Die Liebesangst
Roman
Über Liebe, Sex und alles, was dazugehört.
Leider schon ausverkauft
Buch
1.00 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Liebesangst “
Über Liebe, Sex und alles, was dazugehört.
Klappentext zu „Die Liebesangst “
Ingunn, 39, äußerst attraktiv und erfolgreich, ist eigentlich ganz zufrieden mit ihrem Leben. Sie kann jeden Mann haben, den sie will, und sie nimmt sich auch jeden, der ihr gefällt. Hauptsache, es sind keine Gefühle im Spiel! Denn Ingunns größte Angst ist es, verlassen zu werden; sie will diejenige sein, die verlässt. Doch dann lernt sie durch Zufall Tom kennen und verliebt sich auf der Stelle in ihn - für Ingunn ein Dilemma, beherrschte doch bisher der Kopf und nicht der Bauch ihre Gefühle und ihr Handeln. Auch wenn sie sich noch so sehr dagegen sträubt, Toms ernst gemeinten Avancen nachzugeben, kann sie die Veränderung in ihrem Leben nicht aufhalten. Als sie auch noch erfährt, dass sie schwanger ist, bekommt ihre sonst so professionelle Hülle endgültig Risse...
Lese-Probe zu „Die Liebesangst “
Die Liebesangst von Anne B. Ragde1
Sie ging immer dann, wenn ihr die ersten Anzeichen dafür auffielen, dass seine Liebe allmählich zu erlöschen begann. Doch dieses Mal hatte sie so lange mit dem Davonlaufen gewartet, bis sie spürte, wie ihr Puls ein wenig schneller wurde, wann immer er sie mit ernster Miene ansah und auf eine besondere Weise schnell Luft holte, ehe er etwas sagte. Sie wartete auf den Satz: Diese Beziehung läuft nicht mehr so richtig.
Mehrfach schon hatte sie verdrängt, dass sie diese Worte insgeheim erwartete, aber als die Erkenntnis dann im Bruchteil einer Übelkeit erregenden Sekunde bei ihr ankam, rief sie sofort die Kontoauskunft an, überprüfte ihr Guthaben, packte einen Koffer und drei Taschen, schmierte sich ein paar Brote als Proviant, füllte eine Thermoskanne mit Tee, lud alles ins Auto und fuhr nach Norden, bis sie vom Anblick der vorüberziehenden Telegraphenmasten und Peitschenlampen total erschöpft war.
Bei einem Schild, auf dem mit Hand geschrieben ZIMMER FREI stand, fuhr sie von der Straße ab und mietete sich im ersten Stock ein; ein Schlafzimmer mit eigenem Bad, im Haus eines alten Ehepaares mit einem Elchhund, der an einer langen Leine zwischen Wohnhaus und Holzschuppen hin und her lief. Dort wohnte sie drei Tage. Als seine Nachrichten immer panischer wurden, voller Verzweiflung, voller Liebe, wie sie sie lange, lange nicht mehr erlebt hatte, rief sie ihn bei der Arbeit an, mitten in der Mittagspause.
»Ich bin's.«
»O Gott, Ingunn. Warte eine Sekunde, ich geh nur schnell auf den Gang ...«
»Keine Panik. Ich leg schon nicht auf. Schließlich habe ich ja bei dir angerufen!«
... mehr
Sie hörte, wie er hart ins Telefon atmete, sah vor sich, wie er den kleinen Gegenstand, ein Nokia 8800 Saphire, an seine Wange presste, während er eilig auf dem langen Gang der Anwaltskanzlei eine ungestörte Stelle suchte. Sein Büro lag einen Stock höher, zu weit weg, um sich dort hinzuflüchten, sie hörte, wie er eine Tür öffnete, wusste, dass er auf den kleinen Balkon hinausging, auf dem sich nach dem Essen alle Raucher versammelten. Da die Mittagspause gerade erst angefangen hatte, stand er dort allein, das alles wusste sie über ihn, und noch viel mehr. Und fast alles an ihm glaubte sie zu lieben, er fehlte ihr so sehr, dass sie Salzgeschmack im Mund hatte.
Sie schaute den Elchhund an, der auf dem zertrampelten Rasen aussah wie ein graues Fellbüschel, er hatte sich die Leine um das eine Hinterbein gewickelt und zog mit dem Fuß daran, obwohl er zu schlafen schien. Seine buschigen Ohren drehten sich wie kleine Radargeräte, während er die Augen geschlossen hielt.
»Wo bist du, Ingunn? Ich habe bestimmt tausendmal bei dir angerufen. Hattest du kein Netz? Gestern Abend hätte ich fast die Polizei alarmiert. Bist du noch dran ...?«
»Ja ... Es ist aus mit uns.«
»Was? Hast du einen anderen? Willst du mir das damit sagen?«
»Nein ... Ich ...«
»Aber was zum Teufel soll das dann alles? Was zum Henker willst du damit ...?«
»... Ich hatte das Handy extra ausgeschaltet. Die ganze Zeit über.«
Es wurde still.
»Ich werde in zwei Wochen wieder zurück sein, und dann teilen wir das unter uns auf, was wir uns zusammen angeschafft haben«, sagte sie.
»Ich verstehe überhaupt nichts mehr.«
»Wir passen einfach nicht zusammen.«
»Das ist doch lächerlich. Lass uns treffen und darüber sprechen. Du kannst unmöglich allein entscheiden, ob wir beide zusammenpassen oder nicht!«
»Ich habe gesagt, es ist aus.«
»Also hast du doch jemand anderen kennengelernt? Gib es zu!«
»Nein, das habe ich nicht.«
»Du lügst.«
»Nein. Ich will einfach nur allein sein.«
»Lieber als mit mir zusammen?«
»Ja.«
2
Jedes Mal, wenn sich Ingunn von einem Mann trennte, litt sie meist mehr als derjenige, den sie verlassen hatte. Sie bildete sich ein, die Männer zu lieben und sie deshalb verlassen zu müssen. Das Einzige, was sie in diesen Situationen stets aufrecht hielt, war die pure Erleichterung darüber, nicht selbst am anderen Ende der Leitung zu sein.
Die Angst, verlassen zu werden, Ablehnung zu erfahren, den Rücken zugekehrt zu bekommen, nicht schön genug, klug genug, gut genug im Bett zu sein, nicht die attraktivste Frau, nicht die Auserwählte, nicht die Erste zu sein, an die er dachte, wenn etwas Schönes oder Trauriges passierte, nicht die Allererste zu sein, mit der er alles teilen wollte, ob es sich nun um eine ungerechte Buße wegen Falschparkens oder um etwas Witziges auf YouTube handelte - diese Angst konnte sie nicht ertragen. Ihr war klar, dass das albern und banal war. Aber die Welt wimmelte nur so von lächerlichen, sitzen gelassenen Menschen, mit denen alle Mitleid hatten.
