Die Mittagsfrau
''Warte, ich komme gleich zurück,'' sagt Helene zu ihrem Sohn Peter und geht - um nicht mehr wiederzukehren. Doch was bewegt Helene zu diesem radikalen Handeln? Erst, wenn man ihrer Lebensgeschichte zwischen zwei Weltkriegen folgt und sie durch ihre...
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''Warte, ich komme gleich zurück,'' sagt Helene zu ihrem Sohn Peter und geht - um nicht mehr wiederzukehren. Doch was bewegt Helene zu diesem radikalen Handeln? Erst, wenn man ihrer Lebensgeschichte zwischen zwei Weltkriegen folgt und sie durch ihre Hoffnung und Einsamkeit begleitet, wird diese Entscheidung nachvollziehbar.
Julia Franck erzählt in filigranem, klarem Ton ein Leben, das in die Mühlen einer furchtbaren Zeit gerät.
Zwei Weltkriege, Hoffnungen, Einsamkeit und Liebe - und die Erkenntnis, dass alles verloren gehen kann. Julia Franck erzählt ein Leben, das in die Mühlen einer furchtbaren Zeit gerät. Ein ungewöhnlicher Familienroman, ein eindringliches Zeitepos und die Geschichte einer faszinierenden Frau.
DieMittagsfrau von JuliaFranck
LESEPROBE
Peter hatte seine Mutter oft zumFischmarkt begleitet. Eine der wenigen noch arbeitenden Fischfrauen kannte dieMutter gut. Es war eine junge Frau, deren Gesicht seit dem letzten August verbranntwar, man konnte ihre Jugend kaum noch erkennen. Während die Verbrennung anfangsals Makel erschien, mochte der Makel die junge Frau in diesen Wochen schützen. Siewar die einzige, die noch jeden Tag in der Frühe einen großen roten Schirmaufspannte, wie damals, sagten die Leute.
Damals,und sie meinten vor nicht allzu langer Zeit, habe der ganze Fischmarkt ausgroßen, roten Schirmen bestanden. In den letzten Jahren und Monaten waren sieverschwunden. Bei dieser Fischfrau holte die Mutter häufig den Fisch für dieKinder, Aale, Zander, Bleie, Schleie, Hechte und manchmal einen Wanderfisch ausdem Haff, im Krankenhaus war man über jeden Fisch froh, und im Frühjahr hattedie Mutter Peter einen Maifisch mit nach Hause gebracht. Als sie am Uferkaianlangten, hatte die Fischfrau längst ihre Kiste auf den kleinen Holzwagengestellt, der Schirm lag quer darüber. In der Hitze des Sommertages roch esnach Teer und Fisch. Zwischen den Trümmern des Fischbollwerks lebten Katzen,Peter beobachtete, wie ein magerer Kater am Ufer entlanglief, er schwankte leichtund sprang mit einem Satz auf den kleinen Holzsteg. Wo noch im vorletzten Jahrdie breiten und behäbigen Quatzen dicht an dicht mitden Fischdreweln schaukelten, lag nun kein einzigesBoot mehr. Der Kater langte mit einer Tatze ins Wasser, wieder und wiederzuckte sein Kopf zurück, als erschrecke ihn etwas. War da ein Fisch oder war dakeiner? Die Mutter öffnete ihre Handtasche und brachte Scheine zum Vorschein.Das schulde sie ihr. Die Fischfrau strich ihre Hände an der Schürze ab,Tausende von Schuppen blitzten dort, dass es wie ein Gewand aussah, das Gewandeiner Meerjungfrau, sie nahm die Scheine und dankte. Dann .el ihr Blick auf denKoffer, und als die Mutter ihr die Hand reichte, sagte sie: Eine gute Reise.Die Lippen der Fischfrau waren fast unversehrt, fleischig, roh und jung sahensie aus, ihre Stimme perlte, als ob sie gleich kichern wollte. Sie hatte keineBrauen mehr, die Wimpern waren nur wenig nachgewachsen, Peter mochte es, wiesie sich zur Seite drehte und ihre Augen niederschlug, aus Verlegenheit sagtesie etwas wie: Na dann, viel Glück, und Peter glaubte, dass sie ihn ansah undmeinte. Er stellte sich dicht neben seine Mutter, er lehnte seinen Kopf gegenihren Arm, ließ seine Nase wie zufällig über ihre Armbeuge streichen, bis dieMutter einen Schritt zur Seite machte und den Koffer in die andere Hand nahm.
Zum Bahnhof gingen sie im Laufschritt.Doch schon auf der Treppe hinunter zum Bahnhof kam ihnen eine dickbäuchige Schwesterin Tracht entgegen, offenbar eine Kollegin der Mutter, die sagte, dieSonderzüge kämen nicht nach Stettin rein, sie müssten hinaus nach Scheune, zurnächsten Station laufen, dort würden die Züge fahren.
