Die Ruine am See / Emma Graham Bd.3
Roman
Die zwölfjährige Emma ist in ihrem Heimatort La Porte am Spirit Lake eine kleine Berühmtheit. Sie hat zwei Kriminalfälle aufgedeckt und verfolgt bereits eine neue heiße Spur. Vor vielen Jahren verschwand während einer...
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Produktinformationen zu „Die Ruine am See / Emma Graham Bd.3 “
Die zwölfjährige Emma ist in ihrem Heimatort La Porte am Spirit Lake eine kleine Berühmtheit. Sie hat zwei Kriminalfälle aufgedeckt und verfolgt bereits eine neue heiße Spur. Vor vielen Jahren verschwand während einer Ballnacht im Luxushotel 'Belle Rouen', das mittlerweile verfallen ist, das Baby eines amerikanischen Ehepaares spurlos. Doch es wurde kein Lösegeld gefordert und der Fall nie polizeilich weiterverfolgt. Sehr merkwürdig, findet Hobbydetektivin Emma, und begibt sich mit Feuereifer auf die Spur des verschollenen Kindes.
Klappentext zu „Die Ruine am See / Emma Graham Bd.3 “
Eine geheimnisvolle Hotelruine, ein verschwundenes Baby und eine junge ErmittlerinDie zwölfjährige Emma ist in ihrem Heimatort La Porte am Spirit Lake eine kleine Berühmtheit. Sie hat zwei Kriminalfälle aufgedeckt und verfolgt bereits eine neue heiße Spur. Vor vielen Jahren verschwand während einer Ballnacht im Luxushotel "Belle Rouen", das mittlerweile verfallen ist, das Baby eines amerikanischen Ehepaares spurlos. Doch es wurde kein Lösegeld gefordert und der Fall nie polizeilich weiterverfolgt. Sehr merkwürdig, findet Hobbydetektivin Emma, und begibt sich mit Feuereifer auf die Spur des verschollenen Kindes ...
Lese-Probe zu „Die Ruine am See / Emma Graham Bd.3 “
Die Ruine am See von Martha Grimes1
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»Nicht kann sie Ruhm hinwelken, täglich Sehn an ihr nicht stumpfen /Die immerneue Reizung.«
Dwayne zitierte Shakespeare oder jedenfalls behauptete er, es sei von Shakespeare. Eigentlich müsse es »Alter« heißen und nicht »Ruhm«, meinte er. Das habe er aber geändert, weil das besser auf mich passte. »Alter« (sagte er) könnte ja wohl keine Bedrohung darstellen für ein Mädchen, das zwölf Jahre alt ist (»und das schon lange«, hätte er nicht extra hinzufügen müssen, fand ich). Meine jüngste Heldentat hat in Spirit Lake tatsächlich mächtig Aufsehen erregt. So etwas ist hier, nun ja, noch nie passiert. Dwayne sagte, Shakespeare würde in den Zeilen Kleopatra beschreiben, die zu ihrer Zeit ebenfalls berühmt war, fast genauso berühmt wie ich. Das erzählte er mir, während er unter Bobby Stucks altem Studebaker lag. Dwayne ist nämlich Meistermechaniker.
Ich saß auf einem Stapel neuer Reifen in Abel Slaws Autowerkstatt. Eigentlich durfte ich gar nicht hier drin sein bei den ganzen Autos und Werkzeugen und Hebekränen. Also wartete ich immer ab, bis Abel Slaw sich ins Büro verdrückte, und schlich mich dann in die Werkstatt. Ich hab noch nie jemanden gesehen, der so viel an der Strippe hängt wie der.
Dwayne schob sich auf so einem flachen Ding mit Rollen dran unter dem Studebaker hervor und guckte unter die Kühlerhaube. Das Dumme ist, dass ich Dwayne in der Werkstatt nie richtig ins Gesicht schauen kann. Wenn er unter dem Auto ist, sehe ich gar nichts von ihm, und wenn er sich unter die Kühlerhaube beugt, sehe ich ihn nur von der Seite. Ich kann also nicht erkennen, ob er sich insgeheim schieflacht über mich. Er witzelt immer ganz schön herum, und ich weiß deshalb nie so recht, woran ich bin, wenn ich sein Gesicht nicht sehe.
