Die Schneiderin von Pernambuco
Roman
Die Schwestern Emília und Luzia dos Santos, aufgewachsen in dem Dorf Taquaritinga im nordbrasilianischen Staat Pernambuco, sind sehr unterschiedlich, und schon früh trennen sich ihre Lebenswege: die kokette Emília erfüllt sich den...
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Produktinformationen zu „Die Schneiderin von Pernambuco “
Die Schwestern Emília und Luzia dos Santos, aufgewachsen in dem Dorf Taquaritinga im nordbrasilianischen Staat Pernambuco, sind sehr unterschiedlich, und schon früh trennen sich ihre Lebenswege: die kokette Emília erfüllt sich den Traum vom Leben in der Stadt, allerdings um den Preis eines langweiligen Ehelebens mit einem Arztsohn in der Hauptstadt Recife. Die fromme Luzia brennt mit einer Bande Cangaceiros durch, die raubend und mordend über Land zieht, während sie auf einer Singer-Nähmaschine die Kleidung für die Männer näht. Als sie den Anführer, den »Falken«, heiratet, gerät ihr Leben mehr und mehr in Gefahr. Emília, die durch Vermittlung eines Landarztes Luzias Sohn adoptiert, versucht verzweifelt, mit ihr in Kontakt zu treten, um sie zu retten. Ein epischer Roman, der die extremen gesellschaftlichen Verhältnisse in der brasilianischen Gesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreibt: das urbane Leben einer aufstrebenden Bürgerschicht und das gesetzlose Treiben einer Bande, die gegen die Ausbeutung der Landbarone kämpft. Ein Leseerlebnis voller Liebe, Mut und Abenteuer in der reichen und kraftvollen Erzähltradition Südamerikas.
Klappentext zu „Die Schneiderin von Pernambuco “
Die Schwestern Emília und Luzia dos Santos, aufgewachsen in dem Dorf Taquaritinga im nordbrasilianischen Staat Pernambuco, sind sehr unterschiedlich, und schon früh trennen sich ihre Lebenswege: die kokette Emília erfüllt sich den Traum vom Leben in der Stadt, allerdings um den Preis eines langweiligen Ehelebens mit einem Arztsohn in der Hauptstadt Recife. Die fromme Luzia brennt mit einer Bande Cangaceiros durch, die raubend und mordend über Land zieht, während sie auf einer Singer-Nähmaschine die Kleidung für die Männer näht. Als sie den Anführer, den "Falken", heiratet, gerät ihr Leben mehr und mehr in Gefahr. Emília, die durch Vermittlung eines Landarztes Luzias Sohn adoptiert, versucht verzweifelt, mit ihr in Kontakt zu treten, um sie zu retten. Ein epischer Roman, der die extremen gesellschaftlichen Verhältnisse in der brasilianischen Gesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreibt: das urbane Leben einer aufstrebenden Bürgerschicht und das gesetzlose Treiben einer Bande, die gegen die Ausbeutung der Landbarone kämpft. Ein Leseerlebnis voller Liebe, Mut und Abenteuer in der reichen und kraftvollen Erzähltradition Südamerikas.
Die Schwestern Emília und Luzia dos Santos, aufgewachsen in dem Dorf Taquaritinga im nordbrasilianischen Staat Pernambuco, sind sehr unterschiedlich, und schon früh trennen sich ihre Lebenswege: die kokette Emília erfüllt sich den Traum vom Leben in der Stadt, allerdings um den Preis eines langweiligen Ehelebens mit einem Arztsohn in der Hauptstadt Recife. Die fromme Luzia brennt mit einer Bande Cangaceiros durch, die raubend und mordend über Land zieht, während sie auf einer Singer-Nähmaschine die Kleidung für die Männer näht. Als sie den Anführer, den "Falken", heiratet, gerät ihr Leben mehr und mehr in Gefahr. Emília, die durch Vermittlung eines Landarztes Luzias Sohn adoptiert, versucht verzweifelt, mit ihr in Kontakt zu treten, um sie zu retten. Ein epischer Roman, der die extremen gesellschaftlichen Verhältnisse in der brasilianischen Gesellschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreibt: das urbane Leben einer aufstrebenden Bürgerschicht und das gesetzlose Treiben einer Bande, die gegen die Ausbeutung der Landbarone kämpft. Ein Leseerlebnis voller Liebe, Mut und Abenteuer in der reichen und kraftvollen Erzähltradition Südamerikas.
Lese-Probe zu „Die Schneiderin von Pernambuco “
Die Schneiderin von Pernambuco von Frances de Pontes Peebles LESEPROBE
Prolog Recife, Brasilien 14. Januar 1935
Emília erwachte allein. Sie lag in dem großen alten Bett, das einst das Brautbett ihrer Schwiegermutter gewesen und nun ihr eigenes war. Es war karamellfarben, und in das riesige Kopf- und Fußbrett waren Trauben von Cashewfrüchten eingeschnitzt. Fleischig und glockenförmig traten sie aus dem Palisanderholz hervor und wirkten so glatt und echt, dass sich Emília an den ersten Abenden in diesem Bett vorgestellt hatte, sie würden über Nacht reifen – die hölzerne Schale wäre am Morgen rötlich gelb und das feste Fruchtfleisch weich und duftend.
... mehr
Nach einem Jahr bei den Coelhos hatte Emília solche kindischen Vorstellungen abgelegt. Draußen war es dunkel, die Straße still. Das weiße Haus der Coelhos war das größte von all den neu gebauten Anwesen auf der Rua Real da Torre, einer erst seit kurzem gepflasterten Straße, die von der alten Capunga-Brücke bis hinaus ins unbesiedelte Sumpfland führte. Emília erwachte stets vor Sonnenaufgang, bevor die Hausierer mit ihren quietschenden Karren in Recifes Straßen einfielen und ihre Stimmen wie die Schreie sonderbarer Vögel zu Emílias Fenster hinaufdrangen. In ihrem alten Zuhause auf dem Land hatte sie beim Aufwachen Hahnenkrähen gehört, die geflüsterten Gebete ihrer Tante Sofia und vor allem den gleichmäßigen, heißen Atem ihrer Schwester Luzia an ihrer Schulter. Als Mädchen hatte Emília das Bett nicht gern mit ihrer Schwester geteilt. Luzia war zu groß und stieß mit ihren langen Beinen das Moskitonetz auf. Sie nahm ihr die Decke weg. Tante Sofia hatte kein Geld für zwei einzelne Betten und meinte, es sei gut für die Mädchen, den Schlafplatz zu teilen. So würden sie lernen, wenig Platz zu beanspruchen, sich vorsichtig zu bewegen und ruhig zu schlafen – kurzum, gute Ehefrauen zu werden.
In den ersten Tagen ihrer Ehe war Emília auf ihrer Bettseite geblieben und hatte keine Bewegung gewagt. Degas beschwerte sich, sie sei zu warm, habe zu kalte Füße und atme zu laut. Nach einer Woche wanderte er über den Flur und kehrte zu den behaglichen Laken und der schmalen Matratze seines Kindheitsbettes zurück. Emília gewöhnte sich schnell daran, allein zu schlafen; sie streckte sich aus und nahm das ganze Bett in Beschlag. Ihr Schlafzimmer teilte sie nur mit einem Mann, der in der Ecke schlief, in einer Krippe, die für seinen wachsenden Körper schnell zu klein wurde. Mit drei Jahren berührten Expeditos Hände und Füße beinahe die hölzernen Gitterstäbe der Krippe. Eines Tages, so hoffte Emília, würde er ein richtiges Bett in seinem eigenen Zimmer haben, aber nicht hier. Nicht im Haus der Coelhos.
Die Sonne ging auf, und der Himmel wurde hell. Emília hörte Rufe in den Straßen. An ihrem ersten Morgen bei den Coelhos vor sechs Jahren hatte sie zitternd die Bettdecke an die Brust gedrückt, bis sie begriff, dass vor den Toren keine Eindringlinge standen. Die Stimmen riefen nicht ihren Namen, sondern priesen Obst, Gemüse, Körbe und Besen an. Jedes Jahr zu Karneval wichen die Rufe der Hausierer den donnernden Maracatu-Trommeln und dem betrunkenen Gejohle der Feiernden. Fünf Jahre zuvor, in der ersten Oktoberwoche, waren die Hausierer ganz verschwunden gewesen. Durch das ganze Land hatten Schüsse und Rufe nach einem neuen Präsidenten gehallt. Im Jahr darauf hatten sich die Wogen geglättet. Eine neue Regierung war im Amt. Die Hausierer kehrten zurück.
Jetzt tröstete Emília der Singsang der Männer und Frauen: »Orangen! Besen! Alpercata-Sandalen! Gürtel! Bürsten! Nadeln! « Die lauten, fröhlichen Stimmen taten ihr gut nach dem Getuschel der vergangenen Woche. An der Glocke am eisernen Eingangstor der Coelhos hing ein langes schwarzes Band. Es warnte die Nachbarn, den Eiswagenfahrer und die Boten, die Blumen und schwarz geränderte Kondolenzkarten überbrachten, dass dies ein Trauerhaus war. Die Familie darin hegte ihren Schmerz und wollte nicht durch laute Geräusche oder unnötige Besuche gestört werden. Wer die Glocke läutete, tat dies vorsichtig. Manche scheuten sich, das schwarze Band zu berühren, und klatschten in die Hände, um auf sich aufmerksam zu machen. Die Hausierer ignorierten das Band. Sie riefen über den Zaun, und ihre Rufe drangen durch das schwere Metalltor und die zugezogenen Vorhänge bis in die dunklen Flure des Hauses. »Seife! Bindfaden! Mehl!« Die Hausierer kümmerten sich nicht um den Tod; selbst Trauernde brauchten die Dinge, die sie verkauften, die kleinen Notwendigkeiten des Alltags.
Emília stand auf.
Sie zog sich ein Kleid über, ließ den Reißverschluss aber offen, um Expedito nicht zu wecken. Er lag schräg in seiner Krippe, geschützt von dem Moskitonetz. Seine Stirn glänzte vor Schweiß. Der Mund war zu einem schmalen Strich zusammen gepresst. Sogar im Schlaf war er ein ernstes Kind. Schon als Emília ihn entdeckt hatte, ein dünnes, schmutziges Baby, war er so gewesen. »Findelkind« nannten ihn die Dienstmädchen. »Ein Kind aus dem Hinterland.« Er war während der berüchtigten Dürre von 1932 zur Welt gekommen. Es war ausgeschlossen, dass er sich an seine richtige Mutter und an die ersten harten Monate seines Lebens erinnerte, aber manchmal, wenn Expedito Emília aus seinen dunklen, tief in den Höhlen liegenden Augen anschaute, hatte er den finsteren und wissenden Blick eines alten Mannes. Seit der Beerdigung hatte er Emília oft so angesehen, als wollte er sie daran erinnern, nicht länger bei den Coelhos zu bleiben. Sie mussten zurück aufs Land reisen, sowohl um seinetwillen als auch um ihretwillen. Sie mussten eine Warnung überbringen. Ihr Versprechen einlösen.
Emília spürte einen Stich in der Brust. Die ganze Woche über hatte sie das Gefühl gehabt, als wäre ihr Herz von einem Seil umschlungen, das sich mit jedem Tag fester zusammen zog, den sie länger im Haus der Coelhos blieb.
