Die Schwalbe, die Katze, die Rose und der Tod / Van Veeteren Bd.9
Ein Priester, der von einem Zug überrollt wird. Ein Mädchen, das spurlos verschwindet. Eine Mutter, die von niemandem vermisst wird. Gibt es eine Verbindung zwischen den drei mysteriösen Todesfällen? Ex-Kommissar Van Veeteren will das herausfinden. Er...
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Ein Priester, der von einem Zug überrollt wird. Ein Mädchen, das spurlos verschwindet. Eine Mutter, die von niemandem vermisst wird. Gibt es eine Verbindung zwischen den drei mysteriösen Todesfällen? Ex-Kommissar Van Veeteren will das herausfinden. Er stößt auf ein Tatmuster, das auf die Welt der Bücher verweist - und auf einen Gegner, der zu allem entschlossen und immer einen Schritt voraus ist.
"Wieder ein fein konstruierter Nesser der absoluten Spitzenklasse." Brigitte
"... dürfte einer seiner besten, wenn nicht der beste sein. Nesser reproduziert nicht eingeschliffene Muster, sondern er entwickelt sich weiter. Noch ist sein Landsmann Henning Mankell, der in den letzten Jahren sein Erfolgsrezept immer nur neu aufkochte, zwar der bekanntere schwedische Krimiautor. Aber im Moment ist es viel spannender, Nesser zu lesen, weil er die besseren, interessanteren Krimis schreibt." Reutlinger Generalanzeiger
Die Schwalbe, dieKatze, die Rose und der Tod von HåkanNesser
LESEPROBE
Kefalonia, August 1995
1
"Im nächsten Leben möchte ich ein Olivenbaum sein."
Sie machte eine vage Geste mit der Hand zum Abhang hin, über dendie Dämmerung schnell hinabsank.
"Die können mehrere hundert Jahre alt werden, habe ichgehört. Das klingt doch beruhigend, findest du nicht?"
Hinterher würde ihm immer mal wieder einfallen, dass das ihreletzten Worte waren. Über den Olivenbaum und das beruhigende Gefühl. Es warsonderbar. Als trüge sie irgendetwas Großes, Sublimes mit sich auf die andere Seite.Etwas Erhabenes, die Spur einer Art Einsicht, an der es ihr eigentlichmangelte.
Gleichzeitig erschien es ihm natürlich auch etwas eigentümlich,dass sie eine so allgemeine - und eigentlich ja ziemlich nichts sagende -Reflexion machte, direkt nach diesen schrecklichen Worten, die ihr Schicksal sodefinitiv besiegelten. Die ihr Leben beendeten und ihrer Beziehung ihreletztendliche Bestimmung verliehen.
"Ich liebe einen anderen."
Natürlich wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, dass es sich in dieserArt und Weise entwickeln würde. Dass gerade das der Ausweg war - wahrscheinlichnicht vor den letzten Sekunden -, aber irgendwie war es auch bezeichnend,sowohl für ihre Ahnungslosigkeit als auch insgesamt für ihre Beziehung. Es waroft vorgekommen, dass sie die Reichweite von Dingen und Geschehnissen erstbegriff, nachdem es schon zu spät war. In einem Stadium, in dem es keinen Sinnmehr hatte und in dem auch Worte - das Reden überhaupt - schon verbrauchtwaren. In dem nur noch die nackte Handlung übrig blieb - so hatte er schonfrüher gedacht.
"Ich habe einen Entschluss gefasst. Ich weiß, dass ich dirdamit weh tue, aber wir müssen ab jetzt getrennte Wege gehen. Ich liebe einenanderen."
Danach Schweigen.
Dann das mit dem Olivenbaum.
Er gab keine Antwort. Hatte sie erwartet, dass er antworten würde?
Es war keine Frage gewesen, die sie da gestellt hatte. Nur eineFeststellung. Ein fait accompli. Was zum Teufelhätte er darauf sagen sollen?
Der Balkon war nicht groß. Sechs, acht Quadratmeter. Ein kleinerweißer Tisch mit zwei Stühlen, die wie alle anderen Plastikstühle und alleanderen Plastiktische auf der ganzen Welt aussahen. Und das Gleiche traf aufdas Hotel zu. Nur zwei Stockwerke, kein Speisesaal, kaum etwas, was alsRezeption zu bezeichnen war, sie hatten die Reise last minute gebucht und keinegroßen Ansprüche gestellt.
