Die Nürburg-Papiere / Siggi Baumeister Bd.18
Ein Eifel-Krimi
»Eine der erfolgreichsten deutschsprachigen Krimi-Serien.« WDRDer Bau eines neuen Freizeitzentrums am Nürburgring verschlang mehr als 300 Millionen Euro. Fachleute versprachen privates Kapital heranzuschaffen, doch obwohl keiner auch nur einen Cent...
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Produktinformationen zu „Die Nürburg-Papiere / Siggi Baumeister Bd.18 “
Klappentext zu „Die Nürburg-Papiere / Siggi Baumeister Bd.18 “
»Eine der erfolgreichsten deutschsprachigen Krimi-Serien.« WDRDer Bau eines neuen Freizeitzentrums am Nürburgring verschlang mehr als 300 Millionen Euro. Fachleute versprachen privates Kapital heranzuschaffen, doch obwohl keiner auch nur einen Cent aufzutreiben vermochte, wurden absurd hohe Beraterhonorare gezahlt. Die Furcht der ansässigen Eifeler Kneipenwirte, Pensionsinhaber und Hoteliers schien berechtigt: Sie wurden von einer Clique von Managern rüde aus dem Geschäft gedrängt. Das Klima auf den Eifelhöhen ist eisig geworden. Und dann wird Claudio Bremm, der wichtigste Mann aus den Reihen der Manager, auf brutale Weise ermordet. Noch ehe die Mordkommission die Spuren der ersten Tat sichern kann, stirbt ein zweiter Mann. Auch er wurde Opfer eines Gewaltverbrechens. Scheinbar verbindet die beiden Fälle nichts miteinander, auch Journalist Siggi Baumeister gelingt es zunächst nicht, einen Zusammenhang herzustellen. Erst als eine dritte Leiche aufgefunden wird, zeigt sich zum ersten Mal so etwas wie ein roter Faden im Labyrinth der »Nürburgring-Morde« ...
Lese-Probe zu „Die Nürburg-Papiere / Siggi Baumeister Bd.18 “
Die Nürburg-Papiere von Jacques Berndorf1. Kapitel
Mein Kater Satchmo hatte einen neuen Lebensgefährten. Es war ein Igel, und sein Geschlecht war mir unbekannt.
Der arrogante Satchmo hatte es natürlich versäumt, mir das neue Familienmitglied höflich vorzustellen, wie es in guten Familien immer noch Sitte war. Im Gegenteil: Er schirmte ihn ab, er traf ihn nur nachts, er trieb es heimlich. Das kränkt.
Diesen Abgrund an Verrat hatte ich nur zufällig entdeckt, weil ich mich wunderte, dass Satchmos Fressnapf frühmorgens grundsätzlich umgekippt auf der Terrasse lag. Anfangs dachte ich an die Krähe, die im Sommer häufig den Napf angeflogen und ihn der Einfachheit halber umgekippt hatte, weil dann das Fressen bequemer war. Aber die Krähe war es wohl nicht, denn tagsüber stand der Napf unberührt, und von nächtlich herumstreunenden Krähen hatte ich noch nie gehört.
Wie auch immer, ein Zufall brachte die entscheidende Erkenntnis: Ich saß in einer lauen Sommernacht vor dem Computer an einem ziemlich komplizierten Thema, bei dem ich nicht die geringste Ahnung hatte, ob es überhaupt jemanden interessierte. Ich war aus Erfahrung wütend und gefrustet, und ich wollte nicht, dass diese Geschichte der Vergessenheit anheim fiel:
Im eiflerischen Bettenfeld war eine alte Frau zu Grabe getragen worden, dreiundachtzig Jahre alt. Über ihre schmale Todesanzeige hatten Nichten und Neffen den wirklich hoffnungslosen Spruch gesetzt:
Allein zu sein! Drei Worte,
leicht zu sagen,
und doch so schwer,
so endlos schwer zu tragen.
... mehr
Ich wusste etwas, das ich eigentlich nicht wissen durfte, das mir zugetragen worden war. Diese alte Frau war im Zuge des Rassenwahns der Hitler-Schergen als junge Frau einer Totaloperation unterzogen worden. Behördlich angeordnet. Angeblich war der Bruder ein Mörder, angeblich war sie damit ein Untermensch, durfte auf keinen Fall und niemals im Leben ein Kind gebären. Der Beginn einer unendlich grausamen Isolation, die erst mit ihrem Tod erlosch.
Ich dachte: Vielleicht jagt mich die Familie vom Hof, wenn ich nach ihr frage. Ich dachte: Wer will so etwas überhaupt noch lesen? Ich dachte: Vielleicht gibt es noch behördliche Unterlagen, vielleicht Zeitzeugen, vielleicht lebt noch jemand, der etwas weiß. Ich dachte aber auch: Gib es besser gleich auf, weil du niemanden findest, der diese Geschichte druckt.
Dann stand ich auf und setzte mich hinunter auf die Terrasse, um in die Nacht zu starren und dem leichten Wehen des Windes nachzulauschen.
Ich weiß noch genau, dass ich mir die kurze, stummelige, massige Shagpfeife von Poul Winslow stopfte, die ich eigentlich nicht mag, weil sie zu schwer ist. Die rauche ich grundsätzlich nur, wenn ich mies gestimmt bin und etwas gegen mich selbst habe. Da hockte ich also und schickte Qualm in die Luft.
Ich hatte kein Licht gemacht, ich saß im Dunkeln, und dunkel war auch das Wohnzimmer. Dann gab es links von mir ein Rascheln unter der Birke, gleich darauf ein leises Schnaufen, und dann kam der Igel, von dem ich erzählen will, in aller Ruhe auf die Terrasse geschnüffelt und trippelte etwa dreißig Zentimeter an meinen Schuhspitzen vorbei auf Satchmos Fressnapf zu.
