Die Schatten und der Regen
Ein brutaler Mord an einer jungen Frau, ein falscher Verdacht und ein verschwundener Mann: Ein großer literarischer Kriminalroman von Hakan Nesser.
Viktor Vinblad hat es nie einfach gehabt. Sein Vater war ein Mörder. Seine Mutter vorwiegend mit sich...
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Ein brutaler Mord an einer jungen Frau, ein falscher Verdacht und ein verschwundener Mann: Ein großer literarischer Kriminalroman von Hakan Nesser.
Viktor Vinblad hat es nie einfach gehabt. Sein Vater war ein Mörder. Seine Mutter vorwiegend mit sich selbst beschäftigt.
Mit neun Jahren wird er Vollwaise und lebt fortan in einer Pflegefamilie. Viktor ist hoch begabt, aber auch erschreckend wunderlich. Mit fünfzehn singt er Psalmen rückwärts und ist in der Lage, die schwierigsten mathematischen Fragen zu lösen, als er unter dramatischen Umständen aus dem zweiten Stock des Schulgebäudes fällt. Er überlebt, doch fortan ist er stumm. Dennoch schafft er es, nach der Schule eine Anstellung bei einer Bank zu bekommen. Und sogar in eine Wohngemeinschaft zieht er ein.
Es ist eine seltsame Truppe verschrobener Menschen, die sich hier versammelt: Der nervöse Persson, der Statistiken liebt. Der leicht zurück gebliebene Farin, der von seinen Eltern einen großen Hof geerbt hat. Und zu guter Letzt Sara Salmodin, jüngste Tochter eines Predigers und von herzerfrischender Naivität, sowie Viktor Vinblad selbst, der geniale Außenseiter. Doch dann schlägt das Schicksal erneut zu. Sara wird ermordet - und Viktor verschwindet spurlos.
Ein Schuldeingeständnis? Als ein solches nehmen es jedenfalls Freunde, Verwandte und auch die Polizei. Wie der Vater so der Sohn, lautet das fast einhellige Credo. Aber stimmt die Vermutung auch? Oder ist Viktor ebenfalls ein Opfer?
Es ist eine seltsame Truppe verschrobener Menschen, die sich hier versammelt: Der nervöse Persson, der Statistiken liebt. Der leicht zurück gebliebene Farin, der von seinen Eltern einen großen Hof geerbt hat. Und zu guter Letzt Sara Salmodin, jüngste Tochter eines Predigers und von herzerfrischender Naivität, sowie Viktor Vinblad selbst, der geniale Außenseiter. Doch dannschlägt das Schicksal erneut zu. Sara wird ermordet - und Viktor verschwindet spurlos. Ein Schuldeingeständnis? Als ein solches nehmen es jedenfalls Freunde, Verwandte und auch die Polizei. Wie der Vater so der Sohn, lautet das fast einhellige Credo. Aber stimmt die Vermutung auch? Oder ist Viktor ebenfalls ein Opfer?
Viktor Vinblad hat es nie einfach gehabt. Sein Vater war ein Mörder. Seine Mutter vorwiegend mit sich selbst beschäftigt. Mit neun Jahren wird er Vollwaise und lebt fortan in einer Pflegefamilie. Viktor ist hoch begabt, aber auch erschreckend wunderlich. Mit fünfzehn singt er Psalmen rückwärts und ist in der Lage, die schwierigsten mathematischen Fragen zu lösen, als er unter dramatischen Umständen aus dem zweiten Stock des Schulgebäudes fällt. Er überlebt, doch fortan ist er stumm. Dennoch schafft er es, nach der Schule eine Anstellung bei einer Bank zu bekommen. Und sogar in eine Wohngemeinschaft zieht er ein. Es ist eine seltsame Truppe verschrobener Menschen, die sich hier versammelt: Der nervöse Persson, der Statistiken liebt. Der leicht zurück gebliebene Farin, der von seinen Eltern einen großen Hof geerbt hat. Und zu guter Letzt Sara Salmodin, jüngste Tochter eines Predigers und von herzerfrischender Naivität, sowie Viktor Vinblad selbst, der geniale Außenseiter. Doch dann schlägt das Schicksal erneut zu. Sara wird ermordet - und Viktor verschwindet spurlos. Ein Schuldeingeständnis? Als ein solches nehmen es jedenfalls Freunde, Verwandte und auch die Polizei. Wie der Vater so der Sohn, lautet das fast einhellige Credo. Aber stimmt die Vermutung auch? Oder ist Viktor ebenfalls ein Opfer?
