Die Schattentänzerin
Nerdin hat es geschafft - zumindest in der Schule: Sie trägt die gleichen Klamotten wie ihre Freundinnen, hört die gleiche Musik und spricht genauso akzentfrei Deutsch. Den Weg ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester will sie jedenfalls...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Schattentänzerin “
Nerdin hat es geschafft - zumindest in der Schule: Sie trägt die gleichen Klamotten wie ihre Freundinnen, hört die gleiche Musik und spricht genauso akzentfrei Deutsch. Den Weg ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester will sie jedenfalls nicht gehen. Den strengen Traditionen ihrer Familie wird sie sich nicht unterordnen. Doch das Leben in zwei Welten ist anstrengend. Ihre Eltern dürfen nichts von der anderen Nerdin erfahren. Kleine Freiheiten muss sie sich immer von ihrem Bruder erkaufen. Und an einen deutschen Freund ist schon gar nicht zu denken. Auch nicht an Jan, der ihr eines Abends überraschend nahekommt.
Band 3 der Reihe "Die Klasse". Ab 13 Jahren
Klappentext zu „Die Schattentänzerin “
Nerdin hat es geschafft - zumindest in der Schule: Sie trägt die gleichen Klamotten wie ihre Freundinnen, hört die gleiche Musik und spricht genauso akzentfrei Deutsch. Den Weg ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester will sie jedenfalls nicht gehen. Den strengen Traditionen ihrer Familie wird sie sich nicht unterordnen. Doch das Leben in zwei Welten ist anstrengend. Ihre Eltern dürfen nichts von der anderen Nerdin erfahren. Kleine Freiheiten muss sie sich immer von ihrem Bruder erkaufen. Und an einen deutschen Freund ist schon gar nicht zu denken. Auch nicht an Jan, der ihr eines Abends überraschend nahekommt. Band 3 der Reihe "Die Klasse". Ab 13 Jahren
Lese-Probe zu „Die Schattentänzerin “
Die Schattentänzerin von Karin Kaci und Klaus Wolfertstetter
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Wolke sieben. Da ist Jule jetzt.
Acht
Neun
Zehn
In der Elften ist der. Das war klar.
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Bin ich. Fünfzehn.
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Achtzehn werden. Da wird sich nichts ändern. Nie.
Neunzehn
Mit neunzehn hat Sezen geheiratet. Nur noch vier Jahre.
Zwanzig
Mein Sternenhimmel aus Beton.
Zehn Stufen über mir. Rauf und wieder runter gezählt. Meine Füße liegen unter Stufe vier, mein Kopf liegt genau unter Stufe neun, ich bin also fünf Stufen lang, fünfzehn Jahre alt und in der gleichen Stufe wie Jule, Lizzy und Jacqueline – nur liegen die jetzt zu Hause im Bett und ich hier.
Ich bin eineinhalb Stufen breit. Eben lag ich quer. Aber dann dachte ich: Was, wenn plötzlich eine grässliche Fratze über das Treppengeländer schaut und mir ins Gesicht rotzt? Jetzt liege ich wieder längs. Mit Blick auf Stufe neun, meine Füße unter Stufe vier. Was, wenn gerade eine Kakerlake unter Stufe eins hervorkriecht? In Stufe fünf hat mich mal einer „Kakerlake“ genannt. Ich kannte den gar nicht. Vier Stufen später denke ich, dass der vielleicht recht hatte. Vielleicht gehöre ich hierher, in den Keller meiner Schule, unter die Treppe. Unser Englischlehrer sagt, an den Schuhen erkenne man die Menschen. Ich sage, es ist scheißegal, welche Schuhe ich trage, ich bin immer Nerdin. Immer das Schattenkind.
