Die Muschelsammlerin
Roman
Sommer 1885: Lilly, Süßspeisenköchin in Heiligendamm, Deutschlands erstem Seebad, sitzt verzweifelt am Strand. Neben ihr liegt ein Kochbuch mit dem Titel "Cuisine d'amour". Ihm verdankt sie ihre gute Stellung in einem Luxushotel....
lieferbar
versandkostenfrei
Taschenbuch
9.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Muschelsammlerin “
Sommer 1885: Lilly, Süßspeisenköchin in Heiligendamm, Deutschlands erstem Seebad, sitzt verzweifelt am Strand. Neben ihr liegt ein Kochbuch mit dem Titel "Cuisine d'amour". Ihm verdankt sie ihre gute Stellung in einem Luxushotel. Doch sie hat einen folgenschweren Fehler gemacht, der nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihre Liebe in Gefahr bringen kann.
Klappentext zu „Die Muschelsammlerin “
Sommer 1885: Lilly, Süßspeisenköchin in Heiligendamm, Deutschlands erstem Seebad, sitzt verzweifelt am Strand. Neben ihr liegt ein Kochbuch mit dem Titel Cuisine d'amour. Ihm verdankt sie ihre gute Stellung in einem Luxushotel. Doch sie hat einen folgenschweren Fehler gemacht, der nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihre Liebe in Gefahr bringen kann ...
Sommer 1885: Lilly, Süßspeisenköchin in Heiligendamm, Deutschlands erstem Seebad, sitzt verzweifelt am Strand. Neben ihr liegt ein Kochbuch mit dem Titel Cuisine d'amour. Ihm verdankt sie ihre gute Stellung in einem Luxushotel. Doch sie hat einen folgenschweren Fehler gemacht, der nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihre Liebe in Gefahr bringen kann ...
Lese-Probe zu „Die Muschelsammlerin “
Die Muschelsammlerin von Katryn BerlingerKapitel 1
Seit Stunden trieben schwere Regenwolken über das Meer. Von Nordosten wühlte ein kalter Wind die See vor der Küste Heiligendamms auf, jagte schäumende Wellen an den Strand. In ihnen rieben sich Kiesel aneinander, und die Wellen schoben sie raschelnd im immer gleichen Rhythmus auf und ab. Zwischen ihnen schimmerten Mies- und Plattmuscheln, Tang und Krebse. Seemöwen jagten über sie hinweg. Das Tosen des Meeres übertönte ihr Geschrei. Kein vertrauter Laut war hier in der sichtgeschützten Bucht unterhalb des Steilufers zu hören, weder das Flattern der Fahnen an der Seebrücke und auf den Dächern der großherzoglichen Sommerresidenzen noch das Stampfen der Turbinen der Ausflugsdampfer, weder Walzerklänge noch Marschmusik.
Alles lag fernab, nur dieser Wall aus legendenumwobenen Steinen, die das Meer einmal vor langer Zeit aufgeschichtet hatte, verband Lilly Alena Babant noch mit ihrem früheren Leben.
Sie fror, war erschöpft, ja geradezu benommen vom unaufhörlichen Schlag der Wellen. Ihre blonden Locken flatterten um ihr bleiches Gesicht. Haut und Kleider, so kam es ihr vor, waren längst vom salzigen Seewind mürbe geworden. Hätte es Bernsteine geregnet, sie hätte es kaum mehr bemerkt.
Am frühen Nachmittag war sie hierher geflüchtet, verzweifelt über das, was ihr geschehen war. Der Verlust ihrer Arbeit war ihr zunächst unverständlich und ganz und gar ungerecht erschienen. In ihrem Aufruhr hatte sie Muscheln um sich geschichtet und eine nach der anderen mit einem keilförmigen Kiesel zertrümmert. Irgendwann war ihr bewusst geworden, dass sie den größten Fehler ihres Lebens gemacht hatte. Sie hatte ihr Glück verspielt, ihr Leben zerstört.
Ihr blieb keine Hoffnung, kein Ziel mehr. Am meisten verbitterte es sie, dass sie nie
... mehr
mehr erfahren würde, warum der Mann, der sie seit ihrem vierzehnten Lebensjahr in ihren Träumen begleitete, sie einst zurückgestoßen hatte: Clemens von Rastrow. Jetzt war ihr auch dieses Rätsel gleichgültig.
Es wurde Zeit, dass dieser Tag, der 15. Juli 1885, ein Ende nahm. Lilly Alena erhob sich, füllte ihre Kleidertaschen mit Kieseln. Schon umspülte der salzige Schaum ihre Stiefeletten. Eine kraftvolle Welle schlug ihr entgegen. Das Wasser weichte rasch ihre Sohlen auf, drang durch Ösen und Schäfte ... Schneller, Lilly, du musst schneller gehen! Sie atmete tief ein und stürzte sich den Wellen entgegen. Wenn doch endlich der Grund unter ihr wegbrechen würde ... Da spritzte eine Fontäne neben ihr auf. Der Kopf eines weiß-braunen Terriers lugte aus den Wellen, den wachen Blick auf sie gerichtet. Im selben Moment packte sie eine Hand fest um die Taille und riss sie zurück.
»Sie haben wohl den Verstand verloren!«, schrie ihr ein bärtiger, kahlköpfiger Mann ins Ohr und zerrte sie an den Strand zurück. Dort, zwischen Kieseln und groben Steinen, lag ein schwarzer Borsalino, den der Wind ihm vom Kopf gefegt hatte.
»Es hat doch keinen Zweck mehr! Lassen Sie mich!« Sie entwand sich dem Griff des Fremden, riss ihr Schürzenband auf und schleuderte die Schürze in den Wind. Entschlossen lief sie auf die Wellen zu.
»Einen Teufel werd ich tun! « Der Fremde schnellte vor und fasste so hart zu, dass sich sein Daumen schmerzhaft in ihre Armbeuge drückte. Der Terrier sprang kläffend um sie herum, schnappte sich ihre nasse Schürze und schüttelte sie wie eine Beute. Der Mann packte Lilly an den Schultern und sah ihr fest in die Augen. »Herrgott, nehmen Sie doch Vernunft an! Ich will Sie retten, und Sie wollen wieder zurück ins Wasser? Sind Sie wahnsinnig?«
»Ich will frei sein! Frei! Verstehen Sie nicht?« Sie zitterte vor Kälte, merkte aber, wie sich ihr innerer Aufruhr endlich Bahn brach.
Der Fremde verzog sein Gesicht. »Und ich? Ich käme wegen unterlassener Hilfeleistung ins Gefängnis! Wollen Sie das? « Ohne dass Lilly sich dagegen wehren konnte, riss er sie energisch an sich und nahm sie in die Arme. »Ist Ihnen denn Ihr Leben so wenig wert?« Er strich ihr ihre nassen Locken aus dem Gesicht. »Nicht wir bestimmen, wann es zu Ende ist. Wir nicht.«
Schluchzend lehnte sie sich an die Schulter dieses Fremden. Mein Gott, er hat recht, was hab ich nur getan? Erst als sie aufgehört hatte zu weinen, nahm sie die kühle Ruhe wahr, die sich in ihr ausbreitete. Und da wurde ihr bewusst, dass es nicht allein die Gegenwart dieses Fremden war, die sie gerettet hatte. Nein, es war das Meer selbst, das ihre Verzweiflung und Wut fortgeschwemmt hatte. Mit klammen Fingern griff sie in ihre Kleidertaschen, ließ die Kiesel in den Sand fallen und zog ein nasses Taschentuch heraus.