Ich weiß, es hört sich so an, als wäre ich schon ewig zwölf Jahre alt. Das liegt aber bloß daran, dass in den letzten paar Wochen eine Menge passiert ist und ich so viele Details in meine Geschichte reinpacken muss, zum Beispiel, dass Dwayne »Meister«- Mechaniker ist. Ein Detail, das ich wahrscheinlich doch wieder beiseitelassen werde, was ich ihm auch gesagt habe.
»Na, so ein Glück.«
So viel von Dwayne, mit dem Kopf unter der Kühlerhaube des Studebaker.
Ich will die Ereignisse mal kurz zusammenfassen, nicht die ganze Geschichte (die Sie ja schon kennen sollten, wenn Sie richtig aufgepasst haben), sondern bloß das Ende, wo ich zu Ruhm und Ehren komme. (Aus den Zeitungsartikeln über mich habe ich mir ein paar schlaue Ausdrücke zugelegt.) Mein Ruhm ist das, was »im Nachhinein« geschah. Das Verbrechen und sein Nachspiel. Das Verbrechen war wirklich Wahnsinn, mit Blut und Schießerei und allem. Doch manchmal glaube ich fast, das, was danach kam, ist sogar noch wichtiger als das Verbrechen selbst.
Bei dem Nachspiel saßen die Reporter vor dem Hotel Paradise auf der Veranda, wippten in den dunkelgrünen Schaukelstühlen, tranken Kaffee oder Martinis (je nachdem, wer die Gastgeberin war, meine Mutter oder Lola Davidow), als wären sie zahlende Hotelgäste, und stellten mir Fragen über das, was im Bootshaus am Spirit Lake geschehen war, und ob ich keine Angst gehabt hätte und so weiter.
Damit will ich sagen: Die Reporter waren meinetwegen da. Für meine Mutter und Mrs. Davidow und deren un-berühmte Tochter Ree-Jane - ganz besonders für Ree-Jane - war das schwer zu glauben. Es war schwer zu glauben, weil ich in meinen ganzen zwölf Jahren nie großartig Aufmerksamkeit geerntet hatte. Dass all diese Zeitungsgeschichten von mir handelten, na, das war einfach zu viel. Meine Mutter freute sich, dass ich berühmt war, Lola Davidow freute sich über einen Anlass, eine Flasche Gordon's Gin aufzumachen, und Ree-Jane freute sich ganz und gar nicht.
Da saßen wir also auf der Veranda, die Reporter, meine Mutter, Mrs. Davidow, Ree-Jane und ich. Mein Bruder Will war nicht dabei. Der ist prinzipiell nie bei irgendwas dabei. Der steckt die ganze Zeit nur in der großen Garage mit seinem besten Freund, dem Musikgenie Brownmiller (den wir »Mill« getauft haben), und die beiden denken sich Songs und Bühnenbilder für ihr Theaterstück aus. Mein Bruder ist viel zu beschäftigt, um sich um so was wie Ruhm zu scheren, nicht mal um seinen eigenen, was wahrscheinlich viel über ihn aussagt. Ich teile diese Haltung nicht. Ehrlich gesagt, für meinen Geschmack könnte ich gar nicht berühmt genug sein.
Die Details häuften sich, was, wie man mir sagte, eins der Probleme bei dieser Geschichte ist. Sie ertrinkt in Details. Wie MaryEvelyn Devereau im Spirit Lake ertrunken ist. Wie ich dort fast auch ertrunken wäre.
Ree-Jane meinte, ich würde mich völlig verzetteln und kein Ende finden; dass es langweilig sei, jedes noch so kleine Ding zu erwähnen, und dass ich genauso langweilig sei und das nicht kapiere.