Sie liefen zwischen den Gleisen entlang.Die Schwester geriet leicht außer Atem. Sie drängte sich neben die Mutter, und Peterlief hinterher, er wollte verstehen, was sie redeten. Die Schwester sagte, siehabe kein Auge zutun können, immerfort denke sie an die Leichen, die sie nachtsim Hof des Krankenhauses gefunden hätten. Peters Mutter schwieg. Vom Besuch derSoldaten sagte sie nichts. Die Kollegin schluchzte, sie bewundere Peters Mutterfür ihren Einsatz, und das, wo doch jeder wisse, nun, dass mit ihrer Abstammungwas nicht stimme. Die Schwester legte eine Hand auf ihren gewölbten Bauch, sie schnaufte,darüber wolle sie jetzt aber nicht sprechen. Wer habe schließlich diesen Mut?Niemals hätte sie selbst einen der Pfähle anpacken und aus dem Leib einer Frauziehen können, aufgespießt wie Tiere, der ganze Unterleib zerfetzt. DieKollegin blieb stehen und stützte sich mit ihrem schweren Leib auf die Schultervon Peters Mutter, sie atmete tief, ständig habe die Überlebende nach ihrerTochter gerufen, die doch längst neben ihr verblutet gewesen war. Peters Mutterblieb stehen und sagte schroff zu der Schwester, sie solle schweigen. UmHimmels willen. Schweigen.
In Scheune war der schmale Bahnsteig vonWartenden überfüllt. Die Menschen saßen in Gruppen auf dem Boden undbeobachteten misstrauisch die Neuankömmlinge.
Schwester Alice! Der Ruf drang aus einerGruppe auf dem Boden sitzender Menschen, zwei Frauen ruderten mit den Armen. PetersMutter folgte dem Ruf der Frau, die sie offenbar erkannt hatte. Sie hockte sichneben die Sitzenden. Peter ließ sich neben seiner Mutter nieder, die Schwangerefolgte ihnen, blieb aber unschlüssig stehen. Sie trat von einem Bein auf das andere.Die Frauen tuschelten, und zwei Frauen und ein Mann verschwanden mit derSchwangeren. Wenn eine Frau pinkeln musste, wurde sie nach Möglichkeit vonmehreren begleitet, die Leute erzählten sich, dass hinter den Büschen der Iwanlauere und über die Frauen herfalle.
Es sollte noch mehrere Stunden dauern, bisein Zug kam. Die Menschen drängten sich an den Zug, noch ehe er zum Stehen kam,sie versuchten Griffe und Geländer zu packen. Fast sah es aus, als brächten dievielen Menschen den Zug zum Stehen, als wären sie es, die ihn anhielten. DerZug schien nicht genügend Türen zu haben. Arme ruderten, Füße traten, schlugenaus, und Ellenbogen boxten. Schimpfen und Pfeifen. Wer zu schwach war, wurdezur Seite gedrängt, blieb zurück. Peter spürte die Hand seiner Mutter in seinemRücken, wie sie ihn durch die Menge schob, Peter hatte Kleiderstoffe imGesicht, Mäntel, ein Koffer stieß ihm in die Rippen, und schließlich packte ihnseine Mutter von hinten und stemmte ihn hoch über die Schultern der anderenMenschen. Der Schaffner pfiff. Im letzten Augenblick kämpfte sich Peters Mutterden entscheidenden Meter nach vorn, sie drückte Peter, schob ihn, presste ihnmit aller Kraft in den Zug. Peter drehte sich um, er hielt ihre Hand fest,umklammerte sie, der Zug ruckte, setzte sich in Bewegung, die Räder rollten,die Mutter lief, Peter hielt sich an der Tür fest, hielt seine Mutter fest, erwürde ihr zeigen, wie stark er war. Spring! rief er ihr zu. In diesemAugenblick hatten sich ihre Hände gelöst. Die auf dem Bahnsteig verbleibendenMenschen liefen neben dem Zug her. Jemand musste die Notbremse gezogen habenoder die Lok hatte Schwierigkeiten, die Räder quietschten auf den Schienen.
Eine füllige Dame mit Hut rief von hintenBockwürstchen, Bockwürstchen! Und tatsächlich drehten sich viele zu ihr um, sieblieben stehen, streckten und reckten sich, um zu sehen, wer da gerufen hatteund wo es die Würstchen gebe. Die Frau nutzte die Gelegenheit und kämpfte sich einige Meter nach vorn. Die Menschenmenge drückte PetersMutter mitsamt dem Koffer in den Zug. Peter umschloss seine Mutter mit beidenArmen, nie wieder würde er sie loslassen.