Solche Menschen trugen ein Kainszeichen auf der Stirn, während andere sich das Maul darüber zerrissen, was mit ihm oder ihr wohl nicht stimmte, und sich gegenseitig an Feste und gesellige Ereignisse erinnerten, an denen die sitzen gelassene Person in spe sich unmöglich benommen oder blöde Dinge gesagt hatte, hoffnungslos stur gewesen war, Seiten gezeigt hatte, mit denen auf Dauer natürlich niemand leben konnte. Die Welt hatte in den Augen derer, die sich so herablassend äußerten, zu stimmen, damit sie selbst nachts nicht wachliegen und sich darum sorgen mussten, was in ihrer eigenen Beziehung alles schiefgehen konnte. Niemals wurden Liebesschwüre dem Gegenüber häufiger abverlangt als nach einer Trennung im engsten Freundeskreis. Wenn er sie verließ, musste etwas mit ihr nicht in Ordnung sein. Und umgekehrt. Aber der Verlassenen gegenüber bestand man darauf, dass es unbegreiflich sei, dass sie sitzen gelassen worden war, sicher hatte er eine Neue, auch wenn er das nicht zugeben wollte, eine andere Erklärung war unmöglich, er konnte doch nicht sehenden Auges eine Frau wie sie über Bord werfen.
Es gab so unendlich viele sitzen gelassene Frauen. Frauen, die es sogar immer wieder erlebten. Ingunn glaubte, dass Männer es besser ertragen konnten. Sie lernten früh, abgewiesen zu werden, sie hatten ihr Leben lang Abweisung erlebt, von der Mutterbrust, in der Pubertät mit all den unerreichbaren Mädchenunterhosen. Sie lernten, das nicht persönlich zu nehmen, sie lernten, damit zu leben. Sie wurden damit fertig.
3
»Lieber allein als zusammen mit mir?«
»Ja.«
Wenigstens konnte er wütend sein. Wenn er später am Boden zerstört wäre und sich vor Sehnsucht krankschreiben lassen müsste, dann würde es unendlich wichtig für ihn sein, dass sie nichts davon erfuhr. Diese Befriedigung sollte sie keinesfalls haben. Männer entwickelten Trotz, einen Selbsterhaltungstrieb, der seinen Ursprung im maskulinen Wesen haben musste, dachte sie.
Die Beziehung, die Ingunn im Nachhinein am beunruhigendsten erschien, war jene mit dem Typen aus Bergen. Da wäre es fast so weit gewesen, dass nicht sie ihn, sondern er sie verlassen hätte.
Es war ein Dienstag, Ende November. Er hatte das Wochenende bei ihr in Trondheim verbracht und ziemlich zerstreut gewirkt - schon bei seiner Ankunft, aber auch, als er wieder wegfuhr. Sie hatten das ganze Wochenende über so gut wie keinen Sex gehabt, nur einen blitzschnellen Fick hatte es gegeben, am Sonntagmorgen. Er hatte sie von hinten genommen, sie war nicht einmal feucht geworden. In den wenigen Minuten sprachen sie kein Wort miteinander, sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht zu stöhnen.
Als übergriffig war ihr dieser Akt nicht vorgekommen, er befriedigte nur ein Bedürfnis, wie ein Glas Wasser zu trinken, und zufällig lag sie da und hatte ihm den Hintern
zugekehrt.
Sie nahm es nicht persönlich.
Als er fertig war und aus ihr herausglitt, griff sie sich eine Handvoll Kleenex vom Nachttisch, stopfte sie sich in den Schritt und ging ins Badezimmer, wobei sie ihm noch immer den Rücken kehrte. Sie dachte an nichts Besonderes, war eben erst aufgewacht und steckte mit ihren Gedanken noch halb in einem seltsamen Traum, der von Eiern handelte, bei denen die Schale nur in winzig kleinen Stücken abging.
Sie duschte, zog sich an und rief ins Schlafzimmer, ob er ein Ei zum Frühstück wollte, weil doch Sonntag sei. Das waren die ersten Worte, die sie an diesem Tag wechselten.
»Ja, auf beiden Seiten gebraten und mit zerstochenem Dotter«, antwortete er.
Später dachte sie bei sich, ihr Traum sei vielleicht ein Omen gewesen. Wenn sie abergläubisch gewesen wäre, hätte sie ihn zweifelsohne als Omen bewertet, immerhin hatte sein kurzer Höhepunkt sie geschwängert.
Nachdem sie ihn zum Flughafen gefahren hatte und auf dem Heimweg auf der Autobahn unterwegs war, dachte sie darüber nach, wie nah dran sie gewesen war, von einem Mann verlassen zu werden. Sie musste dringend Schluss machen, bevor es zu spät war. Nicht eine Sekunde hätte es sie gewundert, wenn er ihr nach ihrer mechanischen Umarmung in der Abflughalle für immer Adieu gesagt hätte. Dann wäre sie an einem Sonntag im November allein dagestanden, alleine und sitzen gelassen. Nur einen Monat vor Weihnachten, wie hätte das denn ausgesehen?
Als er zu Hause ankam, schickte er ihr eine SMS. Sie antwortete ihm mit einem Smiley und mit »Vermiss dich«, um ihn bei Laune zu halten. Am Montag drauf leitete sie ihm per E-Mail einige Links weiter, er war ein fanatischer Segler. Sie waren nie zusammen gesegelt, und bei der bloßen Vorstellung bekam sie schon eine Höllenangst. Aber sie wollte ihre Angst nicht zugeben, weshalb sie Interesse vortäuschte und im Internet nach spannenden und ausgefallenen Dingen suchte, die mit Segeln zu tun hatten. Bei ihren Recherchen entdeckte sie unter anderem einen Beitrag über ein Segelboot von zweiundvierzig Fuß, das in einem tropischen Zyklon vor der indonesischen Küste hoffnungslos untergegangen war. Am Dienstag rief sie ihn an und machte Schluss.
»Schluss?«
»Ja. Diese Beziehung führt zu nichts.«
»Na gut«, sagte er.
»Es tut mir leid, wenn ich ...«
»Schon in Ordnung«, sagte er. »Dann brauche ich zu Weihnachten nicht nach Trondheim fahren, dieses Scheiß- Hin- und Hergefahre habe ich eh zum Kotzen satt.«
»Das Hin- und Hergefahre oder mich?«, fragte sie.
