Die Schwarzwaldbäuerin
Erinnerungen an ein Landleben
Anna hat schon früh mit ihrem harten Schicksal zu kämpfen. Nach dem Tod ihrer Eltern führt sie mit nur 16 Jahren den Bauernhof der Familie und zieht die Geschwister groß. Sie muss auf vieles verzichten, doch sie findet das Glück...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Schwarzwaldbäuerin “
Anna hat schon früh mit ihrem harten Schicksal zu kämpfen. Nach dem Tod ihrer Eltern führt sie mit nur 16 Jahren den Bauernhof der Familie und zieht die Geschwister groß. Sie muss auf vieles verzichten, doch sie findet das Glück im Einfachen. Und dann lernt Anna ihre große Liebe kennen. Sie weiß, mit diesem Mann will sie alt werden. Doch es sind ihnen nur wenige Jahre vergönnt.
Klappentext zu „Die Schwarzwaldbäuerin “
Anna kommt 1938 auf einem abgelegenen Bauernhof im Schwarzwald zur Welt. Die Eltern sterben früh, und schon als Sechzehnjährige führt sie den Hof, arbeitet hart, zieht ihre Geschwister groß, verwaltet das wenige Geld. Sie verzichtet auf vieles - und ist irgendwann am Ende ihrer Kräfte. Der Zusammenhalt der Geschwister und ihr tiefer Glaube lassen sie dennoch nicht verzweifeln. Sie entdeckt das Glück im Einfachen, in der Natur. Und begegnet schließlich ihrer großen Liebe: dem Mann, mit dem sie alt werden möchte. Anna ahnt nicht, dass ihnen nur wenige kostbare Jahre bleiben ...
Lese-Probe zu „Die Schwarzwaldbäuerin “
Erinnerungen an ein Landleben von Anna Hettich1944
Vier Monate zuvor, als der Wind durchs Gras blies und
die langen Halme bog und das Heu zum zweiten Mal geschnitten
wurde, im September 1944, war ich eingeschult
worden.
In der Früh kämmte die Mutter mein Haar. Ungeduldig
hockte ich auf einem Schemel in der Küche, kaute an einem
Stück Brot, das beim Frühstück in der Stube unter den Tisch
gefallen war, kaute, bis es ein weicher Brei war und malmte
ihn zwischen den Zähnen hin und her, wie die Kühe es mit
dem Klee taten, und jedes Mal wenn sich der Kamm in einer
verfilzten Strähne verfing, zuckte ich zusammen.
»Schhhht, still ...«
Neben dem Kachelofen schlief der Hund. Ein paar Brummer
kreisten um seine Schnauze, ließen sich nieder, krochen
in seine Nasenlöcher. Der Hund nieste. Der Erich rutschte
über den Boden und versuchte ihn beim Schwanz zu packen.
Das Baby in seinem Korb begann zu greinen, die Wangen
vom Fieber gefleckt, rot wie Herbstäpfel. Die ganze Nacht
hatte es geweint und die Mutter hatte Wadenwickel machen
wollen, doch die Resi war so klein, dass der Wickel ihr bis
zum Bauch reichte, schließlich hatte die Mutter ihr ein mit
lauem Wasser getränktes Hemdchen übergezogen.
»Au!«
»Schhht ... Gleich ist's fertig, Mädle.« Der Kamm kratzte
über meinen Schädel, als die Mutter einen Scheitel zog. Zu
beiden Seiten floss mein Haar herab, ein blonder Vorhang,
und ich sah nur noch die Flecken auf dem Klinkerboden und
die breiten Fugen, die hier und da an den Rändern ganz ausgefranst
waren.
»Au!!«
»Willst vielleicht aussehen wie ein Lausmädle an deinem
ersten Schultag?«
... mehr
Mir wäre es gleich gewesen, doch ich schluckte und hielt
still. Die Mutter begann einen Zopf zu flechten, so fest, dass
es ziepte und die Kopfhaut spannte. Schließlich knotete sie
ein Band um die Haarspitzen und wischte ein paar Krümel
von meiner Schulter. Ich rutschte vom Schemel, griff nach
meinem Tornister, den ich am Tag zuvor mit der Rosmarie
gepackt hatte, warf einen letzten Blick hinein - die Schiefertafel,
die Fibel, der Kasten mit dem Griffel - und schulterte
ihn so stürmisch, dass das Schwämmchen und das Läppchen,
die außen baumelten, gegen meinen Arm schlugen.
