Die Schattenboxerin
Hell, die Schattenboxerin, lebt in Berlin, im verrottenden Seitenflügel eines ehemals vornehmen jüdischen Mietshauses. Ihr gegenüber wohnt ebenso zurückgezogen, die Dunkel, mit der sie nicht mehr verbindet als das Klo auf halber Treppe.
Hell, die Schattenboxerin, lebt in Berlin, im verrottenden Seitenflügel eines ehemals vornehmen jüdischen Mietshauses. Ihr gegenüber wohnt ebenso zurückgezogen, die Dunkel, mit der sie nicht mehr verbindet als das Klo auf halber Treppe.
Hinreißend erzählt, atmosphärisch dicht, von fast kriminalistisch präziser Wahrnehmung der Details einer sich wandelnden, nur in Berlin vorkommenden Städterpopulation.Hell, die "Schattenboxerin", lebt in Berlin, im verotteten Seitenflügel eines ehemals vornehmen jüdischen Mietshauses. Ihr gegenüber wohnt die Dunkel, mit der sie nicht mehr verbindet, als das Klo auf halber Treppe. Die beiden Frauen sind die letzten Bewohner des Hauses, eine stille, zurückgezogene Gemeinschaft. Als eines Tages jedoch die Dunkel spurlos verschwindet, macht sich Hell auf die Suche nach der Hausgenossin. Die Spur führt zu März, einem jungen Mann, der mit Hilfe eines alten Fotos seinen Ostberliner Vater sucht und im Rucksack die Beute eines Bankraubs mit sich herumträgt. Er kennt die Dunkel von früher, hat sie in Berlin getroffen und wieder verloren.
Ihre Spurensuche führt sie aber auch zu jenem Vergewaltiger, dessen Tat sie dazu brachte, asiatische Kampfkunst zu lernen, eineSchattenboxerin zu werden...
Die Schattenboxerin vonInka Parei
LESEPROBE
Sieist meine Nachbarin. Seit Jahren leben wir im gleichen
Stockwerk.Ab und zu stoßen wir gemeinsam unsere
schwerenSchlüssel in die Gründerzeittüren. Dann verschwinde
ichin meinem Hausflur, einem langen, schmalen
Schlauch,belegt mit gelbem Hanf, kaum einen Meter
breit.Und sie in ihrem, mit den noch im Einheitsbraun
dervierziger Jahre gestrichenen Dielen. Die Farbe ist
scheußlich.Matt glänzend und kaum zu entfernen, ähnelt
siedem Kot, den die Schäferhunde hier aufs Pflaster werfen,
wennsie von ihren Besitzern mit rostfarbenen Fertigfutterklumpen
ernährtwerden.
Seiteiner Woche ist es still im Seitenflügel des ehemals
vornehmenjüdischen Mietshauses in der Lehniner Straße,
denwir als einzige noch bewohnen, sie und ich. Ein
Traktmit düsteren Berliner Zimmern, geformt wie Quadrate,
denenman eine Ecke abgehackt hat, Zimmer mit
dreiAußenwänden, praktisch unbeheizbar, und das Klo
liegtauf halber Treppe.
VorBeginn des Winters sind die wenigen noch vorhandenen
Mieterausgezogen, meist in die Nähe irgendwelcher
Verwandter,in den Plattenbau, mit Zentralheizung
undMüllschlucker, draußen in Marzahn oder Hellersdorf.
Zuletztging eine halb im Keller hausende, verwahrloste
Greisin.Sie hatte sich seit zwanzig Jahren geweigert,
ihrQuartier zu verlassen. Halbblind, die offenen
Beinemit geblümten Lappen umwickelt, wurde sie Anfang
Novemberins Altersheim gebracht.
Ichbin mir jetzt sicher, daß ich allein im Haus bin. Seit
Tagenhabe ich das Brüllen unserer gemeinsamen Wasserspülung
nurnoch selbst ausgelöst, meine Nachbarin
istnicht mehr da. Kein Schlüsselbundklappern, kein Hüsteln,
keinefremden Schritte sind mehr zu hören. Gelegentlich
wirddie Hoftür von einem Windstoß erfaßt und
insSchloß geworfen. Sonst ist alles still, still wie Stein.
Nurdas Echo meiner Fußtritte hallt auf den zersplitternden
Kachelnder Aufgänge. Ich schlage die Kapuze meines
Anorakshoch, schultere ein Bündel Plastiktüten und
betreteden Hof. Mit einer langen Hakenstange bewaffnet,
willich den Abfall der vergangenen Woche fortschaffen.
Seitim Sommer das letzte Mal Müllmänner hier auftauchten
unddie alten eisernen Tonnen fortnahmen, ist
dasein Vorgang, der spezielles Werkzeug und nicht zu
unterschätzendeGeschicklichkeit verlangt. Ideal ist der
späteVormittag, wenn die Berufstätigen des Nachbargrundstücks
nichtmißbilligend aus dem Fenster starren.
Ichtrete an den Maschendrahtzaun, der seit Wiedereinführung
desPrivateigentums über den kleinen, gemauerten
Sockelgezogen wurde, der ihr Grundstück von
unseremtrennt. Vorsichtig schiebe ich die Stange durch
einhandgroßes Loch, bis der Haken den Plastikgriff des
Müllbehältersumschließt, und öffne den Deckel, indem
ichdas Ende meiner Stange nach unten stoße. Dann muß
ichdie prall verschnürten, hellgrünen Beutel so hochwerfen,
daßsie in spitzem Winkel jenseits des Drahtes nach
untenfallen und bestenfalls in der Öffnung, oder doch
wenigstensin ihrer Nähe landen.