Da ich ein gutmütiger Mensch bin, dachte ich sofort daran, ihm ein frisches Ei aus dem Eisschrank zu holen, wollte ihn aber auch nicht stören, also betrachtete ich ihn nur. Und er machte es gezielt, er zögerte keine Sekunde: Er legte beide Vorderpfoten auf die Kante des Napfes, der kippte um, und die Katzenherrlichkeit rollte ihm vor sein Maul.
Ich erinnere mich, dass ich dachte: Wenn du eine Weile wartest, kommt mein Kater vorbei und zeigt dir, wo der Hammer hängt.
Aber dann war meine Katze plötzlich da, und vom Hammer konnte keine Rede sein.
Wir haben ja alle in der Schule gelernt, dass der gemeine deutsche Gartenigel sich bei Gefahr augenblicklich zusammenrollt und außer der Atmung nichts mehr an ihm funktioniert. Aber dieser Igel war anders - und dieser Kater war es auch.
Satchmo war nicht im Geringsten erstaunt, nicht einmal eine Zehntelsekunde verwirrt oder hilflos. Er setzte sich auf die andere Seite des Napfes, stellte die Ohren auf, legte den Schwanz adrett um sich selbst und betrachtete den Besuch durchaus freundlich. Er fuhr nicht einmal die Pfote aus, um das Lebewesen zu testen. Nichts, einfach nichts. Der Igel rollte sich nicht zusammen, der Igel fraß in aller Seelenruhe Satchmos Napf leer, und einmal glaubte ich sogar, einen leisen, erleichternden Igelfurz zu hören.
Da begriff ich die Wahrheit dieser Stunde: Die beiden kannten sich, die kannten sich seit Langem!
Satchmo ließ den Igel fressen, und als er fertig war, kam er zu mir, hockte sich an meine Beine, starrte zu mir herauf, als wollte er sagen: »Ist das nicht ein irrer Typ?«
Seitdem hatte ich also einen Igel in der Familie.
Was mich an der Geschichte unruhig machte, war die Tatsache, dass wir in der Schule auch gelernt hatten, dass der gemeine deutsche Gartenigel im Herbst verschwindet, weil er sich irgendwo im Verborgenen eine Höhle baut, um den Winter über zu schlafen. Dieser Igel aber nicht, dieser Igel kam immer noch auf meine Terrasse, dieser Igel störte sich nicht daran, dass wir November hatten und ein geradezu ekelhaftes Wetter. Es regnete, es stürmte, die Temperatur lag bei angenehmen drei Grad plus, gewisse niedere Eifelregionen versanken bereits im Matsch, die Schweinegrippe und ihre Verwandten hielten reiche Ernte - aber der Igel kam. Ich hätte sogar wetten können, dass Satchmo genau wusste, wo der stachlige Genosse sich tagsüber aufhielt, aber Satchmo ist bekanntlich arrogant, Satchmo schwieg. Vielleicht übten die beiden heimlich Weihnachtslieder und sangen mir am Heiligen Abend auf ihre Art Stille Nacht, Heilige Nacht ... für die vier Würstchen, die ich immer an die unteren Zweige meines Weihnachtsbaumes hänge.
Das Einzige, was mich halbwegs zu trösten vermochte, war die Tatsache, dass die beiden unter keinen Umständen irgendeine erschreckend neuartige Kreatur in die Welt setzen konnten: Ich wusste definitiv, dass mein Kater Satchmo vor Jahren schon gründlich enteiert wurde, Igel hin, Igel her.
Gegen Abend sagte eine Frau im Fernsehen, wir müssten in den nächsten Tagen damit rechnen, dass laufend neue atlantische Tiefs von Westen her auf den alten Kontinent träfen. »Regen, immer wieder Regen. Und die Temperaturen sinken, und es kann leichten Schneefall geben, aber der Schnee bleibt nicht lange liegen ...« Es war eine dieser Wiederholungen, die wir in jenem Jahr kurz vor der Adventszeit häufig hörten.
Dann meldete sich Emma per Telefon und sagte mit Kleinkindstimme: »Meinst du, du hast Lust auf Lasagne?«
Sie hatte in der letzten Zeit häufig diese Stimme, sie pflegte einen unübersehbaren Kummer. Sie pflegte ihren Mann, der hochnäsig wirkte und sich zuweilen demonstrativ in seinen Rollstuhl setzte, obwohl er nach Meinung aller seiner Ärzte so ein Ding überhaupt nicht brauchte.
Und ehe ich antworten konnte, fragte sie: »Wie geht es dir denn eigentlich so?«
»Mir geht es gut, sagen wir mal.«
»Sagen wir mal? Also, willst du Lasagne?«
»Ich will Lasagne. Wann?«
»In zwanzig Minuten?«
»Okay, bis gleich.«
Ich will ehrlich sein: Rodenstock machte es mir in den letzten Monaten schwer. Meist war er eine dunkle, schweigsame Schattenfigur, die vor den Fenstern des Wohnzimmers in ihrem Rollstuhl hockte und vor sich hinbrütete. Irgendwie leblos, irgendwie fremdartig, irgendwie versackt in irgendetwas, das wohl seine eigene, schrecklich dumpfe und enge Welt ausmachte. Er grüßte kaum, oder wenn, murmelte er abwesend: »Hallo!« Und das klang so, als sei ich bestenfalls der Stromableser. Es klang vor allem so, als sei ich ihm egal.