»Beides, wenn ich ehrlich bin.«
»Ja, dann. Okay. Und ich hab dich zum Kotzen satt.«
So nah am Sitzengelassen werden war sie noch nie gewesen.
4
Sie sagte ihm nicht, dass sie schwanger war, warum hätte sie das tun sollen? Sie sprachen nicht mehr miteinander.
Ein halbes Jahr später begegnete sie ihm vor einem Kino, ausgerechnet in Oslo. Er wollte sich einen James- Bond-Film ansehen. Allein, was sie freute. Sie selbst war mit einem neuen Mann zusammen, einem ziemlich bekannten Fußballtrainer, was er später an diesem Abend per SMS kommentierte.
»Wusste gar nicht, dass du dich für Fußball interessierst? «
Also hatte er ihre Nummer nicht gelöscht. Sie seine auch nicht, sein Name tauchte im Display auf, und sie antwortete: »Doch, einzelne Aspekte von Bällen können faszinierend sein. Guter Film?«
Er antwortete mit einem Smiley, dem schwächsten, dem, der ein Lächeln nur andeutete.
Die Abtreibung überstand sie problemlos allein. Sie löschte ihre Erinnerung an den eiligen Sonntagsfick einfach aus dem Gedächtnis und schaltete den Gedanken aus, dass ein Fötus mehr ist als eine unerwünschte Visitenkarte, ein Fussel im Auge, der schnell entfernt werden muss, eine Fischgräte im Hals, weiße Hundehaare auf einem schwarzen Hosenbein, ein totes Blatt unter dem Scheibenwischer, ein Stück Eierschale im Waffelteig. Sie ließ sich bei der Gelegenheit gleich eine neue Spirale einsetzen, die alte war von selbst herausgefallen.
Wenn sie abergläubisch gewesen wäre, dann hätte sie auch das als Omen betrachtet. Dass ihr Gebärmutter- hals sich auf eigene Faust öffnete und die Spirale ausstieß, um Spermien herzlich willkommen zu heißen. War es etwa möglich, dass sie und er eine geradezu himmlische DNA-Paarung aufwiesen, etwas, das ihr Gebärmutterhals vielleicht ermittelt hatte? Sie würde es nie erfahren. Sie blutete zwei Tage lang. Und sie warf die wenigen Gegenstände weg, die er bei ihr hinterlassen hatte. Rasierapparat, eine abgenutzte Zahnbürste, ein paar weiße Boxershorts und T-Shirts, einen Deostift von Boss, an dem sie lange schnupperte, einen Stapel Krimis, die er als Reise lektüre benutzt hatte, sowie einen Stapel der von ihr abonnierten Zeitung Morgenbladet, den sie um nichts in der Welt hatte wegwerfen dürfen, obwohl sie wusste, dass er diese blöden Zeitungen nur so wichtig nahm, um sie zu beeindrucken. Nichts hatte ihm mehr Spaß bereitet, als sie mit kulturpolitischen Fragen in die Ecke zu manövrieren, als müsse sie die Superexpertin in allen kleinen und großen kulturellen Interessengebieten sein, nur weil sie als Musikjournalistin arbeitete.
Zum Glück hatte sie schnell begriffen, dass hier lediglich Minderwertigkeitskomplexe zum Ausdruck kamen. Er war Naturwissenschaftler und Betriebswirt und hatte ständig Angst davor, von Bjørn Gabrielsen von Dagens Næringsliv mit der Frage angerufen zu werden, was gerade auf seinem Nachttisch lag. Na, hätte er dann antworten können - kein Buch, sondern ein ungelesener Stapel Morgenbladet. Sie warf auch einen absolut brauchbaren Isländerpullover mit schwarzweißem Fischgrätenmuster weg, nachdem sie ebenso lange daran geschnuppert hatte wie an dem Deostift.
5
Aber noch schlimmer war es mit dem, der ihr nach der Trennung Briefe schickte. Er war sechzehn Jahre jünger als sie, zum fraglichen Zeitpunkt erst zweiundzwanzig, so jung, dass sie sich mit ihm in der Öffentlichkeit nicht sehen lassen wollte. Er war eine Ausnahme, er hatte das Abgewiesenwerden offenbar noch nicht trainiert. Er sah so unglaublich gut aus, dass er sicher noch niemals verschmäht worden war. Bestimmt hatte seine Mutter ihn gestillt, bis er fünf Jahre alt gewesen war, und danach war er von einem Schoß zum anderen weitergereicht worden, bis ihm der Verdacht gekommen war, was sich in der Tiefe eines solchen Schoßes befand. Bei seinem sexuellen Debüt war er vierzehn gewesen, erzählte er.
»Und wie alt war das Mädchen?«
»Auch vierzehn.«
»Und niemand hat euch dabei erwischt?«
»Wir haben es draußen im Wald gemacht. Sie war Jungfrau und hat furchtbar geweint, während wir zugange waren und auch noch danach. Ich hatte mir verdammt noch mal dabei beide Knie aufgescheuert.«
»Das arme Mädchen.«
»Das arme Mädchen? Und was ist mit mir? Und meinen Knien?«
»Nun, es hat dir offenbar Lust auf mehr bereitet. Trotz allem.«
»Ja, klar. Wir waren mehrere Monate zusammen und haben meinem Bruder Kondome gestohlen. Sie hat sich mit Filzstift ein Herz auf den Arm gemalt und meinen Namen reingeschrieben, ich fand das super, kam mir richtig erwachsen vor.«
»Hat sie aufgehört, beim Vögeln zu weinen?«
»Ja, absolut. Nur fanden wir im Herbst dann keinen Ort mehr zum Vögeln, und damit war die Sache beendet.«
Er war ein phantastischer Liebhaber, sie wollte immer bei Licht mit ihm schlafen, weil er so schön war. Ihre eigenen Wülste und Cellulitis versuchte sie nicht einmal zu verbergen, sie hatte früh gelernt, dass Männer auf Geilheit abfuhren und nicht auf körperliche Perfektion, und Geilheit konnte sie wirklich eimerweise liefern.
Er war wie eine Maschine, ein Duracell-Kaninchen, er hatte seine Orgasmen vollkommen unter Kontrolle, ebenso seine steinharten Armmuskeln, die er einer Jahreskarte bei Sats zu verdanken hatte. Nie wurde er müde. Im Gegensatz zu ihr - nicht physisch, aber davon, mit ihm allein zu sein, wenn er sie besuchen kam. Er arbeitete als frischgebackener Polizist in Stavanger, sie hatte ihn in Fredrikstad in einem Straßencafé kennengelernt, als sie allein am Tisch saß und er sie um ihren Salzstreuer bat. Er hatte Hähnchen und Pommes gegessen und beim Essen mit offenem Mund gesprochen, sie fand das nicht im Geringsten abstoßend und wusste sofort, wie die Sache enden würde.