Der Fremde lächelte und reichte ihr ein trockenes. »Ein Badetuch kann ich Ihnen leider nicht bieten. Aber damit Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben: Franz Xaver von Maichenbach. In meiner Heimat, der Pfalz, hätte ich mir nie vorstellen können, eines Tages eine Meerschaum-Venus retten zu müssen.«
Lilly wollte etwas sagen, doch ihre Zähne klapperten vor Kälte. Mühsam putzte sie sich ihre Nase. Ihr kam es vor, als hielte sie das nasse Mieder wie eine Eiszange umschlossen. Sie musste so schnell wie möglich nach Hause und ins Bett. Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen, wobei sie von Maichenbach beobachtete, wie er seinem Borsalino hinterherlief, den der Wind hochwirbelte. Der Pfälzer war mittelgroß, sicher kaum älter als vierzig. Schmutzige Sandspuren waren auf der Rückseite seines hellen Sommeranzugs zu sehen. Er musste sie also vom Buchenwald her gesehen haben und das Steilufer zu ihr herabgeglitten sein. Sein rechtes Hosenbein war hochgerutscht, entblößte ein blasses, mit dunklen Härchen bewachsenes Schienbein. Jetzt setzte er seinen Hut auf und kehrte zu ihr zurück. Lilly tat, als suche sie nach ihren Kämmen, die sie vorhin aus Verzweiflung aus dem Haar gerissen hatte. Tatsächlich fand sie zwei ihrer Hornkämme mit Bernsteinbesatz. Ihre nassen Locken hochsteckend, wandte sie sich zum Gehen. Doch wohin? Durch den Wald, wo sie niemand sehen würde, oder durch das Seebad, wo sicher auch bei diesem stürmischen Wetter Kurgäste unterwegs sein würden? Sie zögerte, nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie von Maichenbach sein Hosenbein bis zu den durchweichten Gamaschen hinunterzog. »Sie haben sich meinetwegen Ihre Kleider ruiniert.« Sie war verlegen, wusste nicht, wie sie ihm ihre Dankbarkeit zeigen sollte. Er lächelte. »Nur Ihretwegen? Haben Sie eine so schlechte Meinung von sich?«
Ja, eine furchtbar schlechte, dachte Lilly bitter, aber das erzähle ich Ihnen nicht. Ich will ... Sie schlang ihre Arme um sich und schaute zurück aufs Meer. Ich will die Wahrheit wissen. Ich will wissen, ob ich jemals wieder kochen darf. Und warum du, Clemens von Rastrow, damals einen Freundschaftsschwur ablehntest und mich dennoch so rätselhaft ansahst. Warum ich deinen Gesichtsausdruck nie vergessen konnte. Sie suchte mit ihren Blicken den Horizont ab, als könne ihm eine riesige Kammmuschel entsteigen, sich öffnen und ihr die ersehnte Antwort geben.
Warum nur, Clemens?
Sie fuhr mit ihrer Zungenspitze über ihre aufgesprungenen Lippen, die salzig schmeckten. Sie warf von Maichenbach einen flüchtigen Blick über die Schulter zu. Er bemerkte sie nicht, weil er damit beschäftigt war, seinen Terrier einzufangen, der mit ihrer sandverschmutzten Schürze über den Kieselstrand rannte. Lilly lief dem Hund nach, erhaschte einen Schürzenzipfel und zog da ran. Der Terrier zerrte ebenfalls, und so ging es eine Weile hin und her. Schließlich lächelte Lilly.
»Ihr Hund scheint einen stärkeren Willen zu haben als ich. Behalten Sie die Schürze. Ich brauche sie nicht mehr.« Dann lief sie davon, dem Ostwind entgegen. Der Fremde rief ihr etwas nach, doch sie achtete nicht mehr darauf.
Ich hoffe, wir sehen uns nie wieder.
Es begann zu regnen. Auf der Lindenallee, die Heiligendamm und Doberan verband, waren nur noch wenige Droschken unterwegs. Die Kutscher, die sie kannten, warfen Lilly unter ihren Kapuzen hervor neugierige Blicke zu und machten die eine oder andere spöttische Bemerkung. Keiner der Fahrgäste aber hieß sie anhalten, um Lilly mitzunehmen. Sie fror, biss die Zähne zusammen. Sandkörner rieben ihr in den nassen Stiefeletten die Haut auf. Irgendwann schmerzte es so sehr, dass sie beschloss, barfuß weiterzulaufen.
Woher kam das Rauschen? Vom Regen? Vom Meer? Vom Großen Wohld? Vom Spott der Geister des Gespensterwaldes, die ihr ihren eisigen Atem nachbliesen? Lilly war wie benommen vor Erschöpfung und Kälte. Sie hatte die Doberaner Rennbahn erreicht, doch noch nie zuvor war ihr der Weg so lang erschienen. Sie hatte das Gefühl, als sei sie so langsam wie eine Krabbe auf Glas. Sie raffte ihr nasses Kleid und beschleunigte ihre Schritte. Dabei dachte sie an frühere Jahre zurück.
All die Sommer, die sie dank der Ersparnisse ihres Vaters allein bei ihrem Onkel und Cousin in Doberan hatte verbringen dürfen, waren heilsam für sie gewesen. Ihre Freunde, aber auch Landschaft und Meer hatten ihr geholfen, das Elend in Berlin zu vergessen, das Leid ihrer Mutter Hedwig, den frühen Tod ihres Vaters. Stets hatte sie Trost in ihrer Heimat gefunden, die, wie jeder wusste, Gottes Engel selbst »taurechtgemudelt« hatten. Es war ein liebliches, grün-blau-gelbes Naturgewebe mit sanften Hügeln, fast kreisförmigen Seen mit Mooren und Quellen, verzweigten Flüssen und Bächen, gewaltigen Findlingen, Heide und uralten Wäldern. Selbst die Sommernächte waren wie verzaubert gewesen, hatten Lilly stets Geborgenheit gegeben. Wo aber war der Duft der Linden, von Hauhechel, Goldrute, Feldrittersporn und Kamille? Alles war anders, und sie fragte sich, wie es für sie weitergehen sollte. Sicher war nur eines: Für den Reichskanzler Otto von Bismarck, den man Anfang August zu den Doberaner Renntagen erwartete, würde ein anderer Koch Desserts kredenzen.
Nicht sie.
Hatte Maître Jacobi, Chefkoch der »Strandperle«, ihr etwa ge - kündigt, um selbst glänzen zu können? Lilly Alena wollte nicht mehr nachdenken. Wichtig war vorerst nur eines: Ihre Mutter Hedwig musste geschont werden.
In Doberan angekommen, bog Lilly von der Dammchaussee, die Heiligendamm mit Doberan verband, rechts in die lange Goethestraße ein, bis sie die Höhe des dreieckigen Kamps – der früheren Kuhweide und jetzigen Parkanlage und Festwiese – erreicht hatte. Rechter Hand führte eine Gasse direkt zum Markt, der von einer Reihe einfacher Bürgerhäuser eingesäumt war. Wie immer war die Tür des zweistöckigen, ziegelgedeckten Babantschen Hauses unverschlossen.
Lilly trat ein. In der Diele war es dunkel. Alles war still. Nur die Katze schlich lautlos über den Holzboden und strich ihr schnurrend um die Beine. Lilly atmete auf. So schliefen sicher Onkel und Cousin bereits. Sie nahm die Katze auf den Arm und huschte die Treppe zur Dachkammer hinauf. In der aufgestauten Hitze vergangener Tage roch es durchdringend nach alter Schafwolle, Staub, Kamillentee –— und gegorener Buchweizengrütze.
»Du kommst spät!«
Erst als Lillys Augen sich an den Schein der Öllampe gewöhnt hatten, sah sie ihre Mutter halb aufgerichtet in ihrem Bett liegen.
»Und du hast deine Grütze nicht gegessen«, erwiderte Lilly und setzte ihr die schnurrende Katze auf den Schoß.
»Lilly, du ... du ... riechst so komisch, bist du ins Wasser gefallen? Was ... ist passiert?« Hedwig streichelte die Katze, begann aber zu husten.
»Es regnet, das ist alles. Lass mich jetzt. Ich bin todmüde.« »Lilly! « Es klang wie ein Vorwurf.
»Nein, Mama, es ist alles in Ordnung. Ich will nur schlafen. Erst
diese Hitze heute Vormittag, dann dieser Sturm. Es war einfach anstrengend. Ich war nur noch ein wenig am Strand. Das ist alles.« Sie zerrte ihre feuchten Kleider vom Leib.
Auf einmal hörte sie, wie jemand mit der Faust gegen das Fachwerk schlug. Kurz darauf wurde die Tür aufgezogen, im Erdgeschoss polterte es. Dumpfes Getrampel ertönte, gefolgt von Stöhnen und Rülpsen. Plötzlich klirrten Flaschen. Sie hörte Onkel und Cousin fluchen. Dann fielen krachend die Türen ihrer Schlafkammern ins Schloss. Angestrengt lauschten Lilly und ihre Mutter, doch es blieb still.
»Dein Onkel wird sich noch zu Tode saufen. Es wird nichts mehr mit ihm. Und Victor traue ich nicht.«
»Ich auch nicht, aber bis jetzt lässt es sich mit ihm aushalten.« »Er hat mir sogar heute Mittag Tee gebracht.«
»Na, siehst du. Er kann ganz freundlich sein.«
»Ja, das hat er sich angewöhnt.« Hedwig hüstelte wieder. »Und warum hast du nichts gegessen?« Lilly gähnte.
»Ich hab mich heute einfach nicht gut gefühlt.«
»Siehst du? Da haben wir was gemeinsam. Also, gute Nacht. Schlaf jetzt.« Eine Weile blieb es still.
»Lilly? Irgendetwas stimmt nicht mit dir. Ich spüre es.«
Lilly antwortete nicht. Sie tat, als sei sie eingeschlafen, denn sie mochte nicht noch mehr lügen. Reglos lag sie da und wartete, bis ihre Mutter sich wieder hingelegt hatte, die Katze zu ihren Füßen.