Anfangs hatte ich noch gefragt, wie sein Befinden war, aber da er nur rotzig geantwortet hatte, das sei mir doch sowieso egal, ließ ich es sein. Und immer hatte ich das Gefühl, ich ließe Emma in ihrer Hilflosigkeit schutzlos zurück. Es war ein richtiges Elend. Das Haus in Heyroth wurde mir zuerst egal und dann verhasst, und natürlich mochte ich mich selbst zunehmend weniger. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr ich selbst zu sein, zu versagen, abzugleiten in eine Stimmung, in der ich mir einredete, es sei nur seine Sache, nicht meine. Und dann, irgendwann Ende September, hatte ich mir vorgenommen, zu platzen. Er war zu einem richtigen Arschloch mutiert, dieser Rodenstock, dieser Rollstuhlhocker, diese Karikatur eines vollkommen blöden, vernagelten Menschen, den ich gar nicht erst kennen lernen wollte.
War er depressiv? Wo war mein alter Rodenstock? Würde er die nächsten zwanzig Jahre in diesem Rollstuhl hocken und immer schweigsamer werden, bis er endlich starb? Hatte er das Lachen auf ewig aus diesem Haus verbannt?
Was war mit Emma? Würde sie neben ihm langsam aber sicher eingehen wie die viel zitierte Primel? Sie war blass geworden, ihre Augen waren groß und leer, ihr Gesicht bleich, ihre Haare stumpf. Und sie bewegte sich langsamer, als würde Rodenstock sie in ihrer Lebenslust bremsen, zurückfahren auf ein schweigsames Mäuschen, das seinen klugen Worten lauschte und keinerlei Kritik äußerte.
Wieso eigentlich dieser gottverdammte Rollstuhl? Und auch noch elektrisch! Man hätte Rodenstock vor die Tür seines Hauses schieben und ihm dann einen Tritt geben müssen. Bis ins Tal hätte er dann ein paar hundert Meter frische Luft gehabt und wäre am Ende in eine riesige, tiefe Novemberpfütze geklatscht. Das Ganze bei zwei Grad plus und einem richtig beschissenen, abgedunkelten Novemberhimmel, am besten bei starkem Schneefall und scharfem Nordwind.
Er hatte einfach kein Recht, mich so hilflos zu machen und wie einen Pestkranken des Mittelalters zu behandeln.
Zurück zur Lasagne.
Ich machte mich landfein und belud meine Weste mit allem, was ich brauchte: Pfeifen, Tabak, Pfeifenstopfer, Feuerzeuge und ähnliches Gedöns. Dann traute ich mich in die dunkle Nacht und stieg in mein Auto. Es war gegen 18 Uhr, und jegliche Aufmunterung verschwand in eiskalten Nebelfetzen.
Plötzlich wusste ich, dass Emma mich eingeladen hatte, um der harten Schweigsamkeit des Herrn Rodenstock etwas entgegenzusetzen, und nicht, um mir ihre erstklassige Lasagne anzubieten. Kannst du haben, dachte ich.
Rodenstocks Haus in Heyroth machte einen sehr heimeligen Eindruck, die Fenster waren gelbe Vierecke, an der Haustür hing ein Adventskranz mit schweren Zapfen von der Kiefer und einer breiten, roten Schleife. Emma legte die Adventszeit grundsätzlich nach eigenem Ermessen fest. Sie hatte schon im Oktober Kränze aufgehängt, wenn ihr weihnachtlich zumute war.
Sie öffnete die Tür, noch ehe ich klingeln konnte, und ihr Dalmatiner, der Mike genannt wurde, sprang an mir hoch, als habe er mich seit Monaten vermisst.
Rodenstock hatte ihn auf Rat der Ärzte angeschafft, weil er seine Gesundheit durch alltägliche Spaziergänge wieder auf Vordermann bringen sollte. Aber wie es in nahezu allen Familien so üblich war, ging Emma mit Mike spazieren, derweil Rodenstock bewegungslos in seinem Rollstuhl hing und vor sich hinmuffelte.
»Komm herein«, sagte Emma leise. Dann nahm sie den Hund am Halsband und murmelte: »Kusch, kusch, mein Lieber.« Dann: »Vorsicht, der blöde Rollstuhl!«
Rodenstock, das allein schon war eine Erleichterung, war nicht in Küche und Wohnzimmer.
»Er ist oben«, sagte Emma leise »Er telefoniert mal wieder.« »Wieso ›mal wieder‹?«
»Er hat seit rund zwei Monaten die Telefonitis. Und weil ich auf der Bank das Telefon bezahlt habe, weiß ich auch, dass er mit dem Dalai Lama telefonieren muss: 1.800 Euro in vier Wochen. Und, bitte, frag mich jetzt nicht, ob er verrückt ist. Die Antwort lautet: Ja, er ist verrückt. Aber mehr weiß ich auch nicht.« Dann starrte sie auf den Fußboden und setzte hinzu: »Er hat auch ein neues Handy. Woher er das hat, weiß ich nicht. Es ist ziemlich groß und hat unter dem Display zwei kleine Leuchten. Er spricht erst, wenn beide rot blinken und dann ein anderes Lichtzeichen kommt, grün.«
»Wieso erledigt er die Telefoniererei nicht hier unten?«
»Er muss unter einem Verfolgungswahn leiden. Er hat sich im Gästezimmer verschanzt. Wenn ich ihn frage, was er so treibt, antwortet er, das gehe mich nichts an!« Sie stand vor mir, neigte den Kopf zur Seite und fing an zu weinen. Dann schluchzte sie: »Und du bist ja auch nicht mehr für uns da.«
»Einspruch. Bin ich wohl. Soll ich ihm in den Arsch treten?«
»Ja, bitte!«
»Mit Anlauf?«
Sie nickte sehr heftig, drehte sich ab und sagte im entsetzten Hausfrauenton: »Die Lasagne wird zu Kohle!« Sie drehte irgendeinen Knopf an ihrem Herd.
»Macht auch nichts«, bemerkte ich tapfer.