Sie ging aus dem Zimmer und zog den Reißverschluss ihres Kleides zu. Der Stoff verströmte einen scharfen metallischen Geruch. Sie hatte das Kleid in einem Bottich mit schwarzer Stofffarbe weichen lassen und anschließend in Essig getaucht, um die neue Farbe zu fixieren. Das Kleid war hellblau gewesen. Es war modisch geschnitten, mit leichten flatternden Ärmeln und einem schmalen Rock. Emília hatte in Sachen Mode den Ton angegeben. Jetzt waren alle ihre einfarbigen Kleider schwarz gefärbt und die gemusterten bis zum Ende des offiziellen Trauerjahrs weggepackt. Unter dem Bett hatte Emília einen Koffer mit drei Kleidern und drei Bolerojacken versteckt. Die Jacken waren schwer; in das Satinfutter hatte sie dicke Geldbündel eingenäht. Außerdem stand ein kleiner Koffer mit Kleidung, Schuhen und Spielzeug für Expedito bereit. Wenn sie aus dem Haus der Coelhos flohen, würde sie die Sachen selbst tragen müssen, deshalb hatte sie nur das Nötigste zusammen gepackt. Vor ihrer Hochzeit hatte Emília zu viel Wert auf Luxus gelegt. Sie hatte geglaubt, dass edle Besitztümer einen anderen Menschen aus ihr machen könnten, dass ein elegantes Kleid, ein Gasherd, eine gekachelte Küche oder ein Automobil ihre Herkunft auslöschen würden. Emília hatte geglaubt, durch diese Dinge würden die Menschen über ihre schwieligen Hände oder ihre groben ländlichen Manieren hinwegsehen und sie als Dame betrachten. Nach ihrer Heirat und der Ankunft in Recife erkannte Emília, dass sie sich getäuscht hatte.
Auf halbem Weg nach unten roch sie die Trauerkränze. Die Eingangshalle und der vordere Flur waren voll von den runden Blumengebinden. Einige waren nur tellergroß, andere dagegen so riesig, dass sie auf Holzgestellen standen. Alle waren dicht mit weißen und purpurroten Blumen besetzt – Gardenien, Veilchen, Lilien, Rosen – und mit dunklen Bändern bespannt. Darauf standen in goldenen Buchstaben die Namen der Absender und Trostsprüche: »Unser tiefstes Beileid«, »Unsere Gebete begleiten Sie«. Die älteren Kränze waren schlaff, die Gardenien darauf vergilbt und die Lilien verwelkt. Sie verströmten einen stechenden Fäulnisgeruch, der schwer in der Luft lag.
Emília hielt sich am Treppengeländer fest. Vier Wochen zuvor hatte sie mit ihrem Mann Degas auf diesen Marmorstufen gesessen. Er hatte sie gewarnt, aber sie hatte nicht auf ihn hören wollen; Degas hatte sie schon zu oft getäuscht. Seit seinem Tod überlegte Emília unentwegt, ob seine Warnung vielleicht doch kein Trick gewesen war, sondern schließlich und endlich ein Versuch der Wiedergutmachung.
Emília ging in die Eingangshalle. Dort lag ein frischer Kranz, die Lilien darauf waren fest und fleischig, die Staubblätter voll von orangefarbenem Blütenstaub. Sie taten Emília leid. Sie hatten keine Wurzeln und keinen Boden, konnten sich nicht ernähren und blühten trotzdem. Sie wirkten fruchtbar und stark und waren doch schon tot – sie wussten es bloß nicht. Emília spürte, wie sich das Seil um ihr Herz fester zusammenzog. Eine innere Stimme sagte ihr, dass Degas Recht gehabt hatte, dass sie seine Warnung ernst nehmen musste. Und wie jene Trauerkränze erwies sie ihm jetzt die Anerkennung, um die er im Leben so verzweifelt gekämpft hatte, die ihm aber erst im Tod zuteilwurde.
Die Tradition der Trauerkränze gab es nur in Recife. Auf dem Land war es meist zu trocken, um Blumen anzubauen. Diejenigen, die während der Regenmonate starben, waren so wohl gesegnet als auch verdammt: Sie verwesten schneller, und die Trauernden mussten sich während der Totenwache die Nase zuhalten, aber es gab Dahlien, Hahnenkamm und Beneditas, die man zu dicken Sträußen band und ihnen in die Hängematte legte, bevor man sie darin in die Stadt trug. Emília hatte viele Beerdigungen miterlebt, unter anderem die ihrer Mutter, an die sie sich jedoch kaum erinnern konnte. Die Beerdigung ihres Vaters fand später statt, als Emília vierzehn und Luzia zwölf war. Danach lebten sie bei ihrer Tante Sofia, und obwohl Emília ihre Tante liebte, konnte sie es kaum erwarten, davonzulaufen und in die Hauptstadt zu gehen. Als Mädchen hatte Emília immer geglaubt, eines Tages würde sie Sofia und Luzia verlassen. Stattdessen hatten die beiden sie verlassen.
Emília nahm eine Karte mit Trauerrand aus dem frischen Kranz. Sie war an ihren Schwiegervater adressiert, Dr. Duarte Coelho.
»Trauer ist unermesslich« stand auf der Karte, »Unsere Wertschätzung für Sie ebenso. Kommen Sie bald zurück zu Ihrer Arbeit! Ihre Kollegen am Institut für Kriminologie«. Die Kränze und Karten waren nicht für Degas bestimmt. Mit den Gaben, die bei den Coelhos ankamen, wollte man sich bei den Lebenden lieb Kind machen. Die meisten der Blumengebinde waren von Politikern, von Freunden aus der Grünen Partei oder von Untergebenen aus Dr. Duartes Kriminologieinstitut geschickt worden. Auch einige Damen der Gesellschaft, die sich mit Emília gut stellen wollten, hatten Kränze liefern lassen. Es waren ehemalige Kundinnen ihres Modegeschäfts. Sie hofften, die Trauer würde ihrem Schneidereihobby kein Ende setzen. Da ehrbare Frauen keinen Beruf hatten, betrachtete man Emílias blühendes Modegeschäft als Zeitvertreib, ähnlich wie Häkeln oder Wohltätigkeitsarbeit. Auf dem Land hatte ihr Beruf hohes Ansehen genossen, aber in Recife erfuhr sie diese Achtung nicht; eine Schneiderin unterschied sich nicht von einem Dienstmädchen oder einer Waschfrau. Und zum Entsetzen der Coelhos hatte ihr Sohn eine solche geheiratet. In ihren Augen konnte man Emília lediglich zwei Dinge zugutehalten: Sie war hübsch und hatte keine Familie. Wenigstens würden keine Eltern oder Geschwister an die Tür klopfen und um Almosen betteln. Dr. Duarte und seine Frau Dona Dulce wussten, dass Emília eine Schwester hatte, glaubten aber, sie wäre tot – wie Emílias Eltern und ihre Tante Sofia. Emília ließ sie in diesem Glauben. Als Schneiderinnen wussten sie und Luzia, wie man zuschnitt, ausbesserte und kaschierte.
»Eine gute Schneiderin muss mutig sein.« Das pflegte Tante Sofia immer zu sagen. Emília hatte ihr lange Zeit widersprochen. Sie fand, Mut war mit Risiken verbunden. Beim Nähen wurde alles abgemessen, aufgezeichnet, anprobiert und nachgebessert. Das einzige Risiko stellten Fehler dar.
Eine gute Schneiderin nahm genaue Maße und übertrug sie mit einem spitzen Bleistift auf Papier. Die Umrisse dieses Papierschnittmusters zeichnete sie anschließend auf billigen Musselin, schnitt die Teile aus und nähte sie zu einem Probekleidungsstück zusammen, das die Kundin anprobierte und die Schneiderin wiederum absteckte und nachmaß, um Fehler ihres Schnittmusters zu korrigieren. Der Musselin sah reizlos und fad aus. Jetzt kam es auf die Begeisterungsfähigkeit der Schneiderin an; sie musste sich das Kleidungsstück in einem hübschen Stoff vorstellen können und die Kundin von dieser Vorstellung überzeugen. Anhand der Nadeln und Markierungen auf dem Musselin überarbeitete sie das Papierschnittmuster und übertrug es auf guten Stoff: Seide, fein gewebtes Leinen oder feste Baumwolle. Als Nächstes schnitt sie die einzelnen Teile aus. Schließlich nähte sie sie zusammen, wobei sie nach jedem Schritt bügelte, damit die Linien klar und die Säume gerade wurden. Mit Mut hatte das nichts zu tun. Nur mit Geduld und Akribie.
Luzia fertigte nie Papierschnittmuster oder Probestücke aus Musselin an. Sie übertrug die Maße direkt auf den richtigen Stoff und schnitt ihn zu. Auch das betrachtete Emília nicht als Mut – es war Können. Luzia war großartig im Maßnehmen. Sie wusste genau, wo sie das Band um Arme oder Taille legen musste, um die genauesten Maße zu bekommen. Aber ihr Können beruhte nicht allein auf Genauigkeit; Luzia sah mehr als nur die Zahlen. Sie wusste, dass Zahlen lügen können. Tante Sofia hatte ihnen beigebracht, dass der menschliche Körper keine geraden Linien hatte. Ein Maßband konnte die Krümmung eines Rückens, den Bogen einer Schulter, die Kurve einer Taille oder den Knick eines Ellbogens falsch wiedergeben. Luzia und Emília lernten, Maßbändern mit Skepsis zu begegnen. »Traut nie einem fremden Maßband!«, hatte Tante Sofia ihnen eingeschärft. »Macht die Augen auf!« Bald erkannten Emília und Luzia, noch bevor sie das Maßband ausgerollt hatten, wo ein Kleidungsstück enger gemacht oder ausgelassen, gekürzt oder länger gemacht werden musste. Nähen war eine Sprache, sagte ihre Tante. Die Sprache der Formen. Eine gute Schneiderin konnte sich ein Kleidungsstück an einem Menschen vorstellen und dasselbe Kleidungsstück im Geiste flach und in seine Einzelteile zerlegt auf dem Zuschneidetisch liegen sehen. Das eine hatte nur entfernte Ähnlichkeit mit dem anderen. Flach ausgelegt, waren die Teile eines Kleidungsstücks seltsame zerteilte Formen. Jedes Teil hatte sein Gegenstück, sein Spiegelbild.
Im Gegensatz zu Luzia fertigte Emília lieber Papierschablonen an. Sie war weniger sicher beim Maßnehmen und wurde jedes Mal nervös, wenn sie die Schere zur Hand nahm. Das Schneiden verzieh nichts. Waren die Teile eines Kleidungsstücks fehlerhaft zugeschnitten, bedeutete das stundenlange Arbeit an der Nähmaschine. Diese Arbeit war oft vergebens – manche Fehler ließen sich beim Nähen nicht beseitigen.
Emília legte die Kondolenzkarte zurück und ging an den Trauerkränzen vorbei. Am Ende der Eingangshalle stand ein Holzgestell, das keine Blumen, sondern ein Porträt hielt. Die Coelhos hatten für die Totenwache ihres Sohnes ein Ölgemälde in Auftrag gegeben. Trotz der Tiefe und der starken Strömung des Rio Capibaribe hatte die Polizei Degas’ Leiche gefunden. Sie war jedoch zu aufgedunsen, um die Totenwache bei offenem Sarg zu halten; stattdessen hatte Dr. Duarte ein Porträt seines Sohnes anfertigen lassen. Es zeigte einen lächelnden, schlanken und selbstsicheren Menschen – nichts davon war Emílias Mann im Leben je gewesen. Nur Degas’ Hände hatte der Maler gut getroffen. Die Finger liefen nach vorn spitz zu, und die Nägel waren poliert und makellos. Degas war stämmig gewesen, mit einem breiten Hals und dicken, fleischigen Armen, aber er hatte schlanke, beinahe feminine Hände gehabt. Emília wünschte, das wäre ihr schon bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen.