Nachdem sie ihn mit einem Blick bedacht hatte, der gerade den Bruchteil einer Sekunde zu lang gewesen war, setzte er sich an ihren Tisch, als sein Kumpel ging. Er war dienstlich in Fredrikstad, irgendetwas mit organisiertem Autodiebstahl, und hatte ein Hotelzimmer. Sie selbst war privat untergekommen. Sie hatte noch nie mit einem so schönen Mann geschlafen, braune Haut, steinharter Körper, alle Haare im Schritt wegrasiert. Sein Schweißgeruch erinnerte sie an den Duft von Kokos, vielleicht lag es an irgendeiner Creme.
Später kam er immer für drei, vier Tage am Stück nach Trondheim.
Bald gingen ihnen die Gesprächsthemen aus.
Er interessierte sich für Sport und Fitness, wies keinerlei politisches Engagement auf, sie machte einen Bogen um etliche Themen, hatte furchtbare Angst, er könnte sich als potenzieller Anhänger der Rechtsliberalen entpuppen und das könnte abtörnend wirken. Wenn er ab und zu eine Bemerkung über Ausländer und Kriminalität fallen ließ, wechselte sie sofort das Thema. Deshalb war es ein fach ausgeschlossen, sich mit ihm in aller Öffentlichkeit zu zeigen.
»Hast du keine Freunde?«, fragte er.
»Doch.«
»Und warum darf ich die nicht kennenlernen? Warum kommt nie jemand her?«
»Weil sie wissen, dass ich Besuch habe.«
»Aber wir können doch nicht die ganze Zeit vögeln?«
»Doch! Und den Rest der Zeit brauche ich, um wieder zu Kräften zu kommen.«
Er lachte und zog sie zu sich heran, sie streichelte seinen muskulösen Rücken und kniff in seine Pobacke. Nicht einmal, wenn sie aus allen Kräften zupackte, tat es ihm weh.
Auch mit ihm machte sie per Telefon Schluss.
6
Er reagierte total überraschend. Plötzlich liebte er sie. Liebte sie! Dieses Wort hatten sie nie benutzt. Und er weinte. Weinte! Sie saß ganz still am Küchentisch und lauschte der sechzehn Jahre jüngeren Stimme am Telefon. Egal, was sie sagte, es war falsch. Und sie brachte es einfach nicht übers Herz, ihm zu erklären, dass sie nur seinen Körper und den kolbenharten phantastischen Sex liebte, dass die Sache aber inzwischen zu einseitig und seltsamerweise einsam geworden war. Er brachte den Altersunterschied aufs Tapet, sicher mache sie deshalb Schluss, sie unterwerfe sich den gesellschaftlichen Konventionen - wenn er diesen Ausdruck auch nicht benutzte. Sie stritt es energisch ab, aber er glaubte ihr nicht.
»Scheiße, du bist doch total altersfixiert«, schimpfte er. »Was ist denn Alter, zum Teufel? Verdammt ...«
Mehrmals versuchte sie, das Gespräch zu beenden, ohne Erfolg.
»Du kannst doch jede haben, die du willst«, sagte sie. »Das weißt du genau.«
Aber er wollte nicht jede, er wollte sie.
»Du schämst dich für mich«, erklärte er.
Auf absurde Weise stimmte das, obwohl sie wusste, dass jedes weibliche Wesen in Trondheim, das älter als dreizehn war, sie vor Neid gehasst hätte, wenn sie mit ihm an einem Sommertag Hand in Hand am Flussufer entlangspaziert wäre.
»Ich habe einen anderen kennengelernt«, sagte sie endlich.
Da legte er auf.
Und dann kamen die Briefe. Voller Rechtschreibfehler und Floskeln von der Sorte: Ich kann mit dir nicht leben, aber ohne dich geht es auch nicht. Sie musste beim Lesen die Augen zusammenkneifen und warf die Briefe gleich weg, fast, um ihn vor sich selbst zu schützen.
Später fing er an, gleichzeitig zu den handgeschriebenen Briefen auch noch E-Mails zu schicken. Er fehlte ihr schrecklich, das musste sie zugeben, und sie ärgerte sich darüber, mit ihm Schluss gemacht zu haben. Es würde unendlich lange dauern, bis sie wieder einen so phantastisch guten Liebhaber fände, aber bei all den Gefühlen, mit denen er sie überschüttete, konnte sie die Trennung unmöglich zurücknehmen. Er würde glauben, dass sie seine Gefühle erwiderte, und so zynisch wollte sie nicht sein. Es wäre die pure Ausbeutung. Aber ungeheuer verlockend.
Als einige Zeit darauf ein Arbeitskollege von ihm anrief und sagte, er habe Angst, er könne sich etwas antun, nahm sie das Flugzeug nach Stavanger. Er erwartete sie am Flughafen, und im Auto glaubte sie, er werde sie plattdrücken.
»Ich bin nur gekommen, weil ich Angst um dich habe«, sagte sie. »Weil es dir so schlecht geht. Nicht, weil ich ... dass wir ...«
Sie fühlte sich erbärmlich, als sie zwei Tage darauf wieder ins Flugzeug stieg. Aber nun hatte er es begriffen, auch wenn sie eine Lüge nach der anderen hatte auftischen müssen, über diesen neuen Mann, während sie das Bett fast nicht verlassen hatten und der Sex besser gewesen war denn je. Sie konnte keine offene Beziehung zu einem sechzehn Jahre jüngeren Mann haben. Sie liebte ihn auch nicht, jedenfalls nicht, nachdem sie gesehen hatte, auf welche unbegreiflich hoffnungslose Weise er mit seiner eigenen Muttersprache umging. Wurden an der Polizeihochschule denn überhaupt keine sprachlichen Anforderungen gestellt? Mussten sie denn ihre Vernehmungsprotokolle und Fallberichte nicht auf ordentliche und verständliche Weise formulieren?
