Die Schwerter von Jerusalem
Historischer Roman
Die große Schlacht um JerusalemEr ist eine der schillerndsten Figuren seiner Zeit: Richard Löwenherz, der im Jahre 1189 zum dritten Kreuzzug nach Jerusalem auszog, um die Heilige Stadt zu befreien. Sein Widersacher, Sultan Saladin, ist einer der...
Jetzt vorbestellen
versandkostenfrei
Buch 9.99 €
- Kauf auf Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Schwerter von Jerusalem “
Klappentext zu „Die Schwerter von Jerusalem “
Die große Schlacht um JerusalemEr ist eine der schillerndsten Figuren seiner Zeit: Richard Löwenherz, der im Jahre 1189 zum dritten Kreuzzug nach Jerusalem auszog, um die Heilige Stadt zu befreien. Sein Widersacher, Sultan Saladin, ist einer der bedeutendsten Herrscher des Morgenlands, sowohl bei Freund wie auch bei Feind genießt er höchstes Ansehen. Für beide ist Jerusalem die wichtigste Stadt der Welt. Als die Armeen der beiden Heerführer aufeinander treffen, kämpfen sie nicht nur um Jerusalem und ihre beiden Kulturen. Beide Männer kämpfen auch um die Liebe einer Frau.
Lese-Probe zu „Die Schwerter von Jerusalem “
Die Schwerter von Jerusalem von Kamran Pasha Prolog
Sinai - Anno Domini 1174
Das Kreuz loderte rot auf dem weißen Waffenrock des Soldaten.
Rot war immer ihre Lieblingsfarbe gewesen, dachte das kleine Mädchen. Die Farbe der Rosen, der Sonne, ehe sie im Meer versank. Das Haar der Mutter.
Die Mutter.
Das Mädchen spürte, wie ihr die Erinnerung stählerne Krallen ins Herz schlug. Sie hatte das Haar der Mutter an diesem Morgen zum letzten Mal gesehen, ehe es unter dem bescheidenen Kopftuch verschwunden war, das alle anständigen jüdischen Frauen in Kairo trugen. Sie selbst war noch zu klein, sie brauchte ihre dunklen Locken nicht zu bedecken, denn das Kopftuch wurde erst nach Beginn der Monatsblutung Pflicht. Darin waren sich Juden und Muslime in Ägypten einig. Zwar hatten ihre Brüste in diesem Frühjahr zu knospen begonnen, doch der dunkle Menstruationsfluss war noch nicht eingetroffen, um sie in der Gemeinschaft der Frauen willkommen zu heißen. Sie war immer schon unduldsam gewesen, und so betete sie zu Gott, dass das Blut endlich fließen und ihr ein neues Leben bescheren möge.
Und heute hatte Gott sie erhört, jedoch in einer Art und Weise, wie sie es weder erwartet noch gewollt hatte. Denn das Blut, das an diesem Morgen geflossen war, war nicht ihr eigenes gewesen, sondern das Blut derer, die sie liebte. Und inmitten des lärmenden, todbringenden Tumults hatte in der Tat ein neues Leben für sie begonnen.
... mehr
Die Karawane hätte in Sicherheit sein sollen. Entlang der Küste waren die Männer des Sultans stationiert. Des schönen neuen Sultans, der Kairo überfallen und den kränkelnden König gestürzt hatte. Damit war der Schiitendynastie der Fatimiden ein Ende gesetzt und Ägypten in den Schoß der Sunniten zurückgekehrt. Sie war eigentlich noch zu klein für diese komplizierten Staatsangelegenheiten, doch ihr Vater hatte stets darauf bestanden, dass ein jüdisches Kind in Politik versiert sein sollte. Es war schließlich der Fluch ihres Volkes, dass die Winde der Veränderung meistens unvermeidlich auch Tragödien und Verbannung mit sich brachten.
Viele hatten befürchtet, der neue Sultan werde die Juden verfolgen, weil sie die häretischen Machthaber Ägyptens unterstützt hatten, gegen den Kalifen von Bagdad. Doch Saladin hatte sich als weiser Herrscher erwiesen und dem Volk des Buches in Freundschaft die Hand gereicht. So hatten die Juden einen Gönner und Beschützer gefunden, und der Oheim des Mädchens war als Leibarzt des Sultans sogar in dessen Palast willkommen.
Wie sehr wünschte sie sich, ihr Oheim wäre heute hier bei ihnen gewesen. Vielleicht hätte er sie vor den Kriegern Christi erretten können, die wie die Heuschrecken über die Karawane hergefallen waren. Er hätte das Blut aus den verstümmelten Gliedern gestillt und seine speziellen Salben auf die Brandwunden gerieben, die brennende Pfeile geschlagen hatten. Wäre er bei ihnen gewesen, würden Vater und Mutter vielleicht noch leben.
Doch tief im Herzen wusste das Mädchen, dass er nichts hätte tun können. Ihr Oheim wäre mit den Übrigen hingeschlachtet worden. Und hätte mit ansehen müssen, wie seiner Schwester - ihrer Mutter - von dem Unhold Gewalt angetan wurde, der jetzt ihr auf den Fersen war.
Sein Gesicht wies blutige Striemen auf, ebenso rot wie das Kreuz auf seiner Brust. Es war dem Mädchen ein kleiner Trost, eine kleine, grausame Genugtuung, dass dieses Blut dem Mörder gehörte, nicht seinen Opfern. Und sie hatte es getan! Ein kleiner Racheakt, eine Narbe, die die schönen Züge des jungen Mannes für immer zeichnen würde. Wann immer er in den Spiegel blickte, würde er sich des Tributs erinnern für das Grauen, das er ihrer Familie angetan hatte.
Den Pallasch in der Faust, an dem schwarz verkrustetes Blut klebte, näherte der Krieger sich ihrem Versteck. Das Mädchen drückte sich tiefer in den schattigen Felsenspalt. Sie spürte ein Krabbeln auf dem Rücken. Eine Spinne, vielleicht auch ein giftiger Skorpion. Einen Augenblick hoffte sie, es möge ein Skorpion sein, damit sein Stich sie töte, ehe der blutgierige Ritter sie zu fassen bekäme. Ihre Lenden brannten noch immer von dem grausamen Überfall, und sie roch den Gestank des Samens, der auf ihren Schenkeln trocknete.
Die hellen Augen des Soldaten suchten die ebene Wüste ab, gleich dem Wolf, der nach dem verwundeten Lamm Ausschau hält. Ihre Fußabdrücke hätten sie verraten müssen. Aber der Boden war von Kameltritten übersät, weil bereits tags zuvor eine Karawane durch dieses Tal gezogen war, und so verloren sich ihre Spuren in der aufgewühlten Erde. Die roten Hügel waren von Felsbrocken überzogen, mächtig genug, um ein Kind ihrer Größe zu verstecken. Es würde Stunden dauern, um all die Felsen und Spalten dieses öden Landstrichs abzusuchen.
Er hätte umkehren und sich seinen Männern zugesellen sollen, die schon die Beute unter sich aufteilten. Die Karawane war nach Damaskus unterwegs gewesen, beladen mit kostbaren Handelsgütern - Gold und Elfenbein aus Abessinien, schöne Wolltücher der Berber im Westen -, und der Fang hatte diese Mörder zu reichen Männern gemacht. Wäre der Ritter klug gewesen, hätte er das widerspenstige kleine Mädchen vergessen und sich lieber um seinen Anteil an der reichen Beute gekümmert.
Doch sein Blick zeugte nicht von Klugheit. Oder Menschlichkeit. Er barg eine Dunkelheit, die sie mehr erschreckte als der grausame Glanz seiner Klinge. Es war ein so tief verwurzelter Hass, so rein in seiner Hässlichkeit, dass der Mann nichts Menschliches mehr an sich hatte, sondern einem Dämon glich, den Tiefen Gehennas entstiegen.
Und er war fast bei ihr. Sie hörte ihn schnaufen, ein Geräusch wie das Zischen einer Schlange. Und einen Augenblick bildete sie sich sogar ein, sie höre den entsetzlichen Trommelschlag seines nach Rache gierenden Herzens.
Sein Blick fiel auf die dunkle Höhlenöffnung, den Spalt, der sich im Schatten der Felsen auftat. Da sah sie ein Grinsen über sein Gesicht gleiten, sah das Glitzern seiner Zähne im grellen Wüstenlicht.
Das Ende war da. Und doch empfand sie irgendwie keine Angst. Empfand überhaupt nichts. Ihr Herz barg keinerlei Regung, sie konnte sich nicht einmal erinnern, wie sich Lachen oder Weinen anfühlte. Die Fähigkeit des Empfindens war ihr abhandengekommen im Schrecken des Überfalls. Sie hatte mit ansehen müssen, wie ihre geliebten Eltern von Männern niedergemetzelt wurden, die sich selbst als Krieger Gottes bezeichneten. Sie verehrten denselben Gott, von dem ihr eigenes Volk glaubte, Er habe sie zu Großem auserwählt.
All die schrecklichen Geschichten, die der Vater ihr von der Vergangenheit ihres Volkes erzählt hatte, waren an jenem Tag Wirklichkeit geworden. Die Geschichten, die sie als Schauermärchen der Alten abgetan hatte, erwiesen sich als wahr. Sie waren in der Tat die einzige Wahrheit für ein Volk, dessen Gott einen allzu hohen Preis verlangte für Seine Liebe.
In diesem Augenblick, da der blutbefleckte Soldat ihrer engen Zuflucht immer näher rückte, hasste sie Gott, weil Er ihr Volk auserwählt und mit dem Fluch belegt hatte, etwas Besonderes zu sein, eine Bürde, die nichts als Unheil und Verzweiflung mit sich brachte. Dass dieser Fremde mit der blassen Haut und der seltsamen Sprache überhaupt etwas vom Gott Abrahams wusste, hatte er den Juden zu verdanken. Doch hatte dieses Wissen nicht etwa einen besseren Menschen aus ihm gemacht, im Gegenteil, es hatte einen selbstgerechten Zorn in ihm entflammt, der nur Leid in diese Welt brachte. Ihr Volk hatte der Menschheit von Gott erzählt, und zum Dank dafür verwandelten die Menschen sich im Namen dieses Gottes in Teufel.
Sie wollte Gott verfluchen, Ihn ebenso verleugnen wie Er Sein eigenes Volk verleugnet und aus der Heimat vertrieben hatte, damit es rastlos durch die Welt irre, von allen Stämmen gehasst. Doch dann bemerkte sie etwas:
Den Halsschmuck.
Ein schlichter Jadestein in einer silbernen Spange, von funkelnden Perlen gesäumt. Das Schmuckstück hatte ihrer Mutter gehört. Der Unhold hatte es ihrem geschändeten Leib entrissen, vor kaum einer Stunde. Und nun trug er es um den Hals wie eine Jagdtrophäe. Am liebsten wäre sie aus ihrem Versteck gesprungen, um ihm die Kette vom Hals zu reißen. Es wäre ihr Tod gewesen, doch wenigstens wäre sie mit dem kostbaren Kleinod ihrer Mutter in der Hand aus dem Leben geschieden.
Die Glut in ihrem Herzen wurde zum tosenden Feuer, und sie hielt sich bereit, dem Mörder die Krallen zu zeigen. Sie würde ihm mit den Fingern die Augen auskratzen, ihm mit den Zähnen gleich einer Löwin die Kehle zerreißen. Er war kein Mensch, und sie war auch keiner mehr. Die Rohheit, deren Zeuge das Mädchen geworden war, hatte jede Illusion in ihr zerstört. Obwohl ein Mensch nach der Thora angehalten war, es den Engeln gleichzutun, so blieb er in Wahrheit ein Tier und würde niemals etwas anderes sein. Der Gott ihres Volkes hatte sie verlassen, und jetzt würde sie Ihm zeigen, was Er damit angerichtet hatte.
Sie ging in die Knie, zum Sprung bereit, als der Soldat sich der Höhle näherte. Sie musste hervorschnellen wie ein Gepard, das Überraschungsmoment nutzen, um den Gegner zur Strecke zu bringen.
Doch als sie zum Sprung ansetzte, sah sie ein kleines Glitzern auf der Brust des Mannes, wie von einem Stern. Es war der Talisman aus Jadestein, der die gleißende Wüstensonne spiegelte. Und ihr Blick fiel auf die Symbole, die in den Stein eingeritzt waren. Vier hebräische Lettern - JHWH.
Das Tetragramm. Der geheime Name Gottes.
Das heilige Wort, das es nicht laut auszusprechen galt, schimmerte smaragdgrün auf dem weißen Waffenrock des Kriegers. Als sie auf diese geheimnisvollen Lettern starrte, geschah etwas Merkwürdiges mit ihr. Die Wut, die sich ihrer bemächtigt hatte, legte sich. Stattdessen erfüllte sie Friede und Gleichmut. Den Namen eines Gottes vor Augen, an den sie nicht mehr glaubte, entsann sich das Mädchen all der zärtlichen Nächte, in denen die Mutter sie sanft in den Schlaf gesungen hatte. Als sie die Halskette sah, mit dem heiligen Stein, fühlte sie sich plötzlich ebenso sicher wie in den Armen ihrer Mutter.
Sie lehnte sich zurück, und die Spannung wich aus ihrem Körper. Mochte der Mann kommen und ihr Leib und Leben nehmen, ihr wäre es einerlei. Ihr Volk würde weiterbestehen, und ihr Name wäre nur eine bittersüße Note mehr in der Melodie ihres Volkes.
Die uralten Worte des Schma Jsrael kamen ihr auf die Lippen, und sie formte sie leise:
Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einzig.
Ein heftiger Wind erhob sich und wirbelte Staub auf, der eine Art Schleier um ihr Versteck bildete. Er steigerte sich zum Sandsturm und verdunkelte das Licht der Sonne.
Sie schloss die Augen, sank in den Schatten, wo Dunkelheit sie umhüllte. Sie wusste weder, in welcher Welt sie erwachen würde, noch, ob es nach diesem Leben, das zu Ende war, überhaupt ein Jenseits gäbe. Es war ihr einerlei.
In der Stille war Friede.
Das Mädchen regte sich und sah, dass die Dunkelheit in der Höhle sich jetzt auf die ganze Welt ausgebreitet hatte. Sie konnte nichts sehen, und doch wusste sie, dass um sie her eine Weite war, die sich ins Unendliche erstreckte. War dies das Reich des Todes?
Dann hörte sie das Geheul eines Schakals und das Rascheln des Sandes im Wind und begriff, dass sie noch in der Menschenwelt war.
Auf allen vieren kroch sie aus der Höhle, die ihre Zuflucht gewesen war, hinein in die Wüste. Es war Nacht, und zahllose Sterne leuchteten am Himmel, einem Tuche gleich, bestückt von weißen Diamanten, die ein kaltes Feuer verströmten.
Fröstelnd schlug sie die Arme um sich. Es war kalt geworden, kaum zu glauben, dass die Wüste noch vor wenigen Stunden sengend heiß gewesen war. Das Mädchen blickte um sich und sah, dass sie allein war inmitten von hohen Dünen und einem Meer aus Felsbrocken.
Der Mann, der sie geschändet und ihre Mutter ermordet hatte, war spurlos verschwunden.
Erneut trieb die Erinnerung ihr spitze Dolche ins Herz. Die Beine versagten ihr den Dienst, und sie sank zu Boden und erbrach, bis bittere Galle ihr die Sinne benahm.
Eine Weile lag sie still auf dem Wüstenboden. Sie wollte weinen, konnte aber nicht. Es war, als sei das Kind, das sie noch gestern gewesen war, voller Lebendigkeit und Gefühl, für immer verloren. Sosehr sie es auch versuchte, ihr Herz regte sich nicht. Gab den quälenden Schmerz nicht frei, der sie zu zerreißen drohte.
Also sperrte sie ihn ein und verschloss die Tür für immer.
Das Mädchen stand auf und erhob stolz das Haupt, mit so kalter und unerschütterlicher Miene, als wäre sie aus Stein, eine der antiken Isisstatuen, die noch in Ägypten standen. Sie blickte sich erneut um und entdeckte in der Ferne einen Lichtschein. Vermutlich ein Lagerfeuer. Doch keines der Kreuzritter; sie würden es nicht wagen, in der Wüste zu nächtigen und den Kundschaftern des Sultans zum Opfer zu fallen. Beduinen wahrscheinlich, Ziegenhirten, die unter freiem Himmel schliefen, ganz so wie in den Tagen, als Moses durch diese Wüste gewandelt war, ein Verbannter wie sie.
Das jüdische Mädchen wusste, dass sie Hilfe finden musste. Ohne Nahrung und Wasser würde die Wüste sie in wenigen Tagen töten. Die Beduinen waren ihre einzige Hoffnung.
Sie hielt auf das ferne Licht zu, als ihr Blick auf etwas Glitzerndes zu ihren Füßen fiel. Sie blieb stehen, bückte sich und sah, dass es ein Stück Kalkstein war, das leuchtete wie der Mond.
Das Mädchen hielt den Stein in die Höhe, spürte, wie der feine Staub ihren Fingern schmeichelte.
Sie blickte sich nach dem rotgefleckten Felsbrocken um, unter dem sie Zuflucht gefunden hatte, ging zurück und ritzte arabische Lettern in den Stein. Die Sprache ihres eigenen Volkes wurde nur noch zum Gebet benutzt. Und sie verspürte nicht mehr den Wunsch zu beten.
Das Mädchen wusste nicht, ob sie überleben würde. In aller Wahrscheinlichkeit würde die Wildnis sie verschlingen, ehe sie auf Menschen stieße. Und so wollte sie etwas hinterlassen, ein Zeichen, dass sie existiert hatte, jemandem wichtig gewesen war.
Gott mochte sie und ihr Volk vergessen haben, aber zumindest hier in diesem kleinen Winkel einer zerstörten Welt sollten die Steine sich an ihren Namen erinnern.
Miriam.
1
Die Hörner von Hattin - Anno Domini 1187
»Gott, so heißt es, liebe die Ironie. Vielleicht ist dies der Grund, warum in Seiner Stadt des Friedens unentwegt Krieg und Tod herrschen.«
Sein Vater hatte dies einmal zu ihm gesagt, als er, der Rabbi, noch ein rastloser Jüngling gewesen war. In den vielen Jahren, die seither ins Land gegangen waren, hatte er sich sehr verändert. Seine Abenteuerlust war der verzweifelten Sehnsucht nach Beschaulichkeit gewichen. Seine Hochzeitsnacht war eine ferne, aber doch zärtliche Erinnerung. Der alte Mann hatte erfahren, dass vieles von dem, woran er am Morgen seines Lebens geglaubt hatte, im besten Falle unvollkommen, im schlimmsten schlichtweg falsch war. Und doch hatten die Worte seines Vaters sich als wahr erwiesen, immer wieder. Die Vorstellung vom ironischen Gott traf genau jenes unergründliche, unberechenbare Wesen, das den Kosmos lenkte. Gott als einen Schelm zu bezeichnen mochte vermessen sein, aber Humor hatte Er, daran bestand kein Zweifel.
Wie sein Volk war auch der Alte ein rastloser Wanderer. Er hatte die Stille in den schattigen Gärten Córdobas genossen. Seine müden Füße waren auf den Spuren der Königin von Saba durch die afrikanische Wüste gewandelt. Seine grauen Augen hatten sich mit Tränen gefüllt vor den Pyramiden, die schon alt gewesen waren, als Moses in ihrem Schatten gespielt hatte. Und doch hatten ihn alle Wege wieder hierher zurückgeführt, zum Nabel der Welt. Ins Heilige Land. Nach Jerusalem.
Jerusalem war das begehrte Ziel vieler Eroberer gewesen, die wenigsten davon Freunde der Juden. Sein Volk war daraus verbannt und in alle Winde zerstreut worden, und doch hatte es die Stadt Davids niemals vergessen. Sie wohnte wie eine lockende Verheißung in ihren Seelen, ihren Träumen.
Alsdann hatten sich die Söhne Ismaels in der Wüste erhoben, um ihren Anteil am Erbe Abrahams einzufordern. Eine Zeitlang hatte Friede geherrscht, und die Söhne Isaaks waren allmählich heimgekehrt.
Dann waren die Franken am Horizont erschienen. Ein armes, ungebildetes, hasserfülltes Volk, das danach trachtete, im Namen seines Christus Jerusalem an sich zu bringen. Der Rabbi hatte die Worte dieses Jesus von Nazareth gelesen und nichts darin entdeckt, womit sich ihre Schreckenstaten hätten rechtfertigen lassen.
Die Franken mordeten Alte und Schwache. Frauen und Kinder. Sie töteten die Muslime, weil sie Heiden, ihre christlichen Brüder, weil sie Ketzer waren. Wer von den Juden überlebt hatte, wurde in die große Synagoge getrieben, diese daraufhin in Brand gesetzt.
Irgendwann war das Geschrei verstummt, da niemand mehr übrig war, der hätte schreien können.
Fränkische Historiker würden später einmal damit prahlen, dass ihre Ritter in den Straßen Jerusalems knöcheltief im Blut gestanden hätten. Doch das Niedermetzeln Abertausender in der Heiligen Stadt war noch das geringste ihrer Verbrechen. In der einst unverdorbenen Stadt Ma'arra, inmitten smaragdfarbener Weingärten, Felder und Olivenhaine gelegen, war ein Übel nach dem anderen dem tiefsten Schlund der Hölle entstiegen. Der Rabbi hatte erbrochen, nachdem er den Bericht des fränkischen Chronisten Albert von Aachen gelesen hatte, der den größten Sieg Satans über die Herzen der Menschen mit eigenen Augen mit angesehen hatte. Denn in Ma'arra hatten die Kreuzfahrer die Bevölkerung nicht nur hingemetzelt, sondern ihre Opfer, Männer wie Frauen, in irdenen Töpfen gesotten und aufgefressen. Die Kinder hatten sie, bei lebendigem Leibe, am Spieß gebraten.
Der Rabbi hatte einmal geglaubt, diese Geschichten seien die typischen Übertreibungen von Kriegshetzern und Geisteskranken, vergleichbar mit den blutigen Geschichten in der Heiligen Schrift über Josuas Eroberung Palästinas. Balladen des Zorns, dazu gedacht, dem Gegner die Menschlichkeit abzusprechen, anstatt an historische Ereignisse zu erinnern. Doch inzwischen hatte er die Erfahrung gemacht, dass diese Franken, ein außerordentlich nüchterner Menschenschlag, jeder Poesie und Metaphorik abhold waren.
Wie sein Volk hatte auch der Rabbi viele Namen. Für die Araber und seine Brüder unter den Sephardim war er Scheich Musa ibn Maymun, Großrabbiner von Kairo und Leibarzt des Sultans. Die bleichgesichtigen Ashkenazim kannten ihn nur aufgrund seiner detailreichen, eloquenten Schriften zu juristischen und theologischen Themen, die über das herrliche spanische Hochland in die Dunkelheit Europas vorgedrungen waren. Sie nannten ihn Rebbe Moshe Ben Maimon in der Zunge ihrer Vorväter. Die eifrigsten seiner Anhänger ehrten ihn als »Rambam«, obschon er sich selbst keiner besonderen Ehrerbietung für würdig erachtete.
Und die fränkischen Barbaren, zumindest die wenigen, die des Lesens und Schreibens mächtig waren, nannten ihn Maimonides. Sie bezeichneten ihn auch als Mörder Christi, ein Beiname, der seinem ganzen Volke galt. Er nahm ihn nicht allzu persönlich, eher als ein Zeichen ihrer Unwissenheit.
Maimonides schritt bedächtig auf das Zelt des Sultans zu, strich sich den zottigen Bart, wie so oft, wenn er seinen Gedanken nachhing. Sein Leib war nicht müde, aber eine Last, die schwerer wog als Müdigkeit, lag ihm auf der Seele. Die nieder drückende, zermalmende Bürde der Geschichte. Er wusste nicht, ob er den Tag überleben würde, und wollte jeden Atemzug wertschätzen, als wäre er sein letzter. Aber der Gestank von Fackeln und von Exkrementen, menschlichen wie tierischen Ursprungs, vergiftete die Luft. Maimonides hätte gelacht, hätte sein Humor den Schrecken des Krieges überdauert.
Der Rabbi stellte seinem Herrn in Gedanken tausend Fragen. O Gott der Ironie, findest Du selbst an den spitzfindigsten Wendungen des Schicksals Gefallen? Reicht es Dir nicht, dass ein friedliebender Gelehrter von der blutigen Klinge eines Kreuzritters dahingerafft werden könnte? Ist es wirklich nötig, dass seine letzten Erinnerungen vom Gestank nach Siechtum und Kot überlagert werden, dem Geruch der Schlacht?
Aber sein Gott gab ihm wie gewöhnlich keine Antwort.
Maimonides wandte sich den geschäftigen Vorbereitungen für den Kampf zu. Arabische Soldaten mit Turbanen arbeiteten Seite an Seite mit hellhäutigen kurdischen Reitern und statuenhaften nubischen Kriegern. Die Bande des gemeinschaftlichen Ziels wurden noch verstärkt von einer drängenden Energie, die knisternd in der Luft zu liegen schien. So eindringlich war die Empfindung, dass Maimonides spürte, wie sich ihm die feinen Härchen auf den Handrücken aufstellten. Es war die Macht des Schicksals. Diese Männer wussten, dass sie in die Geschichte eingehen würden. Ganz gleich, ob sie am Leben blieben oder starben, ihre Taten würden für alle Zeit in Erinnerung bleiben, würden von tausend künftigen Generationen in die Waagschale geworfen werden.
Der alte Mann bahnte sich einen Weg zwischen Mauleseln, arabischen Hengsten und etlichen Ziegen, die dem Pferch des Schlachters entkommen waren. Er passierte eine Reihe von Kamelen, von denen einige mit Pfeilen aus Damaskus beladen waren, während andere kostbares Wasser vom See Tiberias in den Norden trugen. Seine Begleiter auf der langen Reise von Kairo hatten behauptet, der Dschihad werde mit Hilfe von Wasser gewonnen oder verloren. Des Sultans Strategie bestand darin, die Franken von ihren Wasservorräten abzuschneiden und sie so für den Hauptansturm seiner Truppen zu schwächen.
Die schwerbewaffneten Krieger, die die Kamele entluden, ignorierten den alternden Arzt. Sie waren von jugendlichem Feuer erfüllt und verschwendeten keinen Gedanken an jene, die den letzten Abschnitt auf dem Pfad des Lebens beschritten. Sie standen natürlich unter dem Bann des ironischen Gottes, denn Maimonides wusste, dass er die meisten dieser prahlerischen, selbstgefälligen Burschen überleben würde. Wie viele von ihnen, fragte er sich, mochten tags darauf am Fuße der Zwillingshügel, der Hörner von Hattin, ihr Leben lassen? Wäre überhaupt noch jemand übrig, die Gräber für sie auszuheben?
Maimonides erreichte das Zelt des Sultans und nickte den beiden Ägyptern zu, die vor dem Eingang standen und gewaltige Krummsäbel zückten. Die Wachen, Zwillingsbrüder, beide mit grausamen Augen und versteinertem Kiefer, machten den Weg frei. Sie konnten den Juden nicht sonderlich leiden, aber er genoss das Vertrauen des Sultans. Maimonides wusste, dass nur eine Handvoll Männer Zugang zu ihm hatte, und noch weniger durften ihn ihren Freund nennen. Der Rabbi hatte sich das Vertrauen des Sultans durch jahrelange Treue verdient, seit er in den Palast des Herrschers in Kairo bestellt worden war, um den siegreichen Eroberer von schmerzhaftem Fieber zu befreien. Maimonides dachte oft an die seltsamen Wendungen des Schicksals, die ihn, den bescheidenen Arzt, zum einflussreichen Ratgeber eines Königs bestimmt hatten.
Der Rabbi betrat das Zelt. Wieder staunte er über die karge Ausstattung, die sich kaum von den bescheidenen Unterkünften der ägyptischen Fußsoldaten unterschied. Keine großartigen Trophäen, kein Goldschmuck, keine weichen Teppiche aus Isfahan, um die ausgedörrte Erde zu bedecken. Nur ein Zelt aus gestreiftem grünen Linnen, und auf der Fahne, die am Eingang flatterte, der Adler des Sultans. Der Herrscher vermied die üblichen Insignien der Macht. Dies war einer der vielen Gründe, wusste Maimonides, warum Saladin die unbedingte Loyalität seiner Männer genoss. Er war einer von ihnen, im Leben und vielleicht schon bald im Tod.
Im Inneren des königlichen Zeltes fand der Rabbi seinen Herrn über Karten der umgebenden Landschaft gebeugt. Der Sultan war ein genialer Kriegsstratege, dessen Geheimnis die Liebe zum Detail war. Ein General musste jede Wegbiegung, jeden Hügel, jede Furche im Schlachtfeld besser kennen als den Leib seiner Frau, hatte der Sultan einmal gesagt. Im Krieg war für Irrtümer kein Platz. Ein einziger Fehler konnte das Vorrücken einer Armee behindern, konnte das Schicksal einer gesamten Zivilisation besiegeln, so wie der Fehler der Araber in Tours vor 450 Jahren der Ausbreitung des Islam in Europa ein Ende gesetzt hatte. Der Sultan lebte unter den unbarmherzigen Augen der Geschichte und konnte sich nicht einmal den kleinsten Fehler erlauben.
Maimonides stand erwartungsvoll vor dem Sultan, sorgfältig darauf bedacht, diesen nur ja nicht zu stören. Sein Herr strich ein letztes Mal mit der Hand über das verblichene Pergament, ehe er zu seinem Ratgeber aufblickte. Seine gebräunte Stirn war von Gedanken zerfurcht, sein Gesicht eine Maske eiserner Konzentration, doch in seinen dunklen Augen leuchtete nun aufrichtige Wärme.
Sultan Salah al-Din ibn Ayyub, den Franken bekannt als Saladin, war ein Mann wie kein anderer. Wie König David entfachte Saladin in seinen Gefolgsmännern die Ahnung, dass sie etwas vor sich hatten, das größer war als das Leben selbst, als habe ein göttlicher Funke ein Feuer entzündet, das Menschenherzen verzehrte. Saladin war mehr als nur ein Anführer. Er war ein Katalysator. Wie Alexander und Caesar vor ihm war Saladin gekommen, um die Welt mit seiner einzigartigen Willenskraft auf den Kopf zu stellen.
Der Sultan trat vor und umarmte den Rabbi, küsste ihn auf beide Wangen. Wieder einmal fiel Maimonides auf, wie jung Saladin wirkte. Nein, nicht jung, alterslos. Sein Bart war nachtschwarz, ohne eine Spur von Grau, seine braunen Augen dagegen schienen uralt, und eine unergründliche Traurigkeit lag darin. Die Jahre des Krieges mit den Franken hatten aus Saladin ein wandelndes Rätsel gemacht. Sein Leib schien mit der Zeit immer jünger zu werden, seine Augen dagegen immer älter. Es war, als verleihe jeder Sieg gegen die Templer seinem Körper neue Kraft, zehre dabei jedoch seine Seele aus.
»Friede sei mit dir, alter Freund! Wann bist du gekommen?« Der Sultan führte den Rabbi zu einem seidenen Kissen und bat ihn, er möge sich setzen. Saladins Gewänder, sandfarben wie seine geliebte Wüste, folgten der natürlichen Anmut seiner Bewegungen. Der Sultan hatte den Gang eines Tigers, jeder seiner Schritte vermittelte zwanglose Leichtigkeit, obwohl ihm die kaum unterdrückte Anspannung des Raubtiers innewohnte.
»Die Waffen aus Kairo sind soeben eingetroffen, Sayyidi«, sagte der Rabbi. »Ein Hinterhalt der Franken hat uns aufgehalten. « Maimonides nahm dankbar einen silbernen Kelch entgegen, gefüllt mit gekühltem Wasser aus dem Kaukasus.
Saladins Miene verfinsterte sich.
»Bist du verwundet?«, fragte er, und seine Augen wurden schmal vor Sorge und einer Spur stillen Zornes.
»Ich bin wohlauf, Gott sei es gedankt«, erwiderte Maimonides. »Es war eine kleine Bande, die seit dem Winter ihr Unwesen treibt. Eure Männer haben sie mühelos verscheucht.«
Saladin nickte.
»Mein Hauptmann wird mir später die Einzelheiten schildern «, sagte er. »Ich freue mich von Herzen, dass du hier bist. Wir werden die geübte Hand eines Arztes brauchen, wenn die Schlacht vorüber ist.« Der Sultan erhob sich und kehrte zu seiner Landkarte zurück. Maimonides stellte den Kelch beiseite und folgte ihm. Saladin deutete auf das Pergament, das mit geheimnisvollen Symbolen gekennzeichnet war. Der Sultan wusste freilich nicht, dass strategische Karten für den Rabbi ebenso unleserlich waren wie Hieroglyphen, doch Maimonides mimte Verständnis, als sein Herr die Stimme hob vor Erregung.
»Die Kreuzfahrer haben sich in Hattin versammelt«, sagte er. »Unsere Spione berichten uns, die gesamte Legion aus Jerusalem habe sich den Fremden an der Küste angeschlossen, in der Absicht, unsere Armee zu zerschlagen.«
Maimonides runzelte die Stirn.
»Ich bin kein Stratege, Sayyidi, doch dies dünkt mich keine weise Entscheidung auf ihrer Seite«, bemerkte der Rabbi. »Jerusalem ist das eigentliche Ziel des Dschihad, wie die Franken sicher wissen. Sollten unsere Krieger ihre Reihen durchbrechen, wäre die Stadt einnehmbar. Sie müssen sehr siegessicher sein.«
Saladin lachte, seine Augen blitzten auf vor Freude.
»Nicht siegessicher, nur unverfroren«, sagte er. »Ich habe keinerlei Zweifel, dass diese selbstmörderische Strategie von dem großmächtigen Rainald persönlich ausgetüftelt wurde.«
Maimonides erstarrte beim Namen des fränkischen Edelmannes, der das Heilige Land seit Jahren in Angst und Schrecken versetzte. Rainald von Châtillon war ein ungeschlachter Barbar, dessen Blutdurst selbst die ruchlosesten Franken peinlich berührte. Die Schwester des Rabbiners, Rachel, und ihre Familie waren zehn Jahre zuvor von Rainalds Soldaten bei einem Überfall auf eine Handelskarawane unweit der Stadt Ascalon im Sinai getötet worden. Nur Rachels kleine Tochter Miriam war mit dem Leben davongekommen und hatte sich in der Wüste versteckt, ehe ein freundlicher Beduine sie fand und ihr half, nach Kairo zurückzukehren.
Miriam hatte nie darüber gesprochen, was bei diesem Hinterhalt geschehen, wie es ihr gelungen war, ihn lebend zu überstehen. Dem untröstlichen Maimonides genügte das Wissen, dass Rachel und ihr Ehemann Yehuda bei dem grausamen Angriff umgekommen waren. Maimonides hatte nie echten Hass empfunden, bis er Miriam nach dem Überfall gesehen hatte.
Ihre funkelnden grünen Augen waren wie erloschen, ihr Lachen versiegt. Von Stund an war der Krieg für ihn nicht mehr nur ein fernes Wetterleuchten. Die Franken ins Meer zu treiben wurde sein Lebensziel, nicht nur das leere Gerede eines Allerweltspatrioten, der sicher auf seinem seidenen Diwan ruhte, während andere an seiner statt kämpften. Maimonides fragte sich, wie viele Männer in Saladins Armee aus ähnlichen Beweggründen hier waren. Um eine erlittene Untat zu rächen, begangen von den Kreuzrittern. Um selbst Rache zu üben an Rainald von Kerak.
Saladin bemerkte den Stimmungswandel seines Freundes und berührte voller Mitgefühl seine Schulter.
»Ich habe Allah versprochen, dass ich mich den Franken gnädig erweisen werde, wenn er uns heute den Sieg schenkt«, sagte er. »Aber was Rainald betrifft, so habe ich nichts versprochen.«
»Als ein Mann Gottes kann ich keine Rache predigen«, erwiderte Maimonides, mit einer Spur Bedauern in der Stimme.
»Die Rache überlass den Soldaten«, sagte Saladin. »Ich möchte gern glauben, dass es wenigstens ein paar Männer gibt auf der Welt, die nicht von Blut besudelt sind.«
Der Sultan wurde unterbrochen von der Ankunft seines Bruders al-Adil. Er war größer als Saladin, mit wilden, fast karmesinroten Haaren und pechschwarzen Augen, ebenso tapfer und kraftvoll wie sein Bruder, aber ohne dessen diplomatisches Geschick. Al-Adil betrat Saladins Zelt und beäugte Maimonides voller Misstrauen. Dem Rabbi wurde stets ein wenig mulmig in Gegenwart des flammenhaarigen Riesen. Er vermochte sich nicht zu erklären, warum Saladins Bruder ihn so abgrundtief hasste. Zuweilen dachte er, es sei die Tatsache, dass er ein Jude war. Doch die Söhne Ayyubs waren dazu erzogen worden, der schönsten Tradition ihres Propheten gemäß das Volk des Buches zu achten. Al-Adil war anderen Juden stets höflich begegnet, aber aus unerfindlichen Gründen nicht bereit, diese Freundlichkeit auch auf den Großrabbiner auszuweiten.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Die Karawane hätte in Sicherheit sein sollen. Entlang der Küste waren die Männer des Sultans stationiert. Des schönen neuen Sultans, der Kairo überfallen und den kränkelnden König gestürzt hatte. Damit war der Schiitendynastie der Fatimiden ein Ende gesetzt und Ägypten in den Schoß der Sunniten zurückgekehrt. Sie war eigentlich noch zu klein für diese komplizierten Staatsangelegenheiten, doch ihr Vater hatte stets darauf bestanden, dass ein jüdisches Kind in Politik versiert sein sollte. Es war schließlich der Fluch ihres Volkes, dass die Winde der Veränderung meistens unvermeidlich auch Tragödien und Verbannung mit sich brachten.
Viele hatten befürchtet, der neue Sultan werde die Juden verfolgen, weil sie die häretischen Machthaber Ägyptens unterstützt hatten, gegen den Kalifen von Bagdad. Doch Saladin hatte sich als weiser Herrscher erwiesen und dem Volk des Buches in Freundschaft die Hand gereicht. So hatten die Juden einen Gönner und Beschützer gefunden, und der Oheim des Mädchens war als Leibarzt des Sultans sogar in dessen Palast willkommen.
Wie sehr wünschte sie sich, ihr Oheim wäre heute hier bei ihnen gewesen. Vielleicht hätte er sie vor den Kriegern Christi erretten können, die wie die Heuschrecken über die Karawane hergefallen waren. Er hätte das Blut aus den verstümmelten Gliedern gestillt und seine speziellen Salben auf die Brandwunden gerieben, die brennende Pfeile geschlagen hatten. Wäre er bei ihnen gewesen, würden Vater und Mutter vielleicht noch leben.
Doch tief im Herzen wusste das Mädchen, dass er nichts hätte tun können. Ihr Oheim wäre mit den Übrigen hingeschlachtet worden. Und hätte mit ansehen müssen, wie seiner Schwester - ihrer Mutter - von dem Unhold Gewalt angetan wurde, der jetzt ihr auf den Fersen war.
Sein Gesicht wies blutige Striemen auf, ebenso rot wie das Kreuz auf seiner Brust. Es war dem Mädchen ein kleiner Trost, eine kleine, grausame Genugtuung, dass dieses Blut dem Mörder gehörte, nicht seinen Opfern. Und sie hatte es getan! Ein kleiner Racheakt, eine Narbe, die die schönen Züge des jungen Mannes für immer zeichnen würde. Wann immer er in den Spiegel blickte, würde er sich des Tributs erinnern für das Grauen, das er ihrer Familie angetan hatte.
Den Pallasch in der Faust, an dem schwarz verkrustetes Blut klebte, näherte der Krieger sich ihrem Versteck. Das Mädchen drückte sich tiefer in den schattigen Felsenspalt. Sie spürte ein Krabbeln auf dem Rücken. Eine Spinne, vielleicht auch ein giftiger Skorpion. Einen Augenblick hoffte sie, es möge ein Skorpion sein, damit sein Stich sie töte, ehe der blutgierige Ritter sie zu fassen bekäme. Ihre Lenden brannten noch immer von dem grausamen Überfall, und sie roch den Gestank des Samens, der auf ihren Schenkeln trocknete.
Die hellen Augen des Soldaten suchten die ebene Wüste ab, gleich dem Wolf, der nach dem verwundeten Lamm Ausschau hält. Ihre Fußabdrücke hätten sie verraten müssen. Aber der Boden war von Kameltritten übersät, weil bereits tags zuvor eine Karawane durch dieses Tal gezogen war, und so verloren sich ihre Spuren in der aufgewühlten Erde. Die roten Hügel waren von Felsbrocken überzogen, mächtig genug, um ein Kind ihrer Größe zu verstecken. Es würde Stunden dauern, um all die Felsen und Spalten dieses öden Landstrichs abzusuchen.
Er hätte umkehren und sich seinen Männern zugesellen sollen, die schon die Beute unter sich aufteilten. Die Karawane war nach Damaskus unterwegs gewesen, beladen mit kostbaren Handelsgütern - Gold und Elfenbein aus Abessinien, schöne Wolltücher der Berber im Westen -, und der Fang hatte diese Mörder zu reichen Männern gemacht. Wäre der Ritter klug gewesen, hätte er das widerspenstige kleine Mädchen vergessen und sich lieber um seinen Anteil an der reichen Beute gekümmert.
Doch sein Blick zeugte nicht von Klugheit. Oder Menschlichkeit. Er barg eine Dunkelheit, die sie mehr erschreckte als der grausame Glanz seiner Klinge. Es war ein so tief verwurzelter Hass, so rein in seiner Hässlichkeit, dass der Mann nichts Menschliches mehr an sich hatte, sondern einem Dämon glich, den Tiefen Gehennas entstiegen.
Und er war fast bei ihr. Sie hörte ihn schnaufen, ein Geräusch wie das Zischen einer Schlange. Und einen Augenblick bildete sie sich sogar ein, sie höre den entsetzlichen Trommelschlag seines nach Rache gierenden Herzens.
Sein Blick fiel auf die dunkle Höhlenöffnung, den Spalt, der sich im Schatten der Felsen auftat. Da sah sie ein Grinsen über sein Gesicht gleiten, sah das Glitzern seiner Zähne im grellen Wüstenlicht.
Das Ende war da. Und doch empfand sie irgendwie keine Angst. Empfand überhaupt nichts. Ihr Herz barg keinerlei Regung, sie konnte sich nicht einmal erinnern, wie sich Lachen oder Weinen anfühlte. Die Fähigkeit des Empfindens war ihr abhandengekommen im Schrecken des Überfalls. Sie hatte mit ansehen müssen, wie ihre geliebten Eltern von Männern niedergemetzelt wurden, die sich selbst als Krieger Gottes bezeichneten. Sie verehrten denselben Gott, von dem ihr eigenes Volk glaubte, Er habe sie zu Großem auserwählt.
All die schrecklichen Geschichten, die der Vater ihr von der Vergangenheit ihres Volkes erzählt hatte, waren an jenem Tag Wirklichkeit geworden. Die Geschichten, die sie als Schauermärchen der Alten abgetan hatte, erwiesen sich als wahr. Sie waren in der Tat die einzige Wahrheit für ein Volk, dessen Gott einen allzu hohen Preis verlangte für Seine Liebe.
In diesem Augenblick, da der blutbefleckte Soldat ihrer engen Zuflucht immer näher rückte, hasste sie Gott, weil Er ihr Volk auserwählt und mit dem Fluch belegt hatte, etwas Besonderes zu sein, eine Bürde, die nichts als Unheil und Verzweiflung mit sich brachte. Dass dieser Fremde mit der blassen Haut und der seltsamen Sprache überhaupt etwas vom Gott Abrahams wusste, hatte er den Juden zu verdanken. Doch hatte dieses Wissen nicht etwa einen besseren Menschen aus ihm gemacht, im Gegenteil, es hatte einen selbstgerechten Zorn in ihm entflammt, der nur Leid in diese Welt brachte. Ihr Volk hatte der Menschheit von Gott erzählt, und zum Dank dafür verwandelten die Menschen sich im Namen dieses Gottes in Teufel.
Sie wollte Gott verfluchen, Ihn ebenso verleugnen wie Er Sein eigenes Volk verleugnet und aus der Heimat vertrieben hatte, damit es rastlos durch die Welt irre, von allen Stämmen gehasst. Doch dann bemerkte sie etwas:
Den Halsschmuck.
Ein schlichter Jadestein in einer silbernen Spange, von funkelnden Perlen gesäumt. Das Schmuckstück hatte ihrer Mutter gehört. Der Unhold hatte es ihrem geschändeten Leib entrissen, vor kaum einer Stunde. Und nun trug er es um den Hals wie eine Jagdtrophäe. Am liebsten wäre sie aus ihrem Versteck gesprungen, um ihm die Kette vom Hals zu reißen. Es wäre ihr Tod gewesen, doch wenigstens wäre sie mit dem kostbaren Kleinod ihrer Mutter in der Hand aus dem Leben geschieden.
Die Glut in ihrem Herzen wurde zum tosenden Feuer, und sie hielt sich bereit, dem Mörder die Krallen zu zeigen. Sie würde ihm mit den Fingern die Augen auskratzen, ihm mit den Zähnen gleich einer Löwin die Kehle zerreißen. Er war kein Mensch, und sie war auch keiner mehr. Die Rohheit, deren Zeuge das Mädchen geworden war, hatte jede Illusion in ihr zerstört. Obwohl ein Mensch nach der Thora angehalten war, es den Engeln gleichzutun, so blieb er in Wahrheit ein Tier und würde niemals etwas anderes sein. Der Gott ihres Volkes hatte sie verlassen, und jetzt würde sie Ihm zeigen, was Er damit angerichtet hatte.
Sie ging in die Knie, zum Sprung bereit, als der Soldat sich der Höhle näherte. Sie musste hervorschnellen wie ein Gepard, das Überraschungsmoment nutzen, um den Gegner zur Strecke zu bringen.
Doch als sie zum Sprung ansetzte, sah sie ein kleines Glitzern auf der Brust des Mannes, wie von einem Stern. Es war der Talisman aus Jadestein, der die gleißende Wüstensonne spiegelte. Und ihr Blick fiel auf die Symbole, die in den Stein eingeritzt waren. Vier hebräische Lettern - JHWH.
Das Tetragramm. Der geheime Name Gottes.
Das heilige Wort, das es nicht laut auszusprechen galt, schimmerte smaragdgrün auf dem weißen Waffenrock des Kriegers. Als sie auf diese geheimnisvollen Lettern starrte, geschah etwas Merkwürdiges mit ihr. Die Wut, die sich ihrer bemächtigt hatte, legte sich. Stattdessen erfüllte sie Friede und Gleichmut. Den Namen eines Gottes vor Augen, an den sie nicht mehr glaubte, entsann sich das Mädchen all der zärtlichen Nächte, in denen die Mutter sie sanft in den Schlaf gesungen hatte. Als sie die Halskette sah, mit dem heiligen Stein, fühlte sie sich plötzlich ebenso sicher wie in den Armen ihrer Mutter.
Sie lehnte sich zurück, und die Spannung wich aus ihrem Körper. Mochte der Mann kommen und ihr Leib und Leben nehmen, ihr wäre es einerlei. Ihr Volk würde weiterbestehen, und ihr Name wäre nur eine bittersüße Note mehr in der Melodie ihres Volkes.
Die uralten Worte des Schma Jsrael kamen ihr auf die Lippen, und sie formte sie leise:
Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einzig.
Ein heftiger Wind erhob sich und wirbelte Staub auf, der eine Art Schleier um ihr Versteck bildete. Er steigerte sich zum Sandsturm und verdunkelte das Licht der Sonne.
Sie schloss die Augen, sank in den Schatten, wo Dunkelheit sie umhüllte. Sie wusste weder, in welcher Welt sie erwachen würde, noch, ob es nach diesem Leben, das zu Ende war, überhaupt ein Jenseits gäbe. Es war ihr einerlei.
In der Stille war Friede.
Das Mädchen regte sich und sah, dass die Dunkelheit in der Höhle sich jetzt auf die ganze Welt ausgebreitet hatte. Sie konnte nichts sehen, und doch wusste sie, dass um sie her eine Weite war, die sich ins Unendliche erstreckte. War dies das Reich des Todes?
Dann hörte sie das Geheul eines Schakals und das Rascheln des Sandes im Wind und begriff, dass sie noch in der Menschenwelt war.
Auf allen vieren kroch sie aus der Höhle, die ihre Zuflucht gewesen war, hinein in die Wüste. Es war Nacht, und zahllose Sterne leuchteten am Himmel, einem Tuche gleich, bestückt von weißen Diamanten, die ein kaltes Feuer verströmten.
Fröstelnd schlug sie die Arme um sich. Es war kalt geworden, kaum zu glauben, dass die Wüste noch vor wenigen Stunden sengend heiß gewesen war. Das Mädchen blickte um sich und sah, dass sie allein war inmitten von hohen Dünen und einem Meer aus Felsbrocken.
Der Mann, der sie geschändet und ihre Mutter ermordet hatte, war spurlos verschwunden.
Erneut trieb die Erinnerung ihr spitze Dolche ins Herz. Die Beine versagten ihr den Dienst, und sie sank zu Boden und erbrach, bis bittere Galle ihr die Sinne benahm.
Eine Weile lag sie still auf dem Wüstenboden. Sie wollte weinen, konnte aber nicht. Es war, als sei das Kind, das sie noch gestern gewesen war, voller Lebendigkeit und Gefühl, für immer verloren. Sosehr sie es auch versuchte, ihr Herz regte sich nicht. Gab den quälenden Schmerz nicht frei, der sie zu zerreißen drohte.
Also sperrte sie ihn ein und verschloss die Tür für immer.
Das Mädchen stand auf und erhob stolz das Haupt, mit so kalter und unerschütterlicher Miene, als wäre sie aus Stein, eine der antiken Isisstatuen, die noch in Ägypten standen. Sie blickte sich erneut um und entdeckte in der Ferne einen Lichtschein. Vermutlich ein Lagerfeuer. Doch keines der Kreuzritter; sie würden es nicht wagen, in der Wüste zu nächtigen und den Kundschaftern des Sultans zum Opfer zu fallen. Beduinen wahrscheinlich, Ziegenhirten, die unter freiem Himmel schliefen, ganz so wie in den Tagen, als Moses durch diese Wüste gewandelt war, ein Verbannter wie sie.
Das jüdische Mädchen wusste, dass sie Hilfe finden musste. Ohne Nahrung und Wasser würde die Wüste sie in wenigen Tagen töten. Die Beduinen waren ihre einzige Hoffnung.
Sie hielt auf das ferne Licht zu, als ihr Blick auf etwas Glitzerndes zu ihren Füßen fiel. Sie blieb stehen, bückte sich und sah, dass es ein Stück Kalkstein war, das leuchtete wie der Mond.
Das Mädchen hielt den Stein in die Höhe, spürte, wie der feine Staub ihren Fingern schmeichelte.
Sie blickte sich nach dem rotgefleckten Felsbrocken um, unter dem sie Zuflucht gefunden hatte, ging zurück und ritzte arabische Lettern in den Stein. Die Sprache ihres eigenen Volkes wurde nur noch zum Gebet benutzt. Und sie verspürte nicht mehr den Wunsch zu beten.
Das Mädchen wusste nicht, ob sie überleben würde. In aller Wahrscheinlichkeit würde die Wildnis sie verschlingen, ehe sie auf Menschen stieße. Und so wollte sie etwas hinterlassen, ein Zeichen, dass sie existiert hatte, jemandem wichtig gewesen war.
Gott mochte sie und ihr Volk vergessen haben, aber zumindest hier in diesem kleinen Winkel einer zerstörten Welt sollten die Steine sich an ihren Namen erinnern.
Miriam.
1
Die Hörner von Hattin - Anno Domini 1187
»Gott, so heißt es, liebe die Ironie. Vielleicht ist dies der Grund, warum in Seiner Stadt des Friedens unentwegt Krieg und Tod herrschen.«
Sein Vater hatte dies einmal zu ihm gesagt, als er, der Rabbi, noch ein rastloser Jüngling gewesen war. In den vielen Jahren, die seither ins Land gegangen waren, hatte er sich sehr verändert. Seine Abenteuerlust war der verzweifelten Sehnsucht nach Beschaulichkeit gewichen. Seine Hochzeitsnacht war eine ferne, aber doch zärtliche Erinnerung. Der alte Mann hatte erfahren, dass vieles von dem, woran er am Morgen seines Lebens geglaubt hatte, im besten Falle unvollkommen, im schlimmsten schlichtweg falsch war. Und doch hatten die Worte seines Vaters sich als wahr erwiesen, immer wieder. Die Vorstellung vom ironischen Gott traf genau jenes unergründliche, unberechenbare Wesen, das den Kosmos lenkte. Gott als einen Schelm zu bezeichnen mochte vermessen sein, aber Humor hatte Er, daran bestand kein Zweifel.
Wie sein Volk war auch der Alte ein rastloser Wanderer. Er hatte die Stille in den schattigen Gärten Córdobas genossen. Seine müden Füße waren auf den Spuren der Königin von Saba durch die afrikanische Wüste gewandelt. Seine grauen Augen hatten sich mit Tränen gefüllt vor den Pyramiden, die schon alt gewesen waren, als Moses in ihrem Schatten gespielt hatte. Und doch hatten ihn alle Wege wieder hierher zurückgeführt, zum Nabel der Welt. Ins Heilige Land. Nach Jerusalem.
Jerusalem war das begehrte Ziel vieler Eroberer gewesen, die wenigsten davon Freunde der Juden. Sein Volk war daraus verbannt und in alle Winde zerstreut worden, und doch hatte es die Stadt Davids niemals vergessen. Sie wohnte wie eine lockende Verheißung in ihren Seelen, ihren Träumen.
Alsdann hatten sich die Söhne Ismaels in der Wüste erhoben, um ihren Anteil am Erbe Abrahams einzufordern. Eine Zeitlang hatte Friede geherrscht, und die Söhne Isaaks waren allmählich heimgekehrt.
Dann waren die Franken am Horizont erschienen. Ein armes, ungebildetes, hasserfülltes Volk, das danach trachtete, im Namen seines Christus Jerusalem an sich zu bringen. Der Rabbi hatte die Worte dieses Jesus von Nazareth gelesen und nichts darin entdeckt, womit sich ihre Schreckenstaten hätten rechtfertigen lassen.
Die Franken mordeten Alte und Schwache. Frauen und Kinder. Sie töteten die Muslime, weil sie Heiden, ihre christlichen Brüder, weil sie Ketzer waren. Wer von den Juden überlebt hatte, wurde in die große Synagoge getrieben, diese daraufhin in Brand gesetzt.
Irgendwann war das Geschrei verstummt, da niemand mehr übrig war, der hätte schreien können.
Fränkische Historiker würden später einmal damit prahlen, dass ihre Ritter in den Straßen Jerusalems knöcheltief im Blut gestanden hätten. Doch das Niedermetzeln Abertausender in der Heiligen Stadt war noch das geringste ihrer Verbrechen. In der einst unverdorbenen Stadt Ma'arra, inmitten smaragdfarbener Weingärten, Felder und Olivenhaine gelegen, war ein Übel nach dem anderen dem tiefsten Schlund der Hölle entstiegen. Der Rabbi hatte erbrochen, nachdem er den Bericht des fränkischen Chronisten Albert von Aachen gelesen hatte, der den größten Sieg Satans über die Herzen der Menschen mit eigenen Augen mit angesehen hatte. Denn in Ma'arra hatten die Kreuzfahrer die Bevölkerung nicht nur hingemetzelt, sondern ihre Opfer, Männer wie Frauen, in irdenen Töpfen gesotten und aufgefressen. Die Kinder hatten sie, bei lebendigem Leibe, am Spieß gebraten.
Der Rabbi hatte einmal geglaubt, diese Geschichten seien die typischen Übertreibungen von Kriegshetzern und Geisteskranken, vergleichbar mit den blutigen Geschichten in der Heiligen Schrift über Josuas Eroberung Palästinas. Balladen des Zorns, dazu gedacht, dem Gegner die Menschlichkeit abzusprechen, anstatt an historische Ereignisse zu erinnern. Doch inzwischen hatte er die Erfahrung gemacht, dass diese Franken, ein außerordentlich nüchterner Menschenschlag, jeder Poesie und Metaphorik abhold waren.
Wie sein Volk hatte auch der Rabbi viele Namen. Für die Araber und seine Brüder unter den Sephardim war er Scheich Musa ibn Maymun, Großrabbiner von Kairo und Leibarzt des Sultans. Die bleichgesichtigen Ashkenazim kannten ihn nur aufgrund seiner detailreichen, eloquenten Schriften zu juristischen und theologischen Themen, die über das herrliche spanische Hochland in die Dunkelheit Europas vorgedrungen waren. Sie nannten ihn Rebbe Moshe Ben Maimon in der Zunge ihrer Vorväter. Die eifrigsten seiner Anhänger ehrten ihn als »Rambam«, obschon er sich selbst keiner besonderen Ehrerbietung für würdig erachtete.
Und die fränkischen Barbaren, zumindest die wenigen, die des Lesens und Schreibens mächtig waren, nannten ihn Maimonides. Sie bezeichneten ihn auch als Mörder Christi, ein Beiname, der seinem ganzen Volke galt. Er nahm ihn nicht allzu persönlich, eher als ein Zeichen ihrer Unwissenheit.
Maimonides schritt bedächtig auf das Zelt des Sultans zu, strich sich den zottigen Bart, wie so oft, wenn er seinen Gedanken nachhing. Sein Leib war nicht müde, aber eine Last, die schwerer wog als Müdigkeit, lag ihm auf der Seele. Die nieder drückende, zermalmende Bürde der Geschichte. Er wusste nicht, ob er den Tag überleben würde, und wollte jeden Atemzug wertschätzen, als wäre er sein letzter. Aber der Gestank von Fackeln und von Exkrementen, menschlichen wie tierischen Ursprungs, vergiftete die Luft. Maimonides hätte gelacht, hätte sein Humor den Schrecken des Krieges überdauert.
Der Rabbi stellte seinem Herrn in Gedanken tausend Fragen. O Gott der Ironie, findest Du selbst an den spitzfindigsten Wendungen des Schicksals Gefallen? Reicht es Dir nicht, dass ein friedliebender Gelehrter von der blutigen Klinge eines Kreuzritters dahingerafft werden könnte? Ist es wirklich nötig, dass seine letzten Erinnerungen vom Gestank nach Siechtum und Kot überlagert werden, dem Geruch der Schlacht?
Aber sein Gott gab ihm wie gewöhnlich keine Antwort.
Maimonides wandte sich den geschäftigen Vorbereitungen für den Kampf zu. Arabische Soldaten mit Turbanen arbeiteten Seite an Seite mit hellhäutigen kurdischen Reitern und statuenhaften nubischen Kriegern. Die Bande des gemeinschaftlichen Ziels wurden noch verstärkt von einer drängenden Energie, die knisternd in der Luft zu liegen schien. So eindringlich war die Empfindung, dass Maimonides spürte, wie sich ihm die feinen Härchen auf den Handrücken aufstellten. Es war die Macht des Schicksals. Diese Männer wussten, dass sie in die Geschichte eingehen würden. Ganz gleich, ob sie am Leben blieben oder starben, ihre Taten würden für alle Zeit in Erinnerung bleiben, würden von tausend künftigen Generationen in die Waagschale geworfen werden.
Der alte Mann bahnte sich einen Weg zwischen Mauleseln, arabischen Hengsten und etlichen Ziegen, die dem Pferch des Schlachters entkommen waren. Er passierte eine Reihe von Kamelen, von denen einige mit Pfeilen aus Damaskus beladen waren, während andere kostbares Wasser vom See Tiberias in den Norden trugen. Seine Begleiter auf der langen Reise von Kairo hatten behauptet, der Dschihad werde mit Hilfe von Wasser gewonnen oder verloren. Des Sultans Strategie bestand darin, die Franken von ihren Wasservorräten abzuschneiden und sie so für den Hauptansturm seiner Truppen zu schwächen.
Die schwerbewaffneten Krieger, die die Kamele entluden, ignorierten den alternden Arzt. Sie waren von jugendlichem Feuer erfüllt und verschwendeten keinen Gedanken an jene, die den letzten Abschnitt auf dem Pfad des Lebens beschritten. Sie standen natürlich unter dem Bann des ironischen Gottes, denn Maimonides wusste, dass er die meisten dieser prahlerischen, selbstgefälligen Burschen überleben würde. Wie viele von ihnen, fragte er sich, mochten tags darauf am Fuße der Zwillingshügel, der Hörner von Hattin, ihr Leben lassen? Wäre überhaupt noch jemand übrig, die Gräber für sie auszuheben?
Maimonides erreichte das Zelt des Sultans und nickte den beiden Ägyptern zu, die vor dem Eingang standen und gewaltige Krummsäbel zückten. Die Wachen, Zwillingsbrüder, beide mit grausamen Augen und versteinertem Kiefer, machten den Weg frei. Sie konnten den Juden nicht sonderlich leiden, aber er genoss das Vertrauen des Sultans. Maimonides wusste, dass nur eine Handvoll Männer Zugang zu ihm hatte, und noch weniger durften ihn ihren Freund nennen. Der Rabbi hatte sich das Vertrauen des Sultans durch jahrelange Treue verdient, seit er in den Palast des Herrschers in Kairo bestellt worden war, um den siegreichen Eroberer von schmerzhaftem Fieber zu befreien. Maimonides dachte oft an die seltsamen Wendungen des Schicksals, die ihn, den bescheidenen Arzt, zum einflussreichen Ratgeber eines Königs bestimmt hatten.
Der Rabbi betrat das Zelt. Wieder staunte er über die karge Ausstattung, die sich kaum von den bescheidenen Unterkünften der ägyptischen Fußsoldaten unterschied. Keine großartigen Trophäen, kein Goldschmuck, keine weichen Teppiche aus Isfahan, um die ausgedörrte Erde zu bedecken. Nur ein Zelt aus gestreiftem grünen Linnen, und auf der Fahne, die am Eingang flatterte, der Adler des Sultans. Der Herrscher vermied die üblichen Insignien der Macht. Dies war einer der vielen Gründe, wusste Maimonides, warum Saladin die unbedingte Loyalität seiner Männer genoss. Er war einer von ihnen, im Leben und vielleicht schon bald im Tod.
Im Inneren des königlichen Zeltes fand der Rabbi seinen Herrn über Karten der umgebenden Landschaft gebeugt. Der Sultan war ein genialer Kriegsstratege, dessen Geheimnis die Liebe zum Detail war. Ein General musste jede Wegbiegung, jeden Hügel, jede Furche im Schlachtfeld besser kennen als den Leib seiner Frau, hatte der Sultan einmal gesagt. Im Krieg war für Irrtümer kein Platz. Ein einziger Fehler konnte das Vorrücken einer Armee behindern, konnte das Schicksal einer gesamten Zivilisation besiegeln, so wie der Fehler der Araber in Tours vor 450 Jahren der Ausbreitung des Islam in Europa ein Ende gesetzt hatte. Der Sultan lebte unter den unbarmherzigen Augen der Geschichte und konnte sich nicht einmal den kleinsten Fehler erlauben.
Maimonides stand erwartungsvoll vor dem Sultan, sorgfältig darauf bedacht, diesen nur ja nicht zu stören. Sein Herr strich ein letztes Mal mit der Hand über das verblichene Pergament, ehe er zu seinem Ratgeber aufblickte. Seine gebräunte Stirn war von Gedanken zerfurcht, sein Gesicht eine Maske eiserner Konzentration, doch in seinen dunklen Augen leuchtete nun aufrichtige Wärme.
Sultan Salah al-Din ibn Ayyub, den Franken bekannt als Saladin, war ein Mann wie kein anderer. Wie König David entfachte Saladin in seinen Gefolgsmännern die Ahnung, dass sie etwas vor sich hatten, das größer war als das Leben selbst, als habe ein göttlicher Funke ein Feuer entzündet, das Menschenherzen verzehrte. Saladin war mehr als nur ein Anführer. Er war ein Katalysator. Wie Alexander und Caesar vor ihm war Saladin gekommen, um die Welt mit seiner einzigartigen Willenskraft auf den Kopf zu stellen.
Der Sultan trat vor und umarmte den Rabbi, küsste ihn auf beide Wangen. Wieder einmal fiel Maimonides auf, wie jung Saladin wirkte. Nein, nicht jung, alterslos. Sein Bart war nachtschwarz, ohne eine Spur von Grau, seine braunen Augen dagegen schienen uralt, und eine unergründliche Traurigkeit lag darin. Die Jahre des Krieges mit den Franken hatten aus Saladin ein wandelndes Rätsel gemacht. Sein Leib schien mit der Zeit immer jünger zu werden, seine Augen dagegen immer älter. Es war, als verleihe jeder Sieg gegen die Templer seinem Körper neue Kraft, zehre dabei jedoch seine Seele aus.
»Friede sei mit dir, alter Freund! Wann bist du gekommen?« Der Sultan führte den Rabbi zu einem seidenen Kissen und bat ihn, er möge sich setzen. Saladins Gewänder, sandfarben wie seine geliebte Wüste, folgten der natürlichen Anmut seiner Bewegungen. Der Sultan hatte den Gang eines Tigers, jeder seiner Schritte vermittelte zwanglose Leichtigkeit, obwohl ihm die kaum unterdrückte Anspannung des Raubtiers innewohnte.
»Die Waffen aus Kairo sind soeben eingetroffen, Sayyidi«, sagte der Rabbi. »Ein Hinterhalt der Franken hat uns aufgehalten. « Maimonides nahm dankbar einen silbernen Kelch entgegen, gefüllt mit gekühltem Wasser aus dem Kaukasus.
Saladins Miene verfinsterte sich.
»Bist du verwundet?«, fragte er, und seine Augen wurden schmal vor Sorge und einer Spur stillen Zornes.
»Ich bin wohlauf, Gott sei es gedankt«, erwiderte Maimonides. »Es war eine kleine Bande, die seit dem Winter ihr Unwesen treibt. Eure Männer haben sie mühelos verscheucht.«
Saladin nickte.
»Mein Hauptmann wird mir später die Einzelheiten schildern «, sagte er. »Ich freue mich von Herzen, dass du hier bist. Wir werden die geübte Hand eines Arztes brauchen, wenn die Schlacht vorüber ist.« Der Sultan erhob sich und kehrte zu seiner Landkarte zurück. Maimonides stellte den Kelch beiseite und folgte ihm. Saladin deutete auf das Pergament, das mit geheimnisvollen Symbolen gekennzeichnet war. Der Sultan wusste freilich nicht, dass strategische Karten für den Rabbi ebenso unleserlich waren wie Hieroglyphen, doch Maimonides mimte Verständnis, als sein Herr die Stimme hob vor Erregung.
»Die Kreuzfahrer haben sich in Hattin versammelt«, sagte er. »Unsere Spione berichten uns, die gesamte Legion aus Jerusalem habe sich den Fremden an der Küste angeschlossen, in der Absicht, unsere Armee zu zerschlagen.«
Maimonides runzelte die Stirn.
»Ich bin kein Stratege, Sayyidi, doch dies dünkt mich keine weise Entscheidung auf ihrer Seite«, bemerkte der Rabbi. »Jerusalem ist das eigentliche Ziel des Dschihad, wie die Franken sicher wissen. Sollten unsere Krieger ihre Reihen durchbrechen, wäre die Stadt einnehmbar. Sie müssen sehr siegessicher sein.«
Saladin lachte, seine Augen blitzten auf vor Freude.
»Nicht siegessicher, nur unverfroren«, sagte er. »Ich habe keinerlei Zweifel, dass diese selbstmörderische Strategie von dem großmächtigen Rainald persönlich ausgetüftelt wurde.«
Maimonides erstarrte beim Namen des fränkischen Edelmannes, der das Heilige Land seit Jahren in Angst und Schrecken versetzte. Rainald von Châtillon war ein ungeschlachter Barbar, dessen Blutdurst selbst die ruchlosesten Franken peinlich berührte. Die Schwester des Rabbiners, Rachel, und ihre Familie waren zehn Jahre zuvor von Rainalds Soldaten bei einem Überfall auf eine Handelskarawane unweit der Stadt Ascalon im Sinai getötet worden. Nur Rachels kleine Tochter Miriam war mit dem Leben davongekommen und hatte sich in der Wüste versteckt, ehe ein freundlicher Beduine sie fand und ihr half, nach Kairo zurückzukehren.
Miriam hatte nie darüber gesprochen, was bei diesem Hinterhalt geschehen, wie es ihr gelungen war, ihn lebend zu überstehen. Dem untröstlichen Maimonides genügte das Wissen, dass Rachel und ihr Ehemann Yehuda bei dem grausamen Angriff umgekommen waren. Maimonides hatte nie echten Hass empfunden, bis er Miriam nach dem Überfall gesehen hatte.
Ihre funkelnden grünen Augen waren wie erloschen, ihr Lachen versiegt. Von Stund an war der Krieg für ihn nicht mehr nur ein fernes Wetterleuchten. Die Franken ins Meer zu treiben wurde sein Lebensziel, nicht nur das leere Gerede eines Allerweltspatrioten, der sicher auf seinem seidenen Diwan ruhte, während andere an seiner statt kämpften. Maimonides fragte sich, wie viele Männer in Saladins Armee aus ähnlichen Beweggründen hier waren. Um eine erlittene Untat zu rächen, begangen von den Kreuzrittern. Um selbst Rache zu üben an Rainald von Kerak.
Saladin bemerkte den Stimmungswandel seines Freundes und berührte voller Mitgefühl seine Schulter.
»Ich habe Allah versprochen, dass ich mich den Franken gnädig erweisen werde, wenn er uns heute den Sieg schenkt«, sagte er. »Aber was Rainald betrifft, so habe ich nichts versprochen.«
»Als ein Mann Gottes kann ich keine Rache predigen«, erwiderte Maimonides, mit einer Spur Bedauern in der Stimme.
»Die Rache überlass den Soldaten«, sagte Saladin. »Ich möchte gern glauben, dass es wenigstens ein paar Männer gibt auf der Welt, die nicht von Blut besudelt sind.«
Der Sultan wurde unterbrochen von der Ankunft seines Bruders al-Adil. Er war größer als Saladin, mit wilden, fast karmesinroten Haaren und pechschwarzen Augen, ebenso tapfer und kraftvoll wie sein Bruder, aber ohne dessen diplomatisches Geschick. Al-Adil betrat Saladins Zelt und beäugte Maimonides voller Misstrauen. Dem Rabbi wurde stets ein wenig mulmig in Gegenwart des flammenhaarigen Riesen. Er vermochte sich nicht zu erklären, warum Saladins Bruder ihn so abgrundtief hasste. Zuweilen dachte er, es sei die Tatsache, dass er ein Jude war. Doch die Söhne Ayyubs waren dazu erzogen worden, der schönsten Tradition ihres Propheten gemäß das Volk des Buches zu achten. Al-Adil war anderen Juden stets höflich begegnet, aber aus unerfindlichen Gründen nicht bereit, diese Freundlichkeit auch auf den Großrabbiner auszuweiten.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
... weniger
Autoren-Porträt von Kamran Pasha
Pasha, KamranKamran Pasha ist Drehbuchautor und Produzent in Hollywood. Aus seiner Feder stammen die TV-Serien 'Sleeper Cell' und 'Kings'. Er wurde
in Pakistan geboren, kam mit drei Jahren nach New York und wuchs in Brooklyn auf.Gabler, Irmengard
Irmengard Gabler war nach dem Studium der Anglistik und Romanistik in Eichstätt und London einige Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für romanische Literaturwissenschaft an der Universität Eichstätt tätig. Seit 1993 übersetzt sie Belletristik und Sachbücher aus dem Englischen, Französischen und Italienischen (u.a. Cristina Campo, Serena Vitale, Philippe Blasband, Christopher J. Sansom, John Dickie, Adam Higginbotham). Die Übersetzerin lebt in München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kamran Pasha
- 2012, 512 Seiten, Maße: 12,4 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Gabler, Irmengard
- Übersetzer: Irmengard Gabler
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596180538
- ISBN-13: 9783596180530
- Erscheinungsdatum: 13.12.2012
Kommentar zu "Die Schwerter von Jerusalem"
Weitere Empfehlungen zu „Die Schwerter von Jerusalem “
0 Gebrauchte Artikel zu „Die Schwerter von Jerusalem“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Keine Kommentare vorhanden
Jetzt bewertenSchreiben Sie den ersten Kommentar zu "Die Schwerter von Jerusalem".
Kommentar verfassen