Olympos. Ein paar Minuten Fußweg vom Strand, die Wirtin hatteeinen Bart, und die Anzahl der Zimmer betrug wohl so ein Dutzend, vermutlichweniger.
Ihr kunterbuntes Badelaken hing zum Trocknen über dem Geländer.Jeder mit einem Glas Ouzo, nicht mehr als ein halber Meter zwischen ihnen, siefrisch geduscht, braun gebrannt und erfrischt nach einem ganzen Nachmittag amStrand.
Ein Duft von Thymian vom Berghang in unheiliger Allianz mit demverbleiten Benzin von der Durchgangsstraße unten. Das war es eigentlich imGroßen und Ganzen.
Das und diese Worte.
Plötzlich erklingt ein Ton in seinem Kopf.
Leise und fern, aber äußerst hartnäckig. Er tobt wie ein kleinesRinnsal zwischen den Zikaden, die nach einem heißen Tag müde zirpen. Es hörtsich an, als wären es mehrere hundert, obwohl es vermutlich nur zwei oder dreisind. Er steht auf. Kippt den Ouzo im Stehen, holt ein paarmal tief Luft.
Stellt sich hinter sie, schiebt ihr Haar zur Seite, legt ihr dieHände auf die nackten Schultern.
Sie erstarrt. Es ist eine fast unmerkliche Spannung nur einigerMuskeln, aber er merkt es sofort. Seine Fingerspitzen auf ihrer warmen Hautsind empfindlich wie kleine Seismographen. Er tastet nach den spitzen Rändernihres Schlüsselbeins. Fühlt ihren Puls schlagen. Sie sagt nichts. Ihre linkeHand lässt das Glas auf dem Tisch los. Dann sitzt sie ganz still. Als wartetesie.
Er schiebt die Hände höher, um ihren Hals. Spürt, dass er eineErektion bekommt.
Ein Motorrad mit hörbar kaputtem Auspuff knattert unten auf derStraße vorbei. Das Blut strömt ein, in die Hände und in den Unterleib.
Jetzt, denkt er. Jetzt.
Anfangs ähnelt ihr Kampf einer Art Orgasmus, er registriert dieseÄhnlichkeit bereits, während es noch abläuft. Ein Orgasmus?, denkt er. Wieparadox. Ihr Körper spannt sich in einem Bogen zwischen den nackten Fußsohlenauf dem Boden und seinen Händen um ihrer Kehle. Der Plastikstuhl kippt, mit derlinken Hand schlägt sie das Ouzoglas um, es fällt nach hinten und landet aufseinen Badeschuhen, rollt weiter, ohne kaputt zu gehen. Sie packt seineHandgelenke, ihre dünnen Finger umklammern sie, bis ihre Knöchel weißhervortreten, aber er ist der Stärkere. Der unendlich viel Stärkere. DasMotorrad knattert weiter das schmale Asphaltband zwischen den Olivenhainenentlang, ist offenbar vom Hauptweg abgebogen. Er drückt noch fester zu, der Tonin seinem Kopf hält an und die Erektion auch. Es dauert nicht länger alsvierzig, fünfzig Sekunden, aber der Augenblick erscheint lang. Er denkt annichts Spezielles, und als ihr Körper schließlich erschlafft, wechselt erseinen Griff, hält aber den Druck aufrecht, geht in die Knie und beugt sich vonhinten über sie. Ihre Augen stehen weit offen, die Ränder der Kontaktlinsensind deutlich erkennbar, die Zunge ragt ein wenig zwischen den ebenmäßigenweißen Zähnen hervor. Er überlegt kurz, was er denn mit dem Geschenk machensoll, das er für sie zum Geburtstag gekauft hat. Die afrikanische Holzfigur,die er am Vormittag auf dem Markt von Argostoli erstanden hat. Eine Antilope imSprung. Vielleicht kann er sie ja behalten.
Vielleicht wird er sie auch wegwerfen.
Er überlegt, wie er die restlichen Tage verbringen wird, währender langsam seinen Griff lockert und sich aufrichtet. Ihr kurzes Kleid isthochgerutscht und gibt den Blick auf den winzigen weißen Slip frei. Erbetrachtet ihr dunkles Dreieck, das durch die dünne Baumwollehindurchschimmert, und streicht über sein steinhartes Glied.
Steht auf. Geht zur Toilette und onaniert. Soweit er überhauptetwas empfinden kann, ist es ein sonderbares Gefühl.
Sonderbar und ein wenig leer.
Während er auf den rechten Moment wartet, liegt er im Dunkeln aufdem Hotelbett und raucht.