"Hakan Nesser ist ein Autor, der es mit beidem ernst meint, mit dem Krimi und mit dem Roman. Wie sein deutscher Kollege Friedrich Ani betrachtet er den Kriminalroman als eine Angelegenheit auf und um Leben und Tod, als Struktur der erzählerischen Existenz- und Seelenforschung." - Die Zeit
"Schlau konstruiert, bis zum Ende hin spannend, kein klassischer Krimi. Hakan Nesser ist das egal - und dem beglückten Leser auch." - Stern
"Hakan Nesser, noch so eine Lieblingsautor von mir, hat mit 'Die Schatten und der Regen' das Psychogramm eines Mitfünfzigers und die Geschichte einer ungewöhnlichen Familie geschaffen." - Brigitte
Ich verließ Uppsala und meine Familie gegen halb vier an einem Nachmittag im September. Ich hätte es vielleicht nicht getan, wenn da nicht der Brief meiner Schwester gewesen wäre. Aber zwei billige Gründe wiegen mindestens doppelt so schwer wie einer.
Es war ein sonniger Tag nach einem der schönsten Sommer seit Menschengedenken; als ich mit meiner Reisetasche über den Markt ging, sah ich, dass die Leute immer noch in kurzen Hosen herumliefen.
Der 15. September. Ein Montag. Ich war gerade dreiundfünfzig Jahre alt geworden, auf dem Weg zum Bahnhof machte ich einen kurzen Abstecher in den Systembolaget und kaufte mir eine kleine Flasche Grant's. Es gehört nicht zu meinen Gewohnheiten, Whisky zu trinken, aber es gab eine Stimme in mir, die sagte, dass ich eine Art Sicherheitsnetz bräuchte.
Ich habe schon immer auf meine innere Stimme gehört.
Draußen auf dem Bürgersteig stieß ich auf Henry Unger.
"Herzlichen Glückwunsch", sagte er. "Ich habe gehört, dass du unterrichtsfreie Zeit bewilligt bekommen hast."
"Schönes Wetter", erwiderte ich. "Sicher an die fünfundzwanzig Grad, oder was meinst du?"
"Ich verstehe", sagte Henry. "Du willst nicht darüber reden. Gehst du auf Reisen?"
Er deutete auf meine Tasche. Ich nickte. Registrierte, dass er ein Pflaster am Hals hatte, schräg unter dem rechten Ohr, und fragte mich, ob er vielleicht wieder mit irgendeinem Liebhaber Streit gehabt hatte. Henry war auf seine alten Tage homosexuell geworden, hatte aber bis jetzt noch nicht die richtige Harmonie und Sicherheit in seinem Liebesleben gefunden.
Aber vielleicht ist es auch gar nicht das, was er will, dachte ich, als ich ihn in den Bus steigen sah, der in die Vororte fuhr. Lieber ein wenig Blut und Feuer und die Erinnerung daran, dass man immer noch am Leben ist. Ich kann nicht leugnen, dass ich ihn in dieser Hinsicht verstehe.