... mehr
Das tanzende Schattenkind. Die aus meiner Klasse sagen, ich tanze ständig. Die haben ganz sicher recht und wissen es nicht einmal. Sie meinen nur die paar moves, die ich mit Jule mache, aber ich spreche von dem Eiertanz. Den sehen sie nicht, können sie nicht sehen. Er ist unsichtbar, kann sich also über Jahre anschleichen und einem dann plötzlich, von heute auf morgen, in nur einer Nacht die Beine brechen. Das ist, als ob sich der Boden unter den Füßen öffnet und man hindurchfällt. Jetzt liege ich im Keller und frage mich, wie ich jemals oben stehen und mir Gedanken über das Verhältnis zwischen Hypothenuse und Kathete machen konnte.
Ich werde hier unten liegen bleiben und warten. Vielleicht verschwindet dieses Gefühl irgendwann und ich kann wieder hinaufgehen. Aber zum Gehen braucht man zwei Beine und eine Choreografie, eine Art Synchronisation. Kein Gleichschritt, das ginge nicht, aber ein Miteinander. Ich habe zwei Beine, aber sie wollen nicht mehr miteinander. Sie liegen gebrochen unter den Stufen vier, fünf, sechs und wissen nicht weiter. Das eine hier, das andere dort und in der Mitte ist ein Graben. Sie sind aus dem Rhythmus gekommen, haben sich entzweit und mich dazu, zerrissen in zwei Nerdins. Die mit dem langen e und die mit dem kurzen. Die auf dem Gymnasium und die in Asihausen. Die deutsche. Und die türkische.
Mit fünf war ich nur eine Nerdin. Die auf dem bunten Teppich vor der dröhnenden Glotze. Meine Mutter hinter mir auf dem bunten Sofa und vor uns Fred Astaire und Ginger Rogers. Meine Mutter konnte kein Wort Deutsch, ich auch kaum, aber wir brauchten es auch nicht. Es war nicht wichtig, was Fred und Ginger da plauderten, solange sie dabei tanzten. Treppe rauf und Treppe runter. Zufällig eine Big Band im Hintergrund und irgendwo auch immer ein paar Stufen. Was Fred und Ginger sich zu sagen hatten, sah man in ihrem Tanz. Meine Mutter liebte diese amerikanischen Revuefilme und ich auch. In unserer Villa gibt es keine Treppen, also musste ich vom Tisch auf einen Stuhl steppen und vom Stuhl auf eine Aprikosenkiste und von der Aprikosenkiste auf die Spanplatte, die meine Mutter mir hingelegt hatte. Tagsüber, wenn ich mit ihr alleine war, steppte ich wie Ginger in Ich tanz mich in dein Herz hinein und sie lachte und ich lachte und sie jubelte mir zu. Da wusste ich noch nicht, dass der bunte Teppich nicht zu dem bunten Sofa passt.
Abends, wenn alle da waren, war Erol mit seiner Nummer an der Reihe. Auch mein Bruder liebte das Tanzen. In glitzernde Tücher gehüllt, kickte er seine Hüfte zur Musik von Orhan Gencebay. Erol war ein schöner Junge mit langen, dichten Wimpern und noch dazu eine talentierte Bauchtänzerin. Meine Schwester Sezen schminkte ihn, meine Mutter nähte ihm Pailletten an ein Tuch und die Frauen klatschten und feuerten ihn an. Auch mein Bruder Murat, mein Vater und die Männer fanden Erols Tanz hinreißend, solange der Kleine noch fünf war. Als er sieben war, hatten sie Angst, er könne schwul werden.
Jetzt sieht man Erols Schönheit nicht mehr. Er tanzt auch nicht mehr. Er rappt. Ziemlich übel. Besser gesagt, er knockt mit seinen Kopf gegen eine unsichtbare Wand, während sein Kumpel Nderim etwas von da chicos in da streets faselt, smoking crack and burning down ... Sie haben noch nichts gefunden, was sich auf streets reimt. Sie hatten nur vier Jahre Englisch, nach der Neunten war Schluss, Hauptschulabschluss verkackt. Seitdem suchen sie ein Wort, das sich auf streets reimt, und eine Ausbildungsstelle. Aber ich sehe sie nur unten auf der Straße sitzen. Mein Bruder und sein bester Freund Nderim. Der ist Albaner und heißt eigentlich Edon. Das bedeutet Er liebt, aber der Name ist ihm zu schwul. Also nennt er sich Respekt. Und wer Nderim nicht aussprechen kann, kriegt erst mal eine aufs Maul. Dann klappt das auch mit dem Respekt. Seit mein Bruder Nderim kennt, hat auch er seinen Namen geändert. Die beiden haben im Internet herausgefunden, dass Erol nur Sei ein Mann, ein Held bedeutet, Erolan hingegen: Der, der ein Mann, ein Held ist. Jetzt ist Erol also Erolan, ein Mann, ein Held, siebzehn, immer noch mein Bruder, aber nicht mehr mein Freund.