Im Zug standen sie im Gang, die Menschenschubsten und drängelten, die Kinder mussten sich auf die Koffer stellen. Peterstand gern auf dem Koffer, jetzt war er genauso groß wie seine Mutter. Wennseine Mutter sich umdrehte, was sie immer wieder tat, kitzelten ihn ihre Haare,eine Locke war aus der gesteckten Frisur gefallen.Die Mutter duftete nach Flieder. Neben ihr blieb die Tür zum Sitzabteil offen,dort standen zwei junge Mädchen in kurzärmligen Kleidern auf ihren Koffern undhielten sich an der überfüllten Gepäckablage fest. Unter ihren Armen wuchsenspärlich erste Härchen, und Peter reckte sich über die Schulter seiner Mutter,um besser nach ihren Kleidern sehen zu können, die sich an gewissen Stellenwölbten. Unter seinem Kinn fühlte Peter das angenehme Reiben des Mantels seinerMutter. Sie musste schwitzen, aber ihren Mantel hatte sie nicht zurücklassenwollen. Es ruckte, und der Zug fuhr langsam an. Am Fenster zogen die Menschenvorüber, die keinen Platz ergattert hatten. Eines der beiden Mädchen winkte undweinte, und Peter sah, dass auch unter dem anderen Arm feine Härchen sprossen.
Halt dich fest, sagte seine Mutter zu ihm,sie deutete mit dem Kopf auf den Türrahmen des Abteils. Auf ihrem blonden,hoch- gesteckten Haar saß das Häubchen, noch immertrug sie es, trotz Mantel und obwohl sie doch gar nicht im Krankenhaus waren.Träumst du? Halt dich fest, herrschte sie ihn an. Doch Peter legte seine Händeauf die Schultern seiner Mutter, ihm .el der Soldat ein, der hinter der Türgehockt und geschluchzt hatte, Peter war froh, dass sie nun endlichverschwanden, und er wollte die Arme um seine Mutter schlingen. Da bekam er einenEllenbogen in den Rücken und stieß mit solcher Wucht gegen seine Mutter, dassdiese fast das Gleichgewicht verlor, der Koffer unter Peters Füßen schwankte,er kippte, und Peter .el nun auf seine Mutter. Die Mutter stolperte in dasAbteil. Niemals hätte sie aufgeschrien, sie knurrtenur widerwillig. Peter legte seine Hand an ihre Hüfte, um die Verbindung nichtzu verlieren. Er wollte ihr aufhelfen. Ihre Augen funkelten böse, Peter entschuldigtesich, doch die Mutter schien es nicht zu hören, ihr Mund blieb schmalverschlossen, sie drückte seine Hand von sich. Um jeden Preis wollte Peter nunihre Aufmerksamkeit erobern. Mutter, sagte er, aber sie hörte ihn nicht. Mutter,wieder fasste er nach ihrer Hand, die kalt und kräftig war, und die er liebte. Imnächsten Augenblick ruckte der Zug, so dass die Menschen übereinanderfielenund die Mutter sich für die weitere Fahrt mit beiden Händen an Gepäckablage undTürrahmen festhielt, während Peter nun ihren Mantel ergriff, ohne dass sie esbemerken und ihn daran hindern konnte.
Kurz vor Pasewalk blieb der Zug aufoffener Strecke stehen. Die Türen wurden geöffnet, und die Menschen drängtenund schubsten sich gegenseitig aus dem Zug. Peter und seine Mutter ließen sichvon der Menschenmasse schieben, bis sie den Bahnsteig erreichten. Eine Frauschrie laut, man hatte ihr Gepäck gestohlen. Erst jetzt .el Peter auf, dass siedie Schwangere verloren hatten. Vielleicht war sie in Scheune gar nicht zurückgekehrt,nachdem sie wegen ihrer Notdurft hatte verschwinden müssen? Peters Mutter liefnun schnell, Menschen kamen ihnen entgegen und standen ihnen im Weg, Peterwurde immer wieder angerempelt und hielt sich umso fester am Mantel seinerMutter.
Du wartest hier, sagte seine Mutter, alssie an eine Bank kamen, wo in diesem Augenblick ein alter Mann aufgestanden war.Von hier fahren Züge nach Anklam und Angermünde,vielleicht gibt es Fahrkarten. Ich bin gleich zurück. Sie nahm Peter bei denSchultern und drückte ihn auf den Sitz.
Ich hab Hunger, sagte Peter. Lachendklammerte er sich an ihren Armen fest.
Ich bin gleich zurück, wart hier, sagtesie.
Und er: Ich komm mit.