EinigeMinuten lang werfe ich Tüten über den Zaun
undkorrigiere ihre Lage. Dann drehe ich mich um, greife
nacheinem hinter mir stehenden Beutel mit Pfandflaschen.
Undplötzlich sehe ich dieses Schild.
Gesternist es noch nicht dagewesen.
Esist an die grauverschorfte, mit Graffiti und nasser
Brikettaschebedeckte Hauswand geschraubt. Ein glänzend
neuesSchild, das Schild einer Baufirma. Name und
Adressestehen eingerahmt unter dem Lackzeichen eines
blauenDoppelhauses.
Ichlehne mich an den Zaun, schließe die Augen, atme
nasseWinterluft und stelle mir die Wand leer vor. Dann
öffneich die Augen erneut. Das Schild ist noch da.
Unwahrscheinlich,daß man dieses verfallene Haus einfach
vergessenwürde, während alle anderen nach und
nachsaniert werden. Es war vorhersehbar, daß ich mich
hiernicht ewig würde verkriechen können, ohne Mietvertrag,
vonkeiner Verwaltung gekannt oder registriert.
Aberwarum muß zur gleichen Zeit auch noch die letzte
offizielleBewohnerin hier verschwinden, die Frau, die
Dunkelheißt und mein Flur-Gegenüber ist, meine Außenklo-
Partnerin?Ausgerechnet jetzt läßt sie mich allein. Dabei
istsie in den letzten Jahren nicht ein einziges Mal länger
weggewesen, noch nicht mal für einen oder zwei Tage.
Ichsehe sie vor mir, wie sie langsam, die Unterarme
vorschiebend,an den Resten des Treppengeländers entlang
Einkaufstaschenhochbalanciert. Ein vorsichtiger,
wahrscheinlichsehr ortsgebundener Mensch. Besuch hat
sienie. An den Klang ihrer Türklingel kann ich mich
überhauptnicht erinnern. Nur an die kleinen Rituale der
Eigenbrötler:Die schwarzen Schnürstiefel mit Schuhspitzen
nachaußen neben der Fußmatte aufstellen, immer
links,und rechts den Ascheimer (ich selbst mache es
umgekehrt).Abends zwischen acht und neun Uhr, wenn
mannicht ausgeht, Sicherheitskette und Schloß laut einschnappen
lassen,und manchmal vorher noch kurz die
Türöffnen und laut wieder verschließen, um sicherzugehen,
daßman dem aus der Kühle des Treppenhauses hereinsickernden
Gefühlvon Nacht einen Riegel vorgeschoben
hat.
Ohneviel über sie nachzudenken, ging ich davon aus,
daßder Kreis, den sie um ihr Leben zieht, sich innerhalb
ihrerfünfunddreißig Quadratmeter zugiger, aber fast
mietfreierBehausung, der gemeinsamen Treppe, unseren
Straßenum den Rosenthaler Platz und ein paar notwendigen
Außenkontaktenin anderen Bezirken bewegt. Daß
sieeinfach weg ist, bringt mich aus dem Gleichgewicht.
Nochdazu bin ich seit Tagen umzingelt von nachtaktivem
Getier,von Asseln, Schaben und kleinen Ratten, die
mirdas Wohnrecht streitig machen. Und kürzlich habe
ichden Fehler gemacht, das verödete Vorderhaus zu erkunden.
Dieim Erdgeschoß verschimmelnden cremefarbenen
Polstergarniturenbeugen sich jetzt nachts im
Traumüber mich und schnüffeln an einem vor Schmutz
bretthartenFDJ-Hemd, das im zweiten Stock am Fensterkreuz
hing.Es ist oben am Hals mit meiner Haut verwachsen,
sodaß ich es nicht ausziehen kann, kurz gesagt:
Ichverliere die Nerven.
Ausden steil nach unten hängenden Resten einer Regenrinne
tropftSchmelzwasser auf meinen Scheitel, rinnt
ander Innenseite meiner Ohren entlang in den Nacken.
Ichhebe den Kopf, blicke hinauf, ins oberste Stockwerk.
Nacheiner Woche Durst wird der Farn in Dunkels Küchenfenster
anden Spitzen schon strohgelb. Ich stelle
michauf die Zehen. Warum hat sie mich nicht wenigstens
gebeten,ihre Pflanzen zu gießen? Durch die fettblinde
Scheibesehe ich verschwommen die Konturen einer Dose
Kräutersalz,eine weißblau bedruckte Milchpackung
undeinen Laib Brot, den ich mir an der Schnittkante
schongrün und pelzig vorstelle.
MeinBlick wandert zum nächsten Fenster hinüber. Hat
sichda eben hinter der Scheibe etwas bewegt? Erschrocken
lasseich die Flaschen fallen und sehe mich
nachallen Seiten um. Ich nehme Anlauf, schwinge mich
aufdie Teppichklopfstange und klettere auf die zweite,
mannshoheMauer, die den Hof abschließt. Wie Flammen
züngelnblaugrüne Schatten durch das Wohnzimmer der
Dunkel,unterlegt mit dem schwach hörbaren Baßteppich
einesNachrichtensprechers, der im Rhythmus der Bilder
ansetztund abbricht. Und jetzt gehen in Küche, Zimmer
undKammer die Lichter an. Kein Zweifel: Die Hand, die
dieSchalter berührt, muß lautlos sein, fleischlos. Sie muß
einemWesen gehören, das eine Woche ohne Heizen auskommt,
seinenDarm nicht entleert und meine Nachbarin
aufdem Gewissen hat.
Glasschepperndflüchte ich mit meinen Pfandflaschen
aufdie Straße hinaus. (...)
©btb Verlag
- Autor: Inka Parei
- 2006, 192 Seiten, Maße: 11,8 x 18,4 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442735041
- ISBN-13: 9783442735044
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