Ich habe meine Arbeit verloren und könnte morgen ausschlafen. Aber ich will nicht! Ich würde viel lieber wie immer in der Früh aufstehen, Milchsuppe und Bratkartoffeln für alle bereiten, auch wenn Alfons und Victor schlecht gelaunt sind – wenn ich nur wieder kochen könnte. Das nicht mehr tun zu können, bereitete ihr einen Schmerz, der größer war als alles, was sie früher hatte erdulden müssen.
Ein letztes Mal glitten Lillys Gedanken zu Franz Xaver von Maichenbach zurück. Er war ihr nicht unsympathisch gewesen, von
einer Freundlichkeit, die harmlos und undurchschaubar zugleich war. Ob er über ihre Begegnung in geselliger Runde erzählte? Oder würde er wie ein Kavalier schweigen? Plötzlich fuhr sie hoch.
Wenn er ausplauderte, was sie, Lilly, getan hatte, wäre ihr Ruf ruiniert und ihre Freundschaft zu ihrem alten Jugendfreund Joachim gefährdet. Wo mochte er nur sein? Seit Tagen hatte sie ihn nicht gesehen. Sie fand keine Ruhe. Sie musste irgendetwas tun. Sie lauschte. Ihre Mutter schlief. Sie stand auf und tastete im Dunkeln nach dem Buch, mit dem alles begonnen hatte. Lilly schlug das weiße Leinen zurück und strich über die goldenen Lettern auf dem bordeauxroten Einband des Buches: Cuisine d’Amour, murmelte sie und küsste die Buchstaben ein letztes Mal.
Dann nahm sie ihre feuchten Kleider, schlich hinunter in die Küche, wusch sie im Zuber aus und hängte sie im Vorraum ihrer Dachkammer auf. Die aufgestaute Hitze würde reichen, morgen früh wenigstens wieder ein trockenes Unterkleid anziehen zu können. Denn sie wollte nicht nach Meer und Tang riechen, wenn sie zum Antiquar ging, um das kostbare Buch zu verkaufen.
»Lilly, wach auf! «
Lilly fuhr erschrocken hoch. Noch nie hatte ihre Mutter so verärgert geklungen. Schlaftrunken blinzelte Lilly sie an. Hedwig stand an ihrem Bett, ihre vom Vortag noch feuchten, aufgerauhten Lederstiefeletten in den Händen.
»Du verschweigst mir etwas!« Hedwig schwenkte die Stiefeletten vor Lillys Nase hin und her. »Und du hast mich gestern angelogen. Du warst nicht am Strand. Du bist im Wasser gewesen. Deine Stiefeletten sind völlig ruiniert. Und in die linke ist eine winzige Muschel hineingerutscht. Hast du sie nicht gespürt? Sie muss dich blutig gescheuert haben. Also, sag, Lilly, was ist passiert?«
Lilly schlug die Bettdecke beiseite. Tatsächlich entdeckte sie eine
lange blutige Schürfwunde an ihrer Wade. »Also gut. Ich wollte dich gestern Abend schonen. Ich hätte es dir noch erzählt. Auch wenn ich weiß, dass ich mit allem allein fertig werden muss.« Sie klang zu anklagend. Vergeblich versuchte sie zu lächeln. »Weiter!« Mit ernstem Gesicht zog Hedwig ihr Schultertuch enger um die Brust.
»Maître Jacobi hat mich rausgeworfen. Einfach so.«
Hedwig sank erschüttert auf die Kante des Bettes. »Das darf nicht sein. Sag, dass das nur eine seiner gemeinen Launen ist. Alle mochten dich. Jacobi hat dich damals eingestellt und dich von seinem Sous-Chef ausbilden lassen. Dein Lohn war gut, man hat deine Kochkunst gelobt ... Ich verstehe das nicht. Bestimmt holt er dich wieder zurück. Er muss! Was wollen sie denn ohne dich tun, wo doch bald die Renntage beginnen? Sogar Bismarck soll kommen, hast du mir erzählt. Und dann die vielen anderen anspruchsvollen Gäste! Wie will er das denn ohne dich schaffen?«
»Für jeden gibt es Ersatz, Mutter, ob in der Fabrik, im Laden, in der Küche.«
»Aber wer ein solches Talent hat wie du, ist einzigartig. Ein Mädchen wie dich kann auch ein Jacobi nicht einfach so vor die Tür setzen. Was wirft er dir denn vor?«
»Er wird mich nicht zurückholen, Mutter. Mach dir keine Hoffnungen. Denn niemand stellt eine vermeintliche Giftmischerin wieder ein. «
»Was?! Er sagt, du seiest eine Giftmischerin? Du?« Hedwig wurde totenblass und schlug die Hände vors Gesicht. »Nein, das glaube ich nicht! Das ist ja furchtbar. Lilly, was hast du getan? Wenn das stimmt, hast du unser bisschen Leben zerstört.«
»Ich weiß, es tut mir auch leid. Aber ich habe doch nur seinem Bruder, Professor Jacobi, einen harmlosen Streich gespielt.« »Dem früheren Hauslehrer von Joachim? Ich denke, er lebt in Rostock?«
»Ja, seit Joachims Abitur vor fünf Jahren ist er am dortigen Mädchengymnasium angestellt, kommt aber jeden Sommer hierher, um zu kuren. In Wirklichkeit soll er aber immer noch mit Frau von Stratten ein heimliches Verhältnis haben. Wie dem auch sei, vor einer Woche ~ng er mich nach einem Festessen im Kurhaus ab, für das ich spezielle Desserts geliefert hatte. Er meinte, ich sähe prächtig aus. Der Erfolg hätte mich zu meinen Gunsten verändert. Ob mir bewusst sei, dass ich ihm all dieses Gute zu verdanken habe? Und so bat er mich um seinen Lohn. Ich solle ihm eine besondere Süßspeise kochen ... Du weißt, wie ich das meine.«
»Dieser Hund! Und? Hast du ihm gegeben, was er wollte?« »Nein, natürlich nicht. Aber es reizte mich, ihm einen Denkzettel zu verpassen. Wie oft habe ich mich früher über seine Arroganz geärgert, nur weil er sich Professor nennt. Dabei ist das lediglich der französische Begriff für ›Lehrer‹. Er nutzt das Unwissen der anderen aus, die ihn tatsächlich für einen ›Hochschullehrer‹ halten, den man gleichzeitig achten und bedauern kann. Schließlich hat er jahrelang als Privatlehrer gearbeitet. Nun, vorgestern habe ich ihm eine kleine Lektion erteilt ... «
»Mit Gift?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Lebt er noch?«
»Natürlich lebt er, das ist ja das Schlimme. Ihm geht es gut, und ich habe wegen einer Kleinigkeit meine Stellung eingebüßt.« »Dann wird sich sicher alles wieder einrenken. Hauptsache ist doch nur, dass du ... unversehrt bist.« Hedwig stand auf und ging heftig atmend in der Kammer auf und ab. »Was für ein falscher Hund! Ich hab ihn nie gemocht. Und dann dieses Buch, das du ihm damals zum Übersetzen gabst. Mein Gott, Lilly. Hätte ich dich nur davon abgehalten, für andere zu kochen, die höheren Standes sind als wir. Aber du warst so leidenschaftlich dabei. Selbst mir machte es Freude, dich so zu erleben. Jetzt muss ich einsehen, dass diese Süßspeisen die Männer nur auf schlechte Gedanken bringen.«
»Nein, du weißt, dass das nicht so ist.« Lilly sprang erregt aus dem Bett und zog sich an. »Zwischen Träumen und schlechten Gedanken ist ein großer Unterschied. Ich liebe meine Arbeit, vergiss das nicht, Mutter. Sie ist eine Kunst.«
Hedwig blieb stehen und lachte heiser auf. »Du bist eine unverbesserliche Romantikerin, Lilly. Oder immer noch naiv. Oder beides. Aber jetzt musst du mir alles beichten. Was hast du denn nun wirklich getan?«
»Ich habe ihm in Safran getunkte Hefeteigbällchen gebacken, mit Karamellpudding gefüllt und mit Geleesternen umrahmt.« »Geleesterne?«
»Gelee aus ungekochtem Holundersaft.« Lilly lächelte. »Du weißt doch, was passiert, wenn man ungekochten Holundersaft trinkt?«
Hedwig kicherte und unterdrückte einen erneuten Hustenreiz. »Und was geschah dann?«
»Nun, Professeur Jacobi bekam Koliken mit ... na ja. Doch obwohl es ihm sterbenselend ging, fand er die Kraft, alles Frau von Stratten zu erzählen. Du weißt, dass sie unsere Familie nicht mag. So kam eines zum anderen. Man unterstellt mir, der Erfolg sei mir zu Kopf gestiegen, und ich hätte Joachims ehemaligen Lehrer vergiften wollen. Dass es sich nur um ungekochten Holundersaft handelte, wollten sie mir nicht glauben. Natürlich weiß ich, dass der Saft in rohem Zustand ungenießbar ist, aber er ist niemals tödlich. Du kannst dir denken, dass mein Streich für Joachims Mutter die beste Gelegenheit war, mich bei Maître Jacobi in ein schlechtes Licht zu rücken. Gestern rief er mich zu sich und entließ mich mit der Begründung, er könne mir kein Vertrauen mehr schenken.« Lilly wurde von einem heftigen Hustenanfall Hedwigs unterbrochen und sprang auf, um einen Löffel und Eibischsirup, den sie jede Woche neu auf Flaschen aufzog, zu holen. Als sie zurückkam, lag Hedwig heftig hustend auf ihrem Bett und presste das mit Stroh gefüllte Kopfkissen gegen ihre Brust.