Erolan und Nderim. Erol und Edon also. Idioten. Den ganzen Tag hängen sie auf der Tischtennisplatte ab und warten, bis der Container aufmacht. Dann hängen sie im Container ab und warten, bis der Tag vergeht. Sie wissen nicht, was sie wollen. Sie wissen nur, was sie nicht wollen: Nicht schwul sein und nicht deutsch.
Ich hingegen wollte immer nur eines: deutsch sein. Und das habe ich jetzt davon. Einen Sternenhimmel aus Beton. Heute Morgen noch war ich die Einzige in meiner Klasse, die sich für einen deutschen Klassiker des poetischen Realismus interessierte, und jetzt liege ich hier, lebendig begraben unter zehn Betonstufen.
„Warum genau kratzt die eigentlich ab?“, hatte einer gefragt.
Niko. Unser Reihenhausrapper. Warum genau möchte der eigentlich ein Schwarzer sein?
„Also gut, woran stirbt Effi Briest?“ Der Bäumler saß wie immer auf seinem Pult und ließ die Beine baumeln.
Und meine Klasse lehnte sich wie immer in aller Gelassenheit zurück und wusste: Unserem Deutschlehrer muss man nicht antworten. Nur kurz warten, dann antwortet er sich selbst.
„An einem gebrochenen Herzen.“
Schockierte Gesichter starrten mich an, ich hatte vergessen zu warten. Mit schnipsenden Fingern hatte ich mich zwar nicht gemeldet, aber meine Stimme klang völlig ironiefrei.
„Was soll das sein?! Ein Herzinfarkt? So jung?“, lachte einer.
Luca. Italiener zu sein ist besser.
„Vielleicht angeborenes Vorhofflimmern?“„Du meinst Kammerflimmern.“
„Vielleicht Herzinsuffizienz.“
„Man kann auch Rheuma im Herzen haben.“
Während meine Klasse über mögliche Herzkrankheiten und biologische Todesursachen der Effi Briest diskutierte und dann über Sinnbilder, Metaphern, Symbole, Allegorien, Metonymien, Sprungtropen und Grenzverschiebungstropen, dachte ich: Vielleicht ist es einfach gebrochen, das Herz. In der Mitte durch, zerfallen, zerrissen, in zwei. Zwei Herzen.
„Pathetische Scheiße“, nuschelte Lizzy vor sich hin, sank tiefer in ihren Stuhl und ließ ihren vollautomatischen Daumen noch schneller über die Tastatur ihres Handys fegen.
Lizzy sitzt links neben mir, ist meine zweitbeste Freundin und hat seit drei Monaten einen festen Freund mit Führerschein. Wenn wir aus der Schule kommen, lehnt er an seinem roten Peugeot und hat ein Bein über das andere geschlagen. Lizzy geht dann immer besonders langsam, legt beide Hände auf seine Brust und küsst ihn. Er greift mit einer Hand an ihren Hals, die andere bleibt in der Hosentasche. Dann steigen sie ein. Montags steigen auch Jacqueline, Jule und ich mit ein in den roten Peugeot, der uns zum Tanzen fährt.„Und was meinst du, Nerdin?“
Wenn der Bäumler einen direkt anspricht, funktioniert das mit dem Warten nicht.
