Die schwangere Witwe
Roman
Es ist Sommer 1970, eine Gruppe junger Engländer verbringt ihren Urlaub in Italien. "Auch Frauen haben ein Recht auf fleischliche Begierde" heißt es, und der 22-jährige Keith Nearing weiß den Feminismus für seine Zwecke zu nutzen. Zwischen seiner...
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Produktinformationen zu „Die schwangere Witwe “
Klappentext zu „Die schwangere Witwe “
Es ist Sommer 1970, eine Gruppe junger Engländer verbringt ihren Urlaub in Italien. "Auch Frauen haben ein Recht auf fleischliche Begierde" heißt es, und der 22-jährige Keith Nearing weiß den Feminismus für seine Zwecke zu nutzen. Zwischen seiner treuherzigen Freundin Lily und der scharfen Gloria pendelnd, plant er schon akribisch den nächsten Seitensprung. Bissig, geistreich und urkomisch rechnet Martin Amis, der Bad Boy der Literatur Englands, mit den Errungenschaften der sexuellen Revolution ab. In seinem Roman erzählt er, was passierte, als man der Libido freien Lauf ließ - und er fragt sich, ob vom Karussell der Lust heute nicht mehr als eine "schwangere Witwe" übrig geblieben ist.
Lese-Probe zu „Die schwangere Witwe “
Die schwangere Witwe von Matin AmisÜbersetzt aus dem Englischen von Werner Schmitz
1: WO WAR DIE POLIZEI?
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Er saß unter der brennenden Achse des Muttergestirns mit nacktem Oberkörper am Pool und versuchte sich auf Peregrine Pickle zu konzentrieren. Peregrine hatte soeben (erfolglos) versucht, Emily Gauntlet, seine reiche Verlobte, zu betäuben (und zu vergewaltigen) ... Keith sah immer wieder auf die Uhr.
»Du siehst dauernd auf die Uhr«, sagte Lily.
»Nein, tu ich nicht.«
»Doch, das tust du. Und du bist schon seit sieben hier.«
»Halb neun, Lily. Ein schöner Morgen. Und ich wollte mich von Conchita verabschieden. Weißt du, mit Conchita verbindet mich was. Nicht nur, dass wir beide adoptiert sind ... Jedenfalls habe ich nicht an die Uhrzeit gedacht. Sondern daran, wie man Mädchen betäubt. Die machen das alle.«
Lily sagte: »Was hat die Uhrzeit mit dem Betäuben von Mädchen zu tun? Ich nehme an, Mädchen zu betäuben war damals deine einzige Hoffnung. Anders ging es bei dir nicht.«
»Ja.« Jetzt dachte er an eine weitere Exfreundin: Doris. »Ja. Statt ihnen was von der sexuellen Revolution vorzufaseln. Ihnen mit der sexuellen Revolution die Ohren vollzuquatschen ... Hast du dich schon entschieden? Ob du deinen Oberkörper bräunen willst?«
»Ja. Und die Antwort ist nein. Versetz dich mal in meine Lage. Würdest du hier gerne nackt neben Tarzan sitzen?«
Er stand auf und schlenderte an den Rand des Pools. Oona und Amen hatten unabhängig voneinander ihre Morgenbahnen gezogen und waren wieder gegangen; und Keith dachte über die trügerische Optik des Schwimmbeckens nach. Wände und Boden waren metallisch grau. War das Wasser unbewegt, glänzte seine Oberfläche fest und undurchdringlich wie ein Spiegel; kräuselte sich das Wasser oder wechselte das Licht (von Schatten zu blendender Helle, aber auch von blendender Helle zu Schatten), wurde die Oberfläche durchscheinend, und man konnte den dicken Stöpsel am Grund der tiefen Seite und sogar einzelne Münzen oder eine Haarspange sehen. Ihm war das ein Rätsel, diese neue graue Welt aus Glas und Undurchsichtigkeit, die nichts mit dem wackligen, schlüpfrigen, gebahnten Blau der Schwimmbecken seiner Jugend gemein hatte.
»Da kommt sie.«
Scheherazade dekantierte sich die drei Stufen des terrassierten Hangs hinunter und schritt an Lauben und Treibhäusern vorbei auf das Wasser zu, barfuß, aber in Tenniskleidung - hellgrüner gesteppter Rock und gelbe Fred-Perry-Bluse. Sie wand sich aus dem unteren Teil (Keith dachte an das Schälen eines Apfels) und zog das obere über den Kopf; sodann breitete sie ihre langen Arme zu Flügeln, hakte das Oberteil ihres Bikinis auf (weg war es - einfach so) und sagte: »Ich hab noch was Ödes.«
Natürlich war auch das nicht öde. Andererseits wäre es beschämend unreif und bürgerlich (und uncool) gewesen, auch nur die geringste Notiz von dem zu nehmen, was da jetzt ausgestellt war; also hatte Keith die schwierige Aufgabe, Lily anzusehen (in Morgenmantel und Flipflops und immer noch im Schatten) und gleichzeitig mit einem Bild zu kommunizieren, dem es fürs erste beschieden war, in der einsamsten Wildnis am äußersten Rand seines Blickfelds zu verharren. Nach etwa dreißig Sekunden hob Keith, um die Muskeln in seinem angespannten Hals zu lockern, den Kopf und richtete den Blick auf die goldenen Hänge des Gebirgsmassivs unter einem hellblauen Himmel. Lily fragte gähnend:
»Noch was Ödes? Was war denn das andere?«
»Na ja, ich habe eben erfahren -«
»Nein, was war das andere Öde?«
Lily sah Scheherazade an. Keith auch ... Und das war der Gedanke, das war die Frage, auf die sie ihn brachten, Scheherazades Brüste (die verschwisterten Rundungen, bipolar, austauschbar): Wo war die Polizei? Wo um alles in der Welt war die Polizei? Eine Frage, die er sich in diesen unsicheren Zeiten häufig stellte. Wo war sie, die Polizei? Scheherazade sagte: »Entschuldige, ich kann dir nicht folgen.«
»Ich meine, was war das erste Öde?«
»Das Bad«, sagte Keith. »Dass wir es uns teilen müssen. Die Klingel.«
»Aha. Und was ist jetzt das zweite Öde?«
»Lasst mich erst mal ins Wasser.«
Scheherazade tat einen Schritt nach vorn, ging weiter und tauchte unter ... Ja, die unsägliche Öde des gemeinsam benutzten Bades, wo Scheherazade am Nachmittag zuvor, beide Fäuste um den Saum eines rosa T-Shirts gekrallt, mit zusammengepressten Knien in winzigen Trippelschritten lachend vor ihm zurückgewichen war ... Jetzt tauchte sie auf, straffte sämtliche Sehnen und kletterte, bedeckt mit schimmernden Wasserperlen, aus dem Becken. Und alles lag vor einem ausgebreitet. Oben ohne, wie von der Natur gewollt. Und doch schien der Anblick ihm unnatürlich - unvertretbar, wie ein Vergreifen im Ton. Die Zikaden drehten ihre Lautstärke auf, die Sonne gleißte. Sie sagte: »Gerade kalt genug. Lauwarme Suppe kann ich nicht ausstehen. Körpertemperatur. «
Lily sagte: »Ist das zweite Öde öder als das erste Öde?«
»Ungefähr gleich - nein, öder. Man bringt uns zusammen. Na ja. Das soll uns auf die Probe stellen. Gloria«, sagte Scheherazade und legte sich mit hinterm Kopf verschränkten Händen auf den Rücken. »Gloria. Für die Jorquil so schwärmt. Sie hat sich mächtig blamiert und soll jetzt erst mal in Parda leben - hier bei uns. Gloria Beautyman. Beautyman. Wenn das kein sprechender Name ist. Sie ist älter als wir. Zweiundzwanzig. Oder dreiundzwanzig. Tja, was sollen wir machen? Immerhin gehört Jorq das Schloss.«
Keith war Jorquil einmal begegnet, das heißt, er hatte ein, zwei Minuten in seiner Nähe gestanden - Jorquil, Scheherazades Onkel, dreißig Jahre alt (eine solche Familie war das). Jetzt sagte Keith: »Guter Name. Gloria Beautyman.«
»Allerdings«, sagte Lily vorsichtig. »Aber wird sie dem auch gerecht? Ist sie wirklich schön?«
»Irgendwie schon. Weiß nicht. Ich finde sie gewöhnungsbedürftig. Ziemlich seltsame Gestalt. Jorq ist verrückt nach ihr. Er sagt, was Besseres als sie gibt es nicht. Miss Universum nennt er sie. Wieso stammt Miss Universum immer vom Planeten Erde? Er will sie heiraten. Ich kapiere das nicht. Jorqs normale Freundinnen sehen wie Filmstars aus.«
»Ach?«
»Ja, ich weiß. Er ist kein Adonis, aber sehr reich. Und sehr leidenschaftlich. Und Gloria ... bestimmt hat sie verborgene Qualitäten. Trotzdem.
Die Ärmste. Nach einem einzigen Glas Champagner ringt sie zwei Wochen lang mit dem Tod und kann jetzt gerade mal mit Mühe aufrecht im Bett sitzen.«
»Wie hat sie sich blamiert? Was hat sie getan? Wissen wir das?«
»Es ging um Sex«, sagte Scheherazade, und ihre Zähne blitzten in der Sonne gefräßig auf. »Und ich war dabei.«
»Oh, erzähl.«
»Ich habe geschworen, den Mund zu halten. Also lieber nicht. Nein, ausgeschlossen.«
»Scheherazade!«, sagte Lily.
»Nein, ich kann wirklich nicht.«
»Scheherazade!«
»Also gut, von mir aus. Aber wir dürfen niemals ... Gott, so was habe ich noch nie erlebt. Das war so untypisch für sie. Eigentlich ist sie eher der spröde Typ. Aus Edinburgh. Katholisch. Damenhaft. Sie ist fast gestorben vor Scham. Warten wir noch auf Whittaker. Er liebt solche Geschichten. «
Whittaker kam jetzt in Espadrilles, Khakishorts und zerfranstem Strohhut den Pfad herunter, gefolgt von einem kaum wahrnehmbaren, aber eindeutig verschüchterten Amen, der hinter ihm zwischen den Setzlingen auf der zweiten Ebene zurückblieb. Keith überlegte. Obsession - positiv, negativ. Von lat. obsidere »belagern«. Amen, umzingelt von Scheherazades Brüsten.
»Ich dachte, die sind nach Neapel«, sagte Lily, »um Ruaa abzuholen. Ihr wisst schon. Blob.«
Scheherazade sagte: »Vor Whittaker solltest du sie nicht Blob nennen. Er findet das ungehörig ... Was hat Amen denn, Whittaker? Er sieht so gehetzt aus.«
Whittaker blieb eine Antwort schuldig, er stöhnte bloß und setzte sich.
»Eine Dame hat sich blamiert, Whittaker«, sagte Keith beschwichtigend. »Es geht um Sex. Die Dame stirbt vor Scham.«
»Nein, Gloria lebt noch«, sagte Scheherazade. »Die Sache war so. Sie hatte für so einen Sexbonzen ein paar Bilder gemalt. Und wir -«
»Nein, warte«, sagte Lily. »Was soll das sein, ein Sexbonze?«
»Der Mann produziert Sexrevuen, aber nicht Oh! Calcutta! ... Gloria ist eigentlich Tänzerin. Beim Royal Ballet. Aber sie ist auch Malerin. Und für diesen Sexbonzen hat sie ein paar Bildchen gemalt. Von Tänzern, die es in der Luft treiben.«
»In der Luft?«, fragte Lily gereizt. »In der Luft?«
»Tänzer, die es in der Luft treiben. Und als der Sexbonze in Wiltshire eine große Party gab, bekam Gloria eine Einladung, und da es nur eine Fahrt von sechzig Meilen war, sind wir hin. Und da hat sie sich zum Affen gemacht. So was habe ich noch nicht erlebt.«
Keith sank zurück. Die Sonne, die Zikaden, die Brüste, die Schmetterlinge, der ätzende Kaffeegeschmack in seinem Mund, der feurige Gaumenkitzel von der französischen Zigarette, die Geschichte einer sexuellen Blamage, die mal nichts mit seiner Schwester zu tun hatte ... Er sagte: »Lass bitte nichts aus, Scheherazade. Erzähl uns das in allen Einzelheiten. «
»Also gut. Als erstes ist sie fast im Pool ertrunken. Moment. Jorquil hat uns hingebracht. Er sagte: Passt auf sie auf. Achtet um Gottes willen darauf, dass sie nichts trinkt. Weil sie das nicht gewöhnt ist. Sie kann das nicht. Aber sie schien sehr nervös. Und wer sagt's denn, ich geh nur mal aufs Klo, und als ich zurückkomme, kippt sie gerade ein Riesenglas Champagner. So was habe ich noch nie gesehen. Sie war nicht wiederzuerkennen. «
»Ist sie klein?«, sagte Keith. »Das kann schon mal passieren, wenn sie klein sind.«
»Sie ist ziemlich klein. Aber auch nicht so klein. Hinterher war ihr tagelang so furchtbar schlecht, dass sie im Bett bleiben musste. Wir dachten, wir dachten wirklich, Gloria würde vor Scham sterben, die Ärmste.«
»Und natürlich hat es auf der Party«, sagte Lily, »von Flittchen gewimmelt. «
»Nicht direkt. Na ja, da waren schon ein paar schwer attraktive Typen und Mädchen am Pool. Ihr wisst schon. Leute, die aussehen wie Milchschokolade. Aber es gab Regeln. Kein Oben-ohne. Kein Sex. Und Gloria war nicht oben ohne. O nein. Sie war unten ohne. Bevor sie fast ertrunken ist, hat sie ihr Bikinihöschen verloren. Sie sagte, das sei ihr vom Jacuzzi weggesaugt worden.«
»... Das sei ihr vom Jacuzzi weggesaugt worden«, sagte Whittaker.
»Phantastisch.«
»Das hat sie wortwörtlich so gesagt. Das hat mir der Jacuzzi weggesaugt. Als der Kerl, ein Polo-Profi, sie rausgefischt hatte, hielt er sie an den Fußknöcheln mit dem Kopf nach unten und schüttelte sie ordentlich durch. Das war vielleicht ein Anblick. Und kaum hatten wir sie wieder in ihre Sachen gesteckt, rannte sie nach oben, zur Tanzfläche. Und da haben die Männer sie zwischen sich hin und her geworfen und begrapscht. Eine völlig unwirkliche Szene. Und die haben sie begrapscht. Aber so richtig.«
Keith sagte: »So richtig? Wie denn?«
»Na ja. Als ich wieder reinkam, war ihr Kleid weit hochgerutscht. Und nicht nur das - es war in ihrem Hüftgürtel festgesteckt. Damit es oben blieb. Und könnt ihr's glauben. Der Mann, der grade seine Zunge in ihrem Ohr hatte, streichelte ihren Arsch mit beiden Händen in ihrem Höschen.«
Schweigen.
Whittaker sagte: »Auch das ist erstklassig. In ihrem Höschen.«
»Zwei große haarige Fäuste in ihrem Höschen ... Das war so untypisch für sie.«
»In vino veritas«, sagte Lily.
»Nein«, sagte Keith. Aber mehr sagte er nicht. Wahrheit im Wein? Wahrheit in Special Brew und Southern Comfort, Wahrheit in Pink Ladys? Dann hätten Clarissa Harlowe und Emily Gauntlet im betäubten Zustand ihre wahre Natur gezeigt? Nein. Aber wenn ein Mädchen (Gloria, Violet) den Trank an seine Lippen führte - dann hatte man es mit veritas zu tun. Er sagte unbehaglich: »Man sollte meinen, dass sie sich kennen müsste. Gloria Beautyman.«
»Allerdings. Aber es kommt noch mehr. Oben im Bad mit dem Polo- Profi.«
Über der Terrasse am Pool zog sich ein nachdenkliches Schweigen zusammen.
»Ehrlich gesagt, nach alldem war das etwas enttäuschend. Jorquil kam gegen vier, um uns abzuholen, und sie war nirgendwo zu finden. Wir gingen rauf, aber da waren alle Zimmer abgeschlossen. Vorsichtsmaßnahme. Und dann - im Flur. Da waren so zwei riesige Tussis, Marke Playmate. Oder eher Explaymate. Unglaubliche Gestalten. Wie abgehalfterte Rennpferde. Die hatten schon den ganzen Tag versucht, sie zu bändigen. Und jetzt hämmerten sie an die Badezimmertür und riefen Sachen wie: Kommst du jetzt, Gloria? Hast du schon gespült, Gloria? Schließlich ging die Tür auf, und sie kam rausgetorkelt. Und hinter ihr der Polo-Profi.«
»Und was hat Jorquil dazu gesagt?«
»Der war schon wieder weg. Hat nichts mitbekommen.«
Sie warteten.
»Also, die waren nur ein paar Minuten dadrin. Der Polo-Profi hat behauptet, da war nichts, alles ganz harmlos. Nur ein bisschen Kokain. Ich nehme an, die haben nur geknutscht. Der Polo-Profi hatte Lippenstift am Hals. Nicht verschmiert. Ein kleiner Lächelmund. Man konnte sich sogar die kleinen Lächelzähne vorstellen ...«
Whittaker sagte: »Was für eine Enttäuschung.«
»Ich weiß. Trotzdem, im Auto hat sie geheult wie ein Schlosshund. Und danach hat sie immer wieder an Selbstmord gedacht.«
Scheherazade rieb sich mit den Knöcheln die Augen, wie ein Kind ... In einem englischen Roman hatte er gelesen, Männer wüssten, warum Frauenbrüste ihnen gefallen - aber sie wüssten nicht, warum sie ihnen so sehr gefallen. Keith, dem sie so sehr gefielen, wusste nicht einmal, warum sie ihm gefielen. Warum? Also wirklich, sagte er sich: Zähl doch mal nüchtern ihre Stärken und Vorzüge auf. Und doch lenkten sie einen irgendwie auf das Ideal hin. Das muss mit dem Universum zusammenhängen, dachte Keith, mit Planeten, mit Sonnen und Monden.
Die Jungen laufen ständig mit leichtem Fieber herum; meiner Meinung nach spielt einem die Erinnerung einen Streich, wenn man annimmt, dass Zwanzigjährige sich immerzu gut fühlen. Wenige Minuten nach dem Ende von Scheherazades Gutenachtgeschichte stemmte Keith sich hoch (schon von etwas so Simplem wie Aufstehen konnte ihm manchmal schwindlig werden) und entschuldigte sich. Zu Hause, früher, hätte er jetzt kläglich nach Sandy gerufen, der sanftmütigen Schäferhündin mit dem schwarzgelb gemaserten Fell; und Sandy mit ihrer faltigen Stirn hätte sich zu ihm auf die Decke gesellt und die Innenseiten seiner Handgelenke geleckt ... Zwanzigjährige haben mit der Schwerkraft zu kämpfen und zeigen die klassischen Symptome einer Dekompression. Schmerzen in Muskeln und Gelenken, Krämpfe, Taubheitsgefühl, Übelkeit, Lähmung. Nach einem tragischen Nickerchen im Turm stand Keith wieder auf, ging nach nebenan und hielt seinen Kopf unter den Wasserhahn. Nun würde er, da war er sicher, bald wieder glücklich sein. Wo kam das her, das Glücksgefühl, das sein Gesicht wieder in Form brachte?
Anders als die meisten hatte Keith sich in seine Familie verlieben müssen, und seine Familie hatte sich in ihn verlieben müssen. Das ging mit seiner Mutter, Tina, es ging mit Violet - mit Violet war es sogar einfach. Aber mit seinem Vater, Karl, ging es nie so richtig. Und mit Nicholas ging es fast zehn Jahre lang nicht. Als Keith auftauchte, als er auf die Bühne taumelte, achtzehn Monate alt, lag in den Augen des fünfjährigen Nicholas, wie er von Tina wusste, der stumpfe Ausdruck eines Verratenen. Und Nicholas machte eine Art Hobby daraus, seinen kleinen Bruder mit Worten oder Taten zu peinigen. Und Keith akzeptierte das. Es war sein Leben.
Zwei Wochen nach seinem elften Geburtstag machte Keith seine Matheaufgaben im Frühstückszimmer. Eine kranke Wespe krabbelte an der Fensterscheibe hoch, fiel runter, krabbelte hoch und fiel wieder runter. Er fühlte Nicholas hinter sich auftauchen. Inzwischen war es besser (vor allem dank Violet und ihren tränenreichen Fürsprachen); trotzdem zuckte er zusammen. Und Nicholas sagte: Ich habe beschlossen, dass es mir gefällt, einen jüngeren Bruder zu haben. Keith nickte, ohne sich umzudrehen, und die Zahlen vor seinen Augen drifteten auseinander und wieder zusammen, und er fing an, glücklich zu sein.
© Carl Hanser Verlag, München
Er saß unter der brennenden Achse des Muttergestirns mit nacktem Oberkörper am Pool und versuchte sich auf Peregrine Pickle zu konzentrieren. Peregrine hatte soeben (erfolglos) versucht, Emily Gauntlet, seine reiche Verlobte, zu betäuben (und zu vergewaltigen) ... Keith sah immer wieder auf die Uhr.
»Du siehst dauernd auf die Uhr«, sagte Lily.
»Nein, tu ich nicht.«
»Doch, das tust du. Und du bist schon seit sieben hier.«
»Halb neun, Lily. Ein schöner Morgen. Und ich wollte mich von Conchita verabschieden. Weißt du, mit Conchita verbindet mich was. Nicht nur, dass wir beide adoptiert sind ... Jedenfalls habe ich nicht an die Uhrzeit gedacht. Sondern daran, wie man Mädchen betäubt. Die machen das alle.«
Lily sagte: »Was hat die Uhrzeit mit dem Betäuben von Mädchen zu tun? Ich nehme an, Mädchen zu betäuben war damals deine einzige Hoffnung. Anders ging es bei dir nicht.«
»Ja.« Jetzt dachte er an eine weitere Exfreundin: Doris. »Ja. Statt ihnen was von der sexuellen Revolution vorzufaseln. Ihnen mit der sexuellen Revolution die Ohren vollzuquatschen ... Hast du dich schon entschieden? Ob du deinen Oberkörper bräunen willst?«
»Ja. Und die Antwort ist nein. Versetz dich mal in meine Lage. Würdest du hier gerne nackt neben Tarzan sitzen?«
Er stand auf und schlenderte an den Rand des Pools. Oona und Amen hatten unabhängig voneinander ihre Morgenbahnen gezogen und waren wieder gegangen; und Keith dachte über die trügerische Optik des Schwimmbeckens nach. Wände und Boden waren metallisch grau. War das Wasser unbewegt, glänzte seine Oberfläche fest und undurchdringlich wie ein Spiegel; kräuselte sich das Wasser oder wechselte das Licht (von Schatten zu blendender Helle, aber auch von blendender Helle zu Schatten), wurde die Oberfläche durchscheinend, und man konnte den dicken Stöpsel am Grund der tiefen Seite und sogar einzelne Münzen oder eine Haarspange sehen. Ihm war das ein Rätsel, diese neue graue Welt aus Glas und Undurchsichtigkeit, die nichts mit dem wackligen, schlüpfrigen, gebahnten Blau der Schwimmbecken seiner Jugend gemein hatte.
»Da kommt sie.«
Scheherazade dekantierte sich die drei Stufen des terrassierten Hangs hinunter und schritt an Lauben und Treibhäusern vorbei auf das Wasser zu, barfuß, aber in Tenniskleidung - hellgrüner gesteppter Rock und gelbe Fred-Perry-Bluse. Sie wand sich aus dem unteren Teil (Keith dachte an das Schälen eines Apfels) und zog das obere über den Kopf; sodann breitete sie ihre langen Arme zu Flügeln, hakte das Oberteil ihres Bikinis auf (weg war es - einfach so) und sagte: »Ich hab noch was Ödes.«
Natürlich war auch das nicht öde. Andererseits wäre es beschämend unreif und bürgerlich (und uncool) gewesen, auch nur die geringste Notiz von dem zu nehmen, was da jetzt ausgestellt war; also hatte Keith die schwierige Aufgabe, Lily anzusehen (in Morgenmantel und Flipflops und immer noch im Schatten) und gleichzeitig mit einem Bild zu kommunizieren, dem es fürs erste beschieden war, in der einsamsten Wildnis am äußersten Rand seines Blickfelds zu verharren. Nach etwa dreißig Sekunden hob Keith, um die Muskeln in seinem angespannten Hals zu lockern, den Kopf und richtete den Blick auf die goldenen Hänge des Gebirgsmassivs unter einem hellblauen Himmel. Lily fragte gähnend:
»Noch was Ödes? Was war denn das andere?«
»Na ja, ich habe eben erfahren -«
»Nein, was war das andere Öde?«
Lily sah Scheherazade an. Keith auch ... Und das war der Gedanke, das war die Frage, auf die sie ihn brachten, Scheherazades Brüste (die verschwisterten Rundungen, bipolar, austauschbar): Wo war die Polizei? Wo um alles in der Welt war die Polizei? Eine Frage, die er sich in diesen unsicheren Zeiten häufig stellte. Wo war sie, die Polizei? Scheherazade sagte: »Entschuldige, ich kann dir nicht folgen.«
»Ich meine, was war das erste Öde?«
»Das Bad«, sagte Keith. »Dass wir es uns teilen müssen. Die Klingel.«
»Aha. Und was ist jetzt das zweite Öde?«
»Lasst mich erst mal ins Wasser.«
Scheherazade tat einen Schritt nach vorn, ging weiter und tauchte unter ... Ja, die unsägliche Öde des gemeinsam benutzten Bades, wo Scheherazade am Nachmittag zuvor, beide Fäuste um den Saum eines rosa T-Shirts gekrallt, mit zusammengepressten Knien in winzigen Trippelschritten lachend vor ihm zurückgewichen war ... Jetzt tauchte sie auf, straffte sämtliche Sehnen und kletterte, bedeckt mit schimmernden Wasserperlen, aus dem Becken. Und alles lag vor einem ausgebreitet. Oben ohne, wie von der Natur gewollt. Und doch schien der Anblick ihm unnatürlich - unvertretbar, wie ein Vergreifen im Ton. Die Zikaden drehten ihre Lautstärke auf, die Sonne gleißte. Sie sagte: »Gerade kalt genug. Lauwarme Suppe kann ich nicht ausstehen. Körpertemperatur. «
Lily sagte: »Ist das zweite Öde öder als das erste Öde?«
»Ungefähr gleich - nein, öder. Man bringt uns zusammen. Na ja. Das soll uns auf die Probe stellen. Gloria«, sagte Scheherazade und legte sich mit hinterm Kopf verschränkten Händen auf den Rücken. »Gloria. Für die Jorquil so schwärmt. Sie hat sich mächtig blamiert und soll jetzt erst mal in Parda leben - hier bei uns. Gloria Beautyman. Beautyman. Wenn das kein sprechender Name ist. Sie ist älter als wir. Zweiundzwanzig. Oder dreiundzwanzig. Tja, was sollen wir machen? Immerhin gehört Jorq das Schloss.«
Keith war Jorquil einmal begegnet, das heißt, er hatte ein, zwei Minuten in seiner Nähe gestanden - Jorquil, Scheherazades Onkel, dreißig Jahre alt (eine solche Familie war das). Jetzt sagte Keith: »Guter Name. Gloria Beautyman.«
»Allerdings«, sagte Lily vorsichtig. »Aber wird sie dem auch gerecht? Ist sie wirklich schön?«
»Irgendwie schon. Weiß nicht. Ich finde sie gewöhnungsbedürftig. Ziemlich seltsame Gestalt. Jorq ist verrückt nach ihr. Er sagt, was Besseres als sie gibt es nicht. Miss Universum nennt er sie. Wieso stammt Miss Universum immer vom Planeten Erde? Er will sie heiraten. Ich kapiere das nicht. Jorqs normale Freundinnen sehen wie Filmstars aus.«
»Ach?«
»Ja, ich weiß. Er ist kein Adonis, aber sehr reich. Und sehr leidenschaftlich. Und Gloria ... bestimmt hat sie verborgene Qualitäten. Trotzdem.
Die Ärmste. Nach einem einzigen Glas Champagner ringt sie zwei Wochen lang mit dem Tod und kann jetzt gerade mal mit Mühe aufrecht im Bett sitzen.«
»Wie hat sie sich blamiert? Was hat sie getan? Wissen wir das?«
»Es ging um Sex«, sagte Scheherazade, und ihre Zähne blitzten in der Sonne gefräßig auf. »Und ich war dabei.«
»Oh, erzähl.«
»Ich habe geschworen, den Mund zu halten. Also lieber nicht. Nein, ausgeschlossen.«
»Scheherazade!«, sagte Lily.
»Nein, ich kann wirklich nicht.«
»Scheherazade!«
»Also gut, von mir aus. Aber wir dürfen niemals ... Gott, so was habe ich noch nie erlebt. Das war so untypisch für sie. Eigentlich ist sie eher der spröde Typ. Aus Edinburgh. Katholisch. Damenhaft. Sie ist fast gestorben vor Scham. Warten wir noch auf Whittaker. Er liebt solche Geschichten. «
Whittaker kam jetzt in Espadrilles, Khakishorts und zerfranstem Strohhut den Pfad herunter, gefolgt von einem kaum wahrnehmbaren, aber eindeutig verschüchterten Amen, der hinter ihm zwischen den Setzlingen auf der zweiten Ebene zurückblieb. Keith überlegte. Obsession - positiv, negativ. Von lat. obsidere »belagern«. Amen, umzingelt von Scheherazades Brüsten.
»Ich dachte, die sind nach Neapel«, sagte Lily, »um Ruaa abzuholen. Ihr wisst schon. Blob.«
Scheherazade sagte: »Vor Whittaker solltest du sie nicht Blob nennen. Er findet das ungehörig ... Was hat Amen denn, Whittaker? Er sieht so gehetzt aus.«
Whittaker blieb eine Antwort schuldig, er stöhnte bloß und setzte sich.
»Eine Dame hat sich blamiert, Whittaker«, sagte Keith beschwichtigend. »Es geht um Sex. Die Dame stirbt vor Scham.«
»Nein, Gloria lebt noch«, sagte Scheherazade. »Die Sache war so. Sie hatte für so einen Sexbonzen ein paar Bilder gemalt. Und wir -«
»Nein, warte«, sagte Lily. »Was soll das sein, ein Sexbonze?«
»Der Mann produziert Sexrevuen, aber nicht Oh! Calcutta! ... Gloria ist eigentlich Tänzerin. Beim Royal Ballet. Aber sie ist auch Malerin. Und für diesen Sexbonzen hat sie ein paar Bildchen gemalt. Von Tänzern, die es in der Luft treiben.«
»In der Luft?«, fragte Lily gereizt. »In der Luft?«
»Tänzer, die es in der Luft treiben. Und als der Sexbonze in Wiltshire eine große Party gab, bekam Gloria eine Einladung, und da es nur eine Fahrt von sechzig Meilen war, sind wir hin. Und da hat sie sich zum Affen gemacht. So was habe ich noch nicht erlebt.«
Keith sank zurück. Die Sonne, die Zikaden, die Brüste, die Schmetterlinge, der ätzende Kaffeegeschmack in seinem Mund, der feurige Gaumenkitzel von der französischen Zigarette, die Geschichte einer sexuellen Blamage, die mal nichts mit seiner Schwester zu tun hatte ... Er sagte: »Lass bitte nichts aus, Scheherazade. Erzähl uns das in allen Einzelheiten. «
»Also gut. Als erstes ist sie fast im Pool ertrunken. Moment. Jorquil hat uns hingebracht. Er sagte: Passt auf sie auf. Achtet um Gottes willen darauf, dass sie nichts trinkt. Weil sie das nicht gewöhnt ist. Sie kann das nicht. Aber sie schien sehr nervös. Und wer sagt's denn, ich geh nur mal aufs Klo, und als ich zurückkomme, kippt sie gerade ein Riesenglas Champagner. So was habe ich noch nie gesehen. Sie war nicht wiederzuerkennen. «
»Ist sie klein?«, sagte Keith. »Das kann schon mal passieren, wenn sie klein sind.«
»Sie ist ziemlich klein. Aber auch nicht so klein. Hinterher war ihr tagelang so furchtbar schlecht, dass sie im Bett bleiben musste. Wir dachten, wir dachten wirklich, Gloria würde vor Scham sterben, die Ärmste.«
»Und natürlich hat es auf der Party«, sagte Lily, »von Flittchen gewimmelt. «
»Nicht direkt. Na ja, da waren schon ein paar schwer attraktive Typen und Mädchen am Pool. Ihr wisst schon. Leute, die aussehen wie Milchschokolade. Aber es gab Regeln. Kein Oben-ohne. Kein Sex. Und Gloria war nicht oben ohne. O nein. Sie war unten ohne. Bevor sie fast ertrunken ist, hat sie ihr Bikinihöschen verloren. Sie sagte, das sei ihr vom Jacuzzi weggesaugt worden.«
»... Das sei ihr vom Jacuzzi weggesaugt worden«, sagte Whittaker.
»Phantastisch.«
»Das hat sie wortwörtlich so gesagt. Das hat mir der Jacuzzi weggesaugt. Als der Kerl, ein Polo-Profi, sie rausgefischt hatte, hielt er sie an den Fußknöcheln mit dem Kopf nach unten und schüttelte sie ordentlich durch. Das war vielleicht ein Anblick. Und kaum hatten wir sie wieder in ihre Sachen gesteckt, rannte sie nach oben, zur Tanzfläche. Und da haben die Männer sie zwischen sich hin und her geworfen und begrapscht. Eine völlig unwirkliche Szene. Und die haben sie begrapscht. Aber so richtig.«
Keith sagte: »So richtig? Wie denn?«
»Na ja. Als ich wieder reinkam, war ihr Kleid weit hochgerutscht. Und nicht nur das - es war in ihrem Hüftgürtel festgesteckt. Damit es oben blieb. Und könnt ihr's glauben. Der Mann, der grade seine Zunge in ihrem Ohr hatte, streichelte ihren Arsch mit beiden Händen in ihrem Höschen.«
Schweigen.
Whittaker sagte: »Auch das ist erstklassig. In ihrem Höschen.«
»Zwei große haarige Fäuste in ihrem Höschen ... Das war so untypisch für sie.«
»In vino veritas«, sagte Lily.
»Nein«, sagte Keith. Aber mehr sagte er nicht. Wahrheit im Wein? Wahrheit in Special Brew und Southern Comfort, Wahrheit in Pink Ladys? Dann hätten Clarissa Harlowe und Emily Gauntlet im betäubten Zustand ihre wahre Natur gezeigt? Nein. Aber wenn ein Mädchen (Gloria, Violet) den Trank an seine Lippen führte - dann hatte man es mit veritas zu tun. Er sagte unbehaglich: »Man sollte meinen, dass sie sich kennen müsste. Gloria Beautyman.«
»Allerdings. Aber es kommt noch mehr. Oben im Bad mit dem Polo- Profi.«
Über der Terrasse am Pool zog sich ein nachdenkliches Schweigen zusammen.
»Ehrlich gesagt, nach alldem war das etwas enttäuschend. Jorquil kam gegen vier, um uns abzuholen, und sie war nirgendwo zu finden. Wir gingen rauf, aber da waren alle Zimmer abgeschlossen. Vorsichtsmaßnahme. Und dann - im Flur. Da waren so zwei riesige Tussis, Marke Playmate. Oder eher Explaymate. Unglaubliche Gestalten. Wie abgehalfterte Rennpferde. Die hatten schon den ganzen Tag versucht, sie zu bändigen. Und jetzt hämmerten sie an die Badezimmertür und riefen Sachen wie: Kommst du jetzt, Gloria? Hast du schon gespült, Gloria? Schließlich ging die Tür auf, und sie kam rausgetorkelt. Und hinter ihr der Polo-Profi.«
»Und was hat Jorquil dazu gesagt?«
»Der war schon wieder weg. Hat nichts mitbekommen.«
Sie warteten.
»Also, die waren nur ein paar Minuten dadrin. Der Polo-Profi hat behauptet, da war nichts, alles ganz harmlos. Nur ein bisschen Kokain. Ich nehme an, die haben nur geknutscht. Der Polo-Profi hatte Lippenstift am Hals. Nicht verschmiert. Ein kleiner Lächelmund. Man konnte sich sogar die kleinen Lächelzähne vorstellen ...«
Whittaker sagte: »Was für eine Enttäuschung.«
»Ich weiß. Trotzdem, im Auto hat sie geheult wie ein Schlosshund. Und danach hat sie immer wieder an Selbstmord gedacht.«
Scheherazade rieb sich mit den Knöcheln die Augen, wie ein Kind ... In einem englischen Roman hatte er gelesen, Männer wüssten, warum Frauenbrüste ihnen gefallen - aber sie wüssten nicht, warum sie ihnen so sehr gefallen. Keith, dem sie so sehr gefielen, wusste nicht einmal, warum sie ihm gefielen. Warum? Also wirklich, sagte er sich: Zähl doch mal nüchtern ihre Stärken und Vorzüge auf. Und doch lenkten sie einen irgendwie auf das Ideal hin. Das muss mit dem Universum zusammenhängen, dachte Keith, mit Planeten, mit Sonnen und Monden.
Die Jungen laufen ständig mit leichtem Fieber herum; meiner Meinung nach spielt einem die Erinnerung einen Streich, wenn man annimmt, dass Zwanzigjährige sich immerzu gut fühlen. Wenige Minuten nach dem Ende von Scheherazades Gutenachtgeschichte stemmte Keith sich hoch (schon von etwas so Simplem wie Aufstehen konnte ihm manchmal schwindlig werden) und entschuldigte sich. Zu Hause, früher, hätte er jetzt kläglich nach Sandy gerufen, der sanftmütigen Schäferhündin mit dem schwarzgelb gemaserten Fell; und Sandy mit ihrer faltigen Stirn hätte sich zu ihm auf die Decke gesellt und die Innenseiten seiner Handgelenke geleckt ... Zwanzigjährige haben mit der Schwerkraft zu kämpfen und zeigen die klassischen Symptome einer Dekompression. Schmerzen in Muskeln und Gelenken, Krämpfe, Taubheitsgefühl, Übelkeit, Lähmung. Nach einem tragischen Nickerchen im Turm stand Keith wieder auf, ging nach nebenan und hielt seinen Kopf unter den Wasserhahn. Nun würde er, da war er sicher, bald wieder glücklich sein. Wo kam das her, das Glücksgefühl, das sein Gesicht wieder in Form brachte?
Anders als die meisten hatte Keith sich in seine Familie verlieben müssen, und seine Familie hatte sich in ihn verlieben müssen. Das ging mit seiner Mutter, Tina, es ging mit Violet - mit Violet war es sogar einfach. Aber mit seinem Vater, Karl, ging es nie so richtig. Und mit Nicholas ging es fast zehn Jahre lang nicht. Als Keith auftauchte, als er auf die Bühne taumelte, achtzehn Monate alt, lag in den Augen des fünfjährigen Nicholas, wie er von Tina wusste, der stumpfe Ausdruck eines Verratenen. Und Nicholas machte eine Art Hobby daraus, seinen kleinen Bruder mit Worten oder Taten zu peinigen. Und Keith akzeptierte das. Es war sein Leben.
Zwei Wochen nach seinem elften Geburtstag machte Keith seine Matheaufgaben im Frühstückszimmer. Eine kranke Wespe krabbelte an der Fensterscheibe hoch, fiel runter, krabbelte hoch und fiel wieder runter. Er fühlte Nicholas hinter sich auftauchen. Inzwischen war es besser (vor allem dank Violet und ihren tränenreichen Fürsprachen); trotzdem zuckte er zusammen. Und Nicholas sagte: Ich habe beschlossen, dass es mir gefällt, einen jüngeren Bruder zu haben. Keith nickte, ohne sich umzudrehen, und die Zahlen vor seinen Augen drifteten auseinander und wieder zusammen, und er fing an, glücklich zu sein.
© Carl Hanser Verlag, München
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Autoren-Porträt von Martin Amis
Martin Amis, geboren 1949 in Swansea, ist einer der bedeutendsten englischen Gegenwartsautoren. Er ist der Verfasser von zahlreichen Romanen, Sachbüchern und Kurzgeschichtensammlungen. Martin Amis lebt in New York.Werner Schmitz wurde 2011 mit dem "Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis" ausgezeichnet. Er wurde für seine Übersetzungen zeitgenössischer amerikanischer Literatur, insbesondere für seine Übertragung der Romane Paul Austers geehrt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Martin Amis
- 2012, 416 Seiten, Maße: 15,3 x 22,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Schmitz, Werner
- Übersetzer: Werner Schmitz
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446238484
- ISBN-13: 9783446238480
- Erscheinungsdatum: 06.02.2012
Rezension zu „Die schwangere Witwe “
" 'Die schwangere Witwe' ist ein hochmusikalisches Buch." Sebastian Hammelehle, Spiegel online, 08.02.12"Ein Buch von schwebender Traurigkeit mit Lust an der smarten Hinrichtung des guten Geschmacks" Stern, 19.04.12
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