Raucht und denkt an seine Mutter. An ihre unleugbare Sanftheit unddieses eigentümliche Vakuum von Freiheit, das sie hinterlassen hat. SeineFreiheit. Seit ihrem Tod im Winter gibt es plötzlich nicht mehr ihren Blick inseinem Rücken. Niemand sieht ihn mehr ganz und gar, niemand ruft einmal dieWoche an, um sich zu erkundigen, wie es ihm geht.
Niemand, dem eine Ansichtskarte geschrieben werden muss, undniemand, dem er Rechenschaft ablegen kann.
Wäre sie noch am Leben, wäre diese Tat kaum denkbar gewesen,dessen ist er sich vollkommen sicher. Nicht in dieser Art. Aber nachdem dieBlutsbande zerschnitten sind, ist vieles einfacher geworden. Im Guten wie imBösen, so ist es nun einmal.
Einfacher, aber auch ein wenig sinnloser. Es gibt keine richtigeSchwere mehr in ihm, keinen Kern - immer wieder sind ihm diese Gedanken in demvergangenen halben Jahr gekommen. Mehrere Male. Plötzlich hat das Leben seineDichte verloren. Und jetzt liegt er auf einem Hotelbett auf einer griechischenInsel und raucht und sieht ihr sanftes und gleichzeitig strenges Gesicht vorsich, während seine Ehefrau tot auf dem Balkon liegt und erkaltet. Er hat siean die Wand gelehnt und eine Decke über sie gelegt, und er ist sich nichtsicher, ob seine Mutter nicht auf irgendeine unergründliche Weise - inirgendeinem verflucht unerforschten Sinne - weiß, was sich an diesem Abend hierereignet hat. Trotz allem.
Es irritiert ihn ein wenig, dass er diese Frage nicht für sichbeantworten kann - und auch nicht sagen kann, wie sie sich zu dem, was er andiesem warmen Mittelmeerabend gemacht hat, stellen würde -, und nach derzehnten oder auch elften Zigarette steht er auf.
Es ist erst halb eins. In den Bars und Discotheken herrscht immernoch Hochbetrieb, es ist gar nicht daran zu denken, den Körper jetzt schonfortzuschaffen. Noch lange nicht. Er tritt auf den Balkon und bleibt dort eineWeile mit den Händen auf dem Geländer stehen, während er überlegt, wie er esanstellen soll. Es ist keine einfache Aufgabe, einen Körper unbemerkt aus demHotel zu schaffen - sei es auch noch so klein und abgelegen, sei es auch ganzdunkel -, aber er ist es gewohnt, schwere Aufgaben anzupacken. Oft können sieihn sogar stimulieren, ihm ein leicht berauschtes Lebensgefühl bereiten unddiese verlorene Dichte wieder holen. Sicher hat er es auch deshalb in seinemBeruf so weit gebracht. Er hat schon früher darüber nachgedacht, in einer Artimmer wiederkehrender Reflexion. Die Herausforderung. Das Spiel. Die Dichte.
Er saugt den Duft des Olivenhains bewusst mit den Nasenflügeln ein,versucht die Olivenbäume wahrzunehmen, als wären sie die ersten - oder dieältesten - der Welt, aber es nützt nichts. Ihre letzten Worte stehen im Weg,und die Zigaretten haben seinen Geruchssinn reichlich abgestumpft.
Er geht nach drinnen, holt das Päckchen vom Nachttisch und zündetsich noch eine an. Setzt sich dann draußen auf den weißen Plastikstuhl undüberlegt, dass sie es trotzdem geschafft haben, fast acht Jahre verheiratet zusein. Das ist ein Fünftel seines Lebens und bedeutend länger, als seine Muttervorhergesagt hatte, als er ihr damals erzählte, dass er eine Frau gefundenhatte, mit der es wohl ernst werden würde. Bedeutend länger.
Obwohl sie ihre Meinung niemals so explizit geäußert hat.
Als er auch diese Zigarette aufgeraucht hat, hebt er seine toteEhefrau hoch und trägt sie ins Zimmer. Legt sie quer über das Doppelbett, ziehtihr T-Shirt und Slip aus, bekommt kurz eine Erektion, aber kümmert sich nichtdarum.
Ein Glück, dass sie so leicht ist, denkt er. Wiegt ja fast nichts.Hebt sie wieder hoch, legt sie sich über die Schulter. Wie er sie wohl tragenmuss? Er hat nur eine dunkle Vorstellung davon, wie der rigor mortis eigentlichfunktioniert, und als er sie wieder aufs Bett kippt, lässt er sie in dergebogenen Form liegen, die sie auf seiner kräftigen Schulter eingenommen hat.