Ansonsten trafen seine Vermutungen ins Schwarze. Sowohl, dass ich unterrichtsfreie Zeit bewilligt bekommen hatte, als auch,
Das lag natürlich in der Natur der Sache. Die zehn so genannten Freistellungen waren von unseren vorausschauenden Kommunalpolitikern vor einigen Jahren eingerichtet worden, doch ihre genaue Zielrichtung lag ein wenig im Dunkeln. Aus pädagogischen, aber auch praktischen Gründen. Die Formulierungen waren alles in allem vage gehalten - aller Wahrscheinlichkeit nach, um den geschätzten Betroffenen die Möglichkeit zu geben, von Fall zu Fall zu entscheiden.
Sich zu bewerben, war auf jeden Fall allen freigestellt, die seit mindestens zehn Jahren als Lehrer in der Kommune arbeiteten, man behielt sein Gehalt und brauchte nicht zu unterrichten oder auch nur an irgendeiner Form von schulischer Arbeit teilzunehmen. Aber höchstens ein Jahr lang, so lautete die Abmachung. Das Ganze konnte sowohl als eine Art Belohnung nach langen treuen Diensten gesehen werden- ein freies Jahr in der Mitte des Lebens - als auch als eine Möglichkeit, einem müden, ausgebrannten Pädagogen die Möglichkeit zu geben, wieder zu Kräften zu kommen. Nach Ansicht einiger Leute gab die Freistellung Schulleitern auch die Möglichkeit- zumindest zeitweise -, hoffnungslose Lehrer loszuwerden. Solche, von denen es immer dreizehn in jedem Dutzend gibt und die mehr Schaden anrichten als Nutzen bringen.
Aus welchem Grund genau ich meinen Antrag im März eingereicht hatte - und aus welchem Grund ich einer der Auserwählten unter Hunderten von Bewerbern wurde: das war nichts, worüber ich weiter nachzudenken gedachte. Nicht einmal abwägen wollte ich es, jedenfalls nicht an so einem Tag, aber auf jeden Fall kannte ich Henry Unger lange genug, um zu wissen, dass er es nicht böse meinte.
Sicher hatte er auch sein Päckchen zu tragen. Pflaster am Hals und was es da sonst noch so gab. Das war kein Tag, um sich tiefer in diese Dinge zu vergraben.
Ich schaute auf die Uhr. Mein Zug sollte in zwanzig Minuten fahren. Ich packte meine Tasche und ging weiter in Richtung Bahnhof.
Meine Ehefrau heißt Liv.
Sie ist vierzehn Jahre jünger als ich, wir leben seit acht Jahren zusammen und haben insgesamt drei Kinder. Ich bin für zwei zuständig, einen Sohn und eine Tochter, die ich während meiner ersten Ehe mit einer Frau namens Lois bekam. Alle drei sind aus meinem Leben verschwunden. Liv hat eine Tochter von vierzehn Jahren, die jede zweite Woche bei uns wohnt.
Wohnte. Ich vergesse bereits, dass ich sie verlassen habe. Liv und Linnea. Ich schreibe das hier im Zug, vermutlich haben sie noch gar nicht gemerkt, dass ich fortgegangen bin. Linnea ist bei ihrem Vater, da es eine gerade Woche ist, und ihre Mutter hat Abendschicht in der Bibliothek, wie an jedem Montag.
Nun ja, zur rechten Zeit wird es allen Beteiligten klar werden. Ich gehe auf die Toilette, pinkele und trinke einen Schluck Whisky. Setze meinen Weg fort zum Speisewagen. Wie immer bin ich voller Unruhe, aber sie hat schärfere Konturen heute, was natürlich nicht besonders verwunderlich ist.
Obwohl natürlich auch die Umgebung irgendwie frischer und schärfer wird, wenn man eine entscheidende Veränderung dieser Art beschlossen hat. Ich spüre es an den Menschen um mich herum. An den Gesprächen, denen ich mit halbem Ohr lausche, und an den Überschriften der Zeitungen. Ich merke, dass ich bereit bin, mich auf die Welt und ihre Aktionen einzulassen, plötzlich sind Dinge und Sachen wieder wichtig, und der vorsichtige Blick, den mir die große, blonde Frau schenkt, die mir direkt gegenüber sitzt, könnte sicherlich eine Öffnung hin zu ganz neuen Spielplänen bedeuten, das ist deutlich zu spüren.