„Pathetische Scheiße. An einem gebrochenen Herzen kann man nicht sterben.“
Wieder klang meine Stimme ironiefrei, aber jetzt lachte die Klasse. Sie hatte ihre alte Nerdin zurück. Und der Bäumler einen Aufhänger. Er fing an, den Verlust des Pathos in der deutschen Gesellschaft zu beklagen.
Wenn das stimmt, dann gehört meine Familie nicht zur deutschen Gesellschaft. Wollen sie auch nicht. Die Deutschen sind kalt, sagen sie. Meine Mutter, mein Vater, ihre Verwandten und Bekannten sind dagegen hochpathetisch. Eigentlich würden sie Effi also lieben, wenn sie sie nur kennen würden. Aber sie lesen nicht. Sie schauen nur ihre eigenen Fernsehserien und die sind voller eigener Opfergeschichten. Voller unerfüllter Lieben, verstoßener Töchter, verlorener Söhne, geächteter Mütter und gebrochener Väter. Und ihre Leben auch.
Jetzt ist es dreizehn Stunden her, dass Lizzy und die anderen die Stufen über mir hinaufgelaufen sind, raus aus der Schule, in ihre Gesangskurse und Volleyballvereine, Reitstunden und Bandproben, in die wartenden roten Autos. Heute ist Montag. Seit zwei Jahren glaubt meine Mutter, ich sei montags in der Töpfer-AG. Aber Jule, Lizzy und Jacqueline haben heute ohne mich getanzt und meine Mutter hat heute vergebens auf eine schiefe Tonvase gewartet. Heute hat sie sicher geweint, um ihre verlorene Tochter.
Die liegt jetzt im Dunkeln, stellt sich Mond und Sterne aus Beton vor. Hier gibt es keine Fenster. Vielleicht ist das besser so. Dann können keine bleichen Gesichter in schwarzen Glasscheiben aufblitzen. Beton ist grau, fest, sicher, kann eine Decke sein. Seit Stunden liege ich hier und starre auf die Stufen über mir, ganz still, und tanze umso mehr. BirIkiÜç
Im Keller meiner Schule, unter der Treppe.DörtBesAlt Schlafen kann ich hier nicht.YediIch habe Angst.SiebenWarum bin ich hier gelandet?
Ich werde hier unten liegen bleiben und warten. Vielleicht verschwindet dieses Gefühl irgendwann und ich kann wieder hinaufgehen. Aber zum Gehen braucht man zwei Beine und eine Choreografie, eine Art Synchronisation. Kein Gleichschritt, das ginge nicht, aber ein Miteinander. Ich habe zwei Beine, aber sie wollen nicht mehr miteinander. Sie liegen gebrochen unter den Stufen vier, fünf, sechs und wissen nicht weiter. Das eine hier, das andere dort und in der Mitte ist ein Graben. Sie sind aus dem Rhythmus gekommen, haben sich entzweit und mich dazu, zerrissen in zwei Nerdins. Die mit dem langen e und die mit dem kurzen. Die auf dem Gymnasium und die in Asihausen. Die deutsche. Und die türkische.
Mit fünf war ich nur eine Nerdin. Die auf dem bunten Teppich vor der dröhnenden Glotze. Meine Mutter hinter mir auf dem bunten Sofa und vor uns Fred Astaire und Ginger Rogers. Meine Mutter konnte kein Wort Deutsch, ich auch kaum, aber wir brauchten es auch nicht. Es war nicht wichtig, was Fred und Ginger da plauderten, solange sie dabei tanzten. Treppe rauf und Treppe runter. Zufällig eine Big Band im Hintergrund und irgendwo auch immer ein paar Stufen. Was Fred und Ginger sich zu sagen hatten, sah man in ihrem Tanz. Meine Mutter liebte diese amerikanischen Revuefilme und ich auch. In unserer Villa gibt es keine Treppen, also musste ich vom Tisch auf einen Stuhl steppen und vom Stuhl auf eine Aprikosenkiste und von der Aprikosenkiste auf die Spanplatte, die meine Mutter mir hingelegt hatte. Tagsüber, wenn ich mit ihr alleine war, steppte ich wie Ginger in Ich tanz mich in dein Herz hinein und sie lachte und ich lachte und sie jubelte mir zu. Da wusste ich noch nicht, dass der bunte Teppich nicht zu dem bunten Sofa passt.