Falls sie erstarren sollte.
Dann holt er das Zelt aus der Garderobe, das leichte Nylonzelt,das er unbedingt hatte mitnehmen wollen, und wickelt es um den Körper.Verknotet es mit den vielen Nylonleinen und stellt fest, dass es richtig adrettaussieht.
Könnte ein Teppich oder so etwas sein.
Ein Riesendolman.
Aber es ist seine Ehefrau. Nackt, tot und hübsch verpackt in einZweimann-Zelt der Marke Exploor. So ist es und nicht anders.
Um halb drei Uhr nachts wacht er nach einem kurzen Schlummer auf.Das Hotel scheint in einen dumpfen Nachtschlaf gesunken zu sein, aber immernoch ist der Lärm des Nachtlebens von der Straße und zum Strand hin zu hören.Er beschließt, noch eine Stunde zu warten.
Genau sechzig Minuten. Trinkt Kaffee, um sich wach zu halten. DieNacht erscheint ihm wie ein Verbündeter.
Das Mietauto ist ein Ford Fiesta, keines der allerkleinstenModelle, und sie hat reichlich Platz im Kofferraum, zusammengefaltet, wie sieist. Er öffnet die Haube mit der rechten Hand und lässt sie von der linkenSchulter hineinrutschen, indem er sich ein wenig vor und zur Seite beugt.Schließt die Kofferhaube, schaut sich um und setzt sich hinters Steuer. Dasging glatt, denkt er. Nicht ein Mensch zu sehen.
Nicht im Hotel und nicht draußen auf der Straße. Er lässt denMotor an und fährt los. Auf seinem Weg aus der Stadt heraus sieht er dreiLebewesen. Ein mageres Katzengerippe, das sich an einer Häuserwandentlangschleicht, und einen Straßenfeger mit seinem Esel. Keiner von ihnennimmt auch nur Notiz von ihm. Ganz einfach, denkt er. Zu sterben ist eine ganzeinfache Sache. Er hat das theoretisch sein ganzes Leben lang gewusst, jetzthat er die Theorie in die Praxis umgesetzt. Genau das macht den Sinn des Lebensaus. Es war ihm seit langem klar. Denn die Handlung des Menschen, das istGottes Gedanke.
Auch an die Schlucht hatte er schon lange gedacht, aber ihr Bildverschwimmt in seiner Erinnerung, und so ist er gezwungen, das erste rosa Lichtder Morgendämmerung abzuwarten, um den richtigen Ort zu finden. Vor zwei Tagensind sie auf dem Weg über den Berg von Sami und die Ostseite hiervorbeigekommen, er erinnert sich daran, dass sie anhalten wollte, um genaudieses Fleckchen zu fotografieren, er erinnert sich daran, dass er ihrnachgegeben, sie aber Probleme gehabt hatte, die richtige Kameraeinstellung zufinden.
Jetzt stehen sie wieder hier. Eigentlich handelt es sich eher umeinen Felsspalt, es ist kaum als Schlucht zu bezeichnen. Ein tiefer Felseinschnittin einer Haarnadelkurve, dreißig, vierzig Meter geht es fast senkrecht nachunten - der Grund verliert sich in einem Wirrwarr dorniger Büsche und Müll, dervon weniger rücksichtsvollen Autofahrern aus heruntergekurbelten Seitenfensternhinausgeworfen wurde.
Er stellt den Motor ab und steigt aus. Schaut sich um. Horcht. Esist zehn Minuten nach fünf. Ein früher Raubvogel steht absolut unbeweglich überdem kargen Berghang im Südwesten. Ganz unten in dem V zwischen zwei anderensteinigen Abhängen kann er eine Handbreit Meer sehen.
Ansonsten Schweigen. Und ein deutlicher Duft von Kräutern, die erkennt, aber nicht benennen kann. Oregano oder Thymian vermutlich. OderBasilikum. Er öffnet den Kofferraum. Überlegt einen Augenblick lang, ob er sieaus der Zeltplane befreien soll, lässt es dann aber. Niemand wird jemals denKörper dort unten finden, und niemand wird von ihm Rechenschaft bezüglich einesZelts fordern. Er hat das Auto noch zwei Tage und kann sich eine Fahrt zuranderen Seite gönnen. Sich der Stangen, Schnüre und Hülle in einem anderenFelsspalt entledigen. Oder im Meer.
