Die Memed-Romane, 4 Bde.
Memed mein Falke; Die Disteln brennen; Das Reich der Vierzig Augen; Der letzte Flug des Falken, 4 Bde.
In den abgelegenen Dörfern am Rande des anatolischen Taurusgebirges herrscht der Grundbesitzer Abdi Aga. Der Boden ist so elend, dass fast nur Disteln auf ihm wachsen. Und von jeder Ernte fordert der Aga zwei Drittel. Memed, der Bauernsohn, hat seinen Hass...
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Produktinformationen zu „Die Memed-Romane, 4 Bde. “
In den abgelegenen Dörfern am Rande des anatolischen Taurusgebirges herrscht der Grundbesitzer Abdi Aga. Der Boden ist so elend, dass fast nur Disteln auf ihm wachsen. Und von jeder Ernte fordert der Aga zwei Drittel. Memed, der Bauernsohn, hat seinen Hass auf sich gezogen. Er wird zur Flucht in die Berge gezwungen. Aus dem schmächtigen, ängstlichen Knaben wird ein Räuber, Rebell und Rächer des Volkes. Auf ihn hoffen die Bauern, vor ihm verbarrikadieren sich die Grundherren in ihren Häusern.Im Kampf gegen den Aga hat Memed schließlich alles verloren: seine Mutter, seine Braut, den fruchtbaren Acker, den die Bauern ihm nach der Amnestie bereithalten. Aber von dem Tag an, an dem die Rache an Abdi Aga vollzogen ist, brennen die Bauern jedes Jahr die Disteln nieder, säen das Korn in die Asche und führen die Ernten in die eigenen Scheunen. Und bei dem Freudenfest vor dem Pflügen erscheint auf dem Berg, hinter dem Memed verschwunden ist, eine Feuerkugel.
Klappentext zu „Die Memed-Romane, 4 Bde. “
In den abgelegenen Dörfern am Rande des anatolischen Taurusgebirges herrscht der Grundbesitzer Abdi Aga. Der Boden ist so elend, dass fast nur Disteln auf ihm wachsen. Und von jeder Ernte fordert der Aga zwei Drittel. Memed, der Bauernsohn, hat seinen Hass auf sich gezogen. Er wird zur Flucht in die Berge gezwungen. Aus dem schmächtigen, ängstlichen Knaben wird ein Räuber, Rebell und Rächer des Volkes. Auf ihn hoffen die Bauern, vor ihm verbarrikadieren sich die Grundherren in ihren Häusern.Im Kampf gegen den Aga hat Memed schließlich alles verloren: seine Mutter, seine Braut, den fruchtbaren Acker, den die Bauern ihm nach der Amnestie bereithalten. Aber von dem Tag an, an dem die Rache an Abdi Aga vollzogen ist, brennen die Bauern jedes Jahr die Disteln nieder, säen das Korn in die Asche und führen die Ernten in die eigenen Scheunen. Und bei dem Freudenfest vor dem Pflügen erscheint auf dem Berg, hinter dem Memed verschwunden ist, eine Feuerkugel.
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Die Memed-Romane von Yasar KemalLESEPROBE
Memed mein Falke
Die Feuerstelle war frisch mit Lehm verputzt. Aus Lehm war auch das Dach des Hauses, mit einer Reisigschicht an der Decke. Der Fußboden glänzte schwarz vom Ruß vieler Jahre. Das Haus bestand aus zwei Teilen, Wohnraum und Stall. Durch die Verbindungstür drang eine feucht-warme Luft herein, in der sich die Gerüche von frischem Rinderdung, Stroh und frischem Grün mischten. Jetzt traten der Sohn, die Schwiegertochter und die Tochter der alten Leute vom Stall in den Wohnraum. Der Knabe starrte sie entgeistert an.
