Die Seherin von Garmisch
Ein Adler zeigt Johanna nachts in ihren Träumen Dinge, die andere nicht sehen. Nun hat der Adler Johanna den Tod eines jungen Mannes gezeigt. Wird die Polizei ihr glauben? Am vermeintlichen Tatort findet sich nichts außer ein paar blutigen...
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Produktinformationen zu „Die Seherin von Garmisch “
Ein Adler zeigt Johanna nachts in ihren Träumen Dinge, die andere nicht sehen. Nun hat der Adler Johanna den Tod eines jungen Mannes gezeigt. Wird die Polizei ihr glauben? Am vermeintlichen Tatort findet sich nichts außer ein paar blutigen Tierhaaren. Doch der Junge aus Johannas Traum ist tatsächlich verschwunden.
Lese-Probe zu „Die Seherin von Garmisch “
Die Seherin von Garmisch von Martin SchüllerDer Adler, der ihre Sinne bis über die Wolken trägt, schenkt ihr noch einen Blick auf den makellosen Sternenhimmel, dann stürzt er sich hinab. Er durchstößt den dichten, nassen Schleier, lässt sie die Lichter der Stadt sehen, und die Schwärze der Berge. Dorthin, ins Schwarz, in die Dunkelheit trägt er sie. Je näher sie dem Schwarz dort kommen, um so mehr löst es sich in Grau auf. Konturen bilden sich, Schemen gewinnen Form. Wald kann sie erkennen, ein Reh, unbewegt im Gebüsch, eine Rotte Wildschweine, die ihre Spur zwischen die Bäume pflügt. Und einen Menschen. Er ist jung, ein Kind noch fast, hockt auf dem Boden einer Mulde, die Arme um den Körper geschlungen. Vor Kälte - oder vor Furcht? Der Adler kreist über ihm, bevor er sanft im Wipfel einer hohen Kiefer landet. Er lässt sie ins Rund sehen. Sie erkennt den Ort, eine Schotterstraße, einen Holzlagerplatz, sie weiß: Hier war sie schon, aber sie kann sich an den Namen des Ortes nicht erinnern. Dann zeigt der Adler ihr den Mann mit der Waffe. Er steht versteckt hinter den Bäumen am Rand des Platzes auf der anderen Seite der Straße, fast unsichtbar in seiner dunklen Jacke.
... mehr
Jetzt hört sie etwas. Ein Fahrzeug nähert sich aus dem Tal. Bald darauf rollt ein schwarzes Motorrad auf den schlammigen Platz. Es hält mit laufendem Motor. Der Fahrer, unkenntlich unter Helm und Schutzbrille, streift einen schwarzen Rucksack vom Rücken und stellt ihn auf den Boden. Dann fährt er wieder an, dreht eine ruhige Kurve und rollt zurück auf die Straße. Er fährt weiter den Berg hinauf. Das Motorrad ist noch nicht außer Hörweite, als der Junge aus der Senke kriecht und eine kleine Taschenlampe anschaltet, in deren Schein er die Straße überquert. Der Adler zeigt ihr sein Gesicht, und sie erschrickt. Sie kennt den Jungen. Nicht beim Namen, aber sie weiß, wer er ist; sie hat ihm schon gegenübergestanden, in ihrer eigenen Stube. Der Junge nähert sich dem Rucksack. Sie will ihm eine Warnung zuschreien, aber der Adler erlaubt es nicht, das tut er nie. Er zeigt ihr nur den Mann, der sich lautlos aus der anderen Richtung dem Rucksack nähert - und das dunkle Metall in seiner Hand.