Aber mir ist klar, dass ich langsam vorgehen muss. Natürlich ist es Marias Brief, der die nächste Zeit, die nächsten Tage bestimmen wird. Ich weiß nicht, was mit ihr los ist. Ich war seit Vaters Beerdigung vor dreizehn Jahren nicht mehr zu Hause, und wenn das wirklich stimmt, was sie behauptet, so will ich mich nicht ablenken lassen. Von nichts, es wird Zeit und Kraft kosten, sie hat mir zugesagt, dass ich in meinem alten Zimmer unterm Dach wohnen kann, genau wie früher, und mit einem pervertierten Teil meines unterstimulierten Gehirns freue ich mich direkt darauf.
Ich trinke meinen Kaffee aus und kehre an meinen Platz zurück. Lese einige nicht besonders interessante Seiten in Klimkes Betrachtungen und falle bald in den Schlaf.
Ich träume von meiner Geliebten Sofia. Das habe ich seit Juni immer mal wieder getan, seit sie mir erklärt hat, dass sie schwanger ist, und ich Schluss mit ihr machte.
Ich träume davon, wie wir ab und zu miteinander schliefen, von ihrem Klammergriff um meine Hüften und ihrem Muttermal unter dem linken Schulterblatt. Es ist ungefähr so groß wie eine Handfläche und zeigt detailliert eine Karte von Island. Natürlich ohne Orte, Straßen und Wasserläufe, aber mit so deutlich gezeichneter Küstenlinie, inklusive Buchten und Landzungen, dass einem klar wird, dass Gott tatsächlich mit Landkarte und Millimeterpapier dagesessen haben muss, als er Maß nahm für Sofia und ihre Details. Ich habe es mit Paulsson-Forsbergs Schulatlas verglichen, ich weiß, wovon ich rede.
Sofia Ilmari Jonsson. Wir begegneten uns vor drei Jahren in einer Kneipe in München, stellten fest, dass wir im gleichen Land und gleichen Ort lebten, und betranken uns nach und nach. Wir beschlossen ziemlich schnell, dass wir einander nur zur Freude und zum Zeitvertreib dienen wollten, niemals zusammen leben und keine Kinder in die Welt setzen wollten.
Folglich habe ich Sofias Existenz meiner Ehefrau gegenüber mit keinem Wort erwähnt. Es hat keinen Anlass dazu gegeben, und als Sofia mich dann im Juni in Ofvandahls Café treffen wollte, ahnte ich bereits Böses, wie ich sie da mit einem ganz neuen Ernst im Blick sitzen sah.
Ich bekomme ein Kind, sagte sie und löffelte den Schaum von ihrem Cappuccino, wie sie es immer tat.
Die meisten Frauen hören auf, Kaffee zu trinken, wenn es so um sie steht, erwiderte ich.
Ich nicht, erklärte Sofia. Ich bin nicht wie die anderen Frauen.
Wie weit bist du?, fragte ich.
In der achten Woche, antwortete sie.
Ich dachte eine Weile nach, dann erklärte ich, dass sie unsere Vereinbarung gebrochen habe und dass es mir in Anbetracht dessen nicht möglich sei, unsere Beziehung weiter fortzuführen.
Sie saß da, rührte einige Sekunden lang mit dem Löffel in ihrem Kaffee herum, dann schaute sie mich mit funkelnden Augen an und bat mich, zur Hölle zu fahren.
Ich spürte, dass wir uns nichts weiter zu sagen hatten, betrachtete meinen unberührten Kaffee und verließ sie.