Der Alte wandte sich zu seinem Sohn: »Nun sag mal erst unserem Gast den Willkommensgruß.«
Der Junge sagte mit ernster Miene: »Willkommen, Bruder. Was gibt's Neues?«
»Danke«, erwiderte er ebenso ernst. »Nichts Besonderes.«
Auch die Tochter und die Schwiegertochter sprachen ihren Willkommensgruß.
Das große Holzscheit auf dem Herd ging in helle Flammen auf.
Der Knabe saß wieder zusammengekauert da. Die Flammen warfen gespenstische Schatten. Der Alte, mit dem Blick auf dieses Geisterspiel, mochte sich denken, was in dem Kopf des Kindes vorging. Schweigend und ohne sich zu rühren, starrte er lange Zeit auf die Schattenbewegungen, die mit den verbrennenden Holzscheiten ihre Richtung veränderten. Als er endlich den Blick wandte, spielte ein Lächeln über seine hageren, von dem weißen Bart viereckig umrahmten Züge. Seine Stirn war von der Sonne kupferfarben, und der Schein der Flammen ließ auch sein ganzes Gesicht und den Hals kupfern glänzen.
Dann richtete sich der Alte mit einem Mal auf. »Sag mal, Gast, wie heißt du eigentlich? Das hast du noch nicht verraten …«
»Sie nennen mich Ince Memed«, antwortete der Knabe.
Als es nun doch heraus war, biß er sich ärgerlich auf die
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Lippen, ließ den Kopf sinken, als schäme er sich. Wie oft hatte er sich unterwegs seinen Spruch aufgesagt: »Sie nennen mich Mistik den Schwarzen.« Dann muß es eben auch so gehen, sagte er sich; warum eigentlich »Mistik«, wenn ich selbst einen Namen habe? Wer wird mich hier schon sehen …
Der Alte wandte sich zu der Schwiegertochter: »Bring jetzt das Essen. Beeil dich!«
Das Tischtuch wurde auf dem Boden ausgebreitet, und die Familie mit Ince Memed setzte sich im Kreise darum herum. Während des Essens sprach keiner ein Wort. Darauf wurde noch eine Traglast Holz auf das Feuer geworfen. Der Alte legte selbst ein großes Scheit genau in die Mitte des Feuers. Es wurde von den benachbarten Flammen ergriffen. Immer wieder war es so, und es machte dem Alten immer wieder Vergnügen, wenn die Flammen sein Stück Holz umzüngelten, packten und fraßen.
Seine Frau trat zu ihm, näherte sich seinem Ohr und flüsterte: »Süleyman, wo soll ich dem Kind sein Lager richten?«
Süleyman antwortete mit seinem stets gleichbleibenden Lächeln: »Soll er vielleicht in der Krippe vom großen Gaul schlafen? Wer weiß, wie weit unser Gast gewandert ist, um gerade zu Süleyman zu kommen! Ich will, daß er gut schläft bei uns.«
Er wandte sich zu Memed, der inzwischen von der Wärme schläfrig geworden zu sein schien: »Hör mal, mein Gast, willst du schlafen?«
Memed schüttelte sich: »Nein, nein! Ich bin ganz wach.«
Der Alte schaute ihm forschend ins Gesicht. »Hör mal, Ince Memed, bis jetzt hast du noch nichts davon gesagt, wo du herkommst. Und wo willst du eigentlich hin?«
Ince Memed rieb sich die vom Rauch gebeizten Augen. »Von Degirmenoluk komm ich, und ich gehe in das Dorf.«
Süleyman wurde langsam neugierig: »Na, Degirmenoluk kenne ich ja, aber welches andere Dorf meinst du?«
»Na, Dursuns Dorf.«
»Von welchem Dursun?« fragte Süleyman hartnäckig weiter.
»Na, bei Abdi Aga arbeitet er.« Dabei starrte er ins Leere.
»Ha?« machte der Alte.