Aber wie gesagt: Es ist meine Geschichte. Es geht um das Hotel Paradise und um Ben Queen und Cold Flat Junction. Es könnte eine unendliche Geschichte werden, die wie ich kein Ende findet. Ich könnte nämlich ewig so weitermachen, unverwelkt und immer neu gereizt wie Kleopatra. Nicht, dass ich mich vergleichen will.
»Pass aber auf, wenn du im Wald bist. Die Jäger sind hinter den Hirschen her«, sagte Dwayne, den Kopf fast auf gleicher Höhe mit dem Motor.
Ich inspizierte gerade die Profile an dem Stapel Reifen unter mir. Als ob ich ein Auto hätte. »Für Hirsche hat die Jagdsaison doch noch gar nicht begonnen.«
»Für Waschbären auch nicht, aber das hält manche Leute bekanntlich nicht davon ab.« Er piekste eine Dose Sinclair-Öl auf, als wäre es ein Bier, und jetzt endlich konnte ich sein Gesicht sehen. Im Schatten der Kühlerhaube sah er sogar noch attraktiver aus.
»Wen denn wohl«, fragte ich scheinheilig.
Er musterte mich. »Warst du wieder in der Schonzeit unterwegs?«
»Ich nicht. Du.«
So hatte ich ihn nämlich kennengelernt. In einem anderen Teil des Waldes, nicht im Hirschgehege, sondern in der Nähe vom Lake Noir. Es war schwer zu sagen, wo ein Wald aufhörte und ein anderer anfing. Damals hatte ich Brokedown House ausgekundschaftet, wenn man auf einen Baum klettern als »auskundschaften« bezeichnen kann. Ich hatte Zweige hochschnellen und Blätter rascheln hören, als ob jemand auf mich zukäme, und hatte mich zu Tode erschrocken. Es hatte sich herausgestellt, dass es Dwayne war mit seiner Schrotflinte und einem Sack mit toten Kaninchen. Nacht war es gewesen, so pechschwarz und finster, dass man nicht erkennen konnte, wo der Baum aufhörte und ich anfing oder wo der Erdboden aufhörte und Dwayne anfing.
»Dieses alte Hotel«, sagte ich und deutete über die Werkstatt hinaus in Richtung Highway. »Eines Nachts ist es abgebrannt, mit Stumpf und Stiel, bloß ein Teil vom Erdgeschoss ist übrig geblieben. Der frühere Ballsaal. Dieses Hotel war viel größer als das Hotel Paradise, viel größer. Es hieß Belle Rouen. Das ist französisch.« Falls er das nicht wusste.
Dwayne schaute auf die Öltülle und wischte sich die Hände an einem ölverschmierten Lappen ab, so einem, wie ihn anscheinend alle Automechaniker in der hinteren Hosentasche stecken haben.
»Ich habe viel darüber herausgefunden, von der Frau bei der historischen Gesellschaft. In La Porte.«
»Mädchen, eher seh ich einen Hirsch auf einen Baum klettern als dich im Museum beim Geschichtsstudium.«
»Was? Ich weiß eine Menge über Geschichte.«
»Du kennst ja nicht mal die Geschichte von eurem eigenen Hotel, geschweige denn von einem anderen.« Er steckte den öligen Lappen wieder in die Tasche.
Ich sprang beleidigt von den Reifen herunter. »Und ob ich die kenne! Mein Urgroßvater war der Besitzer, vor meinem Großvater und meiner Mutter (und, woran ich aber nicht denken wollte, Lola Davidow). Eigentlich gehört es Aurora Paradise und ihrer Schwester.« Aurora Paradise war einundneunzig und wohnte oben im dritten Stock.
Dwayne schmiss die leere Ölbüchse in eine große Mülltonne und knallte die Motorhaube zu. »Das meine ich gar nicht. Sondern was dort wirklich so passiert ist?«
Ich saß wieder auf dem Reifenstapel und blinzelte, als ob ich dadurch besser begreifen könnte, was er meinte. »Na, woher sollte ich das wissen?« Ich hatte keine Ahnung, was sich dort zugetragen hatte. »Niemand redet von früher, also, meine Mutter redet ab und zu über die schrecklichen Paradises - sie ist ja selbst keine, weißt du, sie hat da bloß eingeheiratet. Aber das ist auch schon alles...« Meine Stimme verlor sich. Mir wurde allmählich bange (dank Dwayne), als hätte ich die Familiengeschichte die ganze Zeit vernachlässigt, als wäre ich für die Familiengeschichte zuständig. Keine Ahnung, vielleicht war es ja so.