Der Junge kann ihn nicht hören und in der Schwärze der Nacht erst sehen, als ihn der Lichtkegel der Taschenlampe trifft. Und da ist es zu spät. Dem Jungen entfährt ein erschreckter Schrei. Die Waffe in der Hand des Mannes stößt Feuer aus, zweimal, und noch einmal. Sie ringt um Atem, hat das Gefühl zu ersticken an ihrer Stummheit. Der Adler stößt sich sanft von dem Ast ab, auf dem er geruht hat. Lautlos, mit ausgebreiteten Schwingen gleitet er über das Geschehen hin. Dann fliegt er davon. Steigt hinauf, immer höher, in die Wolken, erreicht sie, steigt weiter in die feuchte, blinde Watte. Und dort lässt er sie fallen. Johanna Kindel wachte schlagartig auf.
Keuchend und um Atem ringend tastete sie nach der Nachttischlampe und setzte sich auf. Die Luft kam kalt durch das kleine, auf Kipp stehende Fenster, hinter dem schwarze Nacht herrschte, aber ihr Nachthemd war klamm und feucht von Schweiß. Sie begann zu zittern, doch es war nicht die Kälte. Sie zitterte vor Angst. Von der Tür herein flüsterndes Rufen. »Großmama?« »Es is nix, Danni«, antwortete sie. »Aber warum hast geschrien?« Johanna stand auf. Sie streifte ihre Pantoffeln über und öffnete die Tür. Daniela sah zu ihr auf mit der ganzen Besorgnis, zu der ein zehnjähriges Mädchen fähig war. Johanna beugte sich zu ihr hinab und nahm sie in den Arm. »Hast geträumt?«, fragte Danni. Johanna nickte und zog die Nase hoch. »War's einer von dene Träum?«, fragte die Kleine. »Na«, antwortete Johanna entschieden. »Was redst da wieder? I hob dacht, mir warn einig?« »Aber du hast geschrien!« »Es gibt solche Träum ned, hörst!« »Aber Tante Mariandl hat doch gesagt ...« Danni wandte sich halb ab und versuchte, sich aus ihrer Umarmung zu befreien.
Johanna ließ sie los. »Da hat die Tant an Spaß gmacht, des hab i dir schon so oft gsagt«, sagte sie sanft. Dannis Augen waren halb hinter ihren glatten blonden Haaren verborgen, aber Johanna sah die Tränen darin. »Mach dir keine Sorgen, mei Kloans. Ois werd gut.« »Wirklich?« Johanna zwang sich zu einem Lächeln. Mit einem entschiedenen Nicken log sie ihre Enkelin an. »Und jetzt gemma wieder ins Bett«, sagte sie bestimmt. Danni gehorchte. Johanna wartete, bis sie in ihrem Zimmer verschwunden war, dann ging sie leise über den Flur zur Stiege und sah hinauf. Durch den Spalt der Dachbodentür leuchtete ein schwacher Lichtschein. Johanna setzte einen Fuß auf die unterste Stufe, aber das laute Knarren, mit dem die Stiege darauf antwortete, ließ sie innehalten. Es hatte keinen Sinn, jetzt an Severins Tür zu klopfen.
Wahrscheinlich würde er Kopfhörer tragen und seine Bassgitarre spielen und sie gar nicht hören. Und wahrscheinlich würde er sie auch nicht hineinlassen. Sie ging zurück in ihr Zimmer. Der Wecker zeigte nach drei. Sie streifte das klamme Nachthemd vom Körper und holte ein frisches aus dem Kleiderschrank. Dann schüttelte sie Kissen und Federbett auf, drehte beide um und legte sich wieder ins Bett. Sie lag wach im Licht ihrer Nachttischlampe. Es gab diese Träume. Natürlich. Der Adler begleitete sie seit dem Ende ihrer Kindheit, bald fünfzig Jahre nun. Sie hatte schon lange Zeit zu niemandem mehr darüber gesprochen.