Die Polizei betrachtete Degas’ Tod als Unfall. Die Beamten waren Dr. Duarte gegenüber loyal, da er der Gründer von Brasiliens erstem Institut für Kriminologie war. Die Stadt Recife indes lechzte nach Skandalen. Unfälle waren langweilig, Schuldzuweisungen dagegen spannend. Während der Totenwache hatte Emília die Trauergäste tuscheln gehört. Sie debattierten, wer oder was für Degas’ Tod verantwortlich war: der Wagen, der heftige Regenguss, die glitschige Brücke oder Degas selbst am Steuer des Chrysler Imperial. Dona Dulce – Emílias Schwiegermutter – ließ nur die Version der Polizei gelten, was den Hergang der Ereignisse anging. Sie wusste, dass ihr Sohn gelogen hatte, als er sagte, er werde ins Büro fahren und Unterlagen für eine Geschäftsreise holen – die erste derartige Reise, die Degas je geplant hatte. Er hatte nicht ins Büro gewollt. Stattdessen war er ziellos durch die Stadt gefahren. Dona Dulce gab Emília nicht die Schuld an Degas’ Tod; sie machte ihre Schwiegertochter für Degas’ Ziellosigkeit verantwortlich, die ihn verursacht hatte. Eine richtige Ehefrau – ein Stadtmädchen aus gutem Hause – hätte Degas von seinen Schwächen geheilt und ihm ein Kind geschenkt. Dr. Duarte zeigte Emília gegenüber mehr Wohlwollen. Ihr Schwiegervater hatte Degas’ sogenannte Geschäftsreise in die Wege geleitet. Ohne Dona Dulces Wissen hatte Dr. Duarte für ihren gemeinsamen Sohn einen Platz im renommierten Pinel- Sanatorium in São Paulo reserviert. Dr. Duarte hatte geglaubt, die Elektrobäder in der Klinik würden bewirken, was Ehe und Selbstdisziplin nicht hatten ausrichten können.
Emília trat näher an das Porträt heran, als würde Nähe seinen Gegenstand vertrauter machen. Sie war fünfundzwanzig und schon Witwe, und sie trauerte um einen Mann, den sie nicht verstanden hatte. Manchmal hatte sie ihn gehasst. An anderen Tagen hatte sie eine unerwartete Seelenverwandtschaft mit Degas empfunden. Emília kannte das Gefühl, etwas Verbotenes zu lieben und diese Liebe zu verleugnen, zu verraten. Diese Bürde lastete so schwer auf einem Menschen, dass es ihn auf den Grund des Rio Capibaribe ziehen und dort festhalten konnte.
Sie war nachlässig mit ihrem Leben umgegangen. Sie hatte so darauf gebrannt, in die Stadt zu gehen, dass sie Degas geheiratet hatte, ohne ihn sich genau anzusehen, ohne ihn richtig zu kennen. In den Jahren danach hatte sie versucht, die in der anfänglichen Eile geschehenen Fehler auszubessern. Aber bei einigen Dingen lohnte diese Mühe nicht. Als Emília das klar geworden war, begriff sie endlich, was Tante Sofia mit Mut gemeint hatte. Jede Schneiderin konnte gewissenhaft arbeiten. Ob Anfängerin oder Meisterin, jede konnte sich viel Mühe mit Maßen und Schnittmustern geben, aber Genauigkeit war keine Garantie für Erfolg. Eine schlechte Schneiderin lieferte schludrig genähte Kleidung ab und versuchte nicht, ihre Fehler zu kaschieren. Guten Schneiderinnen waren ihre Arbeiten wichtig, und sie brachten Tage damit zu, sie zu verbessern. Schneiderinnen von echtem Format taten das nicht. Sie hatten den Mut, noch einmal von vorn anzufangen. Sie gestanden sich ihren Fehler ein, warfen die zum Scheitern verurteilten Versuche in den Müll und begannen noch einmal neu.
Emília wandte sich von Degas’ Beerdigungsporträt ab. Barfuß trat sie aus der Eingangshalle hinaus in den Hof. In der Mitte des von Blumen und Farnen gesäumten Innenhofs stand ein Springbrunnen. Ein mythisches Wesen, halb Pferd, halb Fisch, spie Wasser aus einem kupfernen Maul. Die verglasten Türen des Speisezimmers auf der gegenüberliegenden Seite standen offen. Die Vorhänge vor dem Eingang waren zugezogen und wehten leicht im Wind. Dahinter hörte Emília Dona Dulces Stimme. Ihre Schwiegermutter wies ein Dienstmädchen zurecht, weil der Tisch falsch gedeckt war. Dr. Duarte beschwerte sich, dass seine Zeitung zu spät kam. Wie Emília wartete er immer gespannt auf den Diário de Pernambuco.
Rechts führten Türen zu Dr. Duartes Arbeitszimmer. Emília ging schnellen Schrittes darauf zu und gab Acht, nicht über die Schildkröten zu stolpern, die im Innenhof herumkrochen. Es waren die einzigen Tiere, die im Haus der Coelhos geduldet wurden. Sie waren fünfzig Jahre alt und Familienerbstücke; der Großvater ihres Mannes hatte sie einst gekauft. Sie begnügten sich damit, gegen die polierten Kachelwände des Innenhofs zu laufen, sich unter den Farnen zu verstecken und die Obststücke zu fressen, die ihnen die Dienstmädchen brachten. Wenn niemand zusah, nahmen Emília und Expedito sie manchmal hoch. Sie waren so schwer, dass man beide Hände brauchte. Wenn Emília eine Schildkröte hielt, ruderte diese wild mit den faltigen Gliedern, und wenn sie sie am Kopf zu streicheln versuchte, schnappte sie nach ihren Fingern. Nur am Panzer konnte sie sie an fassen, der dick und gefühllos war wie die Tiere selbst.
Auf dem Land war Emília stets von Tieren umgeben gewesen. In den trockenen Sommermonaten gab es Eidechsen und im Winter Kröten. Dort lebten Kolibris, Tausendfüßler und streunende Katzen, die an der Hintertür um Milch bettelten. Tante Sofia hielt Hühner und Ziegen, aber die waren für den Kochtopf bestimmt, und Emília freundete sich nicht mit ihnen an. Doch sie hatte drei Singvögel. Jeden Morgen nach dem Füttern steckte sie den Finger durch die Holzstäbe des Käfigs und ließ die Vögel unter ihren Fingernägeln picken. »Sie sind überlistet worden«, sagte Luzia immer, wenn sie Emília beim Füttern zusah, »lass sie frei.« Luzia gefiel es nicht, wie man sie gefangen hatte. Dorfjungen legten Melonen- oder Kürbisstücke in Käfige, legten sich auf die Lauer und ließen die Tür zuschnappen, sobald ein Vogel hineingehüpft war. Anschließend verkauften die Jungen die rotschnäbligen Finken und die winzigen Kanarienvögel auf dem Wochenmarkt. Als die Wildvögel diesen Trick kannten und das Futter in den Käfigen nicht mehr anrührten, verfielen die Vogelfänger auf eine neue Strategie – eine, die immer funktionierte. Sie banden einen zahmen Vogel im Käfig fest, um die Wildvögel glauben zu machen, dieser Ort sei ungefährlich. So lockte ein Vogel unwissentlich den anderen.
Emílias Schwiegervater hielt in seinem Arbeitszimmer einen corrupião mit orangefarbenen Flügeln, der die erste Strophe der Nationalhymne singen konnte. In der Küche gab es stets ein großes Spektakel, wenn Emílias Schwiegermutter ihre Legionen von Dienstmädchen herumkommandierte, die Marmeladen, Käse und Bonbons herstellten. Doch manchmal hörte Emília durch den Lärm hindurch, wie der corrupião die melancholischen Töne der Hymne sang, wie ein Geist im Inneren des Mauerwerks.
Als Emília vorsichtig die Arbeitszimmertür öffnete, zwitscherte der Vogel. Er saß in einem Messingkäfig in der Mitte von Dr. Duartes Büro, umgeben von phrenologischen Schaubildern, Gläsern mit bleichen Organen in Formalin und einer Reihe von Porzellanschädeln mit untergliederten und nummerierten Gehirnen. Emílias Achseln waren nass. Ein saurer Geruch drang an ihre Nase, und sie wusste nicht, ob er von dem gefärbten Kleid oder von ihren Achseln ausging. Niemand durfte Dr. Duartes Arbeitszimmer ohne Aufforderung betreten, nicht einmal das Dienstpersonal. Falls man sie erwischte, würde Emília sagen, sie habe nach dem corrupião sehen wollen. Sie schenkte dem Vogel keine Beachtung und ging zu Dr. Duartes Schreibtisch. Darauf lagen Stapel unbeantworteter Kondolenzkarten, Listen mit den Schädelmaßen sämtlicher Häftlinge der städtischen Strafanstalt sowie der handschriftliche Entwurf einer Rede, die Dr. Duarte am Monatsende halten würde. Einzelne Wörter waren durchgestrichen. Der Schluss fehlte; Dr. Duarte wartete noch auf sein wichtigstes Forschungsexemplar, den Schädel des Kriminellen, dessen Maße seine Theorie bestätigen und mit denen er seine Rede beschließen würde. Emília durchblätterte mehrere Papierstapel. Sie fand nichts, was nach einem Kaufvertrag aussah. Keine Zollunterlagen, keine Frachtpapiere der Eisenbahngesellschaft, keinerlei datierte Belege für eine außergewöhnliche Warenlieferung nach Brasilien. Sie suchte nach Wörtern in fremden Sprachen, von denen sie eins mit Sicherheit wiedererkennen würde: Bergmann. Der Name lautete in Deutsch und Portugiesisch gleich.
Emília fand nur Zeitungsausschnitte. Sie selbst besaß eine ähnliche Sammlung, die sie in ihrem Schmuckkästchen verschlossen hatte, damit die Dienstmädchen der Coelhos sie nicht fanden. Einige der Artikel waren von den Jahren in der Feuchtigkeit Recifes vergilbt. Andere rochen immer noch nach Druckerschwärze. Alle drehten sich um den brutalen Cangaceiro Antônio Teixeira mit dem Spitznamen »der Falke«, weil er seinen Opfern die Augen aus den Höhlen riss, und seine Frau, die man »die Schneiderin « nannte. Sie waren keine Flüchtigen, denn man hatte sie nie gefangen genommen. Sie waren keine Gesetzesbrecher, denn auf dem Land gab es keine Gesetze, jedenfalls nicht bis vor kurzem, als Präsident Gomes seine eigenen aufzustellen versucht hatte. Was Cangaceiros waren, hing davon ab, wen man fragte. Für die Pachtbauern waren sie Helden und Beschützer. Für die Rinderhirten – die Vaqueiros – und die Kaufleute waren sie Diebe. Für die Bauernmädchen waren sie gute Tänzer und romantische Helden. Für die Mütter dieser Mädchen waren sie Schänder und Satane. Schulkinder, die oft Cangaceiro und Gendarm spielten, stritten sich um die Rolle des Cangaceiros, auch wenn ihre Lehrer sie dafür schalten. Für die Colonels schließlich, die Großgrundbesitzer auf dem Land, waren Cangaceiros ein unvermeidliches Ärgernis wie die Dürren, die die Baumwollernte zerstörten, oder die tödliche Brucellose, die das Vieh befiel. Cangaceiros waren eine Plage, die die Colonels ertragen mussten wie zuvor schon ihre Väter, Großväter und Urgroßväter. Cangaceiros führten ein Nomadenleben in der dornigen Wildnis des Buschlands, sie stahlen Rinder und Ziegen, fielen in Städte ein und übten Rache. Diese Männer ließen sich weder durch Drohungen einschüchtern noch durch Peitschenhiebe zur Unterwerfung bringen.