Sie stellte sich schlafend, als die Stewardess den Kaffee brachte, sie döste mit der Wange am kalten Fenster. Seine Haut war immer warm, von der guten Durchblutung nach dem vielen Training. Nie wieder würde sie ihn in sich spüren, ihre Knie bis zu seinen Wangen heben, seine Hinterbacken mit den Händen umfassen, spüren, wie seine Gesäßmuskeln auf und ab federten, als wären sie gefüllt mit kräftigen kleinen Tieren, die mit hängender Zunge keuchten. Nie wieder würde sie seinen Schweiß kosten, der von seinen Schläfen auf sie heruntertropfte, und seine unbegreifliche Kraft spüren, von den Fersen bis zu den Handgelenken, konzentriert darauf, sie so viel wie möglich empfinden zu lassen, sein Blick in ihrem.
»Komm, komm, komm«, hatte er gesagt, »komm zu mir.«
Sie öffnete die Augen und betrachtete einen Aufkleber von Ventelo, der unter der Tischklappe klebte.
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Sie hörte, wie er hart ins Telefon atmete, sah vor sich, wie er den kleinen Gegenstand, ein Nokia 8800 Saphire, an seine Wange presste, während er eilig auf dem langen Gang der Anwaltskanzlei eine ungestörte Stelle suchte. Sein Büro lag einen Stock höher, zu weit weg, um sich dort hinzuflüchten, sie hörte, wie er eine Tür öffnete, wusste, dass er auf den kleinen Balkon hinausging, auf dem sich nach dem Essen alle Raucher versammelten. Da die Mittagspause gerade erst angefangen hatte, stand er dort allein, das alles wusste sie über ihn, und noch viel mehr. Und fast alles an ihm glaubte sie zu lieben, er fehlte ihr so sehr, dass sie Salzgeschmack im Mund hatte.
Sie schaute den Elchhund an, der auf dem zertrampelten Rasen aussah wie ein graues Fellbüschel, er hatte sich die Leine um das eine Hinterbein gewickelt und zog mit dem Fuß daran, obwohl er zu schlafen schien. Seine buschigen Ohren drehten sich wie kleine Radargeräte, während er die Augen geschlossen hielt.
»Wo bist du, Ingunn? Ich habe bestimmt tausendmal bei dir angerufen. Hattest du kein Netz? Gestern Abend hätte ich fast die Polizei alarmiert. Bist du noch dran ...?«
»Ja ... Es ist aus mit uns.«
»Was? Hast du einen anderen? Willst du mir das damit sagen?«
»Nein ... Ich ...«
»Aber was zum Teufel soll das dann alles? Was zum Henker willst du damit ...?«
»... Ich hatte das Handy extra ausgeschaltet. Die ganze Zeit über.«
Es wurde still.
»Ich werde in zwei Wochen wieder zurück sein, und dann teilen wir das unter uns auf, was wir uns zusammen angeschafft haben«, sagte sie.
»Ich verstehe überhaupt nichts mehr.«
»Wir passen einfach nicht zusammen.«
»Das ist doch lächerlich. Lass uns treffen und darüber sprechen. Du kannst unmöglich allein entscheiden, ob wir beide zusammenpassen oder nicht!«
»Ich habe gesagt, es ist aus.«
»Also hast du doch jemand anderen kennengelernt? Gib es zu!«
»Nein, das habe ich nicht.«
»Du lügst.«
»Nein. Ich will einfach nur allein sein.«
»Lieber als mit mir zusammen?«
»Ja.«
2
Jedes Mal, wenn sich Ingunn von einem Mann trennte, litt sie meist mehr als derjenige, den sie verlassen hatte. Sie bildete sich ein, die Männer zu lieben und sie deshalb verlassen zu müssen. Das Einzige, was sie in diesen Situationen stets aufrecht hielt, war die pure Erleichterung darüber, nicht selbst am anderen Ende der Leitung zu sein.
Die Angst, verlassen zu werden, Ablehnung zu erfahren, den Rücken zugekehrt zu bekommen, nicht schön genug, klug genug, gut genug im Bett zu sein, nicht die attraktivste Frau, nicht die Auserwählte, nicht die Erste zu sein, an die er dachte, wenn etwas Schönes oder Trauriges passierte, nicht die Allererste zu sein, mit der er alles teilen wollte, ob es sich nun um eine ungerechte Buße wegen Falschparkens oder um etwas Witziges auf YouTube handelte - diese Angst konnte sie nicht ertragen. Ihr war klar, dass das albern und banal war. Aber die Welt wimmelte nur so von lächerlichen, sitzen gelassenen Menschen, mit denen alle Mitleid hatten.
Solche Menschen trugen ein Kainszeichen auf der Stirn, während andere sich das Maul darüber zerrissen, was mit ihm oder ihr wohl nicht stimmte, und sich gegenseitig an Feste und gesellige Ereignisse erinnerten, an denen die sitzen gelassene Person in spe sich unmöglich benommen oder blöde Dinge gesagt hatte, hoffnungslos stur gewesen war, Seiten gezeigt hatte, mit denen auf Dauer natürlich niemand leben konnte. Die Welt hatte in den Augen derer, die sich so herablassend äußerten, zu stimmen, damit sie selbst nachts nicht wachliegen und sich darum sorgen mussten, was in ihrer eigenen Beziehung alles schiefgehen konnte. Niemals wurden Liebesschwüre dem Gegenüber häufiger abverlangt als nach einer Trennung im engsten Freundeskreis. Wenn er sie verließ, musste etwas mit ihr nicht in Ordnung sein. Und umgekehrt. Aber der Verlassenen gegenüber bestand man darauf, dass es unbegreiflich sei, dass sie sitzen gelassen worden war, sicher hatte er eine Neue, auch wenn er das nicht zugeben wollte, eine andere Erklärung war unmöglich, er konnte doch nicht sehenden Auges eine Frau wie sie über Bord werfen.
Es gab so unendlich viele sitzen gelassene Frauen. Frauen, die es sogar immer wieder erlebten. Ingunn glaubte, dass Männer es besser ertragen konnten. Sie lernten früh, abgewiesen zu werden, sie hatten ihr Leben lang Abweisung erlebt, von der Mutterbrust, in der Pubertät mit all den unerreichbaren Mädchenunterhosen. Sie lernten, das nicht persönlich zu nehmen, sie lernten, damit zu leben. Sie wurden damit fertig.
3
»Lieber allein als zusammen mit mir?«
»Ja.«
Wenigstens konnte er wütend sein. Wenn er später am Boden zerstört wäre und sich vor Sehnsucht krankschreiben lassen müsste, dann würde es unendlich wichtig für ihn sein, dass sie nichts davon erfuhr. Diese Befriedigung sollte sie keinesfalls haben. Männer entwickelten Trotz, einen Selbsterhaltungstrieb, der seinen Ursprung im maskulinen Wesen haben musste, dachte sie.