Oft, meist sogar, gab es auch gar nichts zu erzählen. Der Adler zeigte ihr das Land, den Himmel, die Berge, sogar das Meer manchmal. Und Geschehnisse, die sie nicht verstand. Handlungen von Menschen, die sie nicht kannte. Und sie sah Menschen sterben - und geboren werden. Den Tod und das Leben. Ja, der Adler hatte ihr viele Tode gezeigt. Sanfte und harte, schmerzhafte und unerwartete. Wichtige und unwichtige. Die wichtigen - die für Johanna Kindel wichtigen, die beiden wichtigsten von allen -, die hatte er ihr nicht gezeigt. Und dafür war sie dankbar. Es war fast so wie vor dreizehn Jahren, als sie das letzte Mal vom Adler erzählt hatte. Damals hatte sie es sehr bereut. So sehr, dass sie es nie wieder getan hatte. Und es war die richtige Entscheidung gewesen. Aber nun war alles anders. Sie kannte diesen Jungen, und das Gesicht des Mörders würde sie nie mehr vergessen.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie schlief erst ein, als hinter den Gardinen ihres kleinen Fensters bereits der Morgen dämmerte; und als viel zu bald darauf ihr Wecker fiepte, musste sie alle Kraft aufbieten, um aufzustehen und den Kindern das Frühstück zu machen. Danni kam als Erste, wie eigentlich immer. Sie gab Johanna einen nach Zahncreme schmeckenden Kuss auf den Mund und rutschte dann auf die Bank. »Geht's dir besser, Großmama?«, fragte sie. Johanna nickte lächelnd, aber offenbar hatte die Nacht solche Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen, dass sie nicht einmal eine Zehnjährige überzeugen konnte.
»Oder bist krank?«, fragte Danni. »Na«, antwortete Johanna nur und begann, Pausenbrote zu schmieren. »Weißt, wann der Seve in de Schul muss?« »Zur zweiten, glaub i«, antwortete Danni. Sie biss in ihr Nutellabrot und ließ Johanna nicht aus den Augen - großen, besorgten Kinderaugen. »I möcht nicht, dass du krank wirst«, sagte sie ernst. »I pass scho auf mi auf«, antwortete Johanna, ebenso ernst. Sie würde alles tun, dass Danni und Severin nicht allein zurückblieben; solange es irgendwie ging, würde sie bei ihnen bleiben, bei ihnen bleiben müssen. Sie durfte keine Fehler machen. Die Kinder brauchten sie. Auch wenn Severin das anders sah. So anders, wie siebzehnjährige Buben etwas anders sehen konnten. Ganz anders eben.
Als Severin herunterkam, war Danni schon weg. Es blieben ihm keine fünf Minuten fürs Frühstück, wenn er den Bus nicht verpassen wollte. Er gab ihr natürlich keinen Kuss, und wenn, hätte der wahrscheinlich nicht nach Zahncreme geschmeckt. Er stieß nur ein Brummen aus, schenkte sich einen Kaffee ein und trank ihn geräuschvoll. Er schien nichts essen zu wollen, wie so oft. Johanna sorgte sich deshalb, er magerte mehr und mehr ab. Jungen im Wachstum mussten essen, aber er tat es nicht, zumindest nicht in ihrer Gegenwart. Sie hatte ihm Brote mit Käse belegt und eingepackt. Wurst und Fleisch aß er gar nicht. Er hatte sie geradezu beschimpft, als er einmal Salami auf seinem Brot vorgefunden hatte, nachdem er sich zum Vegetarier erklärt hatte. Immerhin den Käse hatte sie ihm abhandeln können.