Der Falke und die Schneiderin waren Cangaceiros, wie man sie bisher noch nicht gekannt hatte. Sie konnten lesen und schreiben. Sie gaben Telegramme an die Redaktion des Diário de Pernambuco auf und schickten sogar persönliche Briefe an den Gouverneur und den Präsidenten, die von den Zeitungen abfotografiert und nachgedruckt wurden. Diese Briefe waren auf feinem Leinenpapier geschrieben und trugen im Briefkopf das geprägte Siegel der Banditen, ein großes F. In ihnen verurteilte der Falke das Straßenbauprojekt der Regierung, die Fernstraße Transnordestino, und kündigte Angriffe auf alle Baustellen im Buschland an. Der Falke betonte, dass er kein primitiver Ziegendieb war, sondern ein Anführer. Er bot die Teilung des Bundesstaats Pernambuco an; die Küste würde er der Regierung überlassen, die Cangaceiros bekämen das Binnenland. Emília studierte die Schriftzüge des Falken. Die geschwungene Schreibschrift wirkte feminin und ähnelte der, die sie und ihre Schwester Luzia vor vielen Jahren bei Padre Otto gelernt hatten, dem eingewanderten deutschen Priester und Leiter ihrer alten Grundschule.
Berichten zufolge bestand die Gruppe des Falken aus zwanzig bis fünfzig bewaffneten Männern und Frauen. Die Anführerin – die Schneiderin – war berühmt für ihre Brutalität, ihr Talent im Umgang mit Waffen und ihr Aussehen. Sie war nicht schön, aber so groß, dass sie die meisten Männer überragte. Und sie hatte einen verkrüppelten Arm; der Ellbogen war steif und dauerhaft abgeknickt. Niemand wusste, woher der Name »die Schneiderin« kam. Manche glaubten, sie trage ihn, weil sie so genau zielte; die Schneiderin konnte einen Menschen durchlöchern wie eine Nähmaschinennadel den Stoff. Andere behaupteten, dass sie wirklich nähen könne und die Cangaceiros ihr die kunstvollen Uniformen zu verdanken hätten. Der Diário hatte das einzige Foto abgedruckt, das von der Gruppe existierte; Emília bewahrte auch diesen Zeitungsausschnitt in ihrem Schmuckkästchen auf. Die Cangaceiros trugen gut sitzende Jacken und Hosen. Ihre Hutkrempen waren nach oben geklappt, so dass sie wie Halbmonde aussahen. Alles, was die Cangaceiros bei sich trugen – von den Schultertaschen mit den breiten Riemen bis hin zu den Patronengurten –, war aufwändig mit Sternen, Kreisen und anderen, unentzifferbaren Symbolen verziert. Ihre Kleidung war reich bestickt. Beschlagnägel und gestanzte Muster schmückten die ledernen Gewehrriemen. Emília fand, die Cangaceiros sahen prachtvoll und albern zugleich aus.
Sie glaubte nur die letzte Theorie über den Namen der Schneiderin. Danach wurde diese große, verkrüppelte Frau die Schneiderin genannt, weil sie ihre Gruppe zusammen hielt wie die Nähte der Schneiderin die Teile eines Kleidungsstücks. Trotz der Dürre im Jahr 1932, trotz Präsident Gomes’ Versuchen, ihnen den Garaus zu machen, und trotz der vom Institut für Kriminologie auf ihre Köpfe ausgesetzten Belohnung hatten die Cangaceiros überlebt. Sie nahmen sogar Frau en bei sich auf. Diesen Erfolg schrieben viele der Schneiderin zu. Es kursierte das – hartnäckige, wenn auch unbestätigte – Gerücht, der Falke sei tot. Es hieß, die Schneiderin habe all die Angriffe auf Baustellen geplant. Die Briefe an den Präsidenten stammten aus ihrer Feder. Sie habe die Telegramme unter dem Namen des Falken aufgegeben. Die meisten Politiker, die Polizei und sogar Präsident Gomes persönlich hielten das für unmöglich. Die Schneiderin mochte groß, hartgesotten und widernatürlich sein, aber sie war immer noch eine Frau.
Emília durchsuchte den letzten Papierstapel auf dem Schreibtisch ihres Schwiegervaters. Zeitungsausschnitte klebten an ihren schweißnassen Händen; sie schüttelte sie ab. Das Verhalten der Schneiderin war Emília immer ein Rätsel geblieben, aber sie bewunderte ihre Kühnheit und ihre Stärke. In den Tagen nach Degas’ Tod hatte sie Gott um diese Eigenschaften gebeten.
Im Haus läutete eine Glocke. Es gab Frühstück. Neben ihrem Stuhl im Esszimmer bewahrte Emílias Schwiegermutter eine Messingglocke auf, mit der sie die Bediensteten herbei rief und die Mahlzeiten ankündigte. Die Glocke ertönte ein zweites Mal; Dona Dulce duldete keine Trödelei. Emília ordnete die Papiere auf dem Schreibtisch ihres Schwiegervaters und ging aus dem Zimmer.
Sie setzte sich auf ihren Platz am Ende des Esstischs, weit weg von den anderen. Ihr Schwiegervater saß am Kopfende; er trank einen Schluck Kaffee und schlug die Zeitung auf. Neben ihm saß Emílias Schwiegermutter, blass und steif in ihrem Trauerkleid. Zwischen den beiden stand ein leerer Stuhl, auf dem Emílias Mann immer gesessen hatte. Die Lehne war mit schwarzem Stoff bezogen. Degas’ Platz war ordentlich mit dem blau-weißen Porzellan der Coelhos gedeckt, als glaubte Dona Dulce, ihr Sohn käme jeden Moment zurück. Emília starrte auf ihr eigenes Gedeck. Dort lagen zu viele Utensilien, die es zu beherrschen galt. Es gab einen mittelgroßen Löffel, um den Kaffee umzurühren, einen größeren Löffel für den Maisbrei und eine stattliche Anzahl von Gabeln für Eier und gebackene Bananen. Viele Jahre zuvor, in den ersten Wochen bei den Coelhos, hatte Emília nicht gewusst, welches Besteck man wofür benutzte. Unter dem strengen Blick ihrer Schwiegermutter, die sie von der anderen Tischseite aus beobachtete, hatte sie sich nicht zu fragen getraut. Morgens gab es keinen Grund für solche Kompliziertheiten und solchen Putz, und in den ersten Monaten hatte Emília geglaubt, ihre Schwiegermutter lasse den Tisch so aufwändig decken, um sie in Verlegenheit zu bringen.
Emília ignorierte den Teller mit Eiern und den dampfenden Brei mitten auf dem Tisch. Sie nippte an ihrem Kaffee. Dr. Duarte hielt die Zeitung hoch und lächelte. Seine Zähne waren breit und gelb.
»Seht euch das an!«, rief er und schüttelte die Seiten des Diário de Pernambuco. Die Schlagzeile verschwamm vor Emílias Augen.
Sturm auf Cangaceiros erfolgreich! Schneiderin & Falke offenbar tot.
Köpfe unterwegs nach Recife.
Emília stand auf und ging zum Kopfende des Tisches.
In dem Artikel stand, der Präsident der Republik werde keine Anarchie dulden. Er habe Truppen ins Hinterland entsendet, die mit einer neuen Waffe ausgestattet waren, dem Bergmann-Maschinengewehr. Dieses moderne Technikwunder könne fünf hundert Schuss pro Minute abfeuern. Coelho & Sohn Ltd., das Import- Export-Unternehmen des renommierten Kriminologen Dr. Duarte Coelho und seines kürzlich verstorbenen Sohnes Degas, habe es aus Deutschland importiert. Die geheime Lieferung der Bergmann-Gewehre sei früher eingetroffen als erwartet.
Weiterhin meldete die Zeitung, dass die Cangaceiros, bevor sie aus dem Hinterhalt angegriffen wurden, eine Straßenbaustelle geplündert und niedergebrannt hatten. Sie waren in eine Stadt eingefallen. Augenzeugen – Bauern und der Akkordeonspieler des Ortes – berichteten, die Banditen hätten ein Fläschchen Fleurd’Amour- Parfüm gekauft und Kindern auf der Straße Goldmünzen zugeworfen. Sie sagten, die Cangaceiros hätten die Messe besucht und sogar gebeichtet. Anschließend waren die Schneiderin und der Falke mit ihren Cangaceiros zum Fluss São Francisco gegangen, um auf der Ranch eines Arztes ihr Lager aufzuschlagen. Der Arzt, einst ein getreuer Freund der Cangaceiros, hatte sich heimlich mit der Regierung verbündet und die in der Nähe wartenden Truppen per Telegramm über die Anwesenheit des Falken informiert. Der Vogel sitzt im Käfig, lautete die Nachricht des Doktors.
Die Cangaceiros kampierten in einem trockenen Wasserlauf, als die Regierungstruppen angriffen. Die Dunkelheit erschwerte das Zielen. Aber mit den neuen Bergmann-Gewehren war das auch nicht nötig. Sie trafen ihre Ziele mit Leichtigkeit. Ein Vaqueiro, der seine Herde bei Tagesanbruch ausgetrieben hatte, sagte am nächsten Morgen, er habe einige Cangaceiros aus dem Kampf mit den Truppen flüchten sehen. Er wollte beobachtet haben, wie sich eine Hand voll Menschen – alle mit den typischen Cangaceiro-Lederhüten mit den halbmondförmig nach oben gebogenen Krempen – über die Staatsgrenze geschleppt hatten. Aber die Polizeibeamten verkündeten, alle Banditen seien tot, erschossen und enthauptet, auch die Schneiderin.
Emília las die letzte Zeile des Artikels und merkte nicht, wie ihr die Porzellantasse aus der Hand glitt und auf dem Schieferboden zerschellte. Sie spürte nicht, wie der heiße Kaffee an ihre Knöchel spritzte, hörte nicht, wie ihre Schwiegermutter nach Luft schnappte und schalt, sie habe keine Manieren, und sah nicht, wie die Dienstmädchen unter dem Marmortisch herumwuselten, um die Unordnung zu beseitigen.
Emília stürmte durch das gekachelte Treppenhaus hinauf in ihr Schlafzimmer – das letzte Zimmer am Ende des mit Teppichen ausgelegten, muffigen Flurs. Expedito saß auf Emílias Bett, wo ihm das Kindermädchen das nasse Haar kämmte. Emília schickte die Frau weg und hob ihren Jungen vom Bett.