Dwayne hatte bei einem anderen Auto die Motorhaube gelüftet und klemmte den dünnen Stab fest, damit sie offen stehen blieb. Er schaute mich durch das Dreieck an, das die Haube bildete. »Du bist ja ganz weiß. Was ist los?«
»Nichts.«
Dwayne schaute mich weiter unverwandt an, und ich muss wohl erst weiß und dann rot geworden sein, denn er machte einen Rückzieher. Ich muss zugeben, das kann er richtig gut: einen Rückzieher machen, wenn er meint, etwas setzt einem zu sehr zu. Er sagte: »Also, erzähl weiter von diesem Ballsaal.«
»Aber nur, wenn du nicht dauernd unterbrichst.« Jetzt war ich eingeschnappt. Dabei war ich nicht besonders gut im Eingeschnapptsein, weil das bei mir sowieso nie jemand bemerkte. Das gilt übrigens auch für Traurigkeit, Wut und Kummer.
Er lächelte unmerklich. »Sorry«, sagte er und wischte sich die Finger an dem Lappen ab, den er wieder aus seiner Hosentasche gezogen hatte. Das tat er so behutsam, dass man hätte meinen können, der Lappen wäre gerade frisch aus der Wäsche gekommen.
Allzu oft habe ich von einem Erwachsenen noch nicht das Wörtchen »sorry« gehört. Das war auch so was, was ich an Dwayne mochte. Ich ging jedoch locker drüber hinweg. »Ach, schon gut. Na jedenfalls gab es im Hotel diese Bälle - es war eigentlich mehr als nur Tanzen - sehr elegant, das Orchester im Smoking, und die Frauen trugen mit Perlen und Pailletten bestickte Kleider, und der Tanzboden war auf Hochglanz poliert und glänzte. Da waren vielleicht zweihundert Leute - was guckst du so?« Er wirkte skeptisch.
»Das sind ja eine Menge Details.« Er schwang den öligen Lappen über die Schulter und beugte sich zum Motor hinunter.
Ich redete weiter. »Zweihundert Tänzer oder fast jedenfalls. Ich vermute mal, das war in den Dreißigern« (eine Zeit, die kaum für mich existierte, weil ich damals noch nicht auf der Welt war), »als sie Musik spielten wie >Bye Bye Blackbird< und >When the Swallows Come Back to Capistrano.<« Unvermittelt fing ich an zu singen: »Hier kann keiner mich lieben noch verstehn -« Einen Augenblick lang schlüpfte ich in ein anderes Ich, dessen Gefühle unergründlich waren.
»Oh, was für ein Peeech, und das ausgerechnet miiir.«
Das Gesinge kam von Dwayne. Er versuchte, mich zurückzuholen, aus einer unbestimmten Traurigkeit vielleicht. Fast so, wie Ben Queen mich vorm Ertrinken gerettet hatte. Ich hätte heulen können vor lauter Erleichterung, dass jemand das versuchte. Ich hielt mein Gesicht gesenkt, beguckte meine Füße. Dwayne begann wieder seine dumpfen Schläge mit dem Schraubenschlüssel oder irgendeinem anderen Werkzeug.
»Also weiter«, sagte er.
Ich räusperte mich - was man in den Hals kriegt, sind übrigens keine Frösche, sondern Erinnerungen. »Es gab dort auch einen kleinen Teich, an den Hirsche zum Trinken kamen. Auf einem Bild ist ein Kitz und sein Dad zu sehen, du weißt schon, mit einem Geweih.«
»Hmm. Ein Kitz mit Bock? Normalerweise halten die sich an ihre Mütter.«
»Vielleicht, weil du geholfen hast, all die Muttertiere umzubringen.« Ich konnte auch sarkastisch sein.
