgefahr.
Eigentlich ist nicht der gebührenpflichtige Intimkontakt das älteste Gewerbe der Welt, sondern die Korruption: War das verführerische Lächeln, mit dem Eva ihren Paradiesmitbewohner Adam zum verbotenen Apfelverzehr bewegte, etwas anderes als Bestechung? Und bereits Gaius Iulius Caesar sagte mit der Lex Iulia de repetundis der ausufernden Korruption den Kampf an, indem er Beamten verbot, Geld von Dritten anzunehmen. Der Religionswissenschaftler Karl Rennstich berichtet ausführlich über »Korruption in der Umwelt des Alten Testaments« und »Korruption in der Umwelt des Neuen Testaments«. Bestechung und Bestechlichkeit sind also alles andere als Modeerscheinungen. Allerdings zeigen sie sich in kapitalistisch regulierten Gesellschaften in einer ganz speziellen Variante.
1. Ist Korruption ein Problem unter vielen?
Korruption ist nicht irgendein Missstand. Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit, Menschenwürde, Vollbeschäftigung, Solidarität, Stabilität, Gesundheitswesen, Bildung, Altersversorgung: Praktisch jedes Problem könnte - isoliert betrachtet - unter heutigen Bedingungen prinzipiell gelöst werden. Anders verhält es sich mit der Korruption: Sie ist nicht irgendein Problem, sondern Hauptangelpunkt und Sargnagel nicht nur unserer Form der Marktwirtschaft, sondern jeder denkbaren Gesellschaftsordnung. »Jeder hat seinen Preis«: Wenn das zutrifft und nahezu alles käuflich ist, dann werden Gesetze und Politik nicht nach den Interessen der Bevölkerung gemacht, sondern meistbietend versteigert; und selbst diese Gesetze und Projekte werden ihrerseits durch Korruption missachtet oder ausgehebelt. Der Korruptionsforscher Werner Rügemer betont, die Korruption gehöre »zum systemischen Instrumentarium der ›unsichtbaren Hand< der ›Marktwirtschaft< in den Kapitaldemokratien«. Der gegenwärtige neoliberale Globalismus beinhalte »die bisher weitestgehende, nachhaltige Entfesselung der Korruption in der Geschichte«. Korruption werde »hier ständig modernisiert und legalisiert« und entziehe sich »in den meisten Fällen der öffentlichen Wahrnehmung«.
Kriminelle Spitzenpolitiker kommen ohne Gefängnisstrafe davon, weil ihre Inhaftierung angeblich dem »Ansehen der Republik« und dem »Vertrauen in die Politik« schaden würde. Schwarzarbeitgeber gehen nahezu straffrei aus, weil - wie es heißt - eine hohe Geldbuße und erst recht ein Gefängnisaufenthalt Arbeitsplätze gefährde. Die entsprechende Beeinflussung (Bestechung) des Behördenapparats und der Justiz reicht vom Karrieresprung bis zur Strafversetzung - eine Drohung oder deren Umsetzung ist schließlich nichts anderes als negative Korruption: Erpressung ist »Bestechung umgekehrt«. Ein Steuerprüfer fährt plötzlich Ferrari, ein Baudezernent legt sich eine Jacht zu, ein Umweltkontrolleur zieht ins Villenviertel - und der kritische Bürger, sofern er es überhaupt mitbekommt, denkt sich seinen Teil. Aber dies sind nur die Spitzen eines gigantischen Eisbergs.
Korruption, wohin man blickt: Ob Zustimmung von Betriebsräten zu Lohnkürzung und Stellenabbau, Sicherung von Staatsaufträgen, Genehmigung eigentlich verbotener Waffenexporte, Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken, geschönte Umweltgutachten oder Bestechung von Ärzten durch Pharmakonzerne und Steuergeschenke gegen »Parteispenden« - es gibt kaum einen Bereich, in dem nicht durch Bestechung nachgeholfen wird. In diesen, aber auch bei anderen spektakulären Fällen wie etwa Steuerhinterziehung oder abnorm günstigen Angeboten an Privatleute werden ehrliche (oder auch nur naive) Firmenmitarbeiter oder Staatsbedienstete bestochen oder massiv bedroht, strafversetzt und sogar rausgeworfen bzw. zwangspensioniert. Die meist jährlich erscheinenden Fallsammlungen der Rechnungshöfe und des Bundes der Steuerzahler sind fast so umfangreich wie die Telefonbücher einer Großstadt - Konsequenzen gibt es aber in der Regel keine.
Zu den unermesslichen Schäden für Leib und Leben sowie für den Staatshaushalt kommen die ideellen. Die Kleinen nehmen sich ein Beispiel an den hochkriminellen »Eliten«. Für »kleine Aufmerksamkeiten« gibt's den früheren Termin beim Arzt, Friseur oder Anwalt, den besseren Tisch im Restaurant, das Zimmer mit Meerblick, und beim TÜV oder bei der Fahrprüfung lässt man schon mal fünf gerade sein. Auch Gebrauchtwagen gibt's zuweilen erheblich billiger, und den Gewinn zu Lasten des Autohausbesitzers teilen sich Verkäufer und Käufer. Und so weiter, und so fort.
2. Ist Korruption lebensgefährlich?
Nicht selten bedroht und kostet Korruption Menschenleben. Man spart aus Kostengründen an notwendigen Sicherheitstests, verwendet minderwertiges bzw. untaugliches Material oder exportiert illegal Waffen in Krisengebiete, frei nach der Devise: »Wird schon gutgehen, das merkt doch keiner.« Die Bayer AG bestach gemeinsam mit anderen Pharma-Riesen japanische Regierungsmitglieder, um anderswo verbotene HIV-infizierte Blutermedikamente verkaufen zu können. Ergebnis: Tausende HIV-Infizierte, über hundert Tote, 100 Millionen Euro Schadenersatz durch Bayer. Das Bahnunglück von Eschede am 3. Juni 1998 mit einhunderteins Toten und achtundachtzig Schwerverletzten war auf Materialermüdung, schlampige Wartung und, laut Eisenbahn-Bundesamt, schwere Verletzungen der Organisations- und Verkehrssicherungspflicht zurückzuführen. Hier hatte der Bahn-Vorstand offenbar direkt in das Prüfungsverfahren des Bundesbahn-Zentralamtes eingegriffen. Ertappte Lieferanten und Verkäufer von Gammelfleisch treffen auf »zugedrückte Augen«. Und wenn's doch auffliegt, hält man die Namen der schuldigen Firmen möglichst geheim. Störanfällige AKWs werden am Netz gelassen, die Strompreise dem »guten Willen« der Konzerne überlassen. Genauso gut könnte man an einen Tiger appellieren, Vegetarier zu werden. Im Gegenzug für derlei Entgegenkommen winken den Willigen und Pflegeleichten »legale« Parteispenden, traumhafte Dankeschönjobs oder als Info-Veranstaltungen getarnte Traumreisen.
Kaum irgendwo wird die Vermutung, dass die Raffgier ohne alle Skrupel und Grenzen zu unserer Marktwirtschaft gehört wie das Plagiat zu Guttenberg, so nachhaltig bestätigt wie bei ihrem legitimen Kind, der Korruption. Eines der Kennzeichen der Marktwirtschaft ist die Konkurrenz, und zwar auf buchstäblich allen Ebenen: Wenn irgendein Marktteilnehmer im Kampf gegen die anderen Marktteilnehmer unlautere Mittel einsetzt, sind die anderen gezwungen mitzumachen. Wenn daher überhaupt eingeräumt wird, dass man sich unsauberer Methoden bedient hat, dann fehlt niemals der Hinweis, der Konkurrent habe ja schließlich angefangen.
In Deutschland war die Bestechung bei Auslandsgeschäften bis 1999 sogar steuerlich absetzbar und bis August 2002 immer noch völlig legal. Josef Wieland, Professor für Wirtschaftsethik in Konstanz, meint hierzu: »In der Republik galt eben die offizielle Doktrin, dass man in Ländern der Dritten Welt ohne Bestechung gar nicht arbeiten kann.«
3. Richtet Korruption die Gesellschaft zugrunde?
Der durch Korruption verursachte materielle und ideelle Schaden für die Gesellschaft liegt auf der Hand. Wenn Verträge nichts mehr wert sind, wenn Politiker pauschal unter Korruptionsverdacht stehen und man letztlich niemandem mehr trauen kann, richtet sich die Gesellschaft selbst zugrunde. Schon nennt der Volksmund seine Eliten »Ritter der offenen Hand« oder »die besten Politiker, die man für Geld kaufen kann«.
Die Tragikomödie der Korruption besteht darin, dass sie einerseits zwar nicht in der Theorie, wohl aber in der Praxis zwangsläufige Voraussetzung freier Märkte ist - ohne Bestechung läuft in verschiedenen Branchen oder Regionen nichts. Andererseits treibt die Korruptionskonkurrenz die Bestechungskosten ins Uferlose, so dass Korruption unterm Strich für alle Unternehmen teurer ist als ehrlicher Wettbewerb. Darüber hinaus verhindert Korruption systematisch den technischen Fortschritt, also die »Entwicklung der Produktivkräfte«. Noch bestens in Erinnerung ist der Maut-Skandal von 2003: Statt ein funktionstüchtiges System wie das der Schweiz zu übernehmen, schanzte das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Daimler und der Telekom den Auftrag zu. Schaden: 6,5 Mrd. Euro.
Was also tun gegen die allgegenwärtige Korruptionsseuche? Zwar schreibt die US-amerikanische Korruptionsforscherin Susan Rose-Ackerman 1996 in einem Anflug von neoliberalem schwarzem Humor: »Wenn der Staat weder Exporte verbieten noch Geschäftslizenzen vergeben und Subventionen verteilen kann« - also letztlich keinerlei Befugnisse mehr hat -, »wäre Bestechung sinnlos.« Aber selbst eine (bislang nur im neoliberalen Modell existierende) völlig freie und nur durch den Polizeistaat abgesicherte Marktwirtschaft wäre schnell am Ende, wenn die Schlüsselpositionen und Schalthebel der Macht mafiös unterwandert würden, denn, wie Susan Rose-Ackerman betont, auch der schlankeste Staat hat Bereitschaftspolizisten mit Ermessensspielraum - also mit Korruptionspotenzial. So beißt sich die Katze in den Schwanz.
Konsequent zu Ende gedacht, wäre dieser Teufelskreis der Korruption nicht nur die Götterdämmerung des Rechtsstaats und der Marktwirtschaft, sondern sogar jeglicher Zivilisation. Denn spätestens seit Thomas Hobbes wissen wir, dass »der Mensch dem Menschen ein Wolf« und folglich das ungeregelte und gesetzlose Zusammenleben ein »Krieg jeder gegen jeden« sein kann. In seinem Hauptwerk Leviathan schreibt Hobbes, »dass, solange Menschen ohne eine gemeinsame Macht leben, die sie alle in Bann hält, sie sich in dem Zustand befinden, den man Krieg nennt; und dabei handelt es sich um einen Krieg aller Menschen gegen alle Menschen«.
Auch Reichskanzler Otto von Bismarck sah dieses Problem, das sich als Krieg Arm gegen Reich anbahnte. Nur diese Angst, nicht etwa irgendein christlich-moralischer Gedanke, war das Motiv seiner Sozialreformen.
Aufschlussreich, dass selbst der bedeutendste Politiker des Deutschen Reichs die Gesellschaft offenbar vorwiegend in Bestechende und Bestochene aufteilt und dies augenscheinlich für normal hielt. Dies entspricht der von Immanuel Kant angedachten These des deutsch-österreichischen Staatsrechtlers Georg Jellinek (1851 - 1911) von der normativen Kraft des Faktischen: Wenn zu viele Leute ständig Gesetze, Vorschriften oder gesellschaftliche Spielregeln missachten und meistens ohne Strafe oder Blamage davonkommen, gilt dieses Verhalten irgendwann als normal. Das gilt für Bierdosenberge nach Freilichtkonzerten, Spickzettel bei Examensklausuren und »Souvenirs« in Form von Kneipengläsern genauso wie für Versicherungsbetrug, Steuerschummelei und eben Korruption. Für einen Zwanziger ist plötzlich doch noch ein Hotelzimmer frei, und für eine Gratis-Flatrate in Papas Restaurant wird aus der Fünf in Mathe die versetzungsrettende Vier. Dass Korruption überhaupt entsteht und zum Normalzustand wird, ist freilich nur möglich durch den völlig tabulosen Eigennutz, den viele Neoliberale für genetisch bedingt halten, ähnlich wie Rassisten die Intelligenz ganzer Völker. Bestechung und Bestechlichkeit, also strafbare, vertragswidrige oder schlicht unmoralische und asoziale Handlungen im großen Maßstab setzen dieser kruden Theorie nach voraus, dass dem Menschen der skrupellose Egoismus quasi in die Wiege gelegt sei, dass also Regeln wie »Geld regiert die Welt« und »Jeder hat seinen Preis« Naturgesetze seien wie Schwerkraft und Thermodynamik. Die windige Hypothese vom homo oeconomicus - zu Deutsch etwa: Raffke oder Gierschlund - ist aber tatsächlich ein Kernstück der neoliberalen »Lehre« und ihrer Unterabteilung »Neue Politische Ökonomie«. Deren Begründer Antony Downs gibt zu Protokoll: »Wenn wir von rationalem Verhalten sprechen, meinen wir stets rationales Verhalten, dem primär eigennützige Absichten zugrunde liegen.« Folglich erscheinen Solidarität, Rücksichtnahme und erst recht Altruismus als »irrational«, und wenn Wissenschaftler »irrational« sagen oder schreiben, dann meinen sie meist »nicht ganz dicht«, »Sprung in der Schüssel« oder »therapiebedürftig«: Ehrlich währt am längsten - diese Volksweisheit bedeutet entgegen einem verbreiteten Irrtum ja nicht, dass Ehrlichkeit sich langfristig auszahlt, sondern dass man damit am längsten braucht, es zu etwas zu bringen.
In gewisser Weise stimmt das sogar: Da bekanntlich jede Gemeinschaft ihre Menschen »erzieht«, setzt sich eben in einer ausschließlich auf Selbstbereicherung orientierten neoliberalen Gesellschaft der vor nichts zurückschreckende Profitjäger am besten durch, und »Der Ehrliche ist der Dumme«.
Mit Vorsicht zu genießen ist allerdings auch das pauschale Jammern über eine »gefühlskalte Egoistengesellschaft«. Macht man den Leuten nämlich weis, sie hielten sich so ziemlich als Einzige an Recht und Gesetz, an die Regeln von Anstand und Moral, dann fühlen sie sich irgendwann tatsächlich als ausgenutzte »arme Irre« und beteiligen sich fortan lieber am Hauen und Stechen aller gegen alle: Jeder ist sich selbst der Nächste. Und diese Haltung kann leicht um sich greifen wie eine Seuche. Ein einziger Drängler an der Bushaltestelle kann eine geordnete Warteschlange in eine schubsende Horde verwandeln, und ein einziger hupender Autofahrer im Berufsverkehrsstau initiiert oft ein ganzes Hupkonzert. Aber sind wir als Kinder dieses Wirtschaftssystems nicht alle so? Der Herdentrieb funktioniert jedenfalls auch in die andere Richtung: »Oder-Hochwasser erzeugt eine Welle der Hilfsbereitschaft in ganz Deutschland« - so oder ähnlich lauteten 1997 zahllose Schlagzeilen. Überhaupt ist die Spendenbereitschaft der Deutschen bei Katastrophen in aller Welt geradezu sprichwörtlich; und auch Gastfreundschaft, Nachbarschaftshilfe, ja sogar großzügige Trinkgelder und die Freude am Schenken (auch wenn man nicht damit angeben kann) sind so gar nicht vereinbar mit dem Leitbild des homo oeconomicus, nach dessen Logik die Normalbürger samt und sonders Bekloppte und die schamlosen Raffzähne die »Rationalen« wären.
Denn tatsächlich sind die Raffgierigen nach wie vor in der Minderheit. Glaubt man einer Forsa-Studie, dann dreht sich bei den Deutschen keineswegs alles um den Mammon. Für 98 Prozent ist Gesundheit am wichtigsten, für 97 Prozent hat das Lebensumfeld die zweitgrößte Bedeutung. Danach folgen mit 88 Prozent das Einkommen, mit 78 Prozent die Partnerbeziehung und mit 67 Prozent der Beruf.
Und schließlich: Selbst die übelsten Profitgeier vererben ihr wie auch immer angeeignetes Vermögen ihren Nachkommen. Müssten sie es nicht vielmehr in neoliberaler Egoistenmanier zum großen Teil verprassen nach dem Motto: »Nach mir die Sintflut«? Spätestens hier erweist sich das Modell des homo oeconomicus als reine Propagandaphrase. Insofern gleicht ein Neoliberaler einem katholischen Pfarrer, der die Keuschheit vor der Ehe predigt, es aber selbst mit der Haushälterin treibt. Wenn nun verbissene Verteidiger des homo oeconomicus nach dem Motto »War doch gar nicht so gemeint« zu retten versuchen, was nicht mehr zu retten ist, und sich darauf herausreden wollen, diese Karikatur sei ausschließlich als wirtschaftliches Verhaltensmodell gedacht, dann erinnert das an die makabre Bemerkung, privat wäre Joseph Goebbels doch ein treusorgender Familienvater gewesen.
Derlei kindischer Rechtfertigung erteilt der Greifswalder BWL-Professor und Ethikforscher Steffen Fleßa eine klare Absage: »Für die Unternehmen wird der homo oeconomicus noch weiter verkürzt auf die Gewinnmaximierung ... [er] ist nur noch ein Zerrbild seiner selbst. Das Verhalten des homo oeconomicus wird immer mehr zum Maßstab für alle Aspekte menschlicher Existenz ... Das Modell, das ursprünglich nur helfen sollte, das wirtschaftliche Handeln zu erklären, wird zum Maßstab aller Dinge. Aus der neutralen Beschreibung wird plötzlich eine Tugend, auf die sich alle Menschen verpflichten sollen. Das Modell wird zum Imperialisten und unterwirft alle anderen Dimensionen.«
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Autoren-Porträt von Thomas Wieczorek
Thomas Wieczorek (1953 - 2013) war Journalist und Parteienforscher. Nach einem VWL-Studium an der Freien Universität Berlin arbeitete er u.a. für die dpa und Reuters und als freier Journalist für die Frankfurter Rundschau, den Deutschlandfunk, den Südwestfunk sowie den Eulenspiegel. Thomas Wieczorek, der über "Die Normalität der politischen Korruption" promovierte, war Autor mehrerer politischer Debattenbücher, darunter die Bestseller "Die Dilettanten", "Die verblödete Republik" und "Die geplünderte Republik".
Bibliographische Angaben
- Autor: Thomas Wieczorek
- 2012, 350 Seiten, Maße: 12,4 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426785196
- ISBN-13: 9783426785195
- Erscheinungsdatum: 23.02.2012
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