»Ich hole dir nachher eine bessere Medizin.« Lilly wartete, bis Hedwig sich etwas beruhigt hatte, dann flößte sie ihr den Eibischsirup ein. »Schlaf noch ein bisschen, nimm ein wenig Laudanum. Ich muss noch etwas erledigen.«
»Sieh zu, dass du wieder eine Arbeit ~findest«, keuchte Hedwig und ergriff Lillys Hand. »Aber eine, bei der du rein bleibst, rein wie die Lilie. So sagt man doch, oder?« Sie lächelte gequält und hustete erneut. Lilly brachte ihr den Spucknapf und fühlte ihre Stirn. Nein, sie fieberte nicht. Das war wenigstens ein gutes Zeichen.
»Ich werde mich beim Apotheker nach neuem Hustensaft erkundigen.«
»Geh nur«, flüsterte Hedwig. »Sorg dich nicht um mich.« Mitleidig betrachtete Lilly ihre Mutter. Sie war in letzter Zeit zusehends abgemagert. Der Arzt, der sie im Armenkrankenhaus in Berlin untersucht hatte, hatte ihr geraten, an die See zu gehen. Dort würde sie wieder gesund werden. Das werde ich tun, hatte Hedwig damals gemeint, aber nur, um im Haus meiner Vorfahren sterben zu können. Jetzt lebten sie schon vier Jahre hier, und nichts hatte sich gebessert. Im Gegenteil, ihre Mutter hustete immer mehr. Wovon sollte Lilly ihr nur weiterhin die Medizin kaufen, wenn sie keine Arbeit hatte? Nervös stand sie auf und trat ans geöffnete Dachfenster. Fahrig begann sie, ihr Kleid zuzuknöpfen. Der Himmel hatte aufgeklart, die Sonne stand schon hoch. Sie musste sich beeilen.
»Ich bin gleich wieder bei dir«, rief sie ihrer Mutter zu. Sie setzte ihren Strohhut mit den seidenen Kornblumen auf, nahm den verblichenen Sonnenschirm ihrer verstorbenen Tante Bettine und beeilte sich, das Haus zu verlassen.
Am Doberaner Kamp hielt Lilly inne. Noch zögerte sie, den schmerzlichen Schritt zu tun. Sie ließ ihre Blicke über die geschichtsträchtigen Gebäude gleiten, die den Kamp umschlossen. Auf den Dächern der großherzoglichen Repräsentationsbauten an der östlichen Seite des Kamps flatterten Fahnen. Zahlreiche Kutschen fuhren vor Logierhaus, Salongebäude und Prinzenpalais hin und her. Die einen in nördliche Richtung nach Heiligendamm, die anderen in südliche, zum Stahlbad.
Lilly erinnerte sich, dass Herzog Friedrich Franz I. nach der Gründung des Seebades Heiligendamm-Doberan im Jahre 1793 als Erstes das Logierhaus hatte bauen lassen. Im Laufe der Jahre hatte es viele Berühmtheiten beherbergt: Könige und Kapellmeister, Fürsten und Feldmarschälle, Prinzen und Professoren, Kanzler und Künstler, Bischöfe und Generäle, Sänger und Schauspieler aus ganz Europa. Sie alle hatten, nach dem vormittäglichen Baden am Heiligen Damm, am frühen Nachmittag gegen halb zwei Uhr an der täglichen »Table d’hôte« im Salongebäude des Herzogs gespeist, Champagner getrunken und getanzt –— vor allem aber die Etikette vergessen dürfen. Denn der bei Adel und Volk gleichermaßen beliebte Herzog hatte angeordnet, während der Badesaison die höfische Rangordnung aufzuheben. So konnten die Sommergäste frei und ungezwungen miteinander umgehen, in der im Logierhaus eingerichteten Spielbank Pharao und Roulette spielen und so manches hübsche Doberaner Mädchen im Englischen Garten verführen. Noch immer gab es ältere Doberaner, die aus jener Zeit anzügliche Anekdoten zu berichten wussten.
Vieles hatte sich in der Zwischenzeit geändert. Das Salongebäude, das zwischen Großherzoglichem Palais an der Nordseite und dem Logierhaus am Südende des Kamps lag, präsentierte sich längst nicht mehr als Tanz- und Speisehaus. Denn seit Doberan als ehemals großherzogliche Sommerresidenz im Jahre 1879 Stadtrecht erhalten hatte, diente es als Rathaus und Amtsgericht.
Auch die Zeit des einstmals berühmten Theaters am südlichen Zipfel des Kamps war vorüber. Früher waren dort regelmäßig die Schauspieler des Schweriner Hoftheaters sowie Deutschlands berühmteste Schauspieler wie die Catalani oder Ludwig Devrient aufgetreten, und mehr als fünfhundert Menschen hatten ihnen applaudiert. Jetzt wollte man die Jugend fördern, den Musentempel abreißen, ein Gymnasium aufbauen, auch wenn die Großherzogin Alexandrine dagegen protestierte. Vielleicht würde sie zu - stimmen, könnte man den namhaften Zwickauer Architekten Gotthilf Ludwig Möckel, der bereits das Münster restaurierte, dafür gewinnen.
Alexandrine war die Tochter der preußischen Königin Luise und hatte 1822 mit ihrem Gemahl, dem Erbgroßherzog Paul Friedrich, im Prinzenpalais ihre Flitterwochen verbracht. Es war ein schönes, mit vier ionischen Säulen verziertes Gebäude, das der großherzoglichen Familie noch heute als Wohnsitz diente. Alexandrine hingegen lebte nach dem frühen Tod ihres Mannes in einem romantischen Cottage in Heiligendamm.
Insgesamt besehen, dachte Lilly, konnten die Doberaner stolz darauf sein, dass der große Architekt Carl Theodor Severin auch ihrem kleinen Städtchen eine elegante klassizistische Note gegeben hatte.
Sie ging ein Stück weit in den Park hinein, in dem sich in der Zwischenzeit rege Betriebsamkeit ausgebreitet hatte. In den Blumenrabatten jäteten Gärtner Unkraut, schnitten Büsche, mähten Gras, harkten die Wege. Mehrere Frauen mit weißen Kittelschürzen putzten die Fenster der beiden Pavillons. Herzog Friedrich Franz I. hatte sie bereits im Frühjahr 1813 für die Sommergäste errichten lassen, und noch immer diente der kleinere Pavillon als Café, der größere als Musik- und Tanzsaal. Am achteckigen, mit Eichenschindeln gedeckten Zeltdach des kleinen Pavillons lehnte eine Leiter. Gerade eben stieg ein Mann mit Eimer und Putzutensilien auf ihr hinauf, um die Mohnkapsel, die die Dachspitze zierte, zu polieren. Lilly warf einen Blick auf den großen Pavillon. Sein Dach zierten eine Windrose und ein fernöstlich anmutender Fisch. Beide blitzten, je nachdem, wie der leichte Wind sie im Morgenlicht wendete.
Vom nahen Münster schlug in dunklem Ton die Glocke zehn Mal. Ihr Klang riss Lilly aus ihren Gedanken. Wenn sie hier noch länger stünde und über die Geschichte dieses beliebten Kurortes nachdächte, würde sie womöglich sentimental werden. Sie presste das wertvolle Buch an sich und ging rasch zur Severinstraße an der Nordseite des Kamps hinüber. Vor dem dreistöckigen ehemaligen Wohnhaus des vor vielen Jahren verstorbenen italienischen Küchenmeisters Gaetano Medini blieb sie stehen. Er hätte ihr wunderbares Buch mit französischen Rezepten bestimmt nicht verkauft. Er hätte es zu würdigen gewusst und behalten. Aber er hatte auch die Ehre gehabt, vom Herzog anerkannt zu werden ... Andere Zeiten, ein anderes Schicksal.