»Ich jage so gut wie keine Hirsche und würde niemals eine Hirschkuh abschießen.«
»Du solltest auf überhaupt nichts schießen. Auch die haben ein Recht auf Leben, genauso wie du und ich.« Besonders ich.
»Au weia, jetzt spielst du aber den Moralapostel.«
Er machte sich mit dem Schraubenschlüssel unter der Motorhaube zu schaffen.
Im Grunde verschwendete ich nicht viele Gedanken an die Sache mit dem Jagen. Das einzige Mal, wo ich daran gedacht hatte, war damals, als Dwayne mit dem Sack voller Kaninchen dahergekommen war.
Übersetzung: Cornelia C. Walter
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
»Nicht kann sie Ruhm hinwelken, täglich Sehn an ihr nicht stumpfen /Die immerneue Reizung.«
Dwayne zitierte Shakespeare oder jedenfalls behauptete er, es sei von Shakespeare. Eigentlich müsse es »Alter« heißen und nicht »Ruhm«, meinte er. Das habe er aber geändert, weil das besser auf mich passte. »Alter« (sagte er) könnte ja wohl keine Bedrohung darstellen für ein Mädchen, das zwölf Jahre alt ist (»und das schon lange«, hätte er nicht extra hinzufügen müssen, fand ich). Meine jüngste Heldentat hat in Spirit Lake tatsächlich mächtig Aufsehen erregt. So etwas ist hier, nun ja, noch nie passiert. Dwayne sagte, Shakespeare würde in den Zeilen Kleopatra beschreiben, die zu ihrer Zeit ebenfalls berühmt war, fast genauso berühmt wie ich. Das erzählte er mir, während er unter Bobby Stucks altem Studebaker lag. Dwayne ist nämlich Meistermechaniker.
Ich saß auf einem Stapel neuer Reifen in Abel Slaws Autowerkstatt. Eigentlich durfte ich gar nicht hier drin sein bei den ganzen Autos und Werkzeugen und Hebekränen. Also wartete ich immer ab, bis Abel Slaw sich ins Büro verdrückte, und schlich mich dann in die Werkstatt. Ich hab noch nie jemanden gesehen, der so viel an der Strippe hängt wie der.
Dwayne schob sich auf so einem flachen Ding mit Rollen dran unter dem Studebaker hervor und guckte unter die Kühlerhaube. Das Dumme ist, dass ich Dwayne in der Werkstatt nie richtig ins Gesicht schauen kann. Wenn er unter dem Auto ist, sehe ich gar nichts von ihm, und wenn er sich unter die Kühlerhaube beugt, sehe ich ihn nur von der Seite. Ich kann also nicht erkennen, ob er sich insgeheim schieflacht über mich. Er witzelt immer ganz schön herum, und ich weiß deshalb nie so recht, woran ich bin, wenn ich sein Gesicht nicht sehe.
Ich weiß, es hört sich so an, als wäre ich schon ewig zwölf Jahre alt. Das liegt aber bloß daran, dass in den letzten paar Wochen eine Menge passiert ist und ich so viele Details in meine Geschichte reinpacken muss, zum Beispiel, dass Dwayne »Meister«- Mechaniker ist. Ein Detail, das ich wahrscheinlich doch wieder beiseitelassen werde, was ich ihm auch gesagt habe.
»Na, so ein Glück.«
So viel von Dwayne, mit dem Kopf unter der Kühlerhaube des Studebaker.
Ich will die Ereignisse mal kurz zusammenfassen, nicht die ganze Geschichte (die Sie ja schon kennen sollten, wenn Sie richtig aufgepasst haben), sondern bloß das Ende, wo ich zu Ruhm und Ehren komme. (Aus den Zeitungsartikeln über mich habe ich mir ein paar schlaue Ausdrücke zugelegt.) Mein Ruhm ist das, was »im Nachhinein« geschah. Das Verbrechen und sein Nachspiel. Das Verbrechen war wirklich Wahnsinn, mit Blut und Schießerei und allem. Doch manchmal glaube ich fast, das, was danach kam, ist sogar noch wichtiger als das Verbrechen selbst.