Er wand sich in ihrer festen Umarmung, und sie ließ ihn los. Emília zog ein Kästchen aus poliertem Holz unter dem Bett hervor. Sie hakte ihre goldene Halskette auf und öffnete mit dem kleinen Messingschlüssel, der daran hing, das Schloss des Kästchens. Der samtbezogene Einsatz war bis auf einen Ring und eine Perlenkette leer. Degas hatte ihr das größte Schmuckkästchen gekauft, das er finden konnte, und ihr versprochen, es zu füllen. Emília nahm den Einsatz heraus. In der Vertiefung darunter, die für Anhänger, Diademe oder dicke Armbänder vorgesehen war, befanden sich Emílias über die Jahre gesammelte Zeitungsausschnitte, zusammengehalten von einem blauen Band. Darunter lag eine kleine gerahmte Fotografie. Zwei Mädchen standen nebeneinander. Beide trugen ein weißes Kleid. Jedes hielt eine Bibel in der Hand. Eins der Mädchen lächelte breit. Ihr Blick dagegen passte nicht zu der starren Fröhlichkeit ihres Mundes. Er war ängstlich und erwartungsvoll. Das andere Mädchen hatte sich während der Aufnahme bewegt und war verschwommen. Wenn man nur flüchtig hinsah und nicht wusste, wer sie war, konnte man sie nicht erkennen.
Emília hatte dieses Kommunionsfoto in den Armen gehalten, als sie zu Pferd ihre Heimatstadt Taquaritinga verlassen hatte. Während der holprigen Zugfahrt nach Recife hatte es in ihrem Schoß gelegen. Im Haus der Coelhos bewahrte sie es in ihrem Schmuckkästchen auf, an dem einzigen Ort, der vor den Schnüffeleien der Dienstmädchen sicher schien.
Emília kniete sich neben das Porträt. Ihr Junge tat es ihr gleich und presste die gefalteten Händchen fest an die Brust, wie Emília es ihm beigebracht hatte. Er sah sie an. Im Morgensonnenlicht waren seine Augen nicht so dunkel, wie sie manchmal schienen, und in dem Braun schimmerten grüne Sprenkel. Emília senkte den Kopf.
Sie betete zu Santa Luzia, der Schutzheiligen der Augen, Namenspatronin und Beschützerin ihrer Schwester Luzia. Sie betete zur Heiligen Jungfrau, der großen Beschützerin der Frauen. Und sie betete fast inbrünstig zum heiligen Expedito, der unmögliche Wünsche erfüllte.
Emília hatte in diesem Haus viele ihrer alten, törichten Anschauungen aufgegeben – an einem Ort, wo ihr Mann nicht ihr Mann gewesen war, sondern ein Fremder, den kennen zu lernen ihr nichts bedeutete, wo Dienstmädchen keine Dienstmädchen waren, sondern Spioninnen ihrer Schwiegermutter, und wo Früchte keine Früchte waren, sondern Holz, poliert und tot. Aber den Glauben an die Heiligen hatte Emília nie verloren. Sie glaubte an ihre Kräfte. Expedito hatte ihre Schwester schon einmal von den Toten zurückgeholt. Er konnte es noch einmal tun.
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Aus dem Amerikanischen von Stefanie Röder
In den ersten Tagen ihrer Ehe war Emília auf ihrer Bettseite geblieben und hatte keine Bewegung gewagt. Degas beschwerte sich, sie sei zu warm, habe zu kalte Füße und atme zu laut. Nach einer Woche wanderte er über den Flur und kehrte zu den behaglichen Laken und der schmalen Matratze seines Kindheitsbettes zurück. Emília gewöhnte sich schnell daran, allein zu schlafen; sie streckte sich aus und nahm das ganze Bett in Beschlag. Ihr Schlafzimmer teilte sie nur mit einem Mann, der in der Ecke schlief, in einer Krippe, die für seinen wachsenden Körper schnell zu klein wurde. Mit drei Jahren berührten Expeditos Hände und Füße beinahe die hölzernen Gitterstäbe der Krippe. Eines Tages, so hoffte Emília, würde er ein richtiges Bett in seinem eigenen Zimmer haben, aber nicht hier. Nicht im Haus der Coelhos.
Die Sonne ging auf, und der Himmel wurde hell. Emília hörte Rufe in den Straßen. An ihrem ersten Morgen bei den Coelhos vor sechs Jahren hatte sie zitternd die Bettdecke an die Brust gedrückt, bis sie begriff, dass vor den Toren keine Eindringlinge standen. Die Stimmen riefen nicht ihren Namen, sondern priesen Obst, Gemüse, Körbe und Besen an. Jedes Jahr zu Karneval wichen die Rufe der Hausierer den donnernden Maracatu-Trommeln und dem betrunkenen Gejohle der Feiernden. Fünf Jahre zuvor, in der ersten Oktoberwoche, waren die Hausierer ganz verschwunden gewesen. Durch das ganze Land hatten Schüsse und Rufe nach einem neuen Präsidenten gehallt. Im Jahr darauf hatten sich die Wogen geglättet. Eine neue Regierung war im Amt. Die Hausierer kehrten zurück.
Jetzt tröstete Emília der Singsang der Männer und Frauen: »Orangen! Besen! Alpercata-Sandalen! Gürtel! Bürsten! Nadeln! « Die lauten, fröhlichen Stimmen taten ihr gut nach dem Getuschel der vergangenen Woche. An der Glocke am eisernen Eingangstor der Coelhos hing ein langes schwarzes Band. Es warnte die Nachbarn, den Eiswagenfahrer und die Boten, die Blumen und schwarz geränderte Kondolenzkarten überbrachten, dass dies ein Trauerhaus war. Die Familie darin hegte ihren Schmerz und wollte nicht durch laute Geräusche oder unnötige Besuche gestört werden. Wer die Glocke läutete, tat dies vorsichtig. Manche scheuten sich, das schwarze Band zu berühren, und klatschten in die Hände, um auf sich aufmerksam zu machen. Die Hausierer ignorierten das Band. Sie riefen über den Zaun, und ihre Rufe drangen durch das schwere Metalltor und die zugezogenen Vorhänge bis in die dunklen Flure des Hauses. »Seife! Bindfaden! Mehl!« Die Hausierer kümmerten sich nicht um den Tod; selbst Trauernde brauchten die Dinge, die sie verkauften, die kleinen Notwendigkeiten des Alltags.
Emília stand auf.
Sie zog sich ein Kleid über, ließ den Reißverschluss aber offen, um Expedito nicht zu wecken. Er lag schräg in seiner Krippe, geschützt von dem Moskitonetz. Seine Stirn glänzte vor Schweiß. Der Mund war zu einem schmalen Strich zusammen gepresst. Sogar im Schlaf war er ein ernstes Kind. Schon als Emília ihn entdeckt hatte, ein dünnes, schmutziges Baby, war er so gewesen. »Findelkind« nannten ihn die Dienstmädchen. »Ein Kind aus dem Hinterland.« Er war während der berüchtigten Dürre von 1932 zur Welt gekommen. Es war ausgeschlossen, dass er sich an seine richtige Mutter und an die ersten harten Monate seines Lebens erinnerte, aber manchmal, wenn Expedito Emília aus seinen dunklen, tief in den Höhlen liegenden Augen anschaute, hatte er den finsteren und wissenden Blick eines alten Mannes. Seit der Beerdigung hatte er Emília oft so angesehen, als wollte er sie daran erinnern, nicht länger bei den Coelhos zu bleiben. Sie mussten zurück aufs Land reisen, sowohl um seinetwillen als auch um ihretwillen. Sie mussten eine Warnung überbringen. Ihr Versprechen einlösen.
Emília spürte einen Stich in der Brust. Die ganze Woche über hatte sie das Gefühl gehabt, als wäre ihr Herz von einem Seil umschlungen, das sich mit jedem Tag fester zusammen zog, den sie länger im Haus der Coelhos blieb.
Sie ging aus dem Zimmer und zog den Reißverschluss ihres Kleides zu. Der Stoff verströmte einen scharfen metallischen Geruch. Sie hatte das Kleid in einem Bottich mit schwarzer Stofffarbe weichen lassen und anschließend in Essig getaucht, um die neue Farbe zu fixieren. Das Kleid war hellblau gewesen. Es war modisch geschnitten, mit leichten flatternden Ärmeln und einem schmalen Rock. Emília hatte in Sachen Mode den Ton angegeben. Jetzt waren alle ihre einfarbigen Kleider schwarz gefärbt und die gemusterten bis zum Ende des offiziellen Trauerjahrs weggepackt. Unter dem Bett hatte Emília einen Koffer mit drei Kleidern und drei Bolerojacken versteckt. Die Jacken waren schwer; in das Satinfutter hatte sie dicke Geldbündel eingenäht. Außerdem stand ein kleiner Koffer mit Kleidung, Schuhen und Spielzeug für Expedito bereit. Wenn sie aus dem Haus der Coelhos flohen, würde sie die Sachen selbst tragen müssen, deshalb hatte sie nur das Nötigste zusammen gepackt. Vor ihrer Hochzeit hatte Emília zu viel Wert auf Luxus gelegt. Sie hatte geglaubt, dass edle Besitztümer einen anderen Menschen aus ihr machen könnten, dass ein elegantes Kleid, ein Gasherd, eine gekachelte Küche oder ein Automobil ihre Herkunft auslöschen würden. Emília hatte geglaubt, durch diese Dinge würden die Menschen über ihre schwieligen Hände oder ihre groben ländlichen Manieren hinwegsehen und sie als Dame betrachten. Nach ihrer Heirat und der Ankunft in Recife erkannte Emília, dass sie sich getäuscht hatte.
Auf halbem Weg nach unten roch sie die Trauerkränze. Die Eingangshalle und der vordere Flur waren voll von den runden Blumengebinden. Einige waren nur tellergroß, andere dagegen so riesig, dass sie auf Holzgestellen standen. Alle waren dicht mit weißen und purpurroten Blumen besetzt – Gardenien, Veilchen, Lilien, Rosen – und mit dunklen Bändern bespannt. Darauf standen in goldenen Buchstaben die Namen der Absender und Trostsprüche: »Unser tiefstes Beileid«, »Unsere Gebete begleiten Sie«. Die älteren Kränze waren schlaff, die Gardenien darauf vergilbt und die Lilien verwelkt. Sie verströmten einen stechenden Fäulnisgeruch, der schwer in der Luft lag.
Emília hielt sich am Treppengeländer fest. Vier Wochen zuvor hatte sie mit ihrem Mann Degas auf diesen Marmorstufen gesessen. Er hatte sie gewarnt, aber sie hatte nicht auf ihn hören wollen; Degas hatte sie schon zu oft getäuscht. Seit seinem Tod überlegte Emília unentwegt, ob seine Warnung vielleicht doch kein Trick gewesen war, sondern schließlich und endlich ein Versuch der Wiedergutmachung.
Emília ging in die Eingangshalle. Dort lag ein frischer Kranz, die Lilien darauf waren fest und fleischig, die Staubblätter voll von orangefarbenem Blütenstaub. Sie taten Emília leid. Sie hatten keine Wurzeln und keinen Boden, konnten sich nicht ernähren und blühten trotzdem. Sie wirkten fruchtbar und stark und waren doch schon tot – sie wussten es bloß nicht. Emília spürte, wie sich das Seil um ihr Herz fester zusammenzog. Eine innere Stimme sagte ihr, dass Degas Recht gehabt hatte, dass sie seine Warnung ernst nehmen musste. Und wie jene Trauerkränze erwies sie ihm jetzt die Anerkennung, um die er im Leben so verzweifelt gekämpft hatte, die ihm aber erst im Tod zuteilwurde.