»So heißt unser Aga. Dursun ist sein Knecht. Er pflügt für Abdi Aga. Das ist Dursun.« Seine Augen glänzten plötzlich. Dann fügte er hinzu: »Neulich hat er einen jungen Falken gefangen. Diesen Dursun meine ich. Weißt du jetzt, welchen ich meine, Onkel?«
»Ja, ja, ich weiß schon; und was weiter?«
»In sein Dorf gehe ich eben. Dursun hat mir gesagt: Bei uns im Dorf schlagen sie die Kinder nicht. Sie treiben sie nicht zum Pflügen. Auf unseren Feldern wachsen keine Graudisteln. So sagte er, und da gehe ich jetzt hin.«
»Na, und wie heißt das Dorf? Hat dir Dursun das nicht auch gesagt?«
Memed schwieg, dachte nach, den Daumen im Mund. Dann sagte er leise: »Nein. Den Namen hat er mir nicht gesagt.«
»Seltsam«, meinte Süleyman.
»Ja, seltsam«, wiederholte Memed. »Wir haben zusammen gepflügt, Dursun und ich. Da haben wir uns manchmal zum Ausruhen auf einen großen Stein gesetzt. ›Unser Dorf müßtest du mal sehen‹, sagte er dann, ›seine goldene Erde, das Meer und die Tannen. Dort fährt man einfach auf die See hinaus und kann dann überallhin kommen.‹ Dursun ist von dort durchgebrannt. Das darf ich aber keinem erzählen. Nicht einmal meiner Mutter hab ich es gesagt.«
Dicht an Süleymans Ohr setzte er hinzu: »Und du sagst es auch keinem, Onkel?«
»Hab keine Angst«, begütigte Süleyman. »Ich verrate schon nichts.«
Die Schwiegertochter stand auf und ging hinaus. Kurz darauf kehrte sie zurück, mit einem gefüllten Sack auf der Schulter, den sie zur Erde fallen ließ. Ein Haufen Baumwollkapseln quoll heraus. Sie waren schon gereinigt, schneeweiß, lauter runde weiße Wölkchen. Im Nu hatte sich ihr scharfer Geruch im Raum verbreitet.
»So, jetzt wollen wir Baumwolle zupfen. Nun zeig mal, was du kannst, Ince Memed«, sagte Süleyman munter.
Ince Memed, der sich schon eine Armlast von den Flocken vorgenommen hatte, gab ebenso munter zurück: »Baumwolle zupfen! Als ob das auch eine Arbeit wäre!«
Sofort begannen seine geschickten Hände zu arbeiten wie eine Maschine.
»Sag mal, Ince Memed«, fragte der Sohn, »wie willst du das Dorf eigentlich finden?«
Ince Memed war es anzumerken, daß ihm diese Frage zu schaffen machte. Mit einem kleinen Seufzer antwortete er: »Ich werde es eben suchen. Es liegt am Meer. Ich finde es schon.«
»Hör mal, Ince Memed, von hier bis zum Meer sind es nicht weniger als fünfzehn Tage Weg.«
»Ich suche es eben. Zurück nach Degirmenoluk gehe ich nicht. Lieber will ich sterben! Ich kann nicht mehr zurück. Und ich gehe auch nicht zurück.«
»Nun sag mal, Ince Memed«, nahm Süleyman das Wort, »mit dir ist doch irgend etwas los, Junge. Jetzt einmal heraus mit der Sprache! Warum streichst du so auf den Straßen umher?«
»Laß nur, Onkel Süleyman. Ich will dir ja alles erzählen. Mein Vater ist tot, und ich bin mit Mutter allein. Wir haben sonst niemanden. Und ich pflüge Abdi Agas Land.«
Als er soweit gekommen war, füllten sich seine Augen mit Tränen. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Er nahm sich zusammen, aber man sah, im nächsten Augenblick würde er die Beherrschung verlieren und in ein verzweifeltes Weinen ausbrechen.