Sie bemerkte erleichtert, dass er ein sauberes T-Shirt trug. Natürlich war sein Kleiderschrank stets voll mit sauberer Wäsche, aber er trug immer dieselbe schwarze Jeans und wechselte zwischen höchstens drei ebenfalls schwarzen, mit grauslich bluttriefenden Motiven bedruckten T-Shirts. Und er hatte immer dieselbe Lederjacke an, die er auf dem Flohmarkt in Oberau gekauft hatte. Dass er seit einigen Monaten Kajal um die Augen trug, erschien ihr neben dem allem als Kleinigkeit. Selbst die beiden Piercings in der Augenbraue konnte sie besser ertragen als die feindselige Wortkargheit, mit der er sie traktierte. »Severin?«, sprach sie ihn vorsichtig an. »Was«, antwortete er nur, ohne sie anzusehen. »Der Bua, der mit dir Musi macht, wie hoaßtn der? Der Nette.« Severin sah sie misstrauisch an. »Warum?« »Nur so ...« Sie sah ihn nicht an, sondern griff nach der Dose mit den Pausenbroten. »Mir is nur kommen, dass i dem sein Namen gar ned kenn.« »Weiß ned, wenst meinst.« »Der mit dene rötliche, dünne Haar. Mit dem nettn Gsicht, dem rundn.« »Spacko«, sagte Severin und trank seinen Kaffee aus. »Spacko? Des is doch koa Name!« »So heißt er bei uns.« Severin griff nach der Plastikdose und steckte sie ohne Dank in seine Umhängetasche. »Und wie heißt der wirklich?«
»Wann di jemand beim Namen nennt, dann heißt halt so. Und wannst einen Namen hast, bei dem di keiner nennt, dann heißt ned so. Deshalb heißt er wirklich Spacko.« Er schloss seine Tasche. Dann streifte er die Rucksacktasche mit seiner Bassgitarre über. »Hab Prob nach der Schul«, sagte er und ging aus der Stube. Johanna hörte die Haustür lautstark zufallen. Sie stützte die Stirn in die Hände und schloss die Augen. Sie dachte nach. Dachte an »Spacko«, wie er verrenkt dalag auf dem schlammigen Boden des Parkplatzes. Sah das vom Blitzen der Waffe erhellte Gesicht des Mannes, seine ungerührten Züge, als er dem Sterben des Jungen zusah. Sie ging hinüber ins Wohnzimmer zu dem alten, weinroten Tastentelefon und griff nach dem Telefonbuch, das darunterlag. Zögernd blätterte sie darin. Wen konnte sie fragen nach »Spacko«? Sie kannte kaum einen der Buben mit Nachnamen. Sie entschied sich für Frau Schreier, die Mutter von Inga, einem Mädchen, mit dem Severin bis vor einiger Zeit gemeinsam Hausaufgaben gemacht hatte. Jedenfalls hatten die beiden das behauptet. In den letzten Monaten hatte Inga sich allerdings nicht mehr sehen lassen. »Griaß Gott, Frau Schreier, die Kindel Johanna hier.« Frau Schreier klang überrascht, als sie ihren Namen hörte. »I hob nur a Frag, Frau Schreier. Unser Severin, der hat an Freind, so an Kloana, an bisserl an Gwamperter, mit am freindlichn Gsicht. Die Buam hoaßen eam Spacko. Kennens den vielleicht mitm vollen Nam?« »Da fragen Sie mich was ...« Frau Schreier dachte nach. »Die geben sich ja alle so komische Namen heut ... Ich glaub, ich weiß, wen Sie meinen. Inga hat ihn mal Oliver genannt, wenn ich mich recht erinnere.
Den Nachnamen weiß ich aber auch nicht.« Frau Schreier versprach, Inga zu fragen, wenn sie aus der Schule kam; dann erkundigte sie sich noch, warum Severin sich nicht mehr bei ihnen blicken ließ, und seufzte verstehend, als Johanna ihr die Frage zurückgab. »Kinder halt«, sagte Frau Schreier noch, bevor sie auflegte. Johanna wählte eine zweite Nummer, die des Sekretariats des Werdenfels-Gymnasiums. Die Sekretärin war freundlich und entgegenkommend, aber sie bat um Verständnis, dass sie bei tausendeinhundert Schülern nicht jeden Oliver kennen könne. Dann meinte sie sich aber zu erinnern, dass vor einem Jahr ein Oliver Speck nach der zehnten Klasse abgegangen war. Und das war, wie sie in vertraulichem Ton hinzufügte, eigentlich schon mehr, als sie am Telefon erzählen durfte. Johanna bedankte sich und blätterte weiter im Telefonbuch. Es gab nur einen Eintrag unter dem Namen »Speck«, und dort meldete sich niemand. Müde legte sie den Hörer auf und setzte sich wieder an den Tisch.