Die Tradition der Trauerkränze gab es nur in Recife. Auf dem Land war es meist zu trocken, um Blumen anzubauen. Diejenigen, die während der Regenmonate starben, waren so wohl gesegnet als auch verdammt: Sie verwesten schneller, und die Trauernden mussten sich während der Totenwache die Nase zuhalten, aber es gab Dahlien, Hahnenkamm und Beneditas, die man zu dicken Sträußen band und ihnen in die Hängematte legte, bevor man sie darin in die Stadt trug. Emília hatte viele Beerdigungen miterlebt, unter anderem die ihrer Mutter, an die sie sich jedoch kaum erinnern konnte. Die Beerdigung ihres Vaters fand später statt, als Emília vierzehn und Luzia zwölf war. Danach lebten sie bei ihrer Tante Sofia, und obwohl Emília ihre Tante liebte, konnte sie es kaum erwarten, davonzulaufen und in die Hauptstadt zu gehen. Als Mädchen hatte Emília immer geglaubt, eines Tages würde sie Sofia und Luzia verlassen. Stattdessen hatten die beiden sie verlassen.
Emília nahm eine Karte mit Trauerrand aus dem frischen Kranz. Sie war an ihren Schwiegervater adressiert, Dr. Duarte Coelho.
»Trauer ist unermesslich« stand auf der Karte, »Unsere Wertschätzung für Sie ebenso. Kommen Sie bald zurück zu Ihrer Arbeit! Ihre Kollegen am Institut für Kriminologie«. Die Kränze und Karten waren nicht für Degas bestimmt. Mit den Gaben, die bei den Coelhos ankamen, wollte man sich bei den Lebenden lieb Kind machen. Die meisten der Blumengebinde waren von Politikern, von Freunden aus der Grünen Partei oder von Untergebenen aus Dr. Duartes Kriminologieinstitut geschickt worden. Auch einige Damen der Gesellschaft, die sich mit Emília gut stellen wollten, hatten Kränze liefern lassen. Es waren ehemalige Kundinnen ihres Modegeschäfts. Sie hofften, die Trauer würde ihrem Schneidereihobby kein Ende setzen. Da ehrbare Frauen keinen Beruf hatten, betrachtete man Emílias blühendes Modegeschäft als Zeitvertreib, ähnlich wie Häkeln oder Wohltätigkeitsarbeit. Auf dem Land hatte ihr Beruf hohes Ansehen genossen, aber in Recife erfuhr sie diese Achtung nicht; eine Schneiderin unterschied sich nicht von einem Dienstmädchen oder einer Waschfrau. Und zum Entsetzen der Coelhos hatte ihr Sohn eine solche geheiratet. In ihren Augen konnte man Emília lediglich zwei Dinge zugutehalten: Sie war hübsch und hatte keine Familie. Wenigstens würden keine Eltern oder Geschwister an die Tür klopfen und um Almosen betteln. Dr. Duarte und seine Frau Dona Dulce wussten, dass Emília eine Schwester hatte, glaubten aber, sie wäre tot – wie Emílias Eltern und ihre Tante Sofia. Emília ließ sie in diesem Glauben. Als Schneiderinnen wussten sie und Luzia, wie man zuschnitt, ausbesserte und kaschierte.
»Eine gute Schneiderin muss mutig sein.« Das pflegte Tante Sofia immer zu sagen. Emília hatte ihr lange Zeit widersprochen. Sie fand, Mut war mit Risiken verbunden. Beim Nähen wurde alles abgemessen, aufgezeichnet, anprobiert und nachgebessert. Das einzige Risiko stellten Fehler dar.
Eine gute Schneiderin nahm genaue Maße und übertrug sie mit einem spitzen Bleistift auf Papier. Die Umrisse dieses Papierschnittmusters zeichnete sie anschließend auf billigen Musselin, schnitt die Teile aus und nähte sie zu einem Probekleidungsstück zusammen, das die Kundin anprobierte und die Schneiderin wiederum absteckte und nachmaß, um Fehler ihres Schnittmusters zu korrigieren. Der Musselin sah reizlos und fad aus. Jetzt kam es auf die Begeisterungsfähigkeit der Schneiderin an; sie musste sich das Kleidungsstück in einem hübschen Stoff vorstellen können und die Kundin von dieser Vorstellung überzeugen. Anhand der Nadeln und Markierungen auf dem Musselin überarbeitete sie das Papierschnittmuster und übertrug es auf guten Stoff: Seide, fein gewebtes Leinen oder feste Baumwolle. Als Nächstes schnitt sie die einzelnen Teile aus. Schließlich nähte sie sie zusammen, wobei sie nach jedem Schritt bügelte, damit die Linien klar und die Säume gerade wurden. Mit Mut hatte das nichts zu tun. Nur mit Geduld und Akribie.
Luzia fertigte nie Papierschnittmuster oder Probestücke aus Musselin an. Sie übertrug die Maße direkt auf den richtigen Stoff und schnitt ihn zu. Auch das betrachtete Emília nicht als Mut – es war Können. Luzia war großartig im Maßnehmen. Sie wusste genau, wo sie das Band um Arme oder Taille legen musste, um die genauesten Maße zu bekommen. Aber ihr Können beruhte nicht allein auf Genauigkeit; Luzia sah mehr als nur die Zahlen. Sie wusste, dass Zahlen lügen können. Tante Sofia hatte ihnen beigebracht, dass der menschliche Körper keine geraden Linien hatte. Ein Maßband konnte die Krümmung eines Rückens, den Bogen einer Schulter, die Kurve einer Taille oder den Knick eines Ellbogens falsch wiedergeben. Luzia und Emília lernten, Maßbändern mit Skepsis zu begegnen. »Traut nie einem fremden Maßband!«, hatte Tante Sofia ihnen eingeschärft. »Macht die Augen auf!« Bald erkannten Emília und Luzia, noch bevor sie das Maßband ausgerollt hatten, wo ein Kleidungsstück enger gemacht oder ausgelassen, gekürzt oder länger gemacht werden musste. Nähen war eine Sprache, sagte ihre Tante. Die Sprache der Formen. Eine gute Schneiderin konnte sich ein Kleidungsstück an einem Menschen vorstellen und dasselbe Kleidungsstück im Geiste flach und in seine Einzelteile zerlegt auf dem Zuschneidetisch liegen sehen. Das eine hatte nur entfernte Ähnlichkeit mit dem anderen. Flach ausgelegt, waren die Teile eines Kleidungsstücks seltsame zerteilte Formen. Jedes Teil hatte sein Gegenstück, sein Spiegelbild.
Im Gegensatz zu Luzia fertigte Emília lieber Papierschablonen an. Sie war weniger sicher beim Maßnehmen und wurde jedes Mal nervös, wenn sie die Schere zur Hand nahm. Das Schneiden verzieh nichts. Waren die Teile eines Kleidungsstücks fehlerhaft zugeschnitten, bedeutete das stundenlange Arbeit an der Nähmaschine. Diese Arbeit war oft vergebens – manche Fehler ließen sich beim Nähen nicht beseitigen.
Emília legte die Kondolenzkarte zurück und ging an den Trauerkränzen vorbei. Am Ende der Eingangshalle stand ein Holzgestell, das keine Blumen, sondern ein Porträt hielt. Die Coelhos hatten für die Totenwache ihres Sohnes ein Ölgemälde in Auftrag gegeben. Trotz der Tiefe und der starken Strömung des Rio Capibaribe hatte die Polizei Degas’ Leiche gefunden. Sie war jedoch zu aufgedunsen, um die Totenwache bei offenem Sarg zu halten; stattdessen hatte Dr. Duarte ein Porträt seines Sohnes anfertigen lassen. Es zeigte einen lächelnden, schlanken und selbstsicheren Menschen – nichts davon war Emílias Mann im Leben je gewesen. Nur Degas’ Hände hatte der Maler gut getroffen. Die Finger liefen nach vorn spitz zu, und die Nägel waren poliert und makellos. Degas war stämmig gewesen, mit einem breiten Hals und dicken, fleischigen Armen, aber er hatte schlanke, beinahe feminine Hände gehabt. Emília wünschte, das wäre ihr schon bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen.
Die Polizei betrachtete Degas’ Tod als Unfall. Die Beamten waren Dr. Duarte gegenüber loyal, da er der Gründer von Brasiliens erstem Institut für Kriminologie war. Die Stadt Recife indes lechzte nach Skandalen. Unfälle waren langweilig, Schuldzuweisungen dagegen spannend. Während der Totenwache hatte Emília die Trauergäste tuscheln gehört. Sie debattierten, wer oder was für Degas’ Tod verantwortlich war: der Wagen, der heftige Regenguss, die glitschige Brücke oder Degas selbst am Steuer des Chrysler Imperial. Dona Dulce – Emílias Schwiegermutter – ließ nur die Version der Polizei gelten, was den Hergang der Ereignisse anging. Sie wusste, dass ihr Sohn gelogen hatte, als er sagte, er werde ins Büro fahren und Unterlagen für eine Geschäftsreise holen – die erste derartige Reise, die Degas je geplant hatte. Er hatte nicht ins Büro gewollt. Stattdessen war er ziellos durch die Stadt gefahren. Dona Dulce gab Emília nicht die Schuld an Degas’ Tod; sie machte ihre Schwiegertochter für Degas’ Ziellosigkeit verantwortlich, die ihn verursacht hatte. Eine richtige Ehefrau – ein Stadtmädchen aus gutem Hause – hätte Degas von seinen Schwächen geheilt und ihm ein Kind geschenkt. Dr. Duarte zeigte Emília gegenüber mehr Wohlwollen. Ihr Schwiegervater hatte Degas’ sogenannte Geschäftsreise in die Wege geleitet. Ohne Dona Dulces Wissen hatte Dr. Duarte für ihren gemeinsamen Sohn einen Platz im renommierten Pinel- Sanatorium in São Paulo reserviert. Dr. Duarte hatte geglaubt, die Elektrobäder in der Klinik würden bewirken, was Ehe und Selbstdisziplin nicht hatten ausrichten können.
Emília trat näher an das Porträt heran, als würde Nähe seinen Gegenstand vertrauter machen. Sie war fünfundzwanzig und schon Witwe, und sie trauerte um einen Mann, den sie nicht verstanden hatte. Manchmal hatte sie ihn gehasst. An anderen Tagen hatte sie eine unerwartete Seelenverwandtschaft mit Degas empfunden. Emília kannte das Gefühl, etwas Verbotenes zu lieben und diese Liebe zu verleugnen, zu verraten. Diese Bürde lastete so schwer auf einem Menschen, dass es ihn auf den Grund des Rio Capibaribe ziehen und dort festhalten konnte.
Sie war nachlässig mit ihrem Leben umgegangen. Sie hatte so darauf gebrannt, in die Stadt zu gehen, dass sie Degas geheiratet hatte, ohne ihn sich genau anzusehen, ohne ihn richtig zu kennen. In den Jahren danach hatte sie versucht, die in der anfänglichen Eile geschehenen Fehler auszubessern. Aber bei einigen Dingen lohnte diese Mühe nicht. Als Emília das klar geworden war, begriff sie endlich, was Tante Sofia mit Mut gemeint hatte. Jede Schneiderin konnte gewissenhaft arbeiten. Ob Anfängerin oder Meisterin, jede konnte sich viel Mühe mit Maßen und Schnittmustern geben, aber Genauigkeit war keine Garantie für Erfolg. Eine schlechte Schneiderin lieferte schludrig genähte Kleidung ab und versuchte nicht, ihre Fehler zu kaschieren. Guten Schneiderinnen waren ihre Arbeiten wichtig, und sie brachten Tage damit zu, sie zu verbessern. Schneiderinnen von echtem Format taten das nicht. Sie hatten den Mut, noch einmal von vorn anzufangen. Sie gestanden sich ihren Fehler ein, warfen die zum Scheitern verurteilten Versuche in den Müll und begannen noch einmal neu.