Bei dem Nachspiel saßen die Reporter vor dem Hotel Paradise auf der Veranda, wippten in den dunkelgrünen Schaukelstühlen, tranken Kaffee oder Martinis (je nachdem, wer die Gastgeberin war, meine Mutter oder Lola Davidow), als wären sie zahlende Hotelgäste, und stellten mir Fragen über das, was im Bootshaus am Spirit Lake geschehen war, und ob ich keine Angst gehabt hätte und so weiter.
Damit will ich sagen: Die Reporter waren meinetwegen da. Für meine Mutter und Mrs. Davidow und deren un-berühmte Tochter Ree-Jane - ganz besonders für Ree-Jane - war das schwer zu glauben. Es war schwer zu glauben, weil ich in meinen ganzen zwölf Jahren nie großartig Aufmerksamkeit geerntet hatte. Dass all diese Zeitungsgeschichten von mir handelten, na, das war einfach zu viel. Meine Mutter freute sich, dass ich berühmt war, Lola Davidow freute sich über einen Anlass, eine Flasche Gordon's Gin aufzumachen, und Ree-Jane freute sich ganz und gar nicht.
Da saßen wir also auf der Veranda, die Reporter, meine Mutter, Mrs. Davidow, Ree-Jane und ich. Mein Bruder Will war nicht dabei. Der ist prinzipiell nie bei irgendwas dabei. Der steckt die ganze Zeit nur in der großen Garage mit seinem besten Freund, dem Musikgenie Brownmiller (den wir »Mill« getauft haben), und die beiden denken sich Songs und Bühnenbilder für ihr Theaterstück aus. Mein Bruder ist viel zu beschäftigt, um sich um so was wie Ruhm zu scheren, nicht mal um seinen eigenen, was wahrscheinlich viel über ihn aussagt. Ich teile diese Haltung nicht. Ehrlich gesagt, für meinen Geschmack könnte ich gar nicht berühmt genug sein.
Die Details häuften sich, was, wie man mir sagte, eins der Probleme bei dieser Geschichte ist. Sie ertrinkt in Details. Wie MaryEvelyn Devereau im Spirit Lake ertrunken ist. Wie ich dort fast auch ertrunken wäre.
Ree-Jane meinte, ich würde mich völlig verzetteln und kein Ende finden; dass es langweilig sei, jedes noch so kleine Ding zu erwähnen, und dass ich genauso langweilig sei und das nicht kapiere.
Aber wie gesagt: Es ist meine Geschichte. Es geht um das Hotel Paradise und um Ben Queen und Cold Flat Junction. Es könnte eine unendliche Geschichte werden, die wie ich kein Ende findet. Ich könnte nämlich ewig so weitermachen, unverwelkt und immer neu gereizt wie Kleopatra. Nicht, dass ich mich vergleichen will.
»Pass aber auf, wenn du im Wald bist. Die Jäger sind hinter den Hirschen her«, sagte Dwayne, den Kopf fast auf gleicher Höhe mit dem Motor.
Ich inspizierte gerade die Profile an dem Stapel Reifen unter mir. Als ob ich ein Auto hätte. »Für Hirsche hat die Jagdsaison doch noch gar nicht begonnen.«
»Für Waschbären auch nicht, aber das hält manche Leute bekanntlich nicht davon ab.« Er piekste eine Dose Sinclair-Öl auf, als wäre es ein Bier, und jetzt endlich konnte ich sein Gesicht sehen. Im Schatten der Kühlerhaube sah er sogar noch attraktiver aus.
»Wen denn wohl«, fragte ich scheinheilig.