»Seit zwei Jahren ackere ich dieses Land, und die Graudisteln machen mich kaputt. Sie fressen mich ganz auf. Es ist, als ob einem wilde Hunde die Beine zerbeißen. Auf so einem Feld muß ich pflügen, und dabei prügelt mich der Aga noch jeden Tag halb tot. Erst gestern morgen wieder … Ich habe geglaubt, ich ginge in Stücke. Aber dann bin ich durchgegangen. Und jetzt gehe ich in das Dorf. Dort kann mich der Abdi Aga nicht finden. Dort will ich für irgendeinen pflügen und sein Vieh hüten. Sein Sohn will ich sein, wenn ich darf.«
Bei den letzten Worten sah er Süleyman gerade ins Gesicht. Seine Beherrschung war sichtlich am Ende, noch ein paar Worte, und der Sturm der Verzweiflung würde losbrechen.
Süleyman hatte das wohl bemerkt, so vermied er es, weiter von Abdi Aga zu sprechen. »Nun paß mal auf, Ince Memed, ich will dir was sagen. Du bleibst einfach hier bei mir.«
Das Gesicht des Knaben leuchtete auf. Eine Welle von Glück überströmte ihn.
Der Sohn fügte hinzu: »Das Meer ist auch zu weit für dich, Ince Memed, und das Dorf ist nicht leicht zu finden.«
Die Arbeit an der Baumwolle war getan. Auf dem Boden wimmelte es von den winzigen schwarzen Baumwollkäfern, die beim Zupfen aus den Kapseln fallen. Neben der Feuerstelle breiteten sie eine kleine Lagerstatt aus. Memed sah schlaftrunken auf die Vorbereitungen. Süleyman hatte längst gemerkt, wie sich der Kleine nach einem Bett sehnte. Er bedeutete ihm mit einer Handbewegung, sich hinzulegen.
Ohne ein Wort kuschelte sich Memed in die Decken hinein, zog die Knie bis zur Brust heran. Der ganze Körper schmerzte, als sei er in einem Mörser zerstoßen worden.
In den Sekunden, bevor er einschlief, ging ihm seine neue Lage durch den Kopf. Jetzt hatte er wieder einen Vater. Sollten Mutter und Abdi Aga nach ihm suchen. Sollten sie suchen bis zum Jüngsten Tag. Er würde nicht zurückkehren.
© Unionsverlag
Übersetzung: Cornelius Bischoff, Helga Dagyeli-Bohne und Yildirim Dagyeli
Der Alte wandte sich zu der Schwiegertochter: »Bring jetzt das Essen. Beeil dich!«
Das Tischtuch wurde auf dem Boden ausgebreitet, und die Familie mit Ince Memed setzte sich im Kreise darum herum. Während des Essens sprach keiner ein Wort. Darauf wurde noch eine Traglast Holz auf das Feuer geworfen. Der Alte legte selbst ein großes Scheit genau in die Mitte des Feuers. Es wurde von den benachbarten Flammen ergriffen. Immer wieder war es so, und es machte dem Alten immer wieder Vergnügen, wenn die Flammen sein Stück Holz umzüngelten, packten und fraßen.
Seine Frau trat zu ihm, näherte sich seinem Ohr und flüsterte: »Süleyman, wo soll ich dem Kind sein Lager richten?«
Süleyman antwortete mit seinem stets gleichbleibenden Lächeln: »Soll er vielleicht in der Krippe vom großen Gaul schlafen? Wer weiß, wie weit unser Gast gewandert ist, um gerade zu Süleyman zu kommen! Ich will, daß er gut schläft bei uns.«
Er wandte sich zu Memed, der inzwischen von der Wärme schläfrig geworden zu sein schien: »Hör mal, mein Gast, willst du schlafen?«
Memed schüttelte sich: »Nein, nein! Ich bin ganz wach.«
Der Alte schaute ihm forschend ins Gesicht. »Hör mal, Ince Memed, bis jetzt hast du noch nichts davon gesagt, wo du herkommst. Und wo willst du eigentlich hin?«
Ince Memed rieb sich die vom Rauch gebeizten Augen. »Von Degirmenoluk komm ich, und ich gehe in das Dorf.«
Süleyman wurde langsam neugierig: »Na, Degirmenoluk kenne ich ja, aber welches andere Dorf meinst du?«
»Na, Dursuns Dorf.«
»Von welchem Dursun?« fragte Süleyman hartnäckig weiter.