Lilly, reiß dich zusammen. Du findest keinen Trost in der Geschichte. Handele. Versilbere, was dir drei Jahre deines Lebens vergoldet hat.
Als Lilly auf das Haus des Antiquars zuging, öffnete dieser die Tür und verabschiedete unter wiederholten Verbeugungen drei Herren und eine Dame. An ihrer Sprechweise erkannte Lilly die Ersteren sofort als Schweden, die Dame als Russin. Diese trug einen grauen Spitzenschleier, lange Handschuhe und hatte einen kleinen Hund auf dem rechten Arm. Seine Stirn war weiß gefleckt, die Ohren lang behaart, die Nase ein wenig stumpf – auf den ersten Blick erinnerte er Lilly an eine Katze. Das Besondere aber war der Ausdruck seiner Augen. Noch nie war sie so angestarrt worden. Sie war sich sicher: Zu solch einem blasierten Blick wäre selbst Maître Jacobi in seiner launischen Arroganz nicht fähig gewesen.
»Er mag Sie«, sagte die Russin amüsiert, woraufhin die Herren lachten.
Lilly aber erschrak. Erkannte man sie? Machte man sich bereits über sie lustig? Ihr lief es siedend heiß über den Rücken. Doch da eilten die vier Kurgäste auch schon auf den kleinen Pavillon zu, wo zwei Kellner die Stühle mit Polstern bezogen hatten und nun damit begannen, trotz der Putzarbeiten Kaffee, Schokolade und Tee auszuschenken.
»Lilly Babant«, begrüßte der Antiquar sie leutselig, »was bringst du mir Schönes?«
Copyright © 2010 by Knaur Taschenbuch
Es wurde Zeit, dass dieser Tag, der 15. Juli 1885, ein Ende nahm. Lilly Alena erhob sich, füllte ihre Kleidertaschen mit Kieseln. Schon umspülte der salzige Schaum ihre Stiefeletten. Eine kraftvolle Welle schlug ihr entgegen. Das Wasser weichte rasch ihre Sohlen auf, drang durch Ösen und Schäfte ... Schneller, Lilly, du musst schneller gehen! Sie atmete tief ein und stürzte sich den Wellen entgegen. Wenn doch endlich der Grund unter ihr wegbrechen würde ... Da spritzte eine Fontäne neben ihr auf. Der Kopf eines weiß-braunen Terriers lugte aus den Wellen, den wachen Blick auf sie gerichtet. Im selben Moment packte sie eine Hand fest um die Taille und riss sie zurück.
»Sie haben wohl den Verstand verloren!«, schrie ihr ein bärtiger, kahlköpfiger Mann ins Ohr und zerrte sie an den Strand zurück. Dort, zwischen Kieseln und groben Steinen, lag ein schwarzer Borsalino, den der Wind ihm vom Kopf gefegt hatte.
»Es hat doch keinen Zweck mehr! Lassen Sie mich!« Sie entwand sich dem Griff des Fremden, riss ihr Schürzenband auf und schleuderte die Schürze in den Wind. Entschlossen lief sie auf die Wellen zu.
»Einen Teufel werd ich tun! « Der Fremde schnellte vor und fasste so hart zu, dass sich sein Daumen schmerzhaft in ihre Armbeuge drückte. Der Terrier sprang kläffend um sie herum, schnappte sich ihre nasse Schürze und schüttelte sie wie eine Beute. Der Mann packte Lilly an den Schultern und sah ihr fest in die Augen. »Herrgott, nehmen Sie doch Vernunft an! Ich will Sie retten, und Sie wollen wieder zurück ins Wasser? Sind Sie wahnsinnig?«
»Ich will frei sein! Frei! Verstehen Sie nicht?« Sie zitterte vor Kälte, merkte aber, wie sich ihr innerer Aufruhr endlich Bahn brach.
Der Fremde verzog sein Gesicht. »Und ich? Ich käme wegen unterlassener Hilfeleistung ins Gefängnis! Wollen Sie das? « Ohne dass Lilly sich dagegen wehren konnte, riss er sie energisch an sich und nahm sie in die Arme. »Ist Ihnen denn Ihr Leben so wenig wert?« Er strich ihr ihre nassen Locken aus dem Gesicht. »Nicht wir bestimmen, wann es zu Ende ist. Wir nicht.«
Schluchzend lehnte sie sich an die Schulter dieses Fremden. Mein Gott, er hat recht, was hab ich nur getan? Erst als sie aufgehört hatte zu weinen, nahm sie die kühle Ruhe wahr, die sich in ihr ausbreitete. Und da wurde ihr bewusst, dass es nicht allein die Gegenwart dieses Fremden war, die sie gerettet hatte. Nein, es war das Meer selbst, das ihre Verzweiflung und Wut fortgeschwemmt hatte. Mit klammen Fingern griff sie in ihre Kleidertaschen, ließ die Kiesel in den Sand fallen und zog ein nasses Taschentuch heraus.
Der Fremde lächelte und reichte ihr ein trockenes. »Ein Badetuch kann ich Ihnen leider nicht bieten. Aber damit Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben: Franz Xaver von Maichenbach. In meiner Heimat, der Pfalz, hätte ich mir nie vorstellen können, eines Tages eine Meerschaum-Venus retten zu müssen.«
Lilly wollte etwas sagen, doch ihre Zähne klapperten vor Kälte. Mühsam putzte sie sich ihre Nase. Ihr kam es vor, als hielte sie das nasse Mieder wie eine Eiszange umschlossen. Sie musste so schnell wie möglich nach Hause und ins Bett. Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen, wobei sie von Maichenbach beobachtete, wie er seinem Borsalino hinterherlief, den der Wind hochwirbelte. Der Pfälzer war mittelgroß, sicher kaum älter als vierzig. Schmutzige Sandspuren waren auf der Rückseite seines hellen Sommeranzugs zu sehen. Er musste sie also vom Buchenwald her gesehen haben und das Steilufer zu ihr herabgeglitten sein. Sein rechtes Hosenbein war hochgerutscht, entblößte ein blasses, mit dunklen Härchen bewachsenes Schienbein. Jetzt setzte er seinen Hut auf und kehrte zu ihr zurück. Lilly tat, als suche sie nach ihren Kämmen, die sie vorhin aus Verzweiflung aus dem Haar gerissen hatte. Tatsächlich fand sie zwei ihrer Hornkämme mit Bernsteinbesatz. Ihre nassen Locken hochsteckend, wandte sie sich zum Gehen. Doch wohin? Durch den Wald, wo sie niemand sehen würde, oder durch das Seebad, wo sicher auch bei diesem stürmischen Wetter Kurgäste unterwegs sein würden? Sie zögerte, nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie von Maichenbach sein Hosenbein bis zu den durchweichten Gamaschen hinunterzog. »Sie haben sich meinetwegen Ihre Kleider ruiniert.« Sie war verlegen, wusste nicht, wie sie ihm ihre Dankbarkeit zeigen sollte. Er lächelte. »Nur Ihretwegen? Haben Sie eine so schlechte Meinung von sich?«
Ja, eine furchtbar schlechte, dachte Lilly bitter, aber das erzähle ich Ihnen nicht. Ich will ... Sie schlang ihre Arme um sich und schaute zurück aufs Meer. Ich will die Wahrheit wissen. Ich will wissen, ob ich jemals wieder kochen darf. Und warum du, Clemens von Rastrow, damals einen Freundschaftsschwur ablehntest und mich dennoch so rätselhaft ansahst. Warum ich deinen Gesichtsausdruck nie vergessen konnte. Sie suchte mit ihren Blicken den Horizont ab, als könne ihm eine riesige Kammmuschel entsteigen, sich öffnen und ihr die ersehnte Antwort geben.
Warum nur, Clemens?
Sie fuhr mit ihrer Zungenspitze über ihre aufgesprungenen Lippen, die salzig schmeckten. Sie warf von Maichenbach einen flüchtigen Blick über die Schulter zu. Er bemerkte sie nicht, weil er damit beschäftigt war, seinen Terrier einzufangen, der mit ihrer sandverschmutzten Schürze über den Kieselstrand rannte. Lilly lief dem Hund nach, erhaschte einen Schürzenzipfel und zog da ran. Der Terrier zerrte ebenfalls, und so ging es eine Weile hin und her. Schließlich lächelte Lilly.
»Ihr Hund scheint einen stärkeren Willen zu haben als ich. Behalten Sie die Schürze. Ich brauche sie nicht mehr.« Dann lief sie davon, dem Ostwind entgegen. Der Fremde rief ihr etwas nach, doch sie achtete nicht mehr darauf.
Ich hoffe, wir sehen uns nie wieder.