Sie nahm ein Küchentuch und fuhr sich damit über das Gesicht. »Ich habe neulich zum ersten Mal gedacht, dass es vielleicht gut wäre, Tante Rosa in New York zu besuchen, oder Shamir in Tel Aviv.«
»Lass das lieber«, sagte ich. »Verwandte sind niemals die beste Lösung.«
Sie machte die Backofenklappe auf und starrte hinein. »Das ist richtig«, nickte sie. »Aber manchmal würde mir der schäbigste Verwandte schon helfen. Glaub mir.«
»Ich glaube dir«, gab ich zurück. »Komm, wir rauchen eine.« Also rauchte sie einen ihrer wirklich furchtbar stinkenden, holländischen Zigarillos, und ich paffte eine Pfeife.
»Weißt du, ich kann das Spiel nicht gewinnen«, sagte sie leise. »Gewinnen kann ich das nicht. Und ich weiß auch nicht mehr, ob ich es gewinnen will. Vielleicht gehe ich heim nach Holland, vielleicht haben die da irgendeine Arbeit für mich, irgendetwas Sinnvolles.«
»Das kannst du immer noch tun«, versuchte ich sie zu beschwichtigen. Dann schwiegen wir, weil es nichts mehr zu sagen gab, und sie nahm die Lasagne aus dem Backofen und setzte sie mit zwei dicken Küchenhandschuhen auf den Tisch. Dann ging sie drei Schritte in den Flur und rief: »Essen! Es gibt Essen!«
Es vergingen ein paar Minuten, ehe oben ein Stuhl gerückt wurde. Dann kam er die Treppe herunter, und seine Schritte klangen ganz normal, ohne zu stocken, ohne Unsicherheit. Dann setzte er sich vier Meter von uns entfernt im Flur in den Rollstuhl und surrte an den Tisch.
Dabei nuschelte er: »Sieh mal, der Baumeister! Richtig, bei Lasagne kommt er ja immer. Du lockst ihn mit Lasagne an, meine Liebe, mit Lasagne klappt das reibungslos.«
Emma sagte nichts, ich sagte nichts.
»Gebt mir mal eure Teller!«, sagte Emma leise.
Ich gab ihr meinen Teller, und sie belud ihn mit einer ordentlichen Portion. Dann gab ich ihr Rodenstocks Teller, und sie wiederholte das Ganze. Dann nahm sie sich selbst ein wenig, setzte sich und bemerkte tonlos: »Guten Hunger!«
»Ja, ja«, murmelte Rodenstock. Dann hob er den Kopf und erklärte: »Es wäre mir übrigens angenehm, wenn ihr beide vor dem Essen hier nicht raucht. Es schmeckt dann alles nicht mehr.«
»Rauchst du nicht mehr?«, fragte ich.
»Doch, aber nicht so, dass es andere stören könnte.« »Ich störe dich also«, murmelte Emma.
»Ja!«, nickte er ernsthaft. »Wenn du hier rauchst.« Dann stocherte er in der Lasagne herum, nahm eine Gabel voll, kaute darauf herum und sagte mit breitem Mund: »Die war wirklich auch schon mal besser!«
»Ach ja«, hauchte Emma ohne jede Betonung.
»Hör zu«, sagte ich leise. »Ich finde, was du hier ...« »Kein Vortrag, bitte!«, unterbrach er mich scharf.
»Natürlich nicht, du Arschloch«, sagte ich so seidenweich wie möglich. »Hör mir zwei Minuten zu, dann gehe ich hier raus und nehme deine Frau sicherheitshalber mit, damit sie in deinem Haus nicht erfriert oder sonstwie zu Schaden kommt. Du hattest einen totalen Zusammenbruch, sie haben dich aufgemacht und deine Pumpe repariert. Das ist jetzt Monate her, und du hockst da in einem Rollstuhl, den du nicht brauchst, den du aber missbrauchst. Du bist ja nun nicht der einzige alte Sack, den die Trierer Operateure, Gott hab sie selig, wieder auf die Beine gebracht haben. Aber du hast nicht das Recht, Emma und mich zu missbrauchen, wenn du deinen irren Launen nachgibst und uns mit deiner gottverdammten Herrlichkeit blendest. Diese Herrlichkeit ist beschissen, kleinkariert und ohne Stil. Du bist arrogant, anmaßend und großkotzig ...«
»Du wirst dieses Haus nicht mehr betreten!«, schrie er mit hochrotem Kopf los. »Du wirst unter keinen Umständen mehr in meinem Leben auftauchen. Ich habe die Schnauze ...«
»Halt den Mund und hör mir zu«, sagte ich ganz leise, wobei ich heute noch erstaunt bin, dass ich leise sprechen konnte. »Wir erdulden dich seit Monaten, wir halten dich mühsam aus, wenngleich wir wissen, dass du jedes Maß verloren hast. Diese kleine Welt hier wird systematisch von dir zertrümmert, Emma kommt jeden Tag unter deine Räder, du verdammtes Arschloch. Irgendetwas ist mit dir passiert, vielleicht bist du depressiv, vielleicht wirst du von deiner trostlosen Einsilbigkeit am Lachen gehindert. Aber das alles gibt dir verdammt noch mal kein Recht, uns wie Leibeigene abzufertigen. Und damit du das keine Minute deines Lebens mehr vergisst, serviere ich dir meine Lasagne!« Dann nahm ich meinen Teller, hielt ihn hoch über seinen Kopf und ließ die Herrlichkeit herunterklatschen, direkt auf seine letzten, weißen Haare. »Sag jetzt mal ausnahmsweise nichts, Rodenstock, du siehst jetzt ohnehin bekleckert aus. Denke an meine Worte und halt die Klappe!« Dann nahm ich auch seinen Teller und ließ ihn samt Lasagne auf die Fliesen donnern. Es war ein richtig schönes Geräusch, und die Farbgebung war insgesamt durchaus stilvoll.