Emília wandte sich von Degas’ Beerdigungsporträt ab. Barfuß trat sie aus der Eingangshalle hinaus in den Hof. In der Mitte des von Blumen und Farnen gesäumten Innenhofs stand ein Springbrunnen. Ein mythisches Wesen, halb Pferd, halb Fisch, spie Wasser aus einem kupfernen Maul. Die verglasten Türen des Speisezimmers auf der gegenüberliegenden Seite standen offen. Die Vorhänge vor dem Eingang waren zugezogen und wehten leicht im Wind. Dahinter hörte Emília Dona Dulces Stimme. Ihre Schwiegermutter wies ein Dienstmädchen zurecht, weil der Tisch falsch gedeckt war. Dr. Duarte beschwerte sich, dass seine Zeitung zu spät kam. Wie Emília wartete er immer gespannt auf den Diário de Pernambuco.
Rechts führten Türen zu Dr. Duartes Arbeitszimmer. Emília ging schnellen Schrittes darauf zu und gab Acht, nicht über die Schildkröten zu stolpern, die im Innenhof herumkrochen. Es waren die einzigen Tiere, die im Haus der Coelhos geduldet wurden. Sie waren fünfzig Jahre alt und Familienerbstücke; der Großvater ihres Mannes hatte sie einst gekauft. Sie begnügten sich damit, gegen die polierten Kachelwände des Innenhofs zu laufen, sich unter den Farnen zu verstecken und die Obststücke zu fressen, die ihnen die Dienstmädchen brachten. Wenn niemand zusah, nahmen Emília und Expedito sie manchmal hoch. Sie waren so schwer, dass man beide Hände brauchte. Wenn Emília eine Schildkröte hielt, ruderte diese wild mit den faltigen Gliedern, und wenn sie sie am Kopf zu streicheln versuchte, schnappte sie nach ihren Fingern. Nur am Panzer konnte sie sie an fassen, der dick und gefühllos war wie die Tiere selbst.
Auf dem Land war Emília stets von Tieren umgeben gewesen. In den trockenen Sommermonaten gab es Eidechsen und im Winter Kröten. Dort lebten Kolibris, Tausendfüßler und streunende Katzen, die an der Hintertür um Milch bettelten. Tante Sofia hielt Hühner und Ziegen, aber die waren für den Kochtopf bestimmt, und Emília freundete sich nicht mit ihnen an. Doch sie hatte drei Singvögel. Jeden Morgen nach dem Füttern steckte sie den Finger durch die Holzstäbe des Käfigs und ließ die Vögel unter ihren Fingernägeln picken. »Sie sind überlistet worden«, sagte Luzia immer, wenn sie Emília beim Füttern zusah, »lass sie frei.« Luzia gefiel es nicht, wie man sie gefangen hatte. Dorfjungen legten Melonen- oder Kürbisstücke in Käfige, legten sich auf die Lauer und ließen die Tür zuschnappen, sobald ein Vogel hineingehüpft war. Anschließend verkauften die Jungen die rotschnäbligen Finken und die winzigen Kanarienvögel auf dem Wochenmarkt. Als die Wildvögel diesen Trick kannten und das Futter in den Käfigen nicht mehr anrührten, verfielen die Vogelfänger auf eine neue Strategie – eine, die immer funktionierte. Sie banden einen zahmen Vogel im Käfig fest, um die Wildvögel glauben zu machen, dieser Ort sei ungefährlich. So lockte ein Vogel unwissentlich den anderen.
Emílias Schwiegervater hielt in seinem Arbeitszimmer einen corrupião mit orangefarbenen Flügeln, der die erste Strophe der Nationalhymne singen konnte. In der Küche gab es stets ein großes Spektakel, wenn Emílias Schwiegermutter ihre Legionen von Dienstmädchen herumkommandierte, die Marmeladen, Käse und Bonbons herstellten. Doch manchmal hörte Emília durch den Lärm hindurch, wie der corrupião die melancholischen Töne der Hymne sang, wie ein Geist im Inneren des Mauerwerks.
Als Emília vorsichtig die Arbeitszimmertür öffnete, zwitscherte der Vogel. Er saß in einem Messingkäfig in der Mitte von Dr. Duartes Büro, umgeben von phrenologischen Schaubildern, Gläsern mit bleichen Organen in Formalin und einer Reihe von Porzellanschädeln mit untergliederten und nummerierten Gehirnen. Emílias Achseln waren nass. Ein saurer Geruch drang an ihre Nase, und sie wusste nicht, ob er von dem gefärbten Kleid oder von ihren Achseln ausging. Niemand durfte Dr. Duartes Arbeitszimmer ohne Aufforderung betreten, nicht einmal das Dienstpersonal. Falls man sie erwischte, würde Emília sagen, sie habe nach dem corrupião sehen wollen. Sie schenkte dem Vogel keine Beachtung und ging zu Dr. Duartes Schreibtisch. Darauf lagen Stapel unbeantworteter Kondolenzkarten, Listen mit den Schädelmaßen sämtlicher Häftlinge der städtischen Strafanstalt sowie der handschriftliche Entwurf einer Rede, die Dr. Duarte am Monatsende halten würde. Einzelne Wörter waren durchgestrichen. Der Schluss fehlte; Dr. Duarte wartete noch auf sein wichtigstes Forschungsexemplar, den Schädel des Kriminellen, dessen Maße seine Theorie bestätigen und mit denen er seine Rede beschließen würde. Emília durchblätterte mehrere Papierstapel. Sie fand nichts, was nach einem Kaufvertrag aussah. Keine Zollunterlagen, keine Frachtpapiere der Eisenbahngesellschaft, keinerlei datierte Belege für eine außergewöhnliche Warenlieferung nach Brasilien. Sie suchte nach Wörtern in fremden Sprachen, von denen sie eins mit Sicherheit wiedererkennen würde: Bergmann. Der Name lautete in Deutsch und Portugiesisch gleich.
Emília fand nur Zeitungsausschnitte. Sie selbst besaß eine ähnliche Sammlung, die sie in ihrem Schmuckkästchen verschlossen hatte, damit die Dienstmädchen der Coelhos sie nicht fanden. Einige der Artikel waren von den Jahren in der Feuchtigkeit Recifes vergilbt. Andere rochen immer noch nach Druckerschwärze. Alle drehten sich um den brutalen Cangaceiro Antônio Teixeira mit dem Spitznamen »der Falke«, weil er seinen Opfern die Augen aus den Höhlen riss, und seine Frau, die man »die Schneiderin « nannte. Sie waren keine Flüchtigen, denn man hatte sie nie gefangen genommen. Sie waren keine Gesetzesbrecher, denn auf dem Land gab es keine Gesetze, jedenfalls nicht bis vor kurzem, als Präsident Gomes seine eigenen aufzustellen versucht hatte. Was Cangaceiros waren, hing davon ab, wen man fragte. Für die Pachtbauern waren sie Helden und Beschützer. Für die Rinderhirten – die Vaqueiros – und die Kaufleute waren sie Diebe. Für die Bauernmädchen waren sie gute Tänzer und romantische Helden. Für die Mütter dieser Mädchen waren sie Schänder und Satane. Schulkinder, die oft Cangaceiro und Gendarm spielten, stritten sich um die Rolle des Cangaceiros, auch wenn ihre Lehrer sie dafür schalten. Für die Colonels schließlich, die Großgrundbesitzer auf dem Land, waren Cangaceiros ein unvermeidliches Ärgernis wie die Dürren, die die Baumwollernte zerstörten, oder die tödliche Brucellose, die das Vieh befiel. Cangaceiros waren eine Plage, die die Colonels ertragen mussten wie zuvor schon ihre Väter, Großväter und Urgroßväter. Cangaceiros führten ein Nomadenleben in der dornigen Wildnis des Buschlands, sie stahlen Rinder und Ziegen, fielen in Städte ein und übten Rache. Diese Männer ließen sich weder durch Drohungen einschüchtern noch durch Peitschenhiebe zur Unterwerfung bringen.
Der Falke und die Schneiderin waren Cangaceiros, wie man sie bisher noch nicht gekannt hatte. Sie konnten lesen und schreiben. Sie gaben Telegramme an die Redaktion des Diário de Pernambuco auf und schickten sogar persönliche Briefe an den Gouverneur und den Präsidenten, die von den Zeitungen abfotografiert und nachgedruckt wurden. Diese Briefe waren auf feinem Leinenpapier geschrieben und trugen im Briefkopf das geprägte Siegel der Banditen, ein großes F. In ihnen verurteilte der Falke das Straßenbauprojekt der Regierung, die Fernstraße Transnordestino, und kündigte Angriffe auf alle Baustellen im Buschland an. Der Falke betonte, dass er kein primitiver Ziegendieb war, sondern ein Anführer. Er bot die Teilung des Bundesstaats Pernambuco an; die Küste würde er der Regierung überlassen, die Cangaceiros bekämen das Binnenland. Emília studierte die Schriftzüge des Falken. Die geschwungene Schreibschrift wirkte feminin und ähnelte der, die sie und ihre Schwester Luzia vor vielen Jahren bei Padre Otto gelernt hatten, dem eingewanderten deutschen Priester und Leiter ihrer alten Grundschule.
Berichten zufolge bestand die Gruppe des Falken aus zwanzig bis fünfzig bewaffneten Männern und Frauen. Die Anführerin – die Schneiderin – war berühmt für ihre Brutalität, ihr Talent im Umgang mit Waffen und ihr Aussehen. Sie war nicht schön, aber so groß, dass sie die meisten Männer überragte. Und sie hatte einen verkrüppelten Arm; der Ellbogen war steif und dauerhaft abgeknickt. Niemand wusste, woher der Name »die Schneiderin« kam. Manche glaubten, sie trage ihn, weil sie so genau zielte; die Schneiderin konnte einen Menschen durchlöchern wie eine Nähmaschinennadel den Stoff. Andere behaupteten, dass sie wirklich nähen könne und die Cangaceiros ihr die kunstvollen Uniformen zu verdanken hätten. Der Diário hatte das einzige Foto abgedruckt, das von der Gruppe existierte; Emília bewahrte auch diesen Zeitungsausschnitt in ihrem Schmuckkästchen auf. Die Cangaceiros trugen gut sitzende Jacken und Hosen. Ihre Hutkrempen waren nach oben geklappt, so dass sie wie Halbmonde aussahen. Alles, was die Cangaceiros bei sich trugen – von den Schultertaschen mit den breiten Riemen bis hin zu den Patronengurten –, war aufwändig mit Sternen, Kreisen und anderen, unentzifferbaren Symbolen verziert. Ihre Kleidung war reich bestickt. Beschlagnägel und gestanzte Muster schmückten die ledernen Gewehrriemen. Emília fand, die Cangaceiros sahen prachtvoll und albern zugleich aus.