Nichts liegt näher auf der Hand. Nichts.
Er schaut sich noch einmal um. Hebt das große Paket und wirft esüber das niedrige Geländer. Es stößt ein paarmal gegen die steilen Wände,bricht durch die trockenen Büsche und verschwindet. Der Raubvogel scheint aufdie Geräusche zu reagieren und sucht sich eine neue Position, ein Stück weiterim Westen.
Er richtet sich auf. Schwer, sich vorzustellen, dass sie daswirklich ist, denkt er. Schwer, bei dem hier wirklich anwesend zu sein.
Zündet sich eine Zigarette an. Er hat in dieser Nacht so vielgeraucht, dass ihm schon die Brust weh tut, aber das ist von untergeordneterBedeutung. Er steigt ins Auto und setzt seinen Weg den Berg hinauf fort.
Zwölf Stunden später - während der heißesten Stunde der Siesta -schiebt er die Glastür des mit Klimaanlage versehenen Büros desReiseveranstalters auf dem großen Marktplatz von Argostoli auf. Sitzt geduldigauf dem klebrigen Plastikstuhl und wartet, während zwei übergewichtige undsonnenverbrannte Frauen der blonden Dame im blauen Kostüm hinter dem Tresen dieMängel ihres Hotels schildern.
Als er mit der Blonden allein ist, setzt er mit seinerverzweifeltsten Stimme an und erklärt ihr das mit seiner Ehefrau.
Dass er sie verloren habe.
Dass sie verschwunden zu sein scheint. Wie vom Erdbodenverschluckt.
Seit gestern am späten Abend, sie wollte noch einmal schnellschwimmen gehen, natürlich könnte es eine ganz natürliche Erklärung dafürgeben, aber es beunruhige ihn doch. Sie war noch nie so lange und ohne Bescheidzu geben fort.
Da sollte man doch etwas unternehmen?
Sich bei irgendwelchen Behörden erkundigen?
Oder den Krankenhäusern?
Oder was tue man in so einem Fall?
Die Dame bietet ihm ein Glas Wasser an und schüttelt besorgt ihrnordisches Haar. Sie kommt nicht aus seinem Land, aber sie verstehen sichdennoch gut. Müssen nicht einmal Englisch miteinander reden. Als sie sich zurSeite nach dem Telefon beugt, kann er eine ihrer Brüste bis zur Brustwarzehinunter sehen, und ein plötzlicher, ziehender Schmerz durchfährt ihn.
Und während sie vergeblich versucht, während dieser heißestenStunde des Tages jemanden am Telefon zu erreichen, überlegt er, wer der andere,von dem seine Ehefrau geredet hatte, wohl sein könnte.
Derjenige, von dem sie behauptete, ihn zu lieben.
Maardam, August bis September 2000
2
Typisch, dachte Monica Kammerle, als sie den Hörer aufgelegthatte. So verdammt typisch. Ich hasse sie.
Sofort holte sie das schlechte Gewissen ein. Wie üblich. Sobaldsie einen negativen Gedanken über ihre Mutter dachte, war es zur Stelle undbrachte sie dazu, sich zu schämen. Das Gewissen. Diese innere, vorwurfsvolleStimme, die ihr sagte, dass man nicht schlecht über seine Mutter denken durfte.Dass man eine gute Tochter sein und stützen statt umstürzen musste.
"Einander stützen statt einander umstürzen", wie sieeinmal vor vielen Jahren in einer Mädchenzeitschrift gelesen hatte. Zu der Zeitwar ihr das so weise erschienen, dass sie es ausgeschnitten und mit Nadeln überihrem Bett befestigt hatte, als sie noch in der Palitzerlaan wohnten.
Inzwischen wohnten sie in der Moerckstraat. Die Vierzimmerwohnungim Deijkstraaviertel - mit hohen Decken und Blick über den Park, den Kanal unddas grünspanbedeckte Dach der Czekarkirche - war zu teuer geworden, als sie nurnoch zu zweit waren. Dennoch hatten sie noch fast drei Jahre lang nach dem Todihres Vaters dort gewohnt; aber zum Schluss war das Geld, das er hinterlassenhatte, unwiderruflich aufgebraucht. Natürlich.
© Verlagsgruppe Random House
Übersetzung: Christel Hildebrandt
- Autor: Hakan Nesser
- 2005, 571 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Hildebrandt, Christel
- Übersetzer: Christel Hildebrandt
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442733251
- ISBN-13: 9783442733255
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