Er musterte mich. »Warst du wieder in der Schonzeit unterwegs?«
»Ich nicht. Du.«
So hatte ich ihn nämlich kennengelernt. In einem anderen Teil des Waldes, nicht im Hirschgehege, sondern in der Nähe vom Lake Noir. Es war schwer zu sagen, wo ein Wald aufhörte und ein anderer anfing. Damals hatte ich Brokedown House ausgekundschaftet, wenn man auf einen Baum klettern als »auskundschaften« bezeichnen kann. Ich hatte Zweige hochschnellen und Blätter rascheln hören, als ob jemand auf mich zukäme, und hatte mich zu Tode erschrocken. Es hatte sich herausgestellt, dass es Dwayne war mit seiner Schrotflinte und einem Sack mit toten Kaninchen. Nacht war es gewesen, so pechschwarz und finster, dass man nicht erkennen konnte, wo der Baum aufhörte und ich anfing oder wo der Erdboden aufhörte und Dwayne anfing.
»Dieses alte Hotel«, sagte ich und deutete über die Werkstatt hinaus in Richtung Highway. »Eines Nachts ist es abgebrannt, mit Stumpf und Stiel, bloß ein Teil vom Erdgeschoss ist übrig geblieben. Der frühere Ballsaal. Dieses Hotel war viel größer als das Hotel Paradise, viel größer. Es hieß Belle Rouen. Das ist französisch.« Falls er das nicht wusste.
Dwayne schaute auf die Öltülle und wischte sich die Hände an einem ölverschmierten Lappen ab, so einem, wie ihn anscheinend alle Automechaniker in der hinteren Hosentasche stecken haben.
»Ich habe viel darüber herausgefunden, von der Frau bei der historischen Gesellschaft. In La Porte.«
»Mädchen, eher seh ich einen Hirsch auf einen Baum klettern als dich im Museum beim Geschichtsstudium.«
»Was? Ich weiß eine Menge über Geschichte.«
»Du kennst ja nicht mal die Geschichte von eurem eigenen Hotel, geschweige denn von einem anderen.« Er steckte den öligen Lappen wieder in die Tasche.
Ich sprang beleidigt von den Reifen herunter. »Und ob ich die kenne! Mein Urgroßvater war der Besitzer, vor meinem Großvater und meiner Mutter (und, woran ich aber nicht denken wollte, Lola Davidow). Eigentlich gehört es Aurora Paradise und ihrer Schwester.« Aurora Paradise war einundneunzig und wohnte oben im dritten Stock.
Dwayne schmiss die leere Ölbüchse in eine große Mülltonne und knallte die Motorhaube zu. »Das meine ich gar nicht. Sondern was dort wirklich so passiert ist?«
Ich saß wieder auf dem Reifenstapel und blinzelte, als ob ich dadurch besser begreifen könnte, was er meinte. »Na, woher sollte ich das wissen?« Ich hatte keine Ahnung, was sich dort zugetragen hatte. »Niemand redet von früher, also, meine Mutter redet ab und zu über die schrecklichen Paradises - sie ist ja selbst keine, weißt du, sie hat da bloß eingeheiratet. Aber das ist auch schon alles...« Meine Stimme verlor sich. Mir wurde allmählich bange (dank Dwayne), als hätte ich die Familiengeschichte die ganze Zeit vernachlässigt, als wäre ich für die Familiengeschichte zuständig. Keine Ahnung, vielleicht war es ja so.
Dwayne hatte bei einem anderen Auto die Motorhaube gelüftet und klemmte den dünnen Stab fest, damit sie offen stehen blieb. Er schaute mich durch das Dreieck an, das die Haube bildete. »Du bist ja ganz weiß. Was ist los?«
»Nichts.«
Dwayne schaute mich weiter unverwandt an, und ich muss wohl erst weiß und dann rot geworden sein, denn er machte einen Rückzieher. Ich muss zugeben, das kann er richtig gut: einen Rückzieher machen, wenn er meint, etwas setzt einem zu sehr zu. Er sagte: »Also, erzähl weiter von diesem Ballsaal.«
»Aber nur, wenn du nicht dauernd unterbrichst.« Jetzt war ich eingeschnappt. Dabei war ich nicht besonders gut im Eingeschnapptsein, weil das bei mir sowieso nie jemand bemerkte. Das gilt übrigens auch für Traurigkeit, Wut und Kummer.