»Na, bei Abdi Aga arbeitet er.« Dabei starrte er ins Leere.
»Ha?« machte der Alte.
»So heißt unser Aga. Dursun ist sein Knecht. Er pflügt für Abdi Aga. Das ist Dursun.« Seine Augen glänzten plötzlich. Dann fügte er hinzu: »Neulich hat er einen jungen Falken gefangen. Diesen Dursun meine ich. Weißt du jetzt, welchen ich meine, Onkel?«
»Ja, ja, ich weiß schon; und was weiter?«
»In sein Dorf gehe ich eben. Dursun hat mir gesagt: Bei uns im Dorf schlagen sie die Kinder nicht. Sie treiben sie nicht zum Pflügen. Auf unseren Feldern wachsen keine Graudisteln. So sagte er, und da gehe ich jetzt hin.«
»Na, und wie heißt das Dorf? Hat dir Dursun das nicht auch gesagt?«
Memed schwieg, dachte nach, den Daumen im Mund. Dann sagte er leise: »Nein. Den Namen hat er mir nicht gesagt.«
»Seltsam«, meinte Süleyman.
»Ja, seltsam«, wiederholte Memed. »Wir haben zusammen gepflügt, Dursun und ich. Da haben wir uns manchmal zum Ausruhen auf einen großen Stein gesetzt. ›Unser Dorf müßtest du mal sehen‹, sagte er dann, ›seine goldene Erde, das Meer und die Tannen. Dort fährt man einfach auf die See hinaus und kann dann überallhin kommen.‹ Dursun ist von dort durchgebrannt. Das darf ich aber keinem erzählen. Nicht einmal meiner Mutter hab ich es gesagt.«
Dicht an Süleymans Ohr setzte er hinzu: »Und du sagst es auch keinem, Onkel?«
»Hab keine Angst«, begütigte Süleyman. »Ich verrate schon nichts.«
Die Schwiegertochter stand auf und ging hinaus. Kurz darauf kehrte sie zurück, mit einem gefüllten Sack auf der Schulter, den sie zur Erde fallen ließ. Ein Haufen Baumwollkapseln quoll heraus. Sie waren schon gereinigt, schneeweiß, lauter runde weiße Wölkchen. Im Nu hatte sich ihr scharfer Geruch im Raum verbreitet.
»So, jetzt wollen wir Baumwolle zupfen. Nun zeig mal, was du kannst, Ince Memed«, sagte Süleyman munter.
Ince Memed, der sich schon eine Armlast von den Flocken vorgenommen hatte, gab ebenso munter zurück: »Baumwolle zupfen! Als ob das auch eine Arbeit wäre!«
Sofort begannen seine geschickten Hände zu arbeiten wie eine Maschine.
»Sag mal, Ince Memed«, fragte der Sohn, »wie willst du das Dorf eigentlich finden?«
Ince Memed war es anzumerken, daß ihm diese Frage zu schaffen machte. Mit einem kleinen Seufzer antwortete er: »Ich werde es eben suchen. Es liegt am Meer. Ich finde es schon.«
»Hör mal, Ince Memed, von hier bis zum Meer sind es nicht weniger als fünfzehn Tage Weg.«
»Ich suche es eben. Zurück nach Degirmenoluk gehe ich nicht. Lieber will ich sterben! Ich kann nicht mehr zurück. Und ich gehe auch nicht zurück.«
»Nun sag mal, Ince Memed«, nahm Süleyman das Wort, »mit dir ist doch irgend etwas los, Junge. Jetzt einmal heraus mit der Sprache! Warum streichst du so auf den Straßen umher?«
»Laß nur, Onkel Süleyman. Ich will dir ja alles erzählen. Mein Vater ist tot, und ich bin mit Mutter allein. Wir haben sonst niemanden. Und ich pflüge Abdi Agas Land.«
Als er soweit gekommen war, füllten sich seine Augen mit Tränen. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Er nahm sich zusammen, aber man sah, im nächsten Augenblick würde er die Beherrschung verlieren und in ein verzweifeltes Weinen ausbrechen.