Es begann zu regnen. Auf der Lindenallee, die Heiligendamm und Doberan verband, waren nur noch wenige Droschken unterwegs. Die Kutscher, die sie kannten, warfen Lilly unter ihren Kapuzen hervor neugierige Blicke zu und machten die eine oder andere spöttische Bemerkung. Keiner der Fahrgäste aber hieß sie anhalten, um Lilly mitzunehmen. Sie fror, biss die Zähne zusammen. Sandkörner rieben ihr in den nassen Stiefeletten die Haut auf. Irgendwann schmerzte es so sehr, dass sie beschloss, barfuß weiterzulaufen.
Woher kam das Rauschen? Vom Regen? Vom Meer? Vom Großen Wohld? Vom Spott der Geister des Gespensterwaldes, die ihr ihren eisigen Atem nachbliesen? Lilly war wie benommen vor Erschöpfung und Kälte. Sie hatte die Doberaner Rennbahn erreicht, doch noch nie zuvor war ihr der Weg so lang erschienen. Sie hatte das Gefühl, als sei sie so langsam wie eine Krabbe auf Glas. Sie raffte ihr nasses Kleid und beschleunigte ihre Schritte. Dabei dachte sie an frühere Jahre zurück.
All die Sommer, die sie dank der Ersparnisse ihres Vaters allein bei ihrem Onkel und Cousin in Doberan hatte verbringen dürfen, waren heilsam für sie gewesen. Ihre Freunde, aber auch Landschaft und Meer hatten ihr geholfen, das Elend in Berlin zu vergessen, das Leid ihrer Mutter Hedwig, den frühen Tod ihres Vaters. Stets hatte sie Trost in ihrer Heimat gefunden, die, wie jeder wusste, Gottes Engel selbst »taurechtgemudelt« hatten. Es war ein liebliches, grün-blau-gelbes Naturgewebe mit sanften Hügeln, fast kreisförmigen Seen mit Mooren und Quellen, verzweigten Flüssen und Bächen, gewaltigen Findlingen, Heide und uralten Wäldern. Selbst die Sommernächte waren wie verzaubert gewesen, hatten Lilly stets Geborgenheit gegeben. Wo aber war der Duft der Linden, von Hauhechel, Goldrute, Feldrittersporn und Kamille? Alles war anders, und sie fragte sich, wie es für sie weitergehen sollte. Sicher war nur eines: Für den Reichskanzler Otto von Bismarck, den man Anfang August zu den Doberaner Renntagen erwartete, würde ein anderer Koch Desserts kredenzen.
Nicht sie.
Hatte Maître Jacobi, Chefkoch der »Strandperle«, ihr etwa ge - kündigt, um selbst glänzen zu können? Lilly Alena wollte nicht mehr nachdenken. Wichtig war vorerst nur eines: Ihre Mutter Hedwig musste geschont werden.
In Doberan angekommen, bog Lilly von der Dammchaussee, die Heiligendamm mit Doberan verband, rechts in die lange Goethestraße ein, bis sie die Höhe des dreieckigen Kamps – der früheren Kuhweide und jetzigen Parkanlage und Festwiese – erreicht hatte. Rechter Hand führte eine Gasse direkt zum Markt, der von einer Reihe einfacher Bürgerhäuser eingesäumt war. Wie immer war die Tür des zweistöckigen, ziegelgedeckten Babantschen Hauses unverschlossen.
Lilly trat ein. In der Diele war es dunkel. Alles war still. Nur die Katze schlich lautlos über den Holzboden und strich ihr schnurrend um die Beine. Lilly atmete auf. So schliefen sicher Onkel und Cousin bereits. Sie nahm die Katze auf den Arm und huschte die Treppe zur Dachkammer hinauf. In der aufgestauten Hitze vergangener Tage roch es durchdringend nach alter Schafwolle, Staub, Kamillentee –— und gegorener Buchweizengrütze.
»Du kommst spät!«
Erst als Lillys Augen sich an den Schein der Öllampe gewöhnt hatten, sah sie ihre Mutter halb aufgerichtet in ihrem Bett liegen.
»Und du hast deine Grütze nicht gegessen«, erwiderte Lilly und setzte ihr die schnurrende Katze auf den Schoß.
»Lilly, du ... du ... riechst so komisch, bist du ins Wasser gefallen? Was ... ist passiert?« Hedwig streichelte die Katze, begann aber zu husten.
»Es regnet, das ist alles. Lass mich jetzt. Ich bin todmüde.« »Lilly! « Es klang wie ein Vorwurf.
»Nein, Mama, es ist alles in Ordnung. Ich will nur schlafen. Erst
diese Hitze heute Vormittag, dann dieser Sturm. Es war einfach anstrengend. Ich war nur noch ein wenig am Strand. Das ist alles.« Sie zerrte ihre feuchten Kleider vom Leib.
Auf einmal hörte sie, wie jemand mit der Faust gegen das Fachwerk schlug. Kurz darauf wurde die Tür aufgezogen, im Erdgeschoss polterte es. Dumpfes Getrampel ertönte, gefolgt von Stöhnen und Rülpsen. Plötzlich klirrten Flaschen. Sie hörte Onkel und Cousin fluchen. Dann fielen krachend die Türen ihrer Schlafkammern ins Schloss. Angestrengt lauschten Lilly und ihre Mutter, doch es blieb still.
»Dein Onkel wird sich noch zu Tode saufen. Es wird nichts mehr mit ihm. Und Victor traue ich nicht.«
»Ich auch nicht, aber bis jetzt lässt es sich mit ihm aushalten.« »Er hat mir sogar heute Mittag Tee gebracht.«
»Na, siehst du. Er kann ganz freundlich sein.«
»Ja, das hat er sich angewöhnt.« Hedwig hüstelte wieder. »Und warum hast du nichts gegessen?« Lilly gähnte.
»Ich hab mich heute einfach nicht gut gefühlt.«
»Siehst du? Da haben wir was gemeinsam. Also, gute Nacht. Schlaf jetzt.« Eine Weile blieb es still.
»Lilly? Irgendetwas stimmt nicht mit dir. Ich spüre es.«
Lilly antwortete nicht. Sie tat, als sei sie eingeschlafen, denn sie mochte nicht noch mehr lügen. Reglos lag sie da und wartete, bis ihre Mutter sich wieder hingelegt hatte, die Katze zu ihren Füßen.
Ich habe meine Arbeit verloren und könnte morgen ausschlafen. Aber ich will nicht! Ich würde viel lieber wie immer in der Früh aufstehen, Milchsuppe und Bratkartoffeln für alle bereiten, auch wenn Alfons und Victor schlecht gelaunt sind – wenn ich nur wieder kochen könnte. Das nicht mehr tun zu können, bereitete ihr einen Schmerz, der größer war als alles, was sie früher hatte erdulden müssen.
Ein letztes Mal glitten Lillys Gedanken zu Franz Xaver von Maichenbach zurück. Er war ihr nicht unsympathisch gewesen, von
einer Freundlichkeit, die harmlos und undurchschaubar zugleich war. Ob er über ihre Begegnung in geselliger Runde erzählte? Oder würde er wie ein Kavalier schweigen? Plötzlich fuhr sie hoch.
Wenn er ausplauderte, was sie, Lilly, getan hatte, wäre ihr Ruf ruiniert und ihre Freundschaft zu ihrem alten Jugendfreund Joachim gefährdet. Wo mochte er nur sein? Seit Tagen hatte sie ihn nicht gesehen. Sie fand keine Ruhe. Sie musste irgendetwas tun. Sie lauschte. Ihre Mutter schlief. Sie stand auf und tastete im Dunkeln nach dem Buch, mit dem alles begonnen hatte. Lilly schlug das weiße Leinen zurück und strich über die goldenen Lettern auf dem bordeauxroten Einband des Buches: Cuisine d’Amour, murmelte sie und küsste die Buchstaben ein letztes Mal.
Dann nahm sie ihre feuchten Kleider, schlich hinunter in die Küche, wusch sie im Zuber aus und hängte sie im Vorraum ihrer Dachkammer auf. Die aufgestaute Hitze würde reichen, morgen früh wenigstens wieder ein trockenes Unterkleid anziehen zu können. Denn sie wollte nicht nach Meer und Tang riechen, wenn sie zum Antiquar ging, um das kostbare Buch zu verkaufen.
»Lilly, wach auf! «
Lilly fuhr erschrocken hoch. Noch nie hatte ihre Mutter so verärgert geklungen. Schlaftrunken blinzelte Lilly sie an. Hedwig stand an ihrem Bett, ihre vom Vortag noch feuchten, aufgerauhten Lederstiefeletten in den Händen.