Genau von dieser Episode träume ich, sowohl jetzt im Zug als auch schon früher im Laufe des Sommers, hin und wieder, und im Traum stolpere ich jedes Mal in der Tür auf dem Weg hinaus. Ich trete schräg auf die Türschwelle, falle kopfüber die kurze Treppe hinunter, die es in Ofvandahls realer Welt nicht gibt, nur in der des Traumes, und lande auf dem Bürgersteig. Der ist nass und schmutzig und voll mit Hundescheiße und einer Art kurzer, fetter Würmer, die vielleicht Leichenmaden sind, wobei ich nie Leichenmaden gesehen habe und mir nicht sicher bin, ob man eigentlich einen Gegenstand träumen kann, auf den man im wachen Zustand noch nie gestoßen ist. Doch, das kann man natürlich. Aber sind es nicht eigentlich Larven, Fliegenlarven?
In Wirklichkeit bin ich niemals gefallen. Ich trat problemlos hinaus in den Regen, spannte meinen Regenschirm auf und schaute nicht zurück.
Irgendwo hinter Gävle halten wir. Über Lautsprecher wird mitgeteilt, dass an der Lok ein technischer Defekt eingetreten ist, wir aber weiterfahren werden, sobald der Fehler behoben sein wird.
Ich schaue aus dem Fenster. Eine frühe Dämmerung will sich über das Land legen. Rechts haben wir Nadelwald mit Birkeneinschlag, links haben wir Nadelwald mit Birkeneinschlag. Nach einer halben Stunde kommt ein Schaffner vorbei, und ich frage ihn, wie es steht. Er erklärt mir, dass es wohl noch so fünfundvierzig Minuten dauern wird, allerhöchstens eine Stunde.
Ich frage, wie es mit meinem Anschlussbus in Y. aussieht. Er zieht einen Block aus der Brusttasche und studiert ihn eine ganze Weile. Blättert hin und her, wobei er schwer atmet und besorgt blickt. Er ist ein wenig übergewichtig und hat offensichtlich zu hohen Blutdruck, eine Einschätzung, die ich auf Grund seiner Gesichtsfarbe und seiner leicht hervorstehenden Augen treffe. Dann stopft er seinen Block wieder in die Tasche und sagt, dass es nicht klappen wird, leider, leider. Es sind verschiedene Gesellschaften, die die unterschiedlichen Linien betreiben, und man stehe nicht in der Pflicht, auf verspätete Züge zu warten.
Ich bedanke mich für die Information und lege den Klimke weg. Denke, dass es dann wohl ein Hotel in Y. werden wird, und versuche Maria mit dem Handy zu erreichen, aber wir befinden uns in einer Gegend, in der es keine Verbindung gibt, so dass ich es aufgebe. Ich gehe auf die Toilette und nehme einen Schluck Whisky sowie ein paar Halstabletten. Kehre zu meinem Platz und meinen Betrachtungen zurück.
Einen kurzen Moment lang stelle ich fest, dass ich mich nicht an meine Personenkennziffer erinnern kann, aber als ich die Augen schließe und ein paar Mal tief durchatme, taucht sie wieder vor meinem inneren Auge auf.
Sicherheitshalber gehe ich in meinem Kopf noch einige weitere Ziffernkombinationen durch, an die zwanzig europäische Flüsse und die Nobelpreisträger für Literatur von 1950 bis heute. Nirgends kann ich eine Lücke feststellen. Ich schüttle die Unruhe ab. Gleichzeitig bemerke ich, dass da etwas ist. Eine Bedrohung. Oder etwas, das mir demnächst zustoßen wird, ich weiß nur nicht recht, was.
Während ich dasitze und der Nadelwald rund um den still stehenden Zug immer dunkler wird, versuche ich zu verstehen, was es bedeutet, dass Viktor zurückgekommen ist.
Und ob es tatsächlich stimmen kann.
Er "war zu sehen", schreibt Maria, aber auch wenn sie diese vage Formulierung benutzt, erscheint es, als wäre sie felsenfest überzeugt von der Sache.