Die Beziehung, die Ingunn im Nachhinein am beunruhigendsten erschien, war jene mit dem Typen aus Bergen. Da wäre es fast so weit gewesen, dass nicht sie ihn, sondern er sie verlassen hätte.
Es war ein Dienstag, Ende November. Er hatte das Wochenende bei ihr in Trondheim verbracht und ziemlich zerstreut gewirkt - schon bei seiner Ankunft, aber auch, als er wieder wegfuhr. Sie hatten das ganze Wochenende über so gut wie keinen Sex gehabt, nur einen blitzschnellen Fick hatte es gegeben, am Sonntagmorgen. Er hatte sie von hinten genommen, sie war nicht einmal feucht geworden. In den wenigen Minuten sprachen sie kein Wort miteinander, sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht zu stöhnen.
Als übergriffig war ihr dieser Akt nicht vorgekommen, er befriedigte nur ein Bedürfnis, wie ein Glas Wasser zu trinken, und zufällig lag sie da und hatte ihm den Hintern
zugekehrt.
Sie nahm es nicht persönlich.
Als er fertig war und aus ihr herausglitt, griff sie sich eine Handvoll Kleenex vom Nachttisch, stopfte sie sich in den Schritt und ging ins Badezimmer, wobei sie ihm noch immer den Rücken kehrte. Sie dachte an nichts Besonderes, war eben erst aufgewacht und steckte mit ihren Gedanken noch halb in einem seltsamen Traum, der von Eiern handelte, bei denen die Schale nur in winzig kleinen Stücken abging.
Sie duschte, zog sich an und rief ins Schlafzimmer, ob er ein Ei zum Frühstück wollte, weil doch Sonntag sei. Das waren die ersten Worte, die sie an diesem Tag wechselten.
»Ja, auf beiden Seiten gebraten und mit zerstochenem Dotter«, antwortete er.
Später dachte sie bei sich, ihr Traum sei vielleicht ein Omen gewesen. Wenn sie abergläubisch gewesen wäre, hätte sie ihn zweifelsohne als Omen bewertet, immerhin hatte sein kurzer Höhepunkt sie geschwängert.
Nachdem sie ihn zum Flughafen gefahren hatte und auf dem Heimweg auf der Autobahn unterwegs war, dachte sie darüber nach, wie nah dran sie gewesen war, von einem Mann verlassen zu werden. Sie musste dringend Schluss machen, bevor es zu spät war. Nicht eine Sekunde hätte es sie gewundert, wenn er ihr nach ihrer mechanischen Umarmung in der Abflughalle für immer Adieu gesagt hätte. Dann wäre sie an einem Sonntag im November allein dagestanden, alleine und sitzen gelassen. Nur einen Monat vor Weihnachten, wie hätte das denn ausgesehen?
Als er zu Hause ankam, schickte er ihr eine SMS. Sie antwortete ihm mit einem Smiley und mit »Vermiss dich«, um ihn bei Laune zu halten. Am Montag drauf leitete sie ihm per E-Mail einige Links weiter, er war ein fanatischer Segler. Sie waren nie zusammen gesegelt, und bei der bloßen Vorstellung bekam sie schon eine Höllenangst. Aber sie wollte ihre Angst nicht zugeben, weshalb sie Interesse vortäuschte und im Internet nach spannenden und ausgefallenen Dingen suchte, die mit Segeln zu tun hatten. Bei ihren Recherchen entdeckte sie unter anderem einen Beitrag über ein Segelboot von zweiundvierzig Fuß, das in einem tropischen Zyklon vor der indonesischen Küste hoffnungslos untergegangen war. Am Dienstag rief sie ihn an und machte Schluss.
»Schluss?«
»Ja. Diese Beziehung führt zu nichts.«
»Na gut«, sagte er.
»Es tut mir leid, wenn ich ...«
»Schon in Ordnung«, sagte er. »Dann brauche ich zu Weihnachten nicht nach Trondheim fahren, dieses Scheiß- Hin- und Hergefahre habe ich eh zum Kotzen satt.«
»Das Hin- und Hergefahre oder mich?«, fragte sie.
»Beides, wenn ich ehrlich bin.«
»Ja, dann. Okay. Und ich hab dich zum Kotzen satt.«
So nah am Sitzengelassen werden war sie noch nie gewesen.
4
Sie sagte ihm nicht, dass sie schwanger war, warum hätte sie das tun sollen? Sie sprachen nicht mehr miteinander.
Ein halbes Jahr später begegnete sie ihm vor einem Kino, ausgerechnet in Oslo. Er wollte sich einen James- Bond-Film ansehen. Allein, was sie freute. Sie selbst war mit einem neuen Mann zusammen, einem ziemlich bekannten Fußballtrainer, was er später an diesem Abend per SMS kommentierte.
»Wusste gar nicht, dass du dich für Fußball interessierst? «
Also hatte er ihre Nummer nicht gelöscht. Sie seine auch nicht, sein Name tauchte im Display auf, und sie antwortete: »Doch, einzelne Aspekte von Bällen können faszinierend sein. Guter Film?«
Er antwortete mit einem Smiley, dem schwächsten, dem, der ein Lächeln nur andeutete.
Die Abtreibung überstand sie problemlos allein. Sie löschte ihre Erinnerung an den eiligen Sonntagsfick einfach aus dem Gedächtnis und schaltete den Gedanken aus, dass ein Fötus mehr ist als eine unerwünschte Visitenkarte, ein Fussel im Auge, der schnell entfernt werden muss, eine Fischgräte im Hals, weiße Hundehaare auf einem schwarzen Hosenbein, ein totes Blatt unter dem Scheibenwischer, ein Stück Eierschale im Waffelteig. Sie ließ sich bei der Gelegenheit gleich eine neue Spirale einsetzen, die alte war von selbst herausgefallen.
Wenn sie abergläubisch gewesen wäre, dann hätte sie auch das als Omen betrachtet. Dass ihr Gebärmutter- hals sich auf eigene Faust öffnete und die Spirale ausstieß, um Spermien herzlich willkommen zu heißen. War es etwa möglich, dass sie und er eine geradezu himmlische DNA-Paarung aufwiesen, etwas, das ihr Gebärmutterhals vielleicht ermittelt hatte? Sie würde es nie erfahren. Sie blutete zwei Tage lang. Und sie warf die wenigen Gegenstände weg, die er bei ihr hinterlassen hatte. Rasierapparat, eine abgenutzte Zahnbürste, ein paar weiße Boxershorts und T-Shirts, einen Deostift von Boss, an dem sie lange schnupperte, einen Stapel Krimis, die er als Reise lektüre benutzt hatte, sowie einen Stapel der von ihr abonnierten Zeitung Morgenbladet, den sie um nichts in der Welt hatte wegwerfen dürfen, obwohl sie wusste, dass er diese blöden Zeitungen nur so wichtig nahm, um sie zu beeindrucken. Nichts hatte ihm mehr Spaß bereitet, als sie mit kulturpolitischen Fragen in die Ecke zu manövrieren, als müsse sie die Superexpertin in allen kleinen und großen kulturellen Interessengebieten sein, nur weil sie als Musikjournalistin arbeitete.