»Du verschweigst mir etwas!« Hedwig schwenkte die Stiefeletten vor Lillys Nase hin und her. »Und du hast mich gestern angelogen. Du warst nicht am Strand. Du bist im Wasser gewesen. Deine Stiefeletten sind völlig ruiniert. Und in die linke ist eine winzige Muschel hineingerutscht. Hast du sie nicht gespürt? Sie muss dich blutig gescheuert haben. Also, sag, Lilly, was ist passiert?«
Lilly schlug die Bettdecke beiseite. Tatsächlich entdeckte sie eine
lange blutige Schürfwunde an ihrer Wade. »Also gut. Ich wollte dich gestern Abend schonen. Ich hätte es dir noch erzählt. Auch wenn ich weiß, dass ich mit allem allein fertig werden muss.« Sie klang zu anklagend. Vergeblich versuchte sie zu lächeln. »Weiter!« Mit ernstem Gesicht zog Hedwig ihr Schultertuch enger um die Brust.
»Maître Jacobi hat mich rausgeworfen. Einfach so.«
Hedwig sank erschüttert auf die Kante des Bettes. »Das darf nicht sein. Sag, dass das nur eine seiner gemeinen Launen ist. Alle mochten dich. Jacobi hat dich damals eingestellt und dich von seinem Sous-Chef ausbilden lassen. Dein Lohn war gut, man hat deine Kochkunst gelobt ... Ich verstehe das nicht. Bestimmt holt er dich wieder zurück. Er muss! Was wollen sie denn ohne dich tun, wo doch bald die Renntage beginnen? Sogar Bismarck soll kommen, hast du mir erzählt. Und dann die vielen anderen anspruchsvollen Gäste! Wie will er das denn ohne dich schaffen?«
»Für jeden gibt es Ersatz, Mutter, ob in der Fabrik, im Laden, in der Küche.«
»Aber wer ein solches Talent hat wie du, ist einzigartig. Ein Mädchen wie dich kann auch ein Jacobi nicht einfach so vor die Tür setzen. Was wirft er dir denn vor?«
»Er wird mich nicht zurückholen, Mutter. Mach dir keine Hoffnungen. Denn niemand stellt eine vermeintliche Giftmischerin wieder ein. «
»Was?! Er sagt, du seiest eine Giftmischerin? Du?« Hedwig wurde totenblass und schlug die Hände vors Gesicht. »Nein, das glaube ich nicht! Das ist ja furchtbar. Lilly, was hast du getan? Wenn das stimmt, hast du unser bisschen Leben zerstört.«
»Ich weiß, es tut mir auch leid. Aber ich habe doch nur seinem Bruder, Professor Jacobi, einen harmlosen Streich gespielt.« »Dem früheren Hauslehrer von Joachim? Ich denke, er lebt in Rostock?«
»Ja, seit Joachims Abitur vor fünf Jahren ist er am dortigen Mädchengymnasium angestellt, kommt aber jeden Sommer hierher, um zu kuren. In Wirklichkeit soll er aber immer noch mit Frau von Stratten ein heimliches Verhältnis haben. Wie dem auch sei, vor einer Woche ~ng er mich nach einem Festessen im Kurhaus ab, für das ich spezielle Desserts geliefert hatte. Er meinte, ich sähe prächtig aus. Der Erfolg hätte mich zu meinen Gunsten verändert. Ob mir bewusst sei, dass ich ihm all dieses Gute zu verdanken habe? Und so bat er mich um seinen Lohn. Ich solle ihm eine besondere Süßspeise kochen ... Du weißt, wie ich das meine.«
»Dieser Hund! Und? Hast du ihm gegeben, was er wollte?« »Nein, natürlich nicht. Aber es reizte mich, ihm einen Denkzettel zu verpassen. Wie oft habe ich mich früher über seine Arroganz geärgert, nur weil er sich Professor nennt. Dabei ist das lediglich der französische Begriff für ›Lehrer‹. Er nutzt das Unwissen der anderen aus, die ihn tatsächlich für einen ›Hochschullehrer‹ halten, den man gleichzeitig achten und bedauern kann. Schließlich hat er jahrelang als Privatlehrer gearbeitet. Nun, vorgestern habe ich ihm eine kleine Lektion erteilt ... «
»Mit Gift?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Lebt er noch?«
»Natürlich lebt er, das ist ja das Schlimme. Ihm geht es gut, und ich habe wegen einer Kleinigkeit meine Stellung eingebüßt.« »Dann wird sich sicher alles wieder einrenken. Hauptsache ist doch nur, dass du ... unversehrt bist.« Hedwig stand auf und ging heftig atmend in der Kammer auf und ab. »Was für ein falscher Hund! Ich hab ihn nie gemocht. Und dann dieses Buch, das du ihm damals zum Übersetzen gabst. Mein Gott, Lilly. Hätte ich dich nur davon abgehalten, für andere zu kochen, die höheren Standes sind als wir. Aber du warst so leidenschaftlich dabei. Selbst mir machte es Freude, dich so zu erleben. Jetzt muss ich einsehen, dass diese Süßspeisen die Männer nur auf schlechte Gedanken bringen.«
»Nein, du weißt, dass das nicht so ist.« Lilly sprang erregt aus dem Bett und zog sich an. »Zwischen Träumen und schlechten Gedanken ist ein großer Unterschied. Ich liebe meine Arbeit, vergiss das nicht, Mutter. Sie ist eine Kunst.«
Hedwig blieb stehen und lachte heiser auf. »Du bist eine unverbesserliche Romantikerin, Lilly. Oder immer noch naiv. Oder beides. Aber jetzt musst du mir alles beichten. Was hast du denn nun wirklich getan?«
»Ich habe ihm in Safran getunkte Hefeteigbällchen gebacken, mit Karamellpudding gefüllt und mit Geleesternen umrahmt.« »Geleesterne?«
»Gelee aus ungekochtem Holundersaft.« Lilly lächelte. »Du weißt doch, was passiert, wenn man ungekochten Holundersaft trinkt?«
Hedwig kicherte und unterdrückte einen erneuten Hustenreiz. »Und was geschah dann?«
»Nun, Professeur Jacobi bekam Koliken mit ... na ja. Doch obwohl es ihm sterbenselend ging, fand er die Kraft, alles Frau von Stratten zu erzählen. Du weißt, dass sie unsere Familie nicht mag. So kam eines zum anderen. Man unterstellt mir, der Erfolg sei mir zu Kopf gestiegen, und ich hätte Joachims ehemaligen Lehrer vergiften wollen. Dass es sich nur um ungekochten Holundersaft handelte, wollten sie mir nicht glauben. Natürlich weiß ich, dass der Saft in rohem Zustand ungenießbar ist, aber er ist niemals tödlich. Du kannst dir denken, dass mein Streich für Joachims Mutter die beste Gelegenheit war, mich bei Maître Jacobi in ein schlechtes Licht zu rücken. Gestern rief er mich zu sich und entließ mich mit der Begründung, er könne mir kein Vertrauen mehr schenken.« Lilly wurde von einem heftigen Hustenanfall Hedwigs unterbrochen und sprang auf, um einen Löffel und Eibischsirup, den sie jede Woche neu auf Flaschen aufzog, zu holen. Als sie zurückkam, lag Hedwig heftig hustend auf ihrem Bett und presste das mit Stroh gefüllte Kopfkissen gegen ihre Brust.
»Ich hole dir nachher eine bessere Medizin.« Lilly wartete, bis Hedwig sich etwas beruhigt hatte, dann flößte sie ihr den Eibischsirup ein. »Schlaf noch ein bisschen, nimm ein wenig Laudanum. Ich muss noch etwas erledigen.«
»Sieh zu, dass du wieder eine Arbeit ~findest«, keuchte Hedwig und ergriff Lillys Hand. »Aber eine, bei der du rein bleibst, rein wie die Lilie. So sagt man doch, oder?« Sie lächelte gequält und hustete erneut. Lilly brachte ihr den Spucknapf und fühlte ihre Stirn. Nein, sie fieberte nicht. Das war wenigstens ein gutes Zeichen.
»Ich werde mich beim Apotheker nach neuem Hustensaft erkundigen.«
»Geh nur«, flüsterte Hedwig. »Sorg dich nicht um mich.« Mitleidig betrachtete Lilly ihre Mutter. Sie war in letzter Zeit zusehends abgemagert. Der Arzt, der sie im Armenkrankenhaus in Berlin untersucht hatte, hatte ihr geraten, an die See zu gehen. Dort würde sie wieder gesund werden. Das werde ich tun, hatte Hedwig damals gemeint, aber nur, um im Haus meiner Vorfahren sterben zu können. Jetzt lebten sie schon vier Jahre hier, und nichts hatte sich gebessert. Im Gegenteil, ihre Mutter hustete immer mehr. Wovon sollte Lilly ihr nur weiterhin die Medizin kaufen, wenn sie keine Arbeit hatte? Nervös stand sie auf und trat ans geöffnete Dachfenster. Fahrig begann sie, ihr Kleid zuzuknöpfen. Der Himmel hatte aufgeklart, die Sonne stand schon hoch. Sie musste sich beeilen.