Viktor soll also am Leben sein.
Er ist es die ganze Zeit gewesen, die ganzen dreißig Jahre, und jetzt ist er zurückgekehrt.
Er war zu sehen?
Es geht nicht daraus hervor, wo, und nicht, wer ihn gesehen haben soll.
Es geht überhaupt nicht besonders viel aus Marias Brief hervor, denke ich. Obwohl er über vier Seiten lang ist. Größtenteils handelt er von Rune und Skröppel. Rune ist jetzt seit fast vier Jahren arbeitslos, was ihm ganz offensichtlich auf die Nerven geht. Skröppel hat etwas mit den Nieren. Vielleicht muss man ihn einschläfern lassen, er ist ja mittlerweile auch schon elf Jahre alt, wie Maria schreibt. Eine Operation ist teuer, und wenn es nicht klappt, bekommt man das Geld nicht zurück. Außerdem sind elf Jahre ein stolzes Alter für einen Hund.
Ich denke, dass ich am liebsten vorschlagen würde, Rune statt des armen Hundes einschläfern zu lassen. Rune hat Marias Leben zerstört, und es ist ihm noch nicht einmal gelungen, sie zu schwängern. Sie hätte ein Kind gebraucht, Maria, das hätte alles andere ausgeglichen, und da sie es nun einmal auf natürlichem Wege nicht geschafft haben, hätten sie zumindest eines adoptieren können. Es gibt Menschen, für die ich mehr Mitleid habe als für Rune.
Aber jetzt ist mir Rune scheißegal. Es geht um Viktor.
Ich versuche die Fragen um ihn herum zu formulieren, aber es will mir nicht gelingen. Sobald ich sie stelle, muss ich erkennen, dass sie bereits eine Antwort enthalten, die ich nicht akzeptieren kann. Unangebrachte Antworten, in gewisser Weise dem gesunden Menschenverstand widersprechend.
Ich habe Schwierigkeiten zu verstehen, was Maria wirklich mit dem meint, was sie im Brief schreibt. Ich versuche in den Nadelwald zu schauen, aber jetzt ist das Licht im Abteil eingeschaltet, und ich sehe nur die Spiegelung der Einrichtung und mein eigenes Gesicht. Die wenigen Menschen, die vereinzelt im Wagen sitzen, sind bis zur Unbeweglichkeit erstarrt. Einem jungen Mann mit rasiertem Schädel ist sein Kinn so weit heruntergefallen, dass ich sein Gaumenzäpfchen sehen kann, nur sein rasselnder Atem verrät, dass er noch am Leben ist. Eine ältere, große, krumm gewachsene Frau liegt über den kleinen ausklappbaren Tisch gebeugt, ihr Kopf ruht auf den nackten Armen. Ein halb gelöstes Kreuzworträtsel lugt unter ihrer Wange hervor.
Nichts geschieht, nichts außer dass die kleine Menge Alkohol, die ich zu mir genommen habe, in meinem Körper verbrennt und dass wir alle in stetem Takt altern. Das bilde ich mir zumindest ein. Ich schließe die Augen und beschließe, dass der Zug sicher gleich weiterfahren wird, wenn ich nur langsam und unbemerkt bis achtundzwanzig zähle.
Es klappt nicht. Ich versuche es noch einmal.
Und noch einmal.
Als ich bei meinem vierundzwanzigsten Versuch bei sechzehn angekommen bin, kommt der Schaffner erneut vorbei. Ich begegne seinem Blick, und er nickt ernsthaft.
Es ist jetzt geklärt, sagt er. Wir werden in wenigen Minuten weiterfahren.