Zum Glück hatte sie schnell begriffen, dass hier lediglich Minderwertigkeitskomplexe zum Ausdruck kamen. Er war Naturwissenschaftler und Betriebswirt und hatte ständig Angst davor, von Bjørn Gabrielsen von Dagens Næringsliv mit der Frage angerufen zu werden, was gerade auf seinem Nachttisch lag. Na, hätte er dann antworten können - kein Buch, sondern ein ungelesener Stapel Morgenbladet. Sie warf auch einen absolut brauchbaren Isländerpullover mit schwarzweißem Fischgrätenmuster weg, nachdem sie ebenso lange daran geschnuppert hatte wie an dem Deostift.
5
Aber noch schlimmer war es mit dem, der ihr nach der Trennung Briefe schickte. Er war sechzehn Jahre jünger als sie, zum fraglichen Zeitpunkt erst zweiundzwanzig, so jung, dass sie sich mit ihm in der Öffentlichkeit nicht sehen lassen wollte. Er war eine Ausnahme, er hatte das Abgewiesenwerden offenbar noch nicht trainiert. Er sah so unglaublich gut aus, dass er sicher noch niemals verschmäht worden war. Bestimmt hatte seine Mutter ihn gestillt, bis er fünf Jahre alt gewesen war, und danach war er von einem Schoß zum anderen weitergereicht worden, bis ihm der Verdacht gekommen war, was sich in der Tiefe eines solchen Schoßes befand. Bei seinem sexuellen Debüt war er vierzehn gewesen, erzählte er.
»Und wie alt war das Mädchen?«
»Auch vierzehn.«
»Und niemand hat euch dabei erwischt?«
»Wir haben es draußen im Wald gemacht. Sie war Jungfrau und hat furchtbar geweint, während wir zugange waren und auch noch danach. Ich hatte mir verdammt noch mal dabei beide Knie aufgescheuert.«
»Das arme Mädchen.«
»Das arme Mädchen? Und was ist mit mir? Und meinen Knien?«
»Nun, es hat dir offenbar Lust auf mehr bereitet. Trotz allem.«
»Ja, klar. Wir waren mehrere Monate zusammen und haben meinem Bruder Kondome gestohlen. Sie hat sich mit Filzstift ein Herz auf den Arm gemalt und meinen Namen reingeschrieben, ich fand das super, kam mir richtig erwachsen vor.«
»Hat sie aufgehört, beim Vögeln zu weinen?«
»Ja, absolut. Nur fanden wir im Herbst dann keinen Ort mehr zum Vögeln, und damit war die Sache beendet.«
Er war ein phantastischer Liebhaber, sie wollte immer bei Licht mit ihm schlafen, weil er so schön war. Ihre eigenen Wülste und Cellulitis versuchte sie nicht einmal zu verbergen, sie hatte früh gelernt, dass Männer auf Geilheit abfuhren und nicht auf körperliche Perfektion, und Geilheit konnte sie wirklich eimerweise liefern.
Er war wie eine Maschine, ein Duracell-Kaninchen, er hatte seine Orgasmen vollkommen unter Kontrolle, ebenso seine steinharten Armmuskeln, die er einer Jahreskarte bei Sats zu verdanken hatte. Nie wurde er müde. Im Gegensatz zu ihr - nicht physisch, aber davon, mit ihm allein zu sein, wenn er sie besuchen kam. Er arbeitete als frischgebackener Polizist in Stavanger, sie hatte ihn in Fredrikstad in einem Straßencafé kennengelernt, als sie allein am Tisch saß und er sie um ihren Salzstreuer bat. Er hatte Hähnchen und Pommes gegessen und beim Essen mit offenem Mund gesprochen, sie fand das nicht im Geringsten abstoßend und wusste sofort, wie die Sache enden würde.
Nachdem sie ihn mit einem Blick bedacht hatte, der gerade den Bruchteil einer Sekunde zu lang gewesen war, setzte er sich an ihren Tisch, als sein Kumpel ging. Er war dienstlich in Fredrikstad, irgendetwas mit organisiertem Autodiebstahl, und hatte ein Hotelzimmer. Sie selbst war privat untergekommen. Sie hatte noch nie mit einem so schönen Mann geschlafen, braune Haut, steinharter Körper, alle Haare im Schritt wegrasiert. Sein Schweißgeruch erinnerte sie an den Duft von Kokos, vielleicht lag es an irgendeiner Creme.
Später kam er immer für drei, vier Tage am Stück nach Trondheim.
Bald gingen ihnen die Gesprächsthemen aus.
Er interessierte sich für Sport und Fitness, wies keinerlei politisches Engagement auf, sie machte einen Bogen um etliche Themen, hatte furchtbare Angst, er könnte sich als potenzieller Anhänger der Rechtsliberalen entpuppen und das könnte abtörnend wirken. Wenn er ab und zu eine Bemerkung über Ausländer und Kriminalität fallen ließ, wechselte sie sofort das Thema. Deshalb war es ein fach ausgeschlossen, sich mit ihm in aller Öffentlichkeit zu zeigen.
»Hast du keine Freunde?«, fragte er.
»Doch.«
»Und warum darf ich die nicht kennenlernen? Warum kommt nie jemand her?«
»Weil sie wissen, dass ich Besuch habe.«
»Aber wir können doch nicht die ganze Zeit vögeln?«
»Doch! Und den Rest der Zeit brauche ich, um wieder zu Kräften zu kommen.«
Er lachte und zog sie zu sich heran, sie streichelte seinen muskulösen Rücken und kniff in seine Pobacke. Nicht einmal, wenn sie aus allen Kräften zupackte, tat es ihm weh.
Auch mit ihm machte sie per Telefon Schluss.