Abends, wenn alle da waren, war Erol mit seiner Nummer an der Reihe. Auch mein Bruder liebte das Tanzen. In glitzernde Tücher gehüllt, kickte er seine Hüfte zur Musik von Orhan Gencebay. Erol war ein schöner Junge mit langen, dichten Wimpern und noch dazu eine talentierte Bauchtänzerin. Meine Schwester Sezen schminkte ihn, meine Mutter nähte ihm Pailletten an ein Tuch und die Frauen klatschten und feuerten ihn an. Auch mein Bruder Murat, mein Vater und die Männer fanden Erols Tanz hinreißend, solange der Kleine noch fünf war. Als er sieben war, hatten sie Angst, er könne schwul werden.
Jetzt sieht man Erols Schönheit nicht mehr. Er tanzt auch nicht mehr. Er rappt. Ziemlich übel. Besser gesagt, er knockt mit seinen Kopf gegen eine unsichtbare Wand, während sein Kumpel Nderim etwas von da chicos in da streets faselt, smoking crack and burning down ... Sie haben noch nichts gefunden, was sich auf streets reimt. Sie hatten nur vier Jahre Englisch, nach der Neunten war Schluss, Hauptschulabschluss verkackt. Seitdem suchen sie ein Wort, das sich auf streets reimt, und eine Ausbildungsstelle. Aber ich sehe sie nur unten auf der Straße sitzen. Mein Bruder und sein bester Freund Nderim. Der ist Albaner und heißt eigentlich Edon. Das bedeutet Er liebt, aber der Name ist ihm zu schwul. Also nennt er sich Respekt. Und wer Nderim nicht aussprechen kann, kriegt erst mal eine aufs Maul. Dann klappt das auch mit dem Respekt. Seit mein Bruder Nderim kennt, hat auch er seinen Namen geändert. Die beiden haben im Internet herausgefunden, dass Erol nur Sei ein Mann, ein Held bedeutet, Erolan hingegen: Der, der ein Mann, ein Held ist. Jetzt ist Erol also Erolan, ein Mann, ein Held, siebzehn, immer noch mein Bruder, aber nicht mehr mein Freund.
Erolan und Nderim. Erol und Edon also. Idioten. Den ganzen Tag hängen sie auf der Tischtennisplatte ab und warten, bis der Container aufmacht. Dann hängen sie im Container ab und warten, bis der Tag vergeht. Sie wissen nicht, was sie wollen. Sie wissen nur, was sie nicht wollen: Nicht schwul sein und nicht deutsch.
Ich hingegen wollte immer nur eines: deutsch sein. Und das habe ich jetzt davon. Einen Sternenhimmel aus Beton. Heute Morgen noch war ich die Einzige in meiner Klasse, die sich für einen deutschen Klassiker des poetischen Realismus interessierte, und jetzt liege ich hier, lebendig begraben unter zehn Betonstufen.
„Warum genau kratzt die eigentlich ab?“, hatte einer gefragt.
Niko. Unser Reihenhausrapper. Warum genau möchte der eigentlich ein Schwarzer sein?
„Also gut, woran stirbt Effi Briest?“ Der Bäumler saß wie immer auf seinem Pult und ließ die Beine baumeln.
Und meine Klasse lehnte sich wie immer in aller Gelassenheit zurück und wusste: Unserem Deutschlehrer muss man nicht antworten. Nur kurz warten, dann antwortet er sich selbst.
„An einem gebrochenen Herzen.“
Schockierte Gesichter starrten mich an, ich hatte vergessen zu warten. Mit schnipsenden Fingern hatte ich mich zwar nicht gemeldet, aber meine Stimme klang völlig ironiefrei.
„Was soll das sein?! Ein Herzinfarkt? So jung?“, lachte einer.
Luca. Italiener zu sein ist besser.