Sie glaubte nur die letzte Theorie über den Namen der Schneiderin. Danach wurde diese große, verkrüppelte Frau die Schneiderin genannt, weil sie ihre Gruppe zusammen hielt wie die Nähte der Schneiderin die Teile eines Kleidungsstücks. Trotz der Dürre im Jahr 1932, trotz Präsident Gomes’ Versuchen, ihnen den Garaus zu machen, und trotz der vom Institut für Kriminologie auf ihre Köpfe ausgesetzten Belohnung hatten die Cangaceiros überlebt. Sie nahmen sogar Frau en bei sich auf. Diesen Erfolg schrieben viele der Schneiderin zu. Es kursierte das – hartnäckige, wenn auch unbestätigte – Gerücht, der Falke sei tot. Es hieß, die Schneiderin habe all die Angriffe auf Baustellen geplant. Die Briefe an den Präsidenten stammten aus ihrer Feder. Sie habe die Telegramme unter dem Namen des Falken aufgegeben. Die meisten Politiker, die Polizei und sogar Präsident Gomes persönlich hielten das für unmöglich. Die Schneiderin mochte groß, hartgesotten und widernatürlich sein, aber sie war immer noch eine Frau.
Emília durchsuchte den letzten Papierstapel auf dem Schreibtisch ihres Schwiegervaters. Zeitungsausschnitte klebten an ihren schweißnassen Händen; sie schüttelte sie ab. Das Verhalten der Schneiderin war Emília immer ein Rätsel geblieben, aber sie bewunderte ihre Kühnheit und ihre Stärke. In den Tagen nach Degas’ Tod hatte sie Gott um diese Eigenschaften gebeten.
Im Haus läutete eine Glocke. Es gab Frühstück. Neben ihrem Stuhl im Esszimmer bewahrte Emílias Schwiegermutter eine Messingglocke auf, mit der sie die Bediensteten herbei rief und die Mahlzeiten ankündigte. Die Glocke ertönte ein zweites Mal; Dona Dulce duldete keine Trödelei. Emília ordnete die Papiere auf dem Schreibtisch ihres Schwiegervaters und ging aus dem Zimmer.
Sie setzte sich auf ihren Platz am Ende des Esstischs, weit weg von den anderen. Ihr Schwiegervater saß am Kopfende; er trank einen Schluck Kaffee und schlug die Zeitung auf. Neben ihm saß Emílias Schwiegermutter, blass und steif in ihrem Trauerkleid. Zwischen den beiden stand ein leerer Stuhl, auf dem Emílias Mann immer gesessen hatte. Die Lehne war mit schwarzem Stoff bezogen. Degas’ Platz war ordentlich mit dem blau-weißen Porzellan der Coelhos gedeckt, als glaubte Dona Dulce, ihr Sohn käme jeden Moment zurück. Emília starrte auf ihr eigenes Gedeck. Dort lagen zu viele Utensilien, die es zu beherrschen galt. Es gab einen mittelgroßen Löffel, um den Kaffee umzurühren, einen größeren Löffel für den Maisbrei und eine stattliche Anzahl von Gabeln für Eier und gebackene Bananen. Viele Jahre zuvor, in den ersten Wochen bei den Coelhos, hatte Emília nicht gewusst, welches Besteck man wofür benutzte. Unter dem strengen Blick ihrer Schwiegermutter, die sie von der anderen Tischseite aus beobachtete, hatte sie sich nicht zu fragen getraut. Morgens gab es keinen Grund für solche Kompliziertheiten und solchen Putz, und in den ersten Monaten hatte Emília geglaubt, ihre Schwiegermutter lasse den Tisch so aufwändig decken, um sie in Verlegenheit zu bringen.
Emília ignorierte den Teller mit Eiern und den dampfenden Brei mitten auf dem Tisch. Sie nippte an ihrem Kaffee. Dr. Duarte hielt die Zeitung hoch und lächelte. Seine Zähne waren breit und gelb.
»Seht euch das an!«, rief er und schüttelte die Seiten des Diário de Pernambuco. Die Schlagzeile verschwamm vor Emílias Augen.
Sturm auf Cangaceiros erfolgreich! Schneiderin & Falke offenbar tot.
Köpfe unterwegs nach Recife.
Emília stand auf und ging zum Kopfende des Tisches.
In dem Artikel stand, der Präsident der Republik werde keine Anarchie dulden. Er habe Truppen ins Hinterland entsendet, die mit einer neuen Waffe ausgestattet waren, dem Bergmann-Maschinengewehr. Dieses moderne Technikwunder könne fünf hundert Schuss pro Minute abfeuern. Coelho & Sohn Ltd., das Import- Export-Unternehmen des renommierten Kriminologen Dr. Duarte Coelho und seines kürzlich verstorbenen Sohnes Degas, habe es aus Deutschland importiert. Die geheime Lieferung der Bergmann-Gewehre sei früher eingetroffen als erwartet.
Weiterhin meldete die Zeitung, dass die Cangaceiros, bevor sie aus dem Hinterhalt angegriffen wurden, eine Straßenbaustelle geplündert und niedergebrannt hatten. Sie waren in eine Stadt eingefallen. Augenzeugen – Bauern und der Akkordeonspieler des Ortes – berichteten, die Banditen hätten ein Fläschchen Fleurd’Amour- Parfüm gekauft und Kindern auf der Straße Goldmünzen zugeworfen. Sie sagten, die Cangaceiros hätten die Messe besucht und sogar gebeichtet. Anschließend waren die Schneiderin und der Falke mit ihren Cangaceiros zum Fluss São Francisco gegangen, um auf der Ranch eines Arztes ihr Lager aufzuschlagen. Der Arzt, einst ein getreuer Freund der Cangaceiros, hatte sich heimlich mit der Regierung verbündet und die in der Nähe wartenden Truppen per Telegramm über die Anwesenheit des Falken informiert. Der Vogel sitzt im Käfig, lautete die Nachricht des Doktors.
Die Cangaceiros kampierten in einem trockenen Wasserlauf, als die Regierungstruppen angriffen. Die Dunkelheit erschwerte das Zielen. Aber mit den neuen Bergmann-Gewehren war das auch nicht nötig. Sie trafen ihre Ziele mit Leichtigkeit. Ein Vaqueiro, der seine Herde bei Tagesanbruch ausgetrieben hatte, sagte am nächsten Morgen, er habe einige Cangaceiros aus dem Kampf mit den Truppen flüchten sehen. Er wollte beobachtet haben, wie sich eine Hand voll Menschen – alle mit den typischen Cangaceiro-Lederhüten mit den halbmondförmig nach oben gebogenen Krempen – über die Staatsgrenze geschleppt hatten. Aber die Polizeibeamten verkündeten, alle Banditen seien tot, erschossen und enthauptet, auch die Schneiderin.
Emília las die letzte Zeile des Artikels und merkte nicht, wie ihr die Porzellantasse aus der Hand glitt und auf dem Schieferboden zerschellte. Sie spürte nicht, wie der heiße Kaffee an ihre Knöchel spritzte, hörte nicht, wie ihre Schwiegermutter nach Luft schnappte und schalt, sie habe keine Manieren, und sah nicht, wie die Dienstmädchen unter dem Marmortisch herumwuselten, um die Unordnung zu beseitigen.
Emília stürmte durch das gekachelte Treppenhaus hinauf in ihr Schlafzimmer – das letzte Zimmer am Ende des mit Teppichen ausgelegten, muffigen Flurs. Expedito saß auf Emílias Bett, wo ihm das Kindermädchen das nasse Haar kämmte. Emília schickte die Frau weg und hob ihren Jungen vom Bett.
Er wand sich in ihrer festen Umarmung, und sie ließ ihn los. Emília zog ein Kästchen aus poliertem Holz unter dem Bett hervor. Sie hakte ihre goldene Halskette auf und öffnete mit dem kleinen Messingschlüssel, der daran hing, das Schloss des Kästchens. Der samtbezogene Einsatz war bis auf einen Ring und eine Perlenkette leer. Degas hatte ihr das größte Schmuckkästchen gekauft, das er finden konnte, und ihr versprochen, es zu füllen. Emília nahm den Einsatz heraus. In der Vertiefung darunter, die für Anhänger, Diademe oder dicke Armbänder vorgesehen war, befanden sich Emílias über die Jahre gesammelte Zeitungsausschnitte, zusammengehalten von einem blauen Band. Darunter lag eine kleine gerahmte Fotografie. Zwei Mädchen standen nebeneinander. Beide trugen ein weißes Kleid. Jedes hielt eine Bibel in der Hand. Eins der Mädchen lächelte breit. Ihr Blick dagegen passte nicht zu der starren Fröhlichkeit ihres Mundes. Er war ängstlich und erwartungsvoll. Das andere Mädchen hatte sich während der Aufnahme bewegt und war verschwommen. Wenn man nur flüchtig hinsah und nicht wusste, wer sie war, konnte man sie nicht erkennen.
Emília hatte dieses Kommunionsfoto in den Armen gehalten, als sie zu Pferd ihre Heimatstadt Taquaritinga verlassen hatte. Während der holprigen Zugfahrt nach Recife hatte es in ihrem Schoß gelegen. Im Haus der Coelhos bewahrte sie es in ihrem Schmuckkästchen auf, an dem einzigen Ort, der vor den Schnüffeleien der Dienstmädchen sicher schien.
Emília kniete sich neben das Porträt. Ihr Junge tat es ihr gleich und presste die gefalteten Händchen fest an die Brust, wie Emília es ihm beigebracht hatte. Er sah sie an. Im Morgensonnenlicht waren seine Augen nicht so dunkel, wie sie manchmal schienen, und in dem Braun schimmerten grüne Sprenkel. Emília senkte den Kopf.
Sie betete zu Santa Luzia, der Schutzheiligen der Augen, Namenspatronin und Beschützerin ihrer Schwester Luzia. Sie betete zur Heiligen Jungfrau, der großen Beschützerin der Frauen. Und sie betete fast inbrünstig zum heiligen Expedito, der unmögliche Wünsche erfüllte.
Emília hatte in diesem Haus viele ihrer alten, törichten Anschauungen aufgegeben – an einem Ort, wo ihr Mann nicht ihr Mann gewesen war, sondern ein Fremder, den kennen zu lernen ihr nichts bedeutete, wo Dienstmädchen keine Dienstmädchen waren, sondern Spioninnen ihrer Schwiegermutter, und wo Früchte keine Früchte waren, sondern Holz, poliert und tot. Aber den Glauben an die Heiligen hatte Emília nie verloren. Sie glaubte an ihre Kräfte. Expedito hatte ihre Schwester schon einmal von den Toten zurückgeholt. Er konnte es noch einmal tun.
© BLOOMSBURY BERLIN
Aus dem Amerikanischen von Stefanie Röder
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Autoren-Porträt von Frances de Pontes Peebles
Frances de Pontes Peebles stammt aus Pernambuco, Brasilien, und lebt heute in Chicago. Sie studierte an der University of Texas, Austin und beim Iowa Writers Workshop.
Bibliographische Angaben
- Autor: Frances de Pontes Peebles
- 2008, 765 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Dtsch. v. Stefanie Röder
- Übersetzer: Stefanie Röder
- Verlag: Bloomsbury
- ISBN-10: 3827005558
- ISBN-13: 9783827005557
Rezension zu „Die Schneiderin von Pernambuco “
"Was für ein furioses Debüt!... Dieser Roman wird sie in die erste reihe lateinamerikanischer Autoren katapultieren, an die Seite von Gebriel García Marquez und Isabel Allende, da bin ich mir sicher!... Großartiger, epischer Lesestoff." Brigitte, September 2008
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