»Ich bin gleich wieder bei dir«, rief sie ihrer Mutter zu. Sie setzte ihren Strohhut mit den seidenen Kornblumen auf, nahm den verblichenen Sonnenschirm ihrer verstorbenen Tante Bettine und beeilte sich, das Haus zu verlassen.
Am Doberaner Kamp hielt Lilly inne. Noch zögerte sie, den schmerzlichen Schritt zu tun. Sie ließ ihre Blicke über die geschichtsträchtigen Gebäude gleiten, die den Kamp umschlossen. Auf den Dächern der großherzoglichen Repräsentationsbauten an der östlichen Seite des Kamps flatterten Fahnen. Zahlreiche Kutschen fuhren vor Logierhaus, Salongebäude und Prinzenpalais hin und her. Die einen in nördliche Richtung nach Heiligendamm, die anderen in südliche, zum Stahlbad.
Lilly erinnerte sich, dass Herzog Friedrich Franz I. nach der Gründung des Seebades Heiligendamm-Doberan im Jahre 1793 als Erstes das Logierhaus hatte bauen lassen. Im Laufe der Jahre hatte es viele Berühmtheiten beherbergt: Könige und Kapellmeister, Fürsten und Feldmarschälle, Prinzen und Professoren, Kanzler und Künstler, Bischöfe und Generäle, Sänger und Schauspieler aus ganz Europa. Sie alle hatten, nach dem vormittäglichen Baden am Heiligen Damm, am frühen Nachmittag gegen halb zwei Uhr an der täglichen »Table d’hôte« im Salongebäude des Herzogs gespeist, Champagner getrunken und getanzt –— vor allem aber die Etikette vergessen dürfen. Denn der bei Adel und Volk gleichermaßen beliebte Herzog hatte angeordnet, während der Badesaison die höfische Rangordnung aufzuheben. So konnten die Sommergäste frei und ungezwungen miteinander umgehen, in der im Logierhaus eingerichteten Spielbank Pharao und Roulette spielen und so manches hübsche Doberaner Mädchen im Englischen Garten verführen. Noch immer gab es ältere Doberaner, die aus jener Zeit anzügliche Anekdoten zu berichten wussten.
Vieles hatte sich in der Zwischenzeit geändert. Das Salongebäude, das zwischen Großherzoglichem Palais an der Nordseite und dem Logierhaus am Südende des Kamps lag, präsentierte sich längst nicht mehr als Tanz- und Speisehaus. Denn seit Doberan als ehemals großherzogliche Sommerresidenz im Jahre 1879 Stadtrecht erhalten hatte, diente es als Rathaus und Amtsgericht.
Auch die Zeit des einstmals berühmten Theaters am südlichen Zipfel des Kamps war vorüber. Früher waren dort regelmäßig die Schauspieler des Schweriner Hoftheaters sowie Deutschlands berühmteste Schauspieler wie die Catalani oder Ludwig Devrient aufgetreten, und mehr als fünfhundert Menschen hatten ihnen applaudiert. Jetzt wollte man die Jugend fördern, den Musentempel abreißen, ein Gymnasium aufbauen, auch wenn die Großherzogin Alexandrine dagegen protestierte. Vielleicht würde sie zu - stimmen, könnte man den namhaften Zwickauer Architekten Gotthilf Ludwig Möckel, der bereits das Münster restaurierte, dafür gewinnen.
Alexandrine war die Tochter der preußischen Königin Luise und hatte 1822 mit ihrem Gemahl, dem Erbgroßherzog Paul Friedrich, im Prinzenpalais ihre Flitterwochen verbracht. Es war ein schönes, mit vier ionischen Säulen verziertes Gebäude, das der großherzoglichen Familie noch heute als Wohnsitz diente. Alexandrine hingegen lebte nach dem frühen Tod ihres Mannes in einem romantischen Cottage in Heiligendamm.
Insgesamt besehen, dachte Lilly, konnten die Doberaner stolz darauf sein, dass der große Architekt Carl Theodor Severin auch ihrem kleinen Städtchen eine elegante klassizistische Note gegeben hatte.
Sie ging ein Stück weit in den Park hinein, in dem sich in der Zwischenzeit rege Betriebsamkeit ausgebreitet hatte. In den Blumenrabatten jäteten Gärtner Unkraut, schnitten Büsche, mähten Gras, harkten die Wege. Mehrere Frauen mit weißen Kittelschürzen putzten die Fenster der beiden Pavillons. Herzog Friedrich Franz I. hatte sie bereits im Frühjahr 1813 für die Sommergäste errichten lassen, und noch immer diente der kleinere Pavillon als Café, der größere als Musik- und Tanzsaal. Am achteckigen, mit Eichenschindeln gedeckten Zeltdach des kleinen Pavillons lehnte eine Leiter. Gerade eben stieg ein Mann mit Eimer und Putzutensilien auf ihr hinauf, um die Mohnkapsel, die die Dachspitze zierte, zu polieren. Lilly warf einen Blick auf den großen Pavillon. Sein Dach zierten eine Windrose und ein fernöstlich anmutender Fisch. Beide blitzten, je nachdem, wie der leichte Wind sie im Morgenlicht wendete.
Vom nahen Münster schlug in dunklem Ton die Glocke zehn Mal. Ihr Klang riss Lilly aus ihren Gedanken. Wenn sie hier noch länger stünde und über die Geschichte dieses beliebten Kurortes nachdächte, würde sie womöglich sentimental werden. Sie presste das wertvolle Buch an sich und ging rasch zur Severinstraße an der Nordseite des Kamps hinüber. Vor dem dreistöckigen ehemaligen Wohnhaus des vor vielen Jahren verstorbenen italienischen Küchenmeisters Gaetano Medini blieb sie stehen. Er hätte ihr wunderbares Buch mit französischen Rezepten bestimmt nicht verkauft. Er hätte es zu würdigen gewusst und behalten. Aber er hatte auch die Ehre gehabt, vom Herzog anerkannt zu werden ... Andere Zeiten, ein anderes Schicksal.
Lilly, reiß dich zusammen. Du findest keinen Trost in der Geschichte. Handele. Versilbere, was dir drei Jahre deines Lebens vergoldet hat.
Als Lilly auf das Haus des Antiquars zuging, öffnete dieser die Tür und verabschiedete unter wiederholten Verbeugungen drei Herren und eine Dame. An ihrer Sprechweise erkannte Lilly die Ersteren sofort als Schweden, die Dame als Russin. Diese trug einen grauen Spitzenschleier, lange Handschuhe und hatte einen kleinen Hund auf dem rechten Arm. Seine Stirn war weiß gefleckt, die Ohren lang behaart, die Nase ein wenig stumpf – auf den ersten Blick erinnerte er Lilly an eine Katze. Das Besondere aber war der Ausdruck seiner Augen. Noch nie war sie so angestarrt worden. Sie war sich sicher: Zu solch einem blasierten Blick wäre selbst Maître Jacobi in seiner launischen Arroganz nicht fähig gewesen.
»Er mag Sie«, sagte die Russin amüsiert, woraufhin die Herren lachten.
Lilly aber erschrak. Erkannte man sie? Machte man sich bereits über sie lustig? Ihr lief es siedend heiß über den Rücken. Doch da eilten die vier Kurgäste auch schon auf den kleinen Pavillon zu, wo zwei Kellner die Stühle mit Polstern bezogen hatten und nun damit begannen, trotz der Putzarbeiten Kaffee, Schokolade und Tee auszuschenken.
»Lilly Babant«, begrüßte der Antiquar sie leutselig, »was bringst du mir Schönes?«
Copyright © 2010 by Knaur Taschenbuch
... weniger
Autoren-Porträt von Katryn Berlinger
Katryn Berlinger hat Literatur- und Musikwissenschaft studiert und in einem Schallplattenunternehmen in Hamburg gearbeitet. Einige Jahre später tauschte sie dann den Beruf gegen ihre Familie ein. Heute lebt und arbeitet sie als Schriftstellerin in Norddeutschland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Katryn Berlinger
- 2010, 3. Aufl., 432 Seiten, 1 farbige Abbildungen, Maße: 11,5 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 342650586X
- ISBN-13: 9783426505861
- Erscheinungsdatum: 08.06.2010
Kommentar zu "Die Muschelsammlerin"
0 Gebrauchte Artikel zu „Die Muschelsammlerin“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4 von 5 Sternen
5 Sterne 0Schreiben Sie einen Kommentar zu "Die Muschelsammlerin".
Kommentar verfassen