„Vielleicht angeborenes Vorhofflimmern?“„Du meinst Kammerflimmern.“
„Vielleicht Herzinsuffizienz.“
„Man kann auch Rheuma im Herzen haben.“
Während meine Klasse über mögliche Herzkrankheiten und biologische Todesursachen der Effi Briest diskutierte und dann über Sinnbilder, Metaphern, Symbole, Allegorien, Metonymien, Sprungtropen und Grenzverschiebungstropen, dachte ich: Vielleicht ist es einfach gebrochen, das Herz. In der Mitte durch, zerfallen, zerrissen, in zwei. Zwei Herzen.
„Pathetische Scheiße“, nuschelte Lizzy vor sich hin, sank tiefer in ihren Stuhl und ließ ihren vollautomatischen Daumen noch schneller über die Tastatur ihres Handys fegen.
Lizzy sitzt links neben mir, ist meine zweitbeste Freundin und hat seit drei Monaten einen festen Freund mit Führerschein. Wenn wir aus der Schule kommen, lehnt er an seinem roten Peugeot und hat ein Bein über das andere geschlagen. Lizzy geht dann immer besonders langsam, legt beide Hände auf seine Brust und küsst ihn. Er greift mit einer Hand an ihren Hals, die andere bleibt in der Hosentasche. Dann steigen sie ein. Montags steigen auch Jacqueline, Jule und ich mit ein in den roten Peugeot, der uns zum Tanzen fährt.„Und was meinst du, Nerdin?“
Wenn der Bäumler einen direkt anspricht, funktioniert das mit dem Warten nicht.
„Pathetische Scheiße. An einem gebrochenen Herzen kann man nicht sterben.“
Wieder klang meine Stimme ironiefrei, aber jetzt lachte die Klasse. Sie hatte ihre alte Nerdin zurück. Und der Bäumler einen Aufhänger. Er fing an, den Verlust des Pathos in der deutschen Gesellschaft zu beklagen.
Wenn das stimmt, dann gehört meine Familie nicht zur deutschen Gesellschaft. Wollen sie auch nicht. Die Deutschen sind kalt, sagen sie. Meine Mutter, mein Vater, ihre Verwandten und Bekannten sind dagegen hochpathetisch. Eigentlich würden sie Effi also lieben, wenn sie sie nur kennen würden. Aber sie lesen nicht. Sie schauen nur ihre eigenen Fernsehserien und die sind voller eigener Opfergeschichten. Voller unerfüllter Lieben, verstoßener Töchter, verlorener Söhne, geächteter Mütter und gebrochener Väter. Und ihre Leben auch.
Jetzt ist es dreizehn Stunden her, dass Lizzy und die anderen die Stufen über mir hinaufgelaufen sind, raus aus der Schule, in ihre Gesangskurse und Volleyballvereine, Reitstunden und Bandproben, in die wartenden roten Autos. Heute ist Montag. Seit zwei Jahren glaubt meine Mutter, ich sei montags in der Töpfer-AG. Aber Jule, Lizzy und Jacqueline haben heute ohne mich getanzt und meine Mutter hat heute vergebens auf eine schiefe Tonvase gewartet. Heute hat sie sicher geweint, um ihre verlorene Tochter.
Die liegt jetzt im Dunkeln, stellt sich Mond und Sterne aus Beton vor. Hier gibt es keine Fenster. Vielleicht ist das besser so. Dann können keine bleichen Gesichter in schwarzen Glasscheiben aufblitzen. Beton ist grau, fest, sicher, kann eine Decke sein. Seit Stunden liege ich hier und starre auf die Stufen über mir, ganz still, und tanze umso mehr. BirIkiÜç
Im Keller meiner Schule, unter der Treppe.DörtBesAlt Schlafen kann ich hier nicht.YediIch habe Angst.SiebenWarum bin ich hier gelandet?
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autoren: Karin Kaci , Klaus Wolfertstetter
- Altersempfehlung: 13 - 16 Jahre
- 2009, 170 Seiten, Maße: 12,6 x 20,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
- ISBN-10: 3522200357
- ISBN-13: 9783522200356
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