»Ich bin grad fertig!«
Die Mutter strich über mein Schulkleid und glättete die
Falten in der weißen Schürze, dann schob sie eine Strähne
zurück, die sich aus ihrem Dutt gelöst hatte, wickelte die
greinende Resi in eine Decke und nahm den Erich bei der
Hand, während ich den Gang hinunterlief und die Haustür
öffnete.
Im Tal hing noch der Dunst des Morgens, die Weiden
leuchteten feucht und satt. Die Liesel trieb grad die Kühe aus
dem Stall; später würde sie mit der Rosmarie auf den Wiesen
Steine lesen, denn der Vater mähte das Heu, und Steine
machten die Klinge der Sense stumpf. Unser Vater war Holzhauer
und das Metzig-Gut, eine kleine Domäne, die ihm das
Forstamt verpachtet hatte, lag abseits auf halber Höhe in
einem Talkessel, ein altes Schwarzwälder Haus mit Walm
dach und Holzschindeln, umgeben von Grasland und Fichtenwäldern.
Die wenigen Hektar, die zum Hof gehörten,
bewirtschaftete er neben seiner täglichen Arbeit. Sieben
Jahre zuvor, 1937, waren die Eltern mit vier Kindern und auf
der Suche nach Arbeit, wie so viele in jener Zeit, in den
Schwarzwald gekommen; bis dahin hatte der Vater im Unterland
bei Karlsruhe als Chauffeur geschafft, in einer
Mühle hatte er die Kutsche der Herrschaften gefahren, mit
Rössern konnte er gut. Als er eines Tages ein Inserat vom
Forstamt in Rohrhardsberg las, bewarb er sich, wurde genommen
und zog mit seiner Familie Richtung Süden. Anfangs
litt die Mutter, entwurzelt wie ein gefällter Baum, alle
Tage war sie allein und der Hof so abseits, dass nie ein
Mensch vorbeikam. Ihre Traurigkeit legte sich, sobald der
Vater heimkam; doch erst im Jahr darauf, als ich geboren
wurde, verschwand sie vollends.
Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn. »Bist mein Schaffmädle
...« Am Vortag hatte ich alte Handschuhe angezogen
und zwei Körbe voll Brennnesseln gesammelt, außerdem
Löwenzahn, sodass die Liesel Spinat mit Mehlschwitze und
einen Löwenzahnsalat zubereiten konnte. Ich war nicht
groß, aber kräftig und fleißig.
»Nächstes Mal such ich auch Schnittlauch, dann schmeckt's
noch besser, gell?«
Gemeinsam liefen wir den Pfad hinab, über Geröll und
Schotter und feuchten Sand. Die Luft roch nach Gras und
beginnendem Herbst, Amseln sangen und Spatzen tschilpten,
zwischen den Ästen der Bäume glitzerten Spinnweben.
Die Bergkuppen waren klar und ganz nah. Irgendwo bellte
ein Hund und ein Huhn flatterte hoch und verschwand unter
einen Busch. Ich lief immer schneller, fast stolperte ich.
»Langsam, Anna.«
Meine älteren Geschwister konnten alle lesen und schrei-
ben. Der Toni war fast fünfzehn und weit fort, bei einem
Bauern nahe Freiburg ging er in die Lehre, Gutsverwalter
wollte er werden, und auch die Liesel war schon entlassen,
doch der Rochus, der Hütebub war, besuchte in Schonach
die Hirtenschule; dort begann der Unterricht, nachdem die
Kinder das Vieh am Vormittag wegen der Hitze zurück in
den Stall getrieben hatten, und er endete am Nachmittag,
wenn die Sonne sank und sie ihre Herden wieder auf die
Weiden brachten. Die Rosmarie ging in Rohrhardsberg in
die dritte Klasse; sogar sie wusste Dinge, die ich endlich
auch lernen wollte.
Nach einer Viertelstunde tauchte der Dilger-Hof hinter
einer Senke auf. Die alte Frau Dilger kehrte das erste Laub
zusammen, das der Wind von den Bäumen geblasen hatte,
und als sie uns sah, richtete sie sich auf, eine Hand auf den
Besen gestützt, die andere stützte ihren Rücken. »Komm
später vorbei, Anna, dann kriegst ein Stückle Marmeladenbrot
zu deinem großen Tag.«
Die Mutter dankte und wir winkten und liefen weiter.