Ich bedanke mich bei ihm. Ich habe das Gefühl, als hätte ich nicht mehr sehr lange ausgehalten. Wenn es mir nicht schon vorher klar gewesen wäre, würde ich jetzt endgültig begreifen, dass es ein durch und durch besonderer Tag ist. Eine besondere Dämmerung. Die inneren Bruchflächen, die wir im hellen Tageslicht freilegen, kommen in der nachfolgenden Dunkelheit am besten zu Tage, so ist es immer gewesen, so wird es immer sein. Das wahre Gewicht einer Bewegung und ihre Bedeutung kommen erst im Stillstand zum Ausdruck.
Und es fällt mir schwer, das mit Viktor zu glauben.
Außer mir steigt nur noch ein weiterer Fahrgast in Y. aus. Es gibt irgendwelche Probleme mit den Lampen auf dem Bahnsteig, sie brummen laut und verbreiten nur so viel Licht, dass man mit Mühe und Not in den Tunnel findet, der unter dem Bahngleis hindurchführt, hinaus zu dem geschlossenen Bahnhofsgebäude. Mein Mitreisender, ein hochgeschossener Jüngling mit Lederjacke und Pferdeschwanz, verschwindet in die andere Richtung, quer über das Bahnhofsgelände, ich gelange mit meiner Tasche auf den ebenso spärlich erleuchteten Bahnhofsvorplatz. Es ist Viertel nach zehn, insgesamt hat die Verspätung also genau zweieinhalb Stunden gedauert. Ich sehe nirgends einen Bus stehen und auch keine Taxis.
Überhaupt keinen Menschen. Aber auf der anderen Straßenseite - die parallel zu den Schienen verläuft und wo es noch vereinzelt ein erleuchtetes Schaufenster gibt und hier und da ein Auto parkt - entdecke ich ein Hotelschild. Zwei der fünf vertikalen Neonbuchstaben sind zwar außer Funktion, aber es erscheint doch ziemlich wahrscheinlich, dass sich hinter H-TE- nichts anderes verbirgt als eben eine Herberge für gestrandete Zugreisende.
Ich schlage meinen Jackenkragen hoch und lenke meine Schritte auf den Eingang zu. Hier ist die Luft kälter, offensichtlich ist vor kurzem ein Herbstregen niedergegangen, und als ich die hellgrüne, schwach erleuchtete Nachtklingel drücke, denke ich, dass es ebenso gut schon November sein könnte.
Ich werde von einer Frau um die fünfundzwanzig hereingelassen. Sie hat sich ein dickes Buch unter den Arm geklemmt und die Brille auf die Nasenspitze heruntergeschoben; vielleicht verbringt sie die Nachtstunden in der Portierloge damit zu studieren, das würde ich jedenfalls tun. Sich eine Berufsausbildung beschaffen, die es einem ermöglicht, diese Gegend zu verlassen und in die Welt hinaus zu kommen. Sie fragt mich, ob ich mit dem Zug gekommen bin, erklärt, dass neunzehn von zwanzig Zimmern frei seien, und bittet mich, mir eine Nummer auszusuchen.
"Nummer acht", sage ich.
Sie lacht auf. Legt ihr Buch hin und nimmt die Brille ab. Sieht plötzlich richtig niedlich aus. Warme, nussbraune Augen und diese sanften Schatten unter den Wangenknochen, die ich einen langen Zeitraum meines Lebens mehr oder weniger unwiderstehlich fand.
"Wie konnten Sie das wissen?", fragt sie. "Das ist das einzige Zimmer, das belegt ist. Vor einer Stunde ist eine Frau angekommen, die unbedingt die Nummer acht haben wollte. Sie hat mit ihrem Mann dort gewohnt, vor vierzig Jahren, hat sie behauptet."
"In Nummer acht?"
"Ja. Deshalb seien Sie doch so gut und suchen Sie sich ein anderes Zimmer aus.""Sechs?", schlage ich vorsichtig vor.
- Autor: Hakan Nesser
- 2005, 1, 380 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Hildebrandt, Christel
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442751462
- ISBN-13: 9783442751464
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