Und sie: Lass mich los, Peter. Doch erstand schon auf, um ihr zu folgen. Nun drückte sie ihm den kleinen Kofferentgegen und presste ihn mitsamt dem Koffer auf die Bank zurück. Peter musstejetzt den Koffer auf dem Schoß festhalten, er konnte nicht mehr nach ihrgreifen.
Du wartest. Das sagte sie streng. EinLächeln huschte über ihr Gesicht, sie strich ihm über die Wange, und Peter warfroh. Er dachte an die Bockwürstchen, die die Dame in Scheune ausgerufen hatte,vielleicht gab es hier welche, er wollte seiner Mutter suchen helfen, überhaupthelfen wollte er ihr, er öffnete den Mund, aber sie duldete keinen Widerspruch,sie drehte sich um und tauchte in der Menschenmenge unter. Peter spähte ihr nachund entdeckte ihre Gestalt hinten an der Tür zur Bahnhofshalle. Er musste dringendund hielt Ausschau nach einer Toilette, aber er wollte warten, bis sie zurückwar, schließlich konnte man sich auf solchen Bahnhöfen leicht verlieren.Langsam ging die Sonne unter. Peters Hände waren kalt, er hielt den Koffer festund wippte mit den Knien. Kleine Farbpartikel vom Koffer klebten an seinenHänden, ochsenblutrot. Immer wieder blickte er in die Richtung der Tür, wo erseine Mutter zum letzten Mal gesehen hatte. Menschen strömten vorüber. Die Later- nen gingen an. Irgendwannstand die Familie neben ihm von der Bank auf und andere setzten sich. Petermusste an seinen Vater denken, der irgendwo in Frankfurt eine Brücke über den Mainbauen würde, er wusste, wie er hieß, Wilhelm, aber nicht, wo er wohnte. SeinVater war ein Held. Und seine Mutter? Auch ihren Namen kannte er, Alice. Siehatte eine fragwürdige Herkunft.
Peter schaute wieder zu der Tür, die indie Bahnhofshalle führte. Sein Hals war steif geworden, weil er nun schonStunden so saß und in diese Richtung starrte. Ein Zug kam, die Menschen ergriffenGepäckstücke, ihre Nächsten, alles musste festgehalten werden. Anklam, der Zug fahre nicht nach Angermünde, nach Anklam. Die Menschen waren zufrieden, solange esweiterging. Es war nach Mitternacht, Peter musste nicht mehr, er wartete nurnoch. Der Bahnsteig hatte sich geleert, vermutlich waren die verbliebenenWartenden in die Bahnhofshalle gegangen. Wenn es einen Fahrkartenschalter gab,hatte der nicht schon lange geschlossen? Vielleicht gab es gar keine Bahnhofshallemehr hinter der Tür, womöglich war auch dieser Bahnhof wie der in Stettinzerstört worden. Am hinteren Ende des Bahnsteigs erschien eine blonde Frau,Peter stand auf, der Koffer klemmte jetzt zwischen seinen Beinen, er recktesich, aber es war nicht seine Mutter. Eine Weile blieb Peter stehen. Als erwieder saß und an seinen Lippen nagte, hörte er seine Mutter sagen, er schäleund esse sich an allen möglichen Stellen seines Körpers, er sah ihrenangeekelten Gesichtsausdruck vor sich. Irgendeiner, das sagte sich Peter,irgendeiner musste kommen. Peter fielen die Augen zu, er öffnete sie, er durftenicht schlafen, sonst würde er nicht bemerken, wenn einer ihn suchen käme, erkämpfte gegen den Schlaf, dachte an die Hand und zog die Beine auf die Bankhinauf. Er legte den Kopf auf die Knie und ließ doch den Blick nicht von derBahnhofstür.
Als derMorgen graute, erwachte er mit Durst, und der nasse Stoff des Hosenbodensklebte an seiner Haut. Jetzt stand er auf, er wollte eine Toilette und Wassersuchen.
© S.Fischer Verlag
Autorenporträt von Julia Franck
JuliaFranck wurde 1970 in Berlin geboren. Sie studierte Altamerikanistik,Philosophie und Germanistik an der FU Berlin. Unter anderem erhielt sie denMarie-Luise-Kaschnitz-Preis 2004 und die Roswitha-Medaille der StadtGandersheim 2005. Sie verbrachte das Jahr 2005 in der Villa Massimo in Rom.Zuletzt erschienen von ihr »Liebediener« (1999), »Bauchlandung. Geschichten zumAnfassen« (2000) und »Lagerfeuer« (2003).
- Autor: Julia Franck
- 2007, 11. Aufl., 432 Seiten, Maße: 13,1 x 20,7 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100226003
- ISBN-13: 9783100226006
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