Er lächelte unmerklich. »Sorry«, sagte er und wischte sich die Finger an dem Lappen ab, den er wieder aus seiner Hosentasche gezogen hatte. Das tat er so behutsam, dass man hätte meinen können, der Lappen wäre gerade frisch aus der Wäsche gekommen.
Allzu oft habe ich von einem Erwachsenen noch nicht das Wörtchen »sorry« gehört. Das war auch so was, was ich an Dwayne mochte. Ich ging jedoch locker drüber hinweg. »Ach, schon gut. Na jedenfalls gab es im Hotel diese Bälle - es war eigentlich mehr als nur Tanzen - sehr elegant, das Orchester im Smoking, und die Frauen trugen mit Perlen und Pailletten bestickte Kleider, und der Tanzboden war auf Hochglanz poliert und glänzte. Da waren vielleicht zweihundert Leute - was guckst du so?« Er wirkte skeptisch.
»Das sind ja eine Menge Details.« Er schwang den öligen Lappen über die Schulter und beugte sich zum Motor hinunter.
Ich redete weiter. »Zweihundert Tänzer oder fast jedenfalls. Ich vermute mal, das war in den Dreißigern« (eine Zeit, die kaum für mich existierte, weil ich damals noch nicht auf der Welt war), »als sie Musik spielten wie >Bye Bye Blackbird< und >When the Swallows Come Back to Capistrano.<« Unvermittelt fing ich an zu singen: »Hier kann keiner mich lieben noch verstehn -« Einen Augenblick lang schlüpfte ich in ein anderes Ich, dessen Gefühle unergründlich waren.
»Oh, was für ein Peeech, und das ausgerechnet miiir.«
Das Gesinge kam von Dwayne. Er versuchte, mich zurückzuholen, aus einer unbestimmten Traurigkeit vielleicht. Fast so, wie Ben Queen mich vorm Ertrinken gerettet hatte. Ich hätte heulen können vor lauter Erleichterung, dass jemand das versuchte. Ich hielt mein Gesicht gesenkt, beguckte meine Füße. Dwayne begann wieder seine dumpfen Schläge mit dem Schraubenschlüssel oder irgendeinem anderen Werkzeug.
»Also weiter«, sagte er.
Ich räusperte mich - was man in den Hals kriegt, sind übrigens keine Frösche, sondern Erinnerungen. »Es gab dort auch einen kleinen Teich, an den Hirsche zum Trinken kamen. Auf einem Bild ist ein Kitz und sein Dad zu sehen, du weißt schon, mit einem Geweih.«
»Hmm. Ein Kitz mit Bock? Normalerweise halten die sich an ihre Mütter.«
»Vielleicht, weil du geholfen hast, all die Muttertiere umzubringen.« Ich konnte auch sarkastisch sein.
»Ich jage so gut wie keine Hirsche und würde niemals eine Hirschkuh abschießen.«
»Du solltest auf überhaupt nichts schießen. Auch die haben ein Recht auf Leben, genauso wie du und ich.« Besonders ich.
»Au weia, jetzt spielst du aber den Moralapostel.«
Er machte sich mit dem Schraubenschlüssel unter der Motorhaube zu schaffen.
Im Grunde verschwendete ich nicht viele Gedanken an die Sache mit dem Jagen. Das einzige Mal, wo ich daran gedacht hatte, war damals, als Dwayne mit dem Sack voller Kaninchen dahergekommen war.
Übersetzung: Cornelia C. Walter
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Martha Grimes
Martha Grimes, geb. in Pittsburgh, USA, studierte Englisch an der University of Maryland. 2012 wurde Grimes von den 'Mystery Writers of America' als 'Grand Master' ausgezeichnet. Sie lebt in Washington und in Santa Fe. Martha Grimes gilt vielen als 'der unumstrittene Star des Kriminalromans' (Newsweek). Im Jahr 2012 wurde sie mit dem Edgar Award ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Martha Grimes
- 2011, 412 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Walter, Cornelia C.
- Übersetzer: Cornelia C. Walter
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442475422
- ISBN-13: 9783442475421
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