Die Kunst des klugen Handelns
52 Irrwege, die Sie besser anderen überlassen
52 Irrwege, die Sie besser anderen überlassen. Unzählige Leser begeistern sich für Rolf Dobellis gescheite Texte über unsere häufigsten Denkfehler. Doch auf dem Weg vom Denken zum Handeln lauern weitere Fallstricke....
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Produktinformationen zu „Die Kunst des klugen Handelns “
52 Irrwege, die Sie besser anderen überlassen. Unzählige Leser begeistern sich für Rolf Dobellis gescheite Texte über unsere häufigsten Denkfehler. Doch auf dem Weg vom Denken zum Handeln lauern weitere Fallstricke. Glücklicherweise kann man die umgehen. Wie, das verrät Dobelli in 52 Kapiteln.
Lernen Sie aus den Fehlern, die andere für Sie machen.
"Ein Buch, das den Begriff des gehirngerechten Denkens mit Inhalt füllt."
Rolf Dobelli
Klappentext zu „Die Kunst des klugen Handelns “
Unzählige Leser begeistern sich für Rolf Dobellis gescheite Texte über unsere häufigsten Denkfehler. Doch wer Dobellis Ratschläge zum klaren Denken beherzigt, ist noch lange nicht aus dem Schneider, denn auf dem Weg vom Denken zum Handeln lauern weitere Fallstricke. Glücklicherweise kann man die umgehen - wenn man weiß, wie. Genau das verrät "Die Kunst des klugen Handelns": In 52 Kapiteln zeigt Dobelli, warum es sich lohnt, Türen zu schließen und auf Optionen zu verzichten, warum Informationsüberfluss zu unklugem Handeln anstiftet, warum Geld stets in emotionale Kleider gehüllt ist und wir es darum oft unbedacht ausgeben.Rolf Dobelli gibt Ihnen das nötige Rüstzeug: Schlagen Sie nicht jeden Irrweg ein, nur weil andere ihn gehen. Lernen Sie aus den Fehlern, die andere freundlicherweise für Sie machen. Denken Sie klar und handeln Sie klug!
Lese-Probe zu „Die Kunst des klugen Handelns “
Die Kunst des klugen Handelns von Rolf DobelliWARUM SIE HITLERS PULLOVER NICHT TRAGEN WÜRDEN
Berührungsdenkfehler
... mehr
Würden Sie einen frisch gewaschenen Pullover anziehen, den Adolf Hitler einst getragen hat?
Im neunten Jahrhundert, nach dem Zerfall des karolingischen Reichs, versank Europa - besonders Frankreich - in Anarchie. Grafen, Burgvögte, Ritter und andere lokale Herrscher kämpften pausenlos gegeneinander. Die rücksichtslosen Haudegen plünderten Bauernhöfe, vergewaltigten Frauen, zertrampelten Ährenfelder, verschleppten Pfarrer und zündeten Klöster an. Weder die Kirche noch die Bauern konnten dem irrsinnigen Kriegstreiben des Adels etwas entgegensetzen. Im Gegensatz zu den Rittern waren sie waffenlos.
Im zehnten Jahrhundert kam dem Bischof von Auvergne eine Idee. Er bat die Fürsten und Ritter, sich an einem bestimmten Tag auf einem Feld zu einer Art Symposium einzufinden. Pfarrer, Bischöfe und Äbte sammelten derweil alle Reliquien, die sie in der Umgebung auftreiben konnten, und stellten sie auf dem Feld aus - Knochenstücke von verstorbenen Heiligen, blutgetränkte Stofffetzen, Steine und Fliesen, ja überhaupt alles, was je in Berührung mit Heiligen gekommen war. Der Bischof - damals eine Respektsperson - forderte nun die versammelten Adligen auf, in der Präsenz all dieser Reliquien der maßlosen Gewalt abzuschwören und künftig auf Angriffe gegen Unbewaffnete zu verzichten. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, wedelte er vor ihren Gesichtern mit den blutigen Tüchern und heiligen Knochen. Der Respekt vor den Reliquien muss gewaltig gewesen sein, denn das Beispiel des französischen Bischofs machte Schule: Seine eigenwillige Art des Gewissensappells breitete sich unter den Begriffen »Gottesfrieden« (lateinisch Pax Dei) und »Waffenruhe Gottes« (Treuga Dei) in ganz Europa aus. »Man sollte niemals die Angst der Menschen im Mittelalter vor den Heiligen und deren Reliquien unterschätzen«, kommentiert der amerikanische Historiker Philip Daileader.
Als aufgeklärter Mensch können Sie über diese dumpfe Furcht nur lachen. Aber warten Sie mal - wie haben Sie auf die Eingangsfrage geantwortet? Würden Sie Hitlers Pullover tragen? Wohl kaum, oder? Das ist erstaunlich, denn es zeigt, dass auch Sie keineswegs allen Respekt vor unfassbaren Kräften verloren haben. Hitlers Pullover hat rein materiell nichts mehr mit Hitler zu tun. Trotzdem ekeln Sie sich davor.
Magische Wirkungen dieser Art lassen sich nicht einfach ausschalten. Paul Rozin und seine Forschungskollegen der University of Pennsylvania baten Versuchspersonen, ein Foto von einer ihnen nahestehenden Person mitzubringen. Die Wissenschaftler pinnten das Foto ins Zentrum einer Zielscheibe und forderten die Probanden auf, Dartpfeile darauf zu werfen. Es tut der Mutter ja nicht weh, wenn ihr Bild mit Pfeilen durchlöchert wird!
Trotzdem war die Hemmung groß. Die Teilnehmer trafen viel schlechter als eine Kontrollgruppe mit leerer Zielscheibe. Ja, sie verhielten sich so, als würde sie eine magische Kraft abhalten, auf die Bilder zu zielen.
Verbindungen zwischen Personen und Dingen - selbst wenn sie längst vergangen oder nur immaterieller Art sind wie bei den Fotos - lassen sich kaum ignorieren: Das besagt der Berührungsdenkfehler (englisch Contagion Bias). Eine Freundin war lange Zeit Kriegskorrespondentin für den staatlichen Fernsehsender France 2. So wie Passagiere einer Karibik-Kreuzfahrt von jeder Insel ein Souvenir mitnehmen - einen Strohhut, eine bemalte Kokosnuss -, besitzt auch sie einen Schrank voller Kriegssouvenirs. Einer ihrer letzten Einsätze war Bagdad 2003. Wenige Stunden nachdem die amerikanischen Truppen Saddam Husseins Regierungspalast gestürmt hatten, schlich sie sich in die Privatgemächer. Im Speisesaal erspähte sie sechs vergoldete Weingläser, die sie prompt mitgehen ließ. Als ich sie neulich in Paris besuchte, servierte sie den Wein in diesen Gläsern. Jedermann war von dem Prunk begeistert. »Gibt es die bei Lafayette?«, fragte jemand. »Das sind Saddam Husseins Gläser«, sagte sie lakonisch. Eine aufgebrachte Kollegin spuckte den Wein angeekelt zurück ins Glas und begann hysterisch zu husten. Ich konnte nicht anders und musste noch einen draufsetzen: »Ist es dir eigentlich klar, wie viele Moleküle du mit jedem Atemzug einatmest, die Hussein auch schon in seiner Lunge hatte?«, fragt ich sie. »Ungefähr eine Milliarde.« Ihr Hustenanfall verstärkte sich noch.
WARUM WIR KEIN GEFÜHL FÜR DAS NICHTWISSEN HABEN
Aderlasseffekt
Ein Mann wird zum Arzt gebracht. Dieser schneidet ihm die Arterie des Unterarms auf und lässt das Blut herausspritzen - einen halben Liter. Der Mann fällt in Ohnmacht. Am nächsten Tag muss er fünf weitere Aderlässe über sich ergehen lassen. Bei den letzten drei Prozeduren will das Blut nicht mehr richtig herausschießen, also setzt der Arzt einen Glaskolben gefüllt mit heißer Luft an die Wunde. Die Luft kühlt sich ab, entwickelt ein Vakuum, und saugt das Blut aus dem Arm. Der Mann liegt nun halb tot mit sechs Schnittwunden im Bett. Jetzt setzt der Arzt Blutegel an die empfindlichsten Stellen der Wunden. Die Würmer saugen sich langsam voll. Wenn sie prall sind und vor Blut fast platzen, werden neue, hungrige Egel angesetzt. Nach drei Monaten wird der Patient entlassen - wenn er nicht gestorben ist.
Dieses Verfahren war gang und gäbe bis weit ins 19. Jahr hundert hinein. Die Idee des Aderlasses gründet auf der »Viersäftelehre« des Körpers. Nach dieser Theorie sind alle Krankheiten auf ein Ungleichgewicht von vier Säften - gelbe Galle, schwarze Galle, Schleim und Blut - zurückzuführen. Bei Akne, Asthma, Cholera, Diabetes, Epilepsie, Pest, Hirnschlag, Tuberkulose und hundert anderen Krankheiten hat der Körper angeblich zu viel Blut - darum Aderlass. Allein in den 1830er-Jahren importierte Frankreich deshalb über 40 Millionen Blutegel. Die Viersäftelehre hat die Medizin über 2.000 Jahre lang dominiert. Kaum eine andere wissenschaftliche Theorie konnte sich so lange halten, und das, obwohl sie kompletter Humbug war. Den meisten Patienten ging es ohne Aderlass nachweislich besser - was auch den Ärzten nicht verborgen blieb.
2.000 Jahre lang hat sich das medizinische Establishment an eine falsche Theorie geklammert - entgegen aller Evidenz. Warum? So unglaublich es klingt, aber die Viersäftelehre des Körpers ist exemplarisch für alle Theorien, die sich mit komplexen Systemen - Mensch, Börse, Kriege, Städte, Ökosysteme, Unternehmen - befassen. Wir geben eine falsche Theorie nicht auf, wenn sie sich als falsch erweist, sondern erst, wenn eine bessere in Sicht ist. Das ist alles andere als rational, aber keineswegs die Ausnahme. Nennen wir es den Aderlasseffekt.
Immer wieder befinden wir uns im Leben zwischen zwei Jobs, zwei Wohnorten oder Beziehungen - niemals aber zwischen zwei Ansichten. Stoßen wir eine weg, nehmen wir sofort eine neue an. Wir sind wie beziehungsunfähige Männer, die keinen Tag ohne Frau aushalten. Ansichten fühlen sich nur entweder »richtig« oder »falsch« an. Bewusste Ignoranz - die Einsicht, etwas (noch) nicht zu wissen - hat keinen Platz in unserer Gefühlswelt. Wir wissen nicht, wie sich das Nichtwissen anfühlen soll. Darum sind wir besser im Theorienerfinden als im Zugeben unserer Ignoranz. Das fiel zuerst dem Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn auf: Theorien kollabieren nie unter dem Gewicht ihrer eigenen Fehler. Sie kollabieren erst, wenn eine andere, scheinbar bessere Theorie vorhanden ist.
Warum ist das schlimm? Weil es diese bessere Theorie oft noch nicht gibt. Jahrzehntelang wurde der amerikanischen Notenbanker Alan Greenspan als Halbgott verehrt. Im Herbst 2008 implodierten die Finanzmärkte, und zumindest Greenspan wurde selbstkritisch. Vor den Kongressausschuss zitiert, sagte er aus: »Das ganze intellektuelle Gebäude kollabierte.« Der Vorsitzende fragte: »Sie realisierten also, dass Ihre Sicht der Welt, Ihr Gedankenmodell, falsch war?« »Präzise«, antwortete Greenspan. Da- mit meinte er die Theorie, dass die Wirtschaft über die Geldmenge zu steuern sei. Trotzdem halten die Regierungen der westlichen Welt bis heute eisern an dieser Theorie fest - mit allen Konsequenzen in puncto Verschuldung, Börsenkurse, Lebensstandard und Inflation. Und das nur, weil keine Alternative in Sicht ist - der typische Aderlasseffekt.
Der Aderlasseffekt spielt auch im Privaten eine Rolle. Wenn Sie intellektuell nicht ausbluten wollen, überprüfen Sie deshalb Ihre Anlagestrategie, Ihre Lebensphilosophie und Ihre Ansichten über andere Menschen regelmäßig. Wenn die Tatsachen gegen Ihre Theorien sprechen, geben Sie diese sofort auf. Und, wichtiger noch: Warten Sie nicht, bis Sie eine »bessere« Theorie gefunden haben. Das könnte 2.000 Jahre dauern.
WARUM SELBST GEMACHT BESSER SCHMECKT
Not-Invented-Here-Syndrom
Meine Kochkünste sind bescheiden, das weiß auch meine Frau. Und doch gelingt mir ab und zu ein Gericht, das man als essbar bezeichnen könnte. Vor einigen Wochen kaufte ich zwei Seezungen. Um der Langeweile bekannter Fischsoßen zu entgehen, erfand ich eine neue - eine waghalsige Kombination aus Weißwein, pürierten Pistazien, Honig, geraspelten Orangenschalen und einem Schuss Balsamico. Meine Frau zog die gebratene Seezunge auf den Tellerrand und streifte mit dem Messer die Soße vom Fisch, dazu lächelte sie entschuldigend. Mir hingegen schmeckte die Soße nicht schlecht. Ich erklärte ihr im Detail, welch kühne Kreation sie hier verpasse - was nichts an ihrem Gesichtsausdruck änderte.
Zwei Wochen später gab es wieder Seezunge. Diesmal kochte meine Frau. Sie hatte zwei Soßen parat. Zum einen ihre etablierte Butterschwitze, zum anderen die »Kreation eines französischen Top-Chefs«. Die zweite schmeckte scheußlich. Nach dem Essen gestand sie, dass es sich nicht um die Kreation eines französischen Top-Chefs handelte, sondern um meine eigene Kreation, die ich vor zwei Wochen ausprobiert hatte. Sie wollte mich testen und hatte mich aus Spaß dem Not-Invented-Here-Syndrom (NIH-Syndrom) überführt: Man findet alles schlecht, was »nicht hier erfunden« ist.
Das NIH-Syndrom bringt einen dazu, sich in die eigenen Ideen zu verlieben. Das gilt nicht nur für Fischsoßen, sondern für alle Arten von Lösungen, Geschäftsideen und Erfindungen. Firmen tendieren dazu, intern entwickelte Ideen als besser und wichtiger einzuschätzen als Lösungen von externen Anbietern, selbst wenn diese objektiv besser sind. Ich hatte vor Kurzem Lunch mit dem Geschäftsführer einer Softwarefirma, die sich auf Krankenkassen spezialisiert hat. Er erzählte mir, wie schwierig es sei, seine Software - in puncto Bedienung, Sicherheit und Funktionalität objektiv führend - den potenziellen Kunden schmackhaft zu machen. Die meisten Versicherer seien überzeugt, dass die beste Software genau jene ist, die sie selbst, im eigenen Haus, entwickelt haben.
Wenn Menschen zusammenkommen, um Lösungen zu finden, und diese gleich selbst bewerten, lässt sich das NIH-Syndrom schön beobachten. Die eigene Idee ist stets die beste. Sinnvoll ist es deshalb, Teams in zwei Gruppen aufzuspalten. Die eine Hälfte generiert Ideen, die andere bewertet - danach umgekehrt.
Geschäftsideen, die wir selbst erfunden haben, empfinden wir als erfolgreicher als Geschäftsideen von anderen. Das Syndrom ist verantwortlich für blühendes Unternehmertum. Und leider auch für die größtenteils miserablen Renditen von Start-ups.
Im Buch The Upside of Irrationality beschreibt der Psychologe Dan Ariely, wie er das NIH-Syndrom gemessen hat. Im Blog der New York Times bat er Leser, Antworten auf sechs Probleme zu geben. Zum Beispiel: »Wie können Städte den Wasserverbrauch senken, ohne per Gesetz den Verbrauch zu limitieren?« Die Leser sollten nicht nur Vorschläge machen, sondern ihre eigene Antwort und die Antworten der andern auf Anwendbarkeit beurteilen. Auch mussten sie angeben, wie viel Freizeit und eigenes Geld sie in die jeweilige Lösung investieren würden. Dazu kam, dass die Leser ihre Antworten aus einer Selektion von nur 50 Wörtern zusammensetzen durften - was sicherstellte, dass alle mehr oder weniger die gleichen Antworten gaben. Trotzdem: Die eigene Antwort wurde von der Mehrheit für wichtiger und anwendbarer gehalten als die fremden Antworten (die im Grunde die gleichen waren).
Auf gesellschaftlicher Ebene kann das NIH-Syndrom gravierende Auswirkungen haben. Schlaue Lösungen werden nicht übernommen, gerade weil sie aus einer anderen Kultur stammen. Dass der winzige Kanton Appenzell Innerrhoden den Frauen nie freiwillig das Stimmrecht gegeben hat (es brauchte einen Bundesgerichtsentscheid im Jahr 1990), ist ein verblüffender Fall von NIH. Oder: Noch heute sprechen wir von der »Entdeckung Amerikas« durch Kolumbus, obwohl Menschen dort schon lange lebten.
Fazit: Wir sind von unseren eigenen Ideen betrunken. Um wieder nüchtern zu werden, halten Sie ab und zu Abstand, und betrachten Sie die Qualität Ihrer Einfälle rückblickend. Welche Ideen der letzten zehn Jahre waren wirklich herausragend? Eben.
...
© Carl Hanser Verlag, München
Würden Sie einen frisch gewaschenen Pullover anziehen, den Adolf Hitler einst getragen hat?
Im neunten Jahrhundert, nach dem Zerfall des karolingischen Reichs, versank Europa - besonders Frankreich - in Anarchie. Grafen, Burgvögte, Ritter und andere lokale Herrscher kämpften pausenlos gegeneinander. Die rücksichtslosen Haudegen plünderten Bauernhöfe, vergewaltigten Frauen, zertrampelten Ährenfelder, verschleppten Pfarrer und zündeten Klöster an. Weder die Kirche noch die Bauern konnten dem irrsinnigen Kriegstreiben des Adels etwas entgegensetzen. Im Gegensatz zu den Rittern waren sie waffenlos.
Im zehnten Jahrhundert kam dem Bischof von Auvergne eine Idee. Er bat die Fürsten und Ritter, sich an einem bestimmten Tag auf einem Feld zu einer Art Symposium einzufinden. Pfarrer, Bischöfe und Äbte sammelten derweil alle Reliquien, die sie in der Umgebung auftreiben konnten, und stellten sie auf dem Feld aus - Knochenstücke von verstorbenen Heiligen, blutgetränkte Stofffetzen, Steine und Fliesen, ja überhaupt alles, was je in Berührung mit Heiligen gekommen war. Der Bischof - damals eine Respektsperson - forderte nun die versammelten Adligen auf, in der Präsenz all dieser Reliquien der maßlosen Gewalt abzuschwören und künftig auf Angriffe gegen Unbewaffnete zu verzichten. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, wedelte er vor ihren Gesichtern mit den blutigen Tüchern und heiligen Knochen. Der Respekt vor den Reliquien muss gewaltig gewesen sein, denn das Beispiel des französischen Bischofs machte Schule: Seine eigenwillige Art des Gewissensappells breitete sich unter den Begriffen »Gottesfrieden« (lateinisch Pax Dei) und »Waffenruhe Gottes« (Treuga Dei) in ganz Europa aus. »Man sollte niemals die Angst der Menschen im Mittelalter vor den Heiligen und deren Reliquien unterschätzen«, kommentiert der amerikanische Historiker Philip Daileader.
Als aufgeklärter Mensch können Sie über diese dumpfe Furcht nur lachen. Aber warten Sie mal - wie haben Sie auf die Eingangsfrage geantwortet? Würden Sie Hitlers Pullover tragen? Wohl kaum, oder? Das ist erstaunlich, denn es zeigt, dass auch Sie keineswegs allen Respekt vor unfassbaren Kräften verloren haben. Hitlers Pullover hat rein materiell nichts mehr mit Hitler zu tun. Trotzdem ekeln Sie sich davor.
Magische Wirkungen dieser Art lassen sich nicht einfach ausschalten. Paul Rozin und seine Forschungskollegen der University of Pennsylvania baten Versuchspersonen, ein Foto von einer ihnen nahestehenden Person mitzubringen. Die Wissenschaftler pinnten das Foto ins Zentrum einer Zielscheibe und forderten die Probanden auf, Dartpfeile darauf zu werfen. Es tut der Mutter ja nicht weh, wenn ihr Bild mit Pfeilen durchlöchert wird!
Trotzdem war die Hemmung groß. Die Teilnehmer trafen viel schlechter als eine Kontrollgruppe mit leerer Zielscheibe. Ja, sie verhielten sich so, als würde sie eine magische Kraft abhalten, auf die Bilder zu zielen.
Verbindungen zwischen Personen und Dingen - selbst wenn sie längst vergangen oder nur immaterieller Art sind wie bei den Fotos - lassen sich kaum ignorieren: Das besagt der Berührungsdenkfehler (englisch Contagion Bias). Eine Freundin war lange Zeit Kriegskorrespondentin für den staatlichen Fernsehsender France 2. So wie Passagiere einer Karibik-Kreuzfahrt von jeder Insel ein Souvenir mitnehmen - einen Strohhut, eine bemalte Kokosnuss -, besitzt auch sie einen Schrank voller Kriegssouvenirs. Einer ihrer letzten Einsätze war Bagdad 2003. Wenige Stunden nachdem die amerikanischen Truppen Saddam Husseins Regierungspalast gestürmt hatten, schlich sie sich in die Privatgemächer. Im Speisesaal erspähte sie sechs vergoldete Weingläser, die sie prompt mitgehen ließ. Als ich sie neulich in Paris besuchte, servierte sie den Wein in diesen Gläsern. Jedermann war von dem Prunk begeistert. »Gibt es die bei Lafayette?«, fragte jemand. »Das sind Saddam Husseins Gläser«, sagte sie lakonisch. Eine aufgebrachte Kollegin spuckte den Wein angeekelt zurück ins Glas und begann hysterisch zu husten. Ich konnte nicht anders und musste noch einen draufsetzen: »Ist es dir eigentlich klar, wie viele Moleküle du mit jedem Atemzug einatmest, die Hussein auch schon in seiner Lunge hatte?«, fragt ich sie. »Ungefähr eine Milliarde.« Ihr Hustenanfall verstärkte sich noch.
WARUM WIR KEIN GEFÜHL FÜR DAS NICHTWISSEN HABEN
Aderlasseffekt
Ein Mann wird zum Arzt gebracht. Dieser schneidet ihm die Arterie des Unterarms auf und lässt das Blut herausspritzen - einen halben Liter. Der Mann fällt in Ohnmacht. Am nächsten Tag muss er fünf weitere Aderlässe über sich ergehen lassen. Bei den letzten drei Prozeduren will das Blut nicht mehr richtig herausschießen, also setzt der Arzt einen Glaskolben gefüllt mit heißer Luft an die Wunde. Die Luft kühlt sich ab, entwickelt ein Vakuum, und saugt das Blut aus dem Arm. Der Mann liegt nun halb tot mit sechs Schnittwunden im Bett. Jetzt setzt der Arzt Blutegel an die empfindlichsten Stellen der Wunden. Die Würmer saugen sich langsam voll. Wenn sie prall sind und vor Blut fast platzen, werden neue, hungrige Egel angesetzt. Nach drei Monaten wird der Patient entlassen - wenn er nicht gestorben ist.
Dieses Verfahren war gang und gäbe bis weit ins 19. Jahr hundert hinein. Die Idee des Aderlasses gründet auf der »Viersäftelehre« des Körpers. Nach dieser Theorie sind alle Krankheiten auf ein Ungleichgewicht von vier Säften - gelbe Galle, schwarze Galle, Schleim und Blut - zurückzuführen. Bei Akne, Asthma, Cholera, Diabetes, Epilepsie, Pest, Hirnschlag, Tuberkulose und hundert anderen Krankheiten hat der Körper angeblich zu viel Blut - darum Aderlass. Allein in den 1830er-Jahren importierte Frankreich deshalb über 40 Millionen Blutegel. Die Viersäftelehre hat die Medizin über 2.000 Jahre lang dominiert. Kaum eine andere wissenschaftliche Theorie konnte sich so lange halten, und das, obwohl sie kompletter Humbug war. Den meisten Patienten ging es ohne Aderlass nachweislich besser - was auch den Ärzten nicht verborgen blieb.
2.000 Jahre lang hat sich das medizinische Establishment an eine falsche Theorie geklammert - entgegen aller Evidenz. Warum? So unglaublich es klingt, aber die Viersäftelehre des Körpers ist exemplarisch für alle Theorien, die sich mit komplexen Systemen - Mensch, Börse, Kriege, Städte, Ökosysteme, Unternehmen - befassen. Wir geben eine falsche Theorie nicht auf, wenn sie sich als falsch erweist, sondern erst, wenn eine bessere in Sicht ist. Das ist alles andere als rational, aber keineswegs die Ausnahme. Nennen wir es den Aderlasseffekt.
Immer wieder befinden wir uns im Leben zwischen zwei Jobs, zwei Wohnorten oder Beziehungen - niemals aber zwischen zwei Ansichten. Stoßen wir eine weg, nehmen wir sofort eine neue an. Wir sind wie beziehungsunfähige Männer, die keinen Tag ohne Frau aushalten. Ansichten fühlen sich nur entweder »richtig« oder »falsch« an. Bewusste Ignoranz - die Einsicht, etwas (noch) nicht zu wissen - hat keinen Platz in unserer Gefühlswelt. Wir wissen nicht, wie sich das Nichtwissen anfühlen soll. Darum sind wir besser im Theorienerfinden als im Zugeben unserer Ignoranz. Das fiel zuerst dem Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn auf: Theorien kollabieren nie unter dem Gewicht ihrer eigenen Fehler. Sie kollabieren erst, wenn eine andere, scheinbar bessere Theorie vorhanden ist.
Warum ist das schlimm? Weil es diese bessere Theorie oft noch nicht gibt. Jahrzehntelang wurde der amerikanischen Notenbanker Alan Greenspan als Halbgott verehrt. Im Herbst 2008 implodierten die Finanzmärkte, und zumindest Greenspan wurde selbstkritisch. Vor den Kongressausschuss zitiert, sagte er aus: »Das ganze intellektuelle Gebäude kollabierte.« Der Vorsitzende fragte: »Sie realisierten also, dass Ihre Sicht der Welt, Ihr Gedankenmodell, falsch war?« »Präzise«, antwortete Greenspan. Da- mit meinte er die Theorie, dass die Wirtschaft über die Geldmenge zu steuern sei. Trotzdem halten die Regierungen der westlichen Welt bis heute eisern an dieser Theorie fest - mit allen Konsequenzen in puncto Verschuldung, Börsenkurse, Lebensstandard und Inflation. Und das nur, weil keine Alternative in Sicht ist - der typische Aderlasseffekt.
Der Aderlasseffekt spielt auch im Privaten eine Rolle. Wenn Sie intellektuell nicht ausbluten wollen, überprüfen Sie deshalb Ihre Anlagestrategie, Ihre Lebensphilosophie und Ihre Ansichten über andere Menschen regelmäßig. Wenn die Tatsachen gegen Ihre Theorien sprechen, geben Sie diese sofort auf. Und, wichtiger noch: Warten Sie nicht, bis Sie eine »bessere« Theorie gefunden haben. Das könnte 2.000 Jahre dauern.
WARUM SELBST GEMACHT BESSER SCHMECKT
Not-Invented-Here-Syndrom
Meine Kochkünste sind bescheiden, das weiß auch meine Frau. Und doch gelingt mir ab und zu ein Gericht, das man als essbar bezeichnen könnte. Vor einigen Wochen kaufte ich zwei Seezungen. Um der Langeweile bekannter Fischsoßen zu entgehen, erfand ich eine neue - eine waghalsige Kombination aus Weißwein, pürierten Pistazien, Honig, geraspelten Orangenschalen und einem Schuss Balsamico. Meine Frau zog die gebratene Seezunge auf den Tellerrand und streifte mit dem Messer die Soße vom Fisch, dazu lächelte sie entschuldigend. Mir hingegen schmeckte die Soße nicht schlecht. Ich erklärte ihr im Detail, welch kühne Kreation sie hier verpasse - was nichts an ihrem Gesichtsausdruck änderte.
Zwei Wochen später gab es wieder Seezunge. Diesmal kochte meine Frau. Sie hatte zwei Soßen parat. Zum einen ihre etablierte Butterschwitze, zum anderen die »Kreation eines französischen Top-Chefs«. Die zweite schmeckte scheußlich. Nach dem Essen gestand sie, dass es sich nicht um die Kreation eines französischen Top-Chefs handelte, sondern um meine eigene Kreation, die ich vor zwei Wochen ausprobiert hatte. Sie wollte mich testen und hatte mich aus Spaß dem Not-Invented-Here-Syndrom (NIH-Syndrom) überführt: Man findet alles schlecht, was »nicht hier erfunden« ist.
Das NIH-Syndrom bringt einen dazu, sich in die eigenen Ideen zu verlieben. Das gilt nicht nur für Fischsoßen, sondern für alle Arten von Lösungen, Geschäftsideen und Erfindungen. Firmen tendieren dazu, intern entwickelte Ideen als besser und wichtiger einzuschätzen als Lösungen von externen Anbietern, selbst wenn diese objektiv besser sind. Ich hatte vor Kurzem Lunch mit dem Geschäftsführer einer Softwarefirma, die sich auf Krankenkassen spezialisiert hat. Er erzählte mir, wie schwierig es sei, seine Software - in puncto Bedienung, Sicherheit und Funktionalität objektiv führend - den potenziellen Kunden schmackhaft zu machen. Die meisten Versicherer seien überzeugt, dass die beste Software genau jene ist, die sie selbst, im eigenen Haus, entwickelt haben.
Wenn Menschen zusammenkommen, um Lösungen zu finden, und diese gleich selbst bewerten, lässt sich das NIH-Syndrom schön beobachten. Die eigene Idee ist stets die beste. Sinnvoll ist es deshalb, Teams in zwei Gruppen aufzuspalten. Die eine Hälfte generiert Ideen, die andere bewertet - danach umgekehrt.
Geschäftsideen, die wir selbst erfunden haben, empfinden wir als erfolgreicher als Geschäftsideen von anderen. Das Syndrom ist verantwortlich für blühendes Unternehmertum. Und leider auch für die größtenteils miserablen Renditen von Start-ups.
Im Buch The Upside of Irrationality beschreibt der Psychologe Dan Ariely, wie er das NIH-Syndrom gemessen hat. Im Blog der New York Times bat er Leser, Antworten auf sechs Probleme zu geben. Zum Beispiel: »Wie können Städte den Wasserverbrauch senken, ohne per Gesetz den Verbrauch zu limitieren?« Die Leser sollten nicht nur Vorschläge machen, sondern ihre eigene Antwort und die Antworten der andern auf Anwendbarkeit beurteilen. Auch mussten sie angeben, wie viel Freizeit und eigenes Geld sie in die jeweilige Lösung investieren würden. Dazu kam, dass die Leser ihre Antworten aus einer Selektion von nur 50 Wörtern zusammensetzen durften - was sicherstellte, dass alle mehr oder weniger die gleichen Antworten gaben. Trotzdem: Die eigene Antwort wurde von der Mehrheit für wichtiger und anwendbarer gehalten als die fremden Antworten (die im Grunde die gleichen waren).
Auf gesellschaftlicher Ebene kann das NIH-Syndrom gravierende Auswirkungen haben. Schlaue Lösungen werden nicht übernommen, gerade weil sie aus einer anderen Kultur stammen. Dass der winzige Kanton Appenzell Innerrhoden den Frauen nie freiwillig das Stimmrecht gegeben hat (es brauchte einen Bundesgerichtsentscheid im Jahr 1990), ist ein verblüffender Fall von NIH. Oder: Noch heute sprechen wir von der »Entdeckung Amerikas« durch Kolumbus, obwohl Menschen dort schon lange lebten.
Fazit: Wir sind von unseren eigenen Ideen betrunken. Um wieder nüchtern zu werden, halten Sie ab und zu Abstand, und betrachten Sie die Qualität Ihrer Einfälle rückblickend. Welche Ideen der letzten zehn Jahre waren wirklich herausragend? Eben.
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© Carl Hanser Verlag, München
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Autoren-Porträt von Rolf Dobelli
Dobelli, RolfRolf Dobelli, geboren 1966, promovierte an der Universitat St. Gallen, war CEO verschiedener Tochtergesellschaften der Swissair-Gruppe und ist heute Unternehmer und Schriftsteller. Er ist Gründer von ZURICH.MINDS, einer Community von weltweit führenden Personlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft und Mitgrunder von getAbstract, dem weltgroßten Anbieter von komprimierter Wirtschaftsliteratur. Seine Romane erscheinen bei Diogenes, seine Sachbücher bei Hanser. Rolf Dobelli lebt in Bern.
Bibliographische Angaben
- Autor: Rolf Dobelli
- 2015, 14. Aufl., 248 Seiten, mit farbigen Abbildungen, mit Abbildungen, Maße: 12,3 x 18 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446432051
- ISBN-13: 9783446432055
- Erscheinungsdatum: 27.08.2012
Rezension zu „Die Kunst des klugen Handelns “
"Die angenehm kurzen Texte sind raffiniert aufgebaut, gut formuliert und regen zum Denken an." Guido Kalberer, Tages-Anzeiger 31.08.12"Die Fortsetzung von Dobellis Bestseller über Fußangeln des Denkens ist nicht schwächer als der erste Band und wartet mit einer in diesem Sachbuchgenre bemerkenswerten Einsicht auf: Wir brauchen keine zusätzliche Schlauheit, keine neuen Ideen, keine Hyperaktivität, wir brauchen nur weniger Dummheit. Dieses Buch ist ein bescheidener Beitrag dazu." Dennis Scheck, druckfrisch, 23.09.12
"Drei Seiten gelesen, und schon hat man wieder was gelernt." Franz Himpsl, Süddeutsche Zeitung, 22.09.12
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