6
Er reagierte total überraschend. Plötzlich liebte er sie. Liebte sie! Dieses Wort hatten sie nie benutzt. Und er weinte. Weinte! Sie saß ganz still am Küchentisch und lauschte der sechzehn Jahre jüngeren Stimme am Telefon. Egal, was sie sagte, es war falsch. Und sie brachte es einfach nicht übers Herz, ihm zu erklären, dass sie nur seinen Körper und den kolbenharten phantastischen Sex liebte, dass die Sache aber inzwischen zu einseitig und seltsamerweise einsam geworden war. Er brachte den Altersunterschied aufs Tapet, sicher mache sie deshalb Schluss, sie unterwerfe sich den gesellschaftlichen Konventionen - wenn er diesen Ausdruck auch nicht benutzte. Sie stritt es energisch ab, aber er glaubte ihr nicht.
»Scheiße, du bist doch total altersfixiert«, schimpfte er. »Was ist denn Alter, zum Teufel? Verdammt ...«
Mehrmals versuchte sie, das Gespräch zu beenden, ohne Erfolg.
»Du kannst doch jede haben, die du willst«, sagte sie. »Das weißt du genau.«
Aber er wollte nicht jede, er wollte sie.
»Du schämst dich für mich«, erklärte er.
Auf absurde Weise stimmte das, obwohl sie wusste, dass jedes weibliche Wesen in Trondheim, das älter als dreizehn war, sie vor Neid gehasst hätte, wenn sie mit ihm an einem Sommertag Hand in Hand am Flussufer entlangspaziert wäre.
»Ich habe einen anderen kennengelernt«, sagte sie endlich.
Da legte er auf.
Und dann kamen die Briefe. Voller Rechtschreibfehler und Floskeln von der Sorte: Ich kann mit dir nicht leben, aber ohne dich geht es auch nicht. Sie musste beim Lesen die Augen zusammenkneifen und warf die Briefe gleich weg, fast, um ihn vor sich selbst zu schützen.
Später fing er an, gleichzeitig zu den handgeschriebenen Briefen auch noch E-Mails zu schicken. Er fehlte ihr schrecklich, das musste sie zugeben, und sie ärgerte sich darüber, mit ihm Schluss gemacht zu haben. Es würde unendlich lange dauern, bis sie wieder einen so phantastisch guten Liebhaber fände, aber bei all den Gefühlen, mit denen er sie überschüttete, konnte sie die Trennung unmöglich zurücknehmen. Er würde glauben, dass sie seine Gefühle erwiderte, und so zynisch wollte sie nicht sein. Es wäre die pure Ausbeutung. Aber ungeheuer verlockend.
Als einige Zeit darauf ein Arbeitskollege von ihm anrief und sagte, er habe Angst, er könne sich etwas antun, nahm sie das Flugzeug nach Stavanger. Er erwartete sie am Flughafen, und im Auto glaubte sie, er werde sie plattdrücken.
»Ich bin nur gekommen, weil ich Angst um dich habe«, sagte sie. »Weil es dir so schlecht geht. Nicht, weil ich ... dass wir ...«
Sie fühlte sich erbärmlich, als sie zwei Tage darauf wieder ins Flugzeug stieg. Aber nun hatte er es begriffen, auch wenn sie eine Lüge nach der anderen hatte auftischen müssen, über diesen neuen Mann, während sie das Bett fast nicht verlassen hatten und der Sex besser gewesen war denn je. Sie konnte keine offene Beziehung zu einem sechzehn Jahre jüngeren Mann haben. Sie liebte ihn auch nicht, jedenfalls nicht, nachdem sie gesehen hatte, auf welche unbegreiflich hoffnungslose Weise er mit seiner eigenen Muttersprache umging. Wurden an der Polizeihochschule denn überhaupt keine sprachlichen Anforderungen gestellt? Mussten sie denn ihre Vernehmungsprotokolle und Fallberichte nicht auf ordentliche und verständliche Weise formulieren?
Sie stellte sich schlafend, als die Stewardess den Kaffee brachte, sie döste mit der Wange am kalten Fenster. Seine Haut war immer warm, von der guten Durchblutung nach dem vielen Training. Nie wieder würde sie ihn in sich spüren, ihre Knie bis zu seinen Wangen heben, seine Hinterbacken mit den Händen umfassen, spüren, wie seine Gesäßmuskeln auf und ab federten, als wären sie gefüllt mit kräftigen kleinen Tieren, die mit hängender Zunge keuchten. Nie wieder würde sie seinen Schweiß kosten, der von seinen Schläfen auf sie heruntertropfte, und seine unbegreifliche Kraft spüren, von den Fersen bis zu den Handgelenken, konzentriert darauf, sie so viel wie möglich empfinden zu lassen, sein Blick in ihrem.
»Komm, komm, komm«, hatte er gesagt, »komm zu mir.«
Sie öffnete die Augen und betrachtete einen Aufkleber von Ventelo, der unter der Tischklappe klebte.
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
... weniger
Autoren-Porträt von Anne B. Ragde
Anne B. Ragde wurde 1957 im westnorwegischen Hardanger geboren. Sie ist eine der beliebtesten und erfolgreichsten Autorinnen Norwegens und wurde mehrfach ausgezeichnet. Unter anderem mit dem Norwegian Language Prize und dem Norwegischen Buchhandelspreis. Anne B. Ragde lebt heute in Trondheim.Dr. Gabriele Haefs studierte in Bonn und Hamburg Sprachwissenschaft. Seit 25 Jahren übersetzt sie u.a. aus dem Dänischen, Englischen, Niederländischen und Walisischen. Sie wurde dafür u.a. mit dem Gustav- Heinemann-Friedenspreis und dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet, 2008 mit dem Sonderpreis für ihr übersetzerisches Gesamtwerk. 2011 wurde Gabriele Haefs als Königlich Norwegische Ritterin des St.Olavs Ordens in der Norwegischen Botschaft in Berlin ausgezeichnet u.a. für ihre Übersetzungen, für die Vermittlung von norwegischen Büchern nach Deutschland sowie für das Knüpfen von Kontakten im Kulturbereich ganz allgemein.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anne B. Ragde
- 2010, 1, 287 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Haefs, Gabriele
- Übersetzer: Gabriele Haefs
- Verlag: BTB
- ISBN-10:
- ISBN-13: 2100000104369
Rezension zu „Die Liebesangst “
"Sex statt Gefühl. In Die Liebesangst von Anne B. Ragde geht eine Frau an ihre emotionalen Grenzen."
Kommentare zu "Die Liebesangst"
0 Gebrauchte Artikel zu „Die Liebesangst“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
3.5 von 5 Sternen
5 Sterne 1Schreiben Sie einen Kommentar zu "Die Liebesangst".
Kommentar verfassen