»Seit zwei Jahren ackere ich dieses Land, und die Graudisteln machen mich kaputt. Sie fressen mich ganz auf. Es ist, als ob einem wilde Hunde die Beine zerbeißen. Auf so einem Feld muß ich pflügen, und dabei prügelt mich der Aga noch jeden Tag halb tot. Erst gestern morgen wieder … Ich habe geglaubt, ich ginge in Stücke. Aber dann bin ich durchgegangen. Und jetzt gehe ich in das Dorf. Dort kann mich der Abdi Aga nicht finden. Dort will ich für irgendeinen pflügen und sein Vieh hüten. Sein Sohn will ich sein, wenn ich darf.«
Bei den letzten Worten sah er Süleyman gerade ins Gesicht. Seine Beherrschung war sichtlich am Ende, noch ein paar Worte, und der Sturm der Verzweiflung würde losbrechen.
Süleyman hatte das wohl bemerkt, so vermied er es, weiter von Abdi Aga zu sprechen. »Nun paß mal auf, Ince Memed, ich will dir was sagen. Du bleibst einfach hier bei mir.«
Das Gesicht des Knaben leuchtete auf. Eine Welle von Glück überströmte ihn.
Der Sohn fügte hinzu: »Das Meer ist auch zu weit für dich, Ince Memed, und das Dorf ist nicht leicht zu finden.«
Die Arbeit an der Baumwolle war getan. Auf dem Boden wimmelte es von den winzigen schwarzen Baumwollkäfern, die beim Zupfen aus den Kapseln fallen. Neben der Feuerstelle breiteten sie eine kleine Lagerstatt aus. Memed sah schlaftrunken auf die Vorbereitungen. Süleyman hatte längst gemerkt, wie sich der Kleine nach einem Bett sehnte. Er bedeutete ihm mit einer Handbewegung, sich hinzulegen.
Ohne ein Wort kuschelte sich Memed in die Decken hinein, zog die Knie bis zur Brust heran. Der ganze Körper schmerzte, als sei er in einem Mörser zerstoßen worden.
In den Sekunden, bevor er einschlief, ging ihm seine neue Lage durch den Kopf. Jetzt hatte er wieder einen Vater. Sollten Mutter und Abdi Aga nach ihm suchen. Sollten sie suchen bis zum Jüngsten Tag. Er würde nicht zurückkehren.
© Unionsverlag
Übersetzung: Cornelius Bischoff, Helga Dagyeli-Bohne und Yildirim Dagyeli
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Autoren-Porträt von Yasar Kemal
Yasar Kemal wird der 'Sänger und Chronist seines Landes' genannt. Er wurde 1923 in einem Dorf Südanatoliens geboren und lebt heute in Istanbul. Kemals Werke erscheinen in zahlreichen Sprachen und wurden mit internationalen Preisen ausgezeichnet. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt. Yasar Kemal verstarb im Februar 2015 im Alter von 92 Jahren.
Bibliographische Angaben
- Autor: Yasar Kemal
- 2008, 2176 Seiten, Maße: 14 x 20,1 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzer: Cornelius Bischoff, Helga Dagyeli-Bohne, Yildirim Dagyeli
- Verlag: UNIONSVERLAG
- ISBN-10: 3293204333
- ISBN-13: 9783293204331
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