Das Baby schlief jetzt und der Erich stolperte auf nackten
Füßen nebenher, immer wieder blieb er stehen, um einen
Stein aufzuheben oder eine Blume zu pflücken. Zwischen
den Weiden rauschte die Elz, das Wasser strömte über die
Steine im Flussbett, Stromschnellen brachen sich, tanzten
ins Tal hinab. Auf der Brücke begegneten wir einer Ordensschwester,
einer stämmigen, kurzbeinigen Frau mit einem
Glasauge, das starr geradeaus blickte, als sie uns zunickte,
und die Mutter reichte ihr die Hand und sagte Gelobt sei
Jesus Christus, danach gab ich ihr die Hand und sagte Gelobt
sei Jesus Christus, so wie wir es immer taten, wenn wir
dem Pfarrer oder einer Nonne vom Kloster in Hegne begegneten.
»Wirst eingeschult?«
Ich nickte.
»Dann geh mit Gott, mein Kind.« Sie schlug ein Kreuz
und ihr gläsernes Auge sah über meinen Kopf hinweg.
Der Weiler bestand aus vier Höfen und einem Haus, das
auf einer Anhöhe lag und über die anderen zu wachen
schien. Links führten Treppen, glänzend und schief getreten,
zum Rathaus, in dem jede Woche für ein paar Stunden
der Bürgermeister saß; neben dem Rathaus lag die Schule -
ein einziges, nicht sehr großes Klassenzimmer, in dem an
Wintertagen vormittags die oberen Klassen und nachmittags
die unteren Klassen unterrichtet wurden, im Sommer
war es grad andersherum, da kamen die Kleinen in der Früh,
denn die Großen mussten auf den Höfen helfen.
Viele Kinder, die bereits auf dem Vorplatz in der Sonne
warteten, kannte ich, sie wohnten auf den umliegenden Höfen,
und wenn wir nicht daheim helfen oder auf den Feldern
schaffen mussten, spielten wir miteinander. Die Klara und
die Erika hatten mit einem Stock Linien in den festgetretenen
Sand gezogen und spielten mit der Frieda und der Hilda
Himmel und Hölle, grad griff die Klara mit beiden Händen
ihren groben Leinenrock, hielt ihn fest und hüpfte los. Die
Mutter beugte sich zum Erich hinab - er deutete auf eine
Amsel, die vor einem Mauervorsprung im Staub saß, still
und mit geblähtem Gefieder, ihr Schnabel ein kurzer gelber
Strich. Mit plumpen Schritten, die Arme ausgestreckt, lief er
auf sie zu - der Vogel erhob sich und breitete seine Flügel
aus. Fassungslos starrte mein Bruder ihm nach.
»Dummer Bub«, neckte ich ihn.
»F-f-fogel ...«, stotterte der Erich, seine Wangen rot vor
Empörung. »F-fort!«
»Nicht ärgern, Kleiner.« Ich nahm seine Hand. »Vögel
bekommen Angst, wenn du auf sie zuläufst. Dann fliegen sie
davon.«
»B-böse ...«
Die Mutter ging hinüber zur Frau vom Lehrer, die im
Schatten einer Linde stand, das Haar sorgsam frisiert, die
Bluse frisch gestärkt. Ein Stück abseits standen drei Buben,
einer scharrte mit der Fußspitze im Sand, ein anderer zog die
Schultern hoch. Ihre Mütter waren auf den Feldern. Ihre
Väter an der Front.
Oder tot.
Der Karl und der Andreas rannten die Anhöhe hinauf.
Der Karl rutschte, stolperte, stürzte. Wie ein Blitz zuckte der
Schmerz durch sein Gesicht. Mit beiden Händen hielt er sein
Knie, unter den Fingern rann Blut hervor, seine Augen füllten
sich mit Tränen. »Ein deutscher Junge weint nicht«, sagte
scharf ein größerer Bub; es war der Sohn vom Förster.
Der Karl schluckte sein Weinen.
Rasselnd, wie das Muhen einer heiseren Kuh, ertönte im
selben Moment die Klingel. Der Andreas half dem Karl auf,
ich brachte den Erich zur Mutter, und die Klara und die
Frieda strichen ihre Röcke zurecht. Wir liefen ins Klassenzimmer,
während die Mütter sich wieder auf den Weg machten,
daheim gab es viel zu tun.
Das Klassenzimmer war ein Raum mit drei großen Fenstern,
die so hoch lagen, dass ich nur den Himmel sah, wenn
ich hinausschaute. Es roch nach Kreide und Holz. Die Mädel
drängten sich rechts vom Mittelgang, die Buben links,
sie ließen sich in die Bänke fallen, stießen ihre Tornister in
die Fächer unter den Pulten, ihre rauen Hände strichen über
Holzplatten, betasteten Tintenfässer, sie bohrten Finger in
kleine Astlöcher. Ich entdeckte die Rosmarie, die leicht vorgebeugt
mit eingezogenen Schultern zwischen den Drittklässlern
saß; sie war mindestens einen Kopf größer als ihre
Kameradinnen. Ich winkte. Die Rosmarie kicherte. Jemand
hatte die Tafel geputzt, sie glänzte schwarz, und in einem
schmalen Fach lagen ein einzelnes Stück Kreide und ein aus
gefranster Schwamm. Neben der Tafel hing ein Bild vom
Führer. Sein Gesicht war ohne Regung, doch sein Blick fiel
streng auf uns herab, nichts schien ihm zu entgehen, es war,
als würde er über jeden Schüler selbst in diesem entlegenen
Tal wachen, und wehe, einer von uns gehorchte nicht.
»Heil Hitler!« Ein Donnerschlag fuhr durch den Raum,
ließ alle erzittern. Der Lehrer Böhler war ein Mann wie ein
Berg, mit kahlem Schädel und einem Herz, das für den Führer
brannte. Unvermittelt stand er hinter seinem Pult.
Alle sprangen auf, standen stramm, reckten den rechten
Arm und antworteten wie aus einem Mund: »Heil Hitler!«
»Setzen!« Wieder ging ein Rascheln durch die Reihen,
Schuhe und nackte Füße scharrten über den Holzboden,
verhaltener diesmal.
Schwerfällig ließ der Lehrer Böhler sich auf seinen Stuhl
fallen, und nun schien der Führer auch über ihn zu wachen.
Er nahm ein Papier aus seiner Tasche, faltete es auseinander,
breitete es vor sich aus, strich mit seinen mächtigen Händen
darüber. Alle sahen mucksmäuschenstill zu. Nacheinander
rief er die Namen der Erstklässler auf. Jedes Kind, dessen
Namen er rief, musste aufspringen und »Hier!« rufen.
»Eberl, Anna?«
»Hier!« Ich schoss hoch.
In der Reihe hinter mir kicherte ein Bub, der schon in die
zweite Klasse ging. »Ist die klein«, hörte ich ihn raunen. Ich
schaute mich nicht um, sah starr geradeaus und spürte, wie
mir warm wurde.
»Warum wirst rot, wenn ich dich nach deinem Namen
frag?« Der Lehrer musterte mich wie eine kranke Kuh.
Ich zuckte mit den Schultern. Am liebsten hätte ich mich
umgedreht, dem Buben eine Ohrfeige gegeben und ihm gesagt,
dass ich klein war, aber daheim auf die höchsten
Kirschbäume kletterte, sodass die Mutter aus dem Haus
stürzte und den Vater anflehte, mich wieder herunterzuholen.
Stattdessen hielt ich dem Blick vom Lehrer stand. Und
dem vom Führer.
»Eberl. Die kleine Schwester vom Toni, von der Liesel und
dem Rochus und der Rosmarie.«
Ich nickte.
»Eberl ... Eber!«, zischte der Bub hinter mir.
Scham ballte sich in meinem Bauch, sie brannte, als hätte
mich jemand in den Magen geboxt. Ich wünschte, der Lehrer
Böhler hätte das Geflüster bemerkt und dem Bub ein
paar Tatzen mit dem Rohrstock in die Hände gegeben oder
gleich ein paar Hosenspannis auf den Hintern, das tat er
gern, er war nicht zimperlich.
»Setzen!«
Ich setzte mich und sah stumm zu, wie er Buchstabe für
Buchstabe mit seinem Finger, breit wie ein Spatel, übers Papier
fuhr, bis die Namensliste bei Wöhrle, Willibald endete.
Dann erhob er sich - und der Führer verschwand hinter seinen
breiten Schultern. Er räusperte sich, fuhr sich über den
kahlen Schädel, tat ein paar Schritte nach vorn und baute
sich vor zwei Buben in der ersten Reihe auf, er stützte sich
mit beiden Händen auf den Rand vom Pult und schwieg, bis
die Buben, die vor ihm saßen, Angst bekamen, ich sah es in
ihren bleichen Gesichtern. Dann holte er Luft und ließ seine
Stimme durch den Raum dröhnen. Er hielt eine kurze Ansprache,
sagte, dass wir von nun an jeden Morgen unsere
Zähne putzen, ihm unsere Ohren und Fingernägel vorzeigen
müssten, und dass wir uns im Unterricht Mühe zu geben
hätten, und wenn wir schmutzig wären oder faul oder frech,
gäbe es Hosenspannis.
»Oder Tatzen mit dem Rohrstock!« Er sah zu den Zweit-,
Dritt- und Viertklässlern in den hinteren Reihen, die schon
wussten, wie die Schläge in die Handflächen schmerzten.
»Und ihr Kleinen ...« Als hätte der Ausbruch ihn erschöpft,
ließ er sich zurück auf seinen Stuhl sinken. »Ihr
Kleinen geht außerdem an zwei Tagen in der Woche zu den
Bauern im Tal und sammelt Kartoffelkäfer von den Äckern.
Das Reich braucht eine gute Kartoffelernte.« Er wischte sich
über die Stirn, als schwitzte er. Dann gab er den älteren Schülern
Rechenaufgaben und sie kramten ihre Rechenschieber
aus den Tornistern.
»Ihr Neuen ...«, er faltete sein Taschentuch und schob es
in seine Hosentasche, »ihr lernt jetzt schreiben.«
Artig nahmen wir unsere Tafeln, öffneten unsere Griffelkästen,
und den Rest der Stunde schrieb ich mit ungelenken
Fingern meine ersten Buchstaben: A wie Anna - B wie
Baum - C ...
Mir wäre es gleich gewesen, doch ich schluckte und hielt
still. Die Mutter begann einen Zopf zu flechten, so fest, dass
es ziepte und die Kopfhaut spannte. Schließlich knotete sie
ein Band um die Haarspitzen und wischte ein paar Krümel
von meiner Schulter. Ich rutschte vom Schemel, griff nach
meinem Tornister, den ich am Tag zuvor mit der Rosmarie
gepackt hatte, warf einen letzten Blick hinein - die Schiefertafel,
die Fibel, der Kasten mit dem Griffel - und schulterte
ihn so stürmisch, dass das Schwämmchen und das Läppchen,
die außen baumelten, gegen meinen Arm schlugen.
»Ich bin grad fertig!«
Die Mutter strich über mein Schulkleid und glättete die
Falten in der weißen Schürze, dann schob sie eine Strähne
zurück, die sich aus ihrem Dutt gelöst hatte, wickelte die
greinende Resi in eine Decke und nahm den Erich bei der
Hand, während ich den Gang hinunterlief und die Haustür
öffnete.
Im Tal hing noch der Dunst des Morgens, die Weiden
leuchteten feucht und satt. Die Liesel trieb grad die Kühe aus
dem Stall; später würde sie mit der Rosmarie auf den Wiesen
Steine lesen, denn der Vater mähte das Heu, und Steine
machten die Klinge der Sense stumpf. Unser Vater war Holzhauer
und das Metzig-Gut, eine kleine Domäne, die ihm das
Forstamt verpachtet hatte, lag abseits auf halber Höhe in
einem Talkessel, ein altes Schwarzwälder Haus mit Walm
dach und Holzschindeln, umgeben von Grasland und Fichtenwäldern.
Die wenigen Hektar, die zum Hof gehörten,
bewirtschaftete er neben seiner täglichen Arbeit. Sieben
Jahre zuvor, 1937, waren die Eltern mit vier Kindern und auf
der Suche nach Arbeit, wie so viele in jener Zeit, in den
Schwarzwald gekommen; bis dahin hatte der Vater im Unterland
bei Karlsruhe als Chauffeur geschafft, in einer
Mühle hatte er die Kutsche der Herrschaften gefahren, mit
Rössern konnte er gut. Als er eines Tages ein Inserat vom
Forstamt in Rohrhardsberg las, bewarb er sich, wurde genommen
und zog mit seiner Familie Richtung Süden. Anfangs
litt die Mutter, entwurzelt wie ein gefällter Baum, alle
Tage war sie allein und der Hof so abseits, dass nie ein
Mensch vorbeikam. Ihre Traurigkeit legte sich, sobald der
Vater heimkam; doch erst im Jahr darauf, als ich geboren
wurde, verschwand sie vollends.
Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn. »Bist mein Schaffmädle
...« Am Vortag hatte ich alte Handschuhe angezogen
und zwei Körbe voll Brennnesseln gesammelt, außerdem
Löwenzahn, sodass die Liesel Spinat mit Mehlschwitze und
einen Löwenzahnsalat zubereiten konnte. Ich war nicht
groß, aber kräftig und fleißig.
»Nächstes Mal such ich auch Schnittlauch, dann schmeckt's
noch besser, gell?«
Gemeinsam liefen wir den Pfad hinab, über Geröll und
Schotter und feuchten Sand. Die Luft roch nach Gras und
beginnendem Herbst, Amseln sangen und Spatzen tschilpten,
zwischen den Ästen der Bäume glitzerten Spinnweben.
Die Bergkuppen waren klar und ganz nah. Irgendwo bellte
ein Hund und ein Huhn flatterte hoch und verschwand unter
einen Busch. Ich lief immer schneller, fast stolperte ich.
»Langsam, Anna.«
Meine älteren Geschwister konnten alle lesen und schrei-
ben. Der Toni war fast fünfzehn und weit fort, bei einem
Bauern nahe Freiburg ging er in die Lehre, Gutsverwalter
wollte er werden, und auch die Liesel war schon entlassen,
doch der Rochus, der Hütebub war, besuchte in Schonach
die Hirtenschule; dort begann der Unterricht, nachdem die
Kinder das Vieh am Vormittag wegen der Hitze zurück in
den Stall getrieben hatten, und er endete am Nachmittag,
wenn die Sonne sank und sie ihre Herden wieder auf die
Weiden brachten. Die Rosmarie ging in Rohrhardsberg in
die dritte Klasse; sogar sie wusste Dinge, die ich endlich
auch lernen wollte.
Nach einer Viertelstunde tauchte der Dilger-Hof hinter
einer Senke auf. Die alte Frau Dilger kehrte das erste Laub
zusammen, das der Wind von den Bäumen geblasen hatte,
und als sie uns sah, richtete sie sich auf, eine Hand auf den
Besen gestützt, die andere stützte ihren Rücken. »Komm
später vorbei, Anna, dann kriegst ein Stückle Marmeladenbrot
zu deinem großen Tag.«
Die Mutter dankte und wir winkten und liefen weiter.
Das Baby schlief jetzt und der Erich stolperte auf nackten
Füßen nebenher, immer wieder blieb er stehen, um einen
Stein aufzuheben oder eine Blume zu pflücken. Zwischen
den Weiden rauschte die Elz, das Wasser strömte über die
Steine im Flussbett, Stromschnellen brachen sich, tanzten
ins Tal hinab. Auf der Brücke begegneten wir einer Ordensschwester,
einer stämmigen, kurzbeinigen Frau mit einem
Glasauge, das starr geradeaus blickte, als sie uns zunickte,
und die Mutter reichte ihr die Hand und sagte Gelobt sei
Jesus Christus, danach gab ich ihr die Hand und sagte Gelobt
sei Jesus Christus, so wie wir es immer taten, wenn wir
dem Pfarrer oder einer Nonne vom Kloster in Hegne begegneten.
»Wirst eingeschult?«
Ich nickte.
»Dann geh mit Gott, mein Kind.« Sie schlug ein Kreuz
und ihr gläsernes Auge sah über meinen Kopf hinweg.
Der Weiler bestand aus vier Höfen und einem Haus, das
auf einer Anhöhe lag und über die anderen zu wachen
schien. Links führten Treppen, glänzend und schief getreten,
zum Rathaus, in dem jede Woche für ein paar Stunden
der Bürgermeister saß; neben dem Rathaus lag die Schule -
ein einziges, nicht sehr großes Klassenzimmer, in dem an
Wintertagen vormittags die oberen Klassen und nachmittags
die unteren Klassen unterrichtet wurden, im Sommer
war es grad andersherum, da kamen die Kleinen in der Früh,
denn die Großen mussten auf den Höfen helfen.
Viele Kinder, die bereits auf dem Vorplatz in der Sonne
warteten, kannte ich, sie wohnten auf den umliegenden Höfen,
und wenn wir nicht daheim helfen oder auf den Feldern
schaffen mussten, spielten wir miteinander. Die Klara und
die Erika hatten mit einem Stock Linien in den festgetretenen
Sand gezogen und spielten mit der Frieda und der Hilda
Himmel und Hölle, grad griff die Klara mit beiden Händen
ihren groben Leinenrock, hielt ihn fest und hüpfte los. Die
Mutter beugte sich zum Erich hinab - er deutete auf eine
Amsel, die vor einem Mauervorsprung im Staub saß, still
und mit geblähtem Gefieder, ihr Schnabel ein kurzer gelber
Strich. Mit plumpen Schritten, die Arme ausgestreckt, lief er
auf sie zu - der Vogel erhob sich und breitete seine Flügel
aus. Fassungslos starrte mein Bruder ihm nach.
»Dummer Bub«, neckte ich ihn.
»F-f-fogel ...«, stotterte der Erich, seine Wangen rot vor
Empörung. »F-fort!«
»Nicht ärgern, Kleiner.« Ich nahm seine Hand. »Vögel
bekommen Angst, wenn du auf sie zuläufst. Dann fliegen sie
davon.«
»B-böse ...«
Die Mutter ging hinüber zur Frau vom Lehrer, die im
Schatten einer Linde stand, das Haar sorgsam frisiert, die
Bluse frisch gestärkt. Ein Stück abseits standen drei Buben,
einer scharrte mit der Fußspitze im Sand, ein anderer zog die
Schultern hoch. Ihre Mütter waren auf den Feldern. Ihre
Väter an der Front.
Oder tot.
Der Karl und der Andreas rannten die Anhöhe hinauf.
Der Karl rutschte, stolperte, stürzte. Wie ein Blitz zuckte der
Schmerz durch sein Gesicht. Mit beiden Händen hielt er sein
Knie, unter den Fingern rann Blut hervor, seine Augen füllten
sich mit Tränen. »Ein deutscher Junge weint nicht«, sagte
scharf ein größerer Bub; es war der Sohn vom Förster.
Der Karl schluckte sein Weinen.
Rasselnd, wie das Muhen einer heiseren Kuh, ertönte im
selben Moment die Klingel. Der Andreas half dem Karl auf,
ich brachte den Erich zur Mutter, und die Klara und die
Frieda strichen ihre Röcke zurecht. Wir liefen ins Klassenzimmer,
während die Mütter sich wieder auf den Weg machten,
daheim gab es viel zu tun.
Das Klassenzimmer war ein Raum mit drei großen Fenstern,
die so hoch lagen, dass ich nur den Himmel sah, wenn
ich hinausschaute. Es roch nach Kreide und Holz. Die Mädel
drängten sich rechts vom Mittelgang, die Buben links,
sie ließen sich in die Bänke fallen, stießen ihre Tornister in
die Fächer unter den Pulten, ihre rauen Hände strichen über
Holzplatten, betasteten Tintenfässer, sie bohrten Finger in
kleine Astlöcher. Ich entdeckte die Rosmarie, die leicht vorgebeugt
mit eingezogenen Schultern zwischen den Drittklässlern
saß; sie war mindestens einen Kopf größer als ihre
Kameradinnen. Ich winkte. Die Rosmarie kicherte. Jemand
hatte die Tafel geputzt, sie glänzte schwarz, und in einem
schmalen Fach lagen ein einzelnes Stück Kreide und ein aus
gefranster Schwamm. Neben der Tafel hing ein Bild vom
Führer. Sein Gesicht war ohne Regung, doch sein Blick fiel
streng auf uns herab, nichts schien ihm zu entgehen, es war,
als würde er über jeden Schüler selbst in diesem entlegenen
Tal wachen, und wehe, einer von uns gehorchte nicht.
»Heil Hitler!« Ein Donnerschlag fuhr durch den Raum,
ließ alle erzittern. Der Lehrer Böhler war ein Mann wie ein
Berg, mit kahlem Schädel und einem Herz, das für den Führer
brannte. Unvermittelt stand er hinter seinem Pult.
Alle sprangen auf, standen stramm, reckten den rechten
Arm und antworteten wie aus einem Mund: »Heil Hitler!«
»Setzen!« Wieder ging ein Rascheln durch die Reihen,
Schuhe und nackte Füße scharrten über den Holzboden,
verhaltener diesmal.
Schwerfällig ließ der Lehrer Böhler sich auf seinen Stuhl
fallen, und nun schien der Führer auch über ihn zu wachen.
Er nahm ein Papier aus seiner Tasche, faltete es auseinander,
breitete es vor sich aus, strich mit seinen mächtigen Händen
darüber. Alle sahen mucksmäuschenstill zu. Nacheinander
rief er die Namen der Erstklässler auf. Jedes Kind, dessen
Namen er rief, musste aufspringen und »Hier!« rufen.
»Eberl, Anna?«
»Hier!« Ich schoss hoch.
In der Reihe hinter mir kicherte ein Bub, der schon in die
zweite Klasse ging. »Ist die klein«, hörte ich ihn raunen. Ich
schaute mich nicht um, sah starr geradeaus und spürte, wie
mir warm wurde.
»Warum wirst rot, wenn ich dich nach deinem Namen
frag?« Der Lehrer musterte mich wie eine kranke Kuh.
Ich zuckte mit den Schultern. Am liebsten hätte ich mich
umgedreht, dem Buben eine Ohrfeige gegeben und ihm gesagt,
dass ich klein war, aber daheim auf die höchsten
Kirschbäume kletterte, sodass die Mutter aus dem Haus
stürzte und den Vater anflehte, mich wieder herunterzuholen.
Stattdessen hielt ich dem Blick vom Lehrer stand. Und
dem vom Führer.
»Eberl. Die kleine Schwester vom Toni, von der Liesel und
dem Rochus und der Rosmarie.«
Ich nickte.
»Eberl ... Eber!«, zischte der Bub hinter mir.
Scham ballte sich in meinem Bauch, sie brannte, als hätte
mich jemand in den Magen geboxt. Ich wünschte, der Lehrer
Böhler hätte das Geflüster bemerkt und dem Bub ein
paar Tatzen mit dem Rohrstock in die Hände gegeben oder
gleich ein paar Hosenspannis auf den Hintern, das tat er
gern, er war nicht zimperlich.
»Setzen!«
Ich setzte mich und sah stumm zu, wie er Buchstabe für
Buchstabe mit seinem Finger, breit wie ein Spatel, übers Papier
fuhr, bis die Namensliste bei Wöhrle, Willibald endete.
Dann erhob er sich - und der Führer verschwand hinter seinen
breiten Schultern. Er räusperte sich, fuhr sich über den
kahlen Schädel, tat ein paar Schritte nach vorn und baute
sich vor zwei Buben in der ersten Reihe auf, er stützte sich
mit beiden Händen auf den Rand vom Pult und schwieg, bis
die Buben, die vor ihm saßen, Angst bekamen, ich sah es in
ihren bleichen Gesichtern. Dann holte er Luft und ließ seine
Stimme durch den Raum dröhnen. Er hielt eine kurze Ansprache,
sagte, dass wir von nun an jeden Morgen unsere
Zähne putzen, ihm unsere Ohren und Fingernägel vorzeigen
müssten, und dass wir uns im Unterricht Mühe zu geben
hätten, und wenn wir schmutzig wären oder faul oder frech,
gäbe es Hosenspannis.
»Oder Tatzen mit dem Rohrstock!« Er sah zu den Zweit-,
Dritt- und Viertklässlern in den hinteren Reihen, die schon
wussten, wie die Schläge in die Handflächen schmerzten.
»Und ihr Kleinen ...« Als hätte der Ausbruch ihn erschöpft,
ließ er sich zurück auf seinen Stuhl sinken. »Ihr
Kleinen geht außerdem an zwei Tagen in der Woche zu den
Bauern im Tal und sammelt Kartoffelkäfer von den Äckern.
Das Reich braucht eine gute Kartoffelernte.« Er wischte sich
über die Stirn, als schwitzte er. Dann gab er den älteren Schülern
Rechenaufgaben und sie kramten ihre Rechenschieber
aus den Tornistern.
»Ihr Neuen ...«, er faltete sein Taschentuch und schob es
in seine Hosentasche, »ihr lernt jetzt schreiben.«
Artig nahmen wir unsere Tafeln, öffneten unsere Griffelkästen,
und den Rest der Stunde schrieb ich mit ungelenken
Fingern meine ersten Buchstaben: A wie Anna - B wie
Baum - C ...
... weniger
Autoren-Porträt von Anna Hettich, Sabine Eichhorst
Hettich, AnnaAnna Hettich lebt heute in der Nähe von Donaueschingen.
Eichhorst, Sabine
Sabine Eichhorst arbeitet für die ARD und schreibt Bücher, zuletzt über das Leben einer Magd, Ein Tagwerk Leben. Sie wurde mit dem Civis Medienpreis der ARD ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Anna Hettich , Sabine Eichhorst
- 2011, 304 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: List
- ISBN-10: 3471350624
- ISBN-13: 9783471350621
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