Der Adler zeigte ihr Bilder, Szenen, aber nie wusste sie, wann das, was sie er sie sehen ließ, passierte. Er hatte ihr das Sterben von Menschen gezeigt, die schon Wochen tot waren. Aber ein-, zweimal auch das von solchen, die ihr tags drauf auf der Straße begegneten. Es war schlimm. Jedes Mal. Meistens waren es ja Alte, Greise oder Schwerkranke. Aber einmal war es ein Kind gewesen, das sie gar nicht kannte. Der Adler hatte ihr gezeigt, wie es vor einen Lastwagen lief. Und wenig später, sie saß im Zug nach Mittenwald, er war gerade angefahren, da sah sie das Kind an der Hand seiner Mutter den Bahnsteig entlanggehen. Fröhlich hüpfend. Es waren diese Momente, die sie den Adler verfluchen ließen. Aber ihre Flüche beeindruckten den Adler so wenig wie ihre Gebete. Tag für Tag hatte sie in der Kirche gekniet, jahrelang, hatte gebetet, dass er sie in Ruhe lassen, jemand anderen mitnehmen solle. Aber er kam immer wieder, wann und sooft er wollte. Manchmal ließ er sie für Wochen in Frieden, so lange, dass sie dachte, er habe sie vergessen, aber irgendwann kam er doch immer wieder und nahm sie mit, ohne dass ihn scherte, was er ihr antat. Johanna schenkte sich noch einen Kaffee ein, den dritten, den sie sich sonst immer verkniff, und überlegte angestrengt, wo der Ort sein konnte, den der Adler ihr gezeigt hatte.
Sie wusste, dass sie schon einmal dort gewesen war, aber es wollte ihr nicht einfallen. Eine schmale, steile Forststraße, grauer Schotter, ein Holzlagerplatz. Es gab so viele davon rund um Garmisch, aber sie wusste, dass sie diesen Ort kannte. Und dann, plötzlich, sah sie die Straße vor sich, die sich von Burg rain steil zum Grubenkopf und weiter zum Reschberg und zum Felderkopf hochschlängelte. Dort waren sie oft gewandert, vor Jahren, als das Bienerl noch lebte und Severin noch klein war und mit Freude steile Berge hinaufgelaufen war. Dort gab es so einen Platz, irgendwie übergeblieben beim Bau des Weges. Sie hatten dort auf ein paar großen Steinen gesessen und gevespert. Mit einem entschlossenen Nicken stand sie auf und räumte den Frühstückstisch ab. Dann zog sie ihre blaue Windjacke über, griff nach dem Schlüssel für ihren kleinen Nissan und verließ das Haus.