Der Hund war dankbar, der Hund begann sofort zu schlabbern.
»Emma, wir verschwinden jetzt hier!«, sagte ich scharf. »Dein Mann duscht jetzt und bringt anschließend die Schweinerei hier in Ordnung. Vom Rollstuhl aus. Dann telefoniert er weiter mit Gott und der Welt. Im Rollstuhl natürlich, alles im Rollstuhl. Und dann wird er zu Bett gehen, mit Rollstuhl!«
Emma stand tatsächlich auf, und sie lächelte leicht, wenn auch verkrampft.
»Na, komm«, sagte ich. »Rodenstock hat zu tun.«
Sie marschierte tatsächlich hinter mir aus dem Haus, und Rodenstock sah tatsächlich sehr unglücklich aus mit all der roten, tomatigen Lasagne um den Kopf, die ihm langsam und gemächlich über das Gesicht rutschte.
Schon tat es mir leid, und ich dachte: Hoffentlich war das Zeug nicht zu heiß! Aber dann dachte ich wütend, dass eine Brandblase über seinen Kopf verteilt ja auch gewisse Vorteile haben könnte. Vielleicht wundersame Sprachlosigkeit.
Was mich sehr verblüffte, war Emmas verbissene Schweigsamkeit. Sie sagte kein Wort, hockte sich in mein Auto, und ich fuhr sie in ein paar Minuten nach Brück zu mir nach Hause. Allerdings war sie leichenblass.
© 2011 Fischer Verlag
Ich wusste etwas, das ich eigentlich nicht wissen durfte, das mir zugetragen worden war. Diese alte Frau war im Zuge des Rassenwahns der Hitler-Schergen als junge Frau einer Totaloperation unterzogen worden. Behördlich angeordnet. Angeblich war der Bruder ein Mörder, angeblich war sie damit ein Untermensch, durfte auf keinen Fall und niemals im Leben ein Kind gebären. Der Beginn einer unendlich grausamen Isolation, die erst mit ihrem Tod erlosch.
Ich dachte: Vielleicht jagt mich die Familie vom Hof, wenn ich nach ihr frage. Ich dachte: Wer will so etwas überhaupt noch lesen? Ich dachte: Vielleicht gibt es noch behördliche Unterlagen, vielleicht Zeitzeugen, vielleicht lebt noch jemand, der etwas weiß. Ich dachte aber auch: Gib es besser gleich auf, weil du niemanden findest, der diese Geschichte druckt.
Dann stand ich auf und setzte mich hinunter auf die Terrasse, um in die Nacht zu starren und dem leichten Wehen des Windes nachzulauschen.
Ich weiß noch genau, dass ich mir die kurze, stummelige, massige Shagpfeife von Poul Winslow stopfte, die ich eigentlich nicht mag, weil sie zu schwer ist. Die rauche ich grundsätzlich nur, wenn ich mies gestimmt bin und etwas gegen mich selbst habe. Da hockte ich also und schickte Qualm in die Luft.
Ich hatte kein Licht gemacht, ich saß im Dunkeln, und dunkel war auch das Wohnzimmer. Dann gab es links von mir ein Rascheln unter der Birke, gleich darauf ein leises Schnaufen, und dann kam der Igel, von dem ich erzählen will, in aller Ruhe auf die Terrasse geschnüffelt und trippelte etwa dreißig Zentimeter an meinen Schuhspitzen vorbei auf Satchmos Fressnapf zu.
Da ich ein gutmütiger Mensch bin, dachte ich sofort daran, ihm ein frisches Ei aus dem Eisschrank zu holen, wollte ihn aber auch nicht stören, also betrachtete ich ihn nur. Und er machte es gezielt, er zögerte keine Sekunde: Er legte beide Vorderpfoten auf die Kante des Napfes, der kippte um, und die Katzenherrlichkeit rollte ihm vor sein Maul.
Ich erinnere mich, dass ich dachte: Wenn du eine Weile wartest, kommt mein Kater vorbei und zeigt dir, wo der Hammer hängt.
Aber dann war meine Katze plötzlich da, und vom Hammer konnte keine Rede sein.
Wir haben ja alle in der Schule gelernt, dass der gemeine deutsche Gartenigel sich bei Gefahr augenblicklich zusammenrollt und außer der Atmung nichts mehr an ihm funktioniert. Aber dieser Igel war anders - und dieser Kater war es auch.
Satchmo war nicht im Geringsten erstaunt, nicht einmal eine Zehntelsekunde verwirrt oder hilflos. Er setzte sich auf die andere Seite des Napfes, stellte die Ohren auf, legte den Schwanz adrett um sich selbst und betrachtete den Besuch durchaus freundlich. Er fuhr nicht einmal die Pfote aus, um das Lebewesen zu testen. Nichts, einfach nichts. Der Igel rollte sich nicht zusammen, der Igel fraß in aller Seelenruhe Satchmos Napf leer, und einmal glaubte ich sogar, einen leisen, erleichternden Igelfurz zu hören.
Da begriff ich die Wahrheit dieser Stunde: Die beiden kannten sich, die kannten sich seit Langem!
Satchmo ließ den Igel fressen, und als er fertig war, kam er zu mir, hockte sich an meine Beine, starrte zu mir herauf, als wollte er sagen: »Ist das nicht ein irrer Typ?«
Seitdem hatte ich also einen Igel in der Familie.
Was mich an der Geschichte unruhig machte, war die Tatsache, dass wir in der Schule auch gelernt hatten, dass der gemeine deutsche Gartenigel im Herbst verschwindet, weil er sich irgendwo im Verborgenen eine Höhle baut, um den Winter über zu schlafen. Dieser Igel aber nicht, dieser Igel kam immer noch auf meine Terrasse, dieser Igel störte sich nicht daran, dass wir November hatten und ein geradezu ekelhaftes Wetter. Es regnete, es stürmte, die Temperatur lag bei angenehmen drei Grad plus, gewisse niedere Eifelregionen versanken bereits im Matsch, die Schweinegrippe und ihre Verwandten hielten reiche Ernte - aber der Igel kam. Ich hätte sogar wetten können, dass Satchmo genau wusste, wo der stachlige Genosse sich tagsüber aufhielt, aber Satchmo ist bekanntlich arrogant, Satchmo schwieg. Vielleicht übten die beiden heimlich Weihnachtslieder und sangen mir am Heiligen Abend auf ihre Art Stille Nacht, Heilige Nacht ... für die vier Würstchen, die ich immer an die unteren Zweige meines Weihnachtsbaumes hänge.
Das Einzige, was mich halbwegs zu trösten vermochte, war die Tatsache, dass die beiden unter keinen Umständen irgendeine erschreckend neuartige Kreatur in die Welt setzen konnten: Ich wusste definitiv, dass mein Kater Satchmo vor Jahren schon gründlich enteiert wurde, Igel hin, Igel her.
Gegen Abend sagte eine Frau im Fernsehen, wir müssten in den nächsten Tagen damit rechnen, dass laufend neue atlantische Tiefs von Westen her auf den alten Kontinent träfen. »Regen, immer wieder Regen. Und die Temperaturen sinken, und es kann leichten Schneefall geben, aber der Schnee bleibt nicht lange liegen ...« Es war eine dieser Wiederholungen, die wir in jenem Jahr kurz vor der Adventszeit häufig hörten.
Dann meldete sich Emma per Telefon und sagte mit Kleinkindstimme: »Meinst du, du hast Lust auf Lasagne?«
Sie hatte in der letzten Zeit häufig diese Stimme, sie pflegte einen unübersehbaren Kummer. Sie pflegte ihren Mann, der hochnäsig wirkte und sich zuweilen demonstrativ in seinen Rollstuhl setzte, obwohl er nach Meinung aller seiner Ärzte so ein Ding überhaupt nicht brauchte.
Und ehe ich antworten konnte, fragte sie: »Wie geht es dir denn eigentlich so?«
»Mir geht es gut, sagen wir mal.«
»Sagen wir mal? Also, willst du Lasagne?«
»Ich will Lasagne. Wann?«
»In zwanzig Minuten?«
»Okay, bis gleich.«
Ich will ehrlich sein: Rodenstock machte es mir in den letzten Monaten schwer. Meist war er eine dunkle, schweigsame Schattenfigur, die vor den Fenstern des Wohnzimmers in ihrem Rollstuhl hockte und vor sich hinbrütete. Irgendwie leblos, irgendwie fremdartig, irgendwie versackt in irgendetwas, das wohl seine eigene, schrecklich dumpfe und enge Welt ausmachte. Er grüßte kaum, oder wenn, murmelte er abwesend: »Hallo!« Und das klang so, als sei ich bestenfalls der Stromableser. Es klang vor allem so, als sei ich ihm egal.
Anfangs hatte ich noch gefragt, wie sein Befinden war, aber da er nur rotzig geantwortet hatte, das sei mir doch sowieso egal, ließ ich es sein. Und immer hatte ich das Gefühl, ich ließe Emma in ihrer Hilflosigkeit schutzlos zurück. Es war ein richtiges Elend. Das Haus in Heyroth wurde mir zuerst egal und dann verhasst, und natürlich mochte ich mich selbst zunehmend weniger. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr ich selbst zu sein, zu versagen, abzugleiten in eine Stimmung, in der ich mir einredete, es sei nur seine Sache, nicht meine. Und dann, irgendwann Ende September, hatte ich mir vorgenommen, zu platzen. Er war zu einem richtigen Arschloch mutiert, dieser Rodenstock, dieser Rollstuhlhocker, diese Karikatur eines vollkommen blöden, vernagelten Menschen, den ich gar nicht erst kennen lernen wollte.
War er depressiv? Wo war mein alter Rodenstock? Würde er die nächsten zwanzig Jahre in diesem Rollstuhl hocken und immer schweigsamer werden, bis er endlich starb? Hatte er das Lachen auf ewig aus diesem Haus verbannt?
Was war mit Emma? Würde sie neben ihm langsam aber sicher eingehen wie die viel zitierte Primel? Sie war blass geworden, ihre Augen waren groß und leer, ihr Gesicht bleich, ihre Haare stumpf. Und sie bewegte sich langsamer, als würde Rodenstock sie in ihrer Lebenslust bremsen, zurückfahren auf ein schweigsames Mäuschen, das seinen klugen Worten lauschte und keinerlei Kritik äußerte.
Wieso eigentlich dieser gottverdammte Rollstuhl? Und auch noch elektrisch! Man hätte Rodenstock vor die Tür seines Hauses schieben und ihm dann einen Tritt geben müssen. Bis ins Tal hätte er dann ein paar hundert Meter frische Luft gehabt und wäre am Ende in eine riesige, tiefe Novemberpfütze geklatscht. Das Ganze bei zwei Grad plus und einem richtig beschissenen, abgedunkelten Novemberhimmel, am besten bei starkem Schneefall und scharfem Nordwind.
Er hatte einfach kein Recht, mich so hilflos zu machen und wie einen Pestkranken des Mittelalters zu behandeln.
Zurück zur Lasagne.
Ich machte mich landfein und belud meine Weste mit allem, was ich brauchte: Pfeifen, Tabak, Pfeifenstopfer, Feuerzeuge und ähnliches Gedöns. Dann traute ich mich in die dunkle Nacht und stieg in mein Auto. Es war gegen 18 Uhr, und jegliche Aufmunterung verschwand in eiskalten Nebelfetzen.
Plötzlich wusste ich, dass Emma mich eingeladen hatte, um der harten Schweigsamkeit des Herrn Rodenstock etwas entgegenzusetzen, und nicht, um mir ihre erstklassige Lasagne anzubieten. Kannst du haben, dachte ich.
Rodenstocks Haus in Heyroth machte einen sehr heimeligen Eindruck, die Fenster waren gelbe Vierecke, an der Haustür hing ein Adventskranz mit schweren Zapfen von der Kiefer und einer breiten, roten Schleife. Emma legte die Adventszeit grundsätzlich nach eigenem Ermessen fest. Sie hatte schon im Oktober Kränze aufgehängt, wenn ihr weihnachtlich zumute war.
Sie öffnete die Tür, noch ehe ich klingeln konnte, und ihr Dalmatiner, der Mike genannt wurde, sprang an mir hoch, als habe er mich seit Monaten vermisst.
Rodenstock hatte ihn auf Rat der Ärzte angeschafft, weil er seine Gesundheit durch alltägliche Spaziergänge wieder auf Vordermann bringen sollte. Aber wie es in nahezu allen Familien so üblich war, ging Emma mit Mike spazieren, derweil Rodenstock bewegungslos in seinem Rollstuhl hing und vor sich hinmuffelte.
»Komm herein«, sagte Emma leise. Dann nahm sie den Hund am Halsband und murmelte: »Kusch, kusch, mein Lieber.« Dann: »Vorsicht, der blöde Rollstuhl!«
Rodenstock, das allein schon war eine Erleichterung, war nicht in Küche und Wohnzimmer.
»Er ist oben«, sagte Emma leise »Er telefoniert mal wieder.« »Wieso ›mal wieder‹?«
»Er hat seit rund zwei Monaten die Telefonitis. Und weil ich auf der Bank das Telefon bezahlt habe, weiß ich auch, dass er mit dem Dalai Lama telefonieren muss: 1.800 Euro in vier Wochen. Und, bitte, frag mich jetzt nicht, ob er verrückt ist. Die Antwort lautet: Ja, er ist verrückt. Aber mehr weiß ich auch nicht.« Dann starrte sie auf den Fußboden und setzte hinzu: »Er hat auch ein neues Handy. Woher er das hat, weiß ich nicht. Es ist ziemlich groß und hat unter dem Display zwei kleine Leuchten. Er spricht erst, wenn beide rot blinken und dann ein anderes Lichtzeichen kommt, grün.«
»Wieso erledigt er die Telefoniererei nicht hier unten?«
»Er muss unter einem Verfolgungswahn leiden. Er hat sich im Gästezimmer verschanzt. Wenn ich ihn frage, was er so treibt, antwortet er, das gehe mich nichts an!« Sie stand vor mir, neigte den Kopf zur Seite und fing an zu weinen. Dann schluchzte sie: »Und du bist ja auch nicht mehr für uns da.«
»Einspruch. Bin ich wohl. Soll ich ihm in den Arsch treten?«
»Ja, bitte!«
»Mit Anlauf?«
Sie nickte sehr heftig, drehte sich ab und sagte im entsetzten Hausfrauenton: »Die Lasagne wird zu Kohle!« Sie drehte irgendeinen Knopf an ihrem Herd.
»Macht auch nichts«, bemerkte ich tapfer.
Sie nahm ein Küchentuch und fuhr sich damit über das Gesicht. »Ich habe neulich zum ersten Mal gedacht, dass es vielleicht gut wäre, Tante Rosa in New York zu besuchen, oder Shamir in Tel Aviv.«
»Lass das lieber«, sagte ich. »Verwandte sind niemals die beste Lösung.«
Sie machte die Backofenklappe auf und starrte hinein. »Das ist richtig«, nickte sie. »Aber manchmal würde mir der schäbigste Verwandte schon helfen. Glaub mir.«
»Ich glaube dir«, gab ich zurück. »Komm, wir rauchen eine.« Also rauchte sie einen ihrer wirklich furchtbar stinkenden, holländischen Zigarillos, und ich paffte eine Pfeife.
»Weißt du, ich kann das Spiel nicht gewinnen«, sagte sie leise. »Gewinnen kann ich das nicht. Und ich weiß auch nicht mehr, ob ich es gewinnen will. Vielleicht gehe ich heim nach Holland, vielleicht haben die da irgendeine Arbeit für mich, irgendetwas Sinnvolles.«
»Das kannst du immer noch tun«, versuchte ich sie zu beschwichtigen. Dann schwiegen wir, weil es nichts mehr zu sagen gab, und sie nahm die Lasagne aus dem Backofen und setzte sie mit zwei dicken Küchenhandschuhen auf den Tisch. Dann ging sie drei Schritte in den Flur und rief: »Essen! Es gibt Essen!«
Es vergingen ein paar Minuten, ehe oben ein Stuhl gerückt wurde. Dann kam er die Treppe herunter, und seine Schritte klangen ganz normal, ohne zu stocken, ohne Unsicherheit. Dann setzte er sich vier Meter von uns entfernt im Flur in den Rollstuhl und surrte an den Tisch.
Dabei nuschelte er: »Sieh mal, der Baumeister! Richtig, bei Lasagne kommt er ja immer. Du lockst ihn mit Lasagne an, meine Liebe, mit Lasagne klappt das reibungslos.«
Emma sagte nichts, ich sagte nichts.
»Gebt mir mal eure Teller!«, sagte Emma leise.
Ich gab ihr meinen Teller, und sie belud ihn mit einer ordentlichen Portion. Dann gab ich ihr Rodenstocks Teller, und sie wiederholte das Ganze. Dann nahm sie sich selbst ein wenig, setzte sich und bemerkte tonlos: »Guten Hunger!«
»Ja, ja«, murmelte Rodenstock. Dann hob er den Kopf und erklärte: »Es wäre mir übrigens angenehm, wenn ihr beide vor dem Essen hier nicht raucht. Es schmeckt dann alles nicht mehr.«
»Rauchst du nicht mehr?«, fragte ich.
»Doch, aber nicht so, dass es andere stören könnte.« »Ich störe dich also«, murmelte Emma.
»Ja!«, nickte er ernsthaft. »Wenn du hier rauchst.« Dann stocherte er in der Lasagne herum, nahm eine Gabel voll, kaute darauf herum und sagte mit breitem Mund: »Die war wirklich auch schon mal besser!«
»Ach ja«, hauchte Emma ohne jede Betonung.
»Hör zu«, sagte ich leise. »Ich finde, was du hier ...« »Kein Vortrag, bitte!«, unterbrach er mich scharf.
»Natürlich nicht, du Arschloch«, sagte ich so seidenweich wie möglich. »Hör mir zwei Minuten zu, dann gehe ich hier raus und nehme deine Frau sicherheitshalber mit, damit sie in deinem Haus nicht erfriert oder sonstwie zu Schaden kommt. Du hattest einen totalen Zusammenbruch, sie haben dich aufgemacht und deine Pumpe repariert. Das ist jetzt Monate her, und du hockst da in einem Rollstuhl, den du nicht brauchst, den du aber missbrauchst. Du bist ja nun nicht der einzige alte Sack, den die Trierer Operateure, Gott hab sie selig, wieder auf die Beine gebracht haben. Aber du hast nicht das Recht, Emma und mich zu missbrauchen, wenn du deinen irren Launen nachgibst und uns mit deiner gottverdammten Herrlichkeit blendest. Diese Herrlichkeit ist beschissen, kleinkariert und ohne Stil. Du bist arrogant, anmaßend und großkotzig ...«
»Du wirst dieses Haus nicht mehr betreten!«, schrie er mit hochrotem Kopf los. »Du wirst unter keinen Umständen mehr in meinem Leben auftauchen. Ich habe die Schnauze ...«
»Halt den Mund und hör mir zu«, sagte ich ganz leise, wobei ich heute noch erstaunt bin, dass ich leise sprechen konnte. »Wir erdulden dich seit Monaten, wir halten dich mühsam aus, wenngleich wir wissen, dass du jedes Maß verloren hast. Diese kleine Welt hier wird systematisch von dir zertrümmert, Emma kommt jeden Tag unter deine Räder, du verdammtes Arschloch. Irgendetwas ist mit dir passiert, vielleicht bist du depressiv, vielleicht wirst du von deiner trostlosen Einsilbigkeit am Lachen gehindert. Aber das alles gibt dir verdammt noch mal kein Recht, uns wie Leibeigene abzufertigen. Und damit du das keine Minute deines Lebens mehr vergisst, serviere ich dir meine Lasagne!« Dann nahm ich meinen Teller, hielt ihn hoch über seinen Kopf und ließ die Herrlichkeit herunterklatschen, direkt auf seine letzten, weißen Haare. »Sag jetzt mal ausnahmsweise nichts, Rodenstock, du siehst jetzt ohnehin bekleckert aus. Denke an meine Worte und halt die Klappe!« Dann nahm ich auch seinen Teller und ließ ihn samt Lasagne auf die Fliesen donnern. Es war ein richtig schönes Geräusch, und die Farbgebung war insgesamt durchaus stilvoll.
Der Hund war dankbar, der Hund begann sofort zu schlabbern.
»Emma, wir verschwinden jetzt hier!«, sagte ich scharf. »Dein Mann duscht jetzt und bringt anschließend die Schweinerei hier in Ordnung. Vom Rollstuhl aus. Dann telefoniert er weiter mit Gott und der Welt. Im Rollstuhl natürlich, alles im Rollstuhl. Und dann wird er zu Bett gehen, mit Rollstuhl!«
Emma stand tatsächlich auf, und sie lächelte leicht, wenn auch verkrampft.
»Na, komm«, sagte ich. »Rodenstock hat zu tun.«
Sie marschierte tatsächlich hinter mir aus dem Haus, und Rodenstock sah tatsächlich sehr unglücklich aus mit all der roten, tomatigen Lasagne um den Kopf, die ihm langsam und gemächlich über das Gesicht rutschte.
Schon tat es mir leid, und ich dachte: Hoffentlich war das Zeug nicht zu heiß! Aber dann dachte ich wütend, dass eine Brandblase über seinen Kopf verteilt ja auch gewisse Vorteile haben könnte. Vielleicht wundersame Sprachlosigkeit.
Was mich sehr verblüffte, war Emmas verbissene Schweigsamkeit. Sie sagte kein Wort, hockte sich in mein Auto, und ich fuhr sie in ein paar Minuten nach Brück zu mir nach Hause. Allerdings war sie leichenblass.
© 2011 Fischer Verlag
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Autoren-Porträt von Jacques Berndorf
Berndorf, JacquesJacques Berndorf ist das Pseudonym des 1936 in Duisburg geborenen Journalisten, Sachbuch- und Romanautors Michael Preute. Sein erster Eifel-Krimi, »Eifelblues«, erschien 1989. Mittlerweile umfasst die Eifel-Krimi-Serie um den Journalisten Siggi Baumeister 21 Bände und ist deutschlandweit überaus populär. Jacques Berndorf zählt zu den erfolgreichsten deutschen Krimiautoren, und seine Romane führen regelmäßig die Bestsellerlisten an.Der Autor hat selbst in der Eifel eine späte Heimat gefunden und schöpft aus seiner ländlichen Umgebung Kraft und Ideen für seine authentischen Kriminalromane.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jacques Berndorf
- 2011, 2. Aufl., 368 Seiten, Maße: 12,5 x 19,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596193451
- ISBN-13: 9783596193455
- Erscheinungsdatum: 07.10.2011
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