* * *
Erster Kriminalhauptkommissar Schwemmer sah zweifelnd und mitleidig auf seine Frau hinunter, die sich mit schmerzverzerrtem Gesicht Zentimeter um Zentimeter an seiner Hand aus der Waagerechten zog. Es dauerte endlos, bis sie aufrecht saß, und noch einmal fast genauso lange, bis sie die Füße auf dem Boden hatte. »Burgl, ich ruf jetzt Doktor Vrede an. Das guck ich mir nicht länger an«, sagte Schwemmer. »Seit drei Tagen geht das jetzt schon. Lass dir doch bitte eine Spritze geben.« Aber Burgl sah ihn nur an, und er knickte ein, bevor er richtig angefangen hatte. Sie hatte eine so tief sitzende Abneigung gegen Spritzen, dass selbst ein Drei-Tage-Hexenschuss sie nicht dazu brachte, sie aufzugeben. In Zeitlupe zog sie sich an seiner Hand hoch. »Im Stehen geht's schon wieder«, sagte sie und lächelte ihn an. Schwemmer schüttelte den Kopf. »Mag ja sein, aber wie kommst du die Stiege runter?«
»Das geht schon«, sagte sie und strafte den Optimismus in ihrer Stimme Lügen mit ihrer Körperhaltung. Schwemmer warf einen Blick auf die Uhr, dann ging er zu seinem Nachttisch, nahm das Telefon aus der Ladeschale und rief sein Büro an. »Frau Fuchs«, sagte er, als seine Sekretärin sich meldete, »ich komm eine halbe Stunde später heute. Hab ich irgendwelche Termine? ... Oh ...« Frau Steinbach. Die hatte er vergessen. Frau Steinbach von den Mietwäsche-Steinbachs. Sie hatte den Plan, im Landkreis einen Verkehrskasper zu engagieren, der Kindern richtiges Verhalten im Verkehr nahebringen sollte, so wie sie es in Hamburg gesehen hatte. Der EKHK Dengg von den Uniformierten war in Urlaub, und mit niederrangigen Vertretungen ließ sich eine Frau Steinbach nicht abspeisen. Und da es ihr ein dringendes Anliegen war, war der Termin um halb acht. Ein Puppenspieler, dachte Schwemmer. Ein Puppenspieler für Kinder. Im dritten Jahrtausend. »Sagen Sie ihr ... Sagen Sie ihr irgendwas. Ich müsse einen Mord aufklären oder so was ... Ja, danke, Frau Fuchs.« Er stellte das Telefon wieder an seinen Platz, griff nach der Packung mit dem ABC-Pflaster und folgte seiner Frau, die auf dem Weg zur Treppe bereits locker zweieinhalb Meter zurückgelegt hatte. Er kam am Ende dann fast vierzig Minuten zu spät, weil er in der Rießerkopfstraße hinter der Müllabfuhr hängen geblieben war und nicht mehr rückwärts in die Waxensteinstraße ausweichen konnte, da dicht hinter ihm ein Möbelwagen fuhr.
Seine Laune war deutlich unter mittel, als er endlich an seinem Schreibtisch saß. Und das war offenbar merklich, denn Frau Fuchs brachte unaufgefordert, sofort und freundlichst einen Becher Kaffee. Mit einem mütterlichen Lächeln im Gesicht wartete sie geduldig, bis er den ersten Schluck getan und seine Züge sich etwas geglättet hatten. »Da ist noch einer von der Zeitung«, flüsterte sie dann. »Der war nicht angemeldet, wartet aber.« Schwemmers Gesicht zerfaltete sich wieder. »Was will der denn?«, fragte er mit jammerndem Unterton. »Kann Schafmann sich nicht um den kümmern?« »Hauptkommissar Schafmann ist im Einsatz«, flüsterte Frau Fuchs sanft. »Was ist denn?« »Grabschändung. In Grainau.« »Oha«, sagte Schwemmer. Das klang nach lästigem Ärger. Wahrscheinlich war es das Beste, jemanden von der Zeitung nicht mehr im Haus zu haben, wenn das bekannt wurde. »Dann bitten Sie den Herrn herein. Sagen Sie ihm aber, ich hätte nur ein paar Minuten über.« Frau Fuchs verschwand, und Schwemmer hatte gerade seinen zweiten Schluck Kaffee genommen, als ein glatt wirkender Endzwanziger sein Büro betrat, der sich als Herr Schmitz von der SZ vorstellte. Das Gespräch war wenig problematisch, Herr Schmitz wollte nur eine kurze Einschätzung zum Zusammenhang zwischen Tourismus und Drogenkriminalität und war mehr an knackigen Statements als an Fakten interessiert.
Nach fünf Minuten bedankte Herr Schmitz sich, aber bevor er seinen Block zuklappte, fragte er: »Und was ist das für ein Mord, den Sie da aufklären?« Schwemmer sah ihn irritiert an. »Ich weiß jetzt gerade nicht, was Sie meinen«, sagte er. »Ihre Sekretärin hat eben einer Dame, die da mit mir wartete, gesagt, Sie seien durch einen Mordfall aufgehalten worden.« Schwemmer räusperte sich und hoffte inständig, nicht rot anzulaufen, aber er fühlte, wie seine Wangen heiß wurden. »Es ist ... äh ... zu früh, zu dem Fall etwas zu sagen. Es steht ohnehin noch in Frage, ob es sich überhaupt um ein ... ähm ... Tötungsdelikt handelt.« »Können Sie mich denn auf dem Laufenden halten? Meine Karte haben Sie ja.« Herr Schmitz lächelte ihn an - irgendwie hinterhältig, wie Schwemmer fand. »Natürlich ... natürlich, das machen wir.« Herr Schmitz verabschiedete sich freundlichst. Sobald die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, sank Schwemmer stöhnend in seinem Drehstuhl zusammen. Es dauerte einen Moment, bis seine innere Schimpftirade auf den Leiter der Kriminalpolizeistation Garmisch-Partenkirchen, einen gewissen Balthasar Schwemmer, abgeklungen war. Dann bestellte er bei Frau Fuchs noch einen Kaffee und griff zum Telefon. Er rief Verena Hoibl an, Mitarbeiterin des Jugendamtes und alte Freundin von Burgl. Wie er erhofft hatte, würde sie gegen Mittag einige Außentermine haben und bei der Gelegenheit mal nach Burgl schauen, wie sie es gestern schon getan hatte.
Gleichwohl konnte Vreni nicht mit Kritik hinter dem Berg halten an dem Ehemann, der es nicht schaffte, seine Frau einfach mal zum Arzt zu bringen. »Probier's doch selber mal, blöde Kuh«, murmelte Schwemmer, aber erst, nachdem er aufgelegt hatte. Frau Fuchs brachte den zweiten Kaffee, und er griff nach den Akten, die die Nachtschicht hinterlassen hatte. Er ging die Fälle durch, fand keinen Grund zur Kritik an der Arbeit der Kollegen und näherte sich halbwegs seiner Normalform, von der seine Mitarbeiter wussten, dass sie sich zur Gänze nicht vor halb zehn einstellte. Mittlerweile waren sie darauf eingerichtet und reagierten mit einer Mischung aus Toleranz und Zeitmanagement. Denn sie wussten: In aller Regel lohnte es nicht, selbst dringende Probleme früh mit Schwemmer zu besprechen, weil sie sowieso erst nach halb zehn gelöst wurden. Und nach halb zehn ging dann alles einfacher, schneller und angenehmer. So wunderte es Schwemmer wenig, als um neun Uhr zweiunddreißig Hauptkommissar Schafmann an die Tür klopfte und eintrat. Er nickte Schwemmer einen kurzen Gruß zu und setzte sich. »Wie geht's zu Hause?«, fragte er zum Auftakt. »Gehen geht gar nicht«, antwortete Schwemmer. »Sitzen auch nicht. Stehen geht. Liegen nur halb. Und bei dir?« »Grippe bei der Kleinen, eine Sechs in Mathe beim Großen, neue Schlittschuhe fällig beim Kleinen, Waschmaschine kaputt, und ich glaub, ich krieg Gicht. Meiner Frau geht's gut, danke.« »Wieso Gicht?«
»Ich hab ein Stechen am Gelenk vom großen Zeh. Links.« Er zeigte auf seinen Fuß, der in einer sehr undienstlich wirkenden Sandale steckte. Da sie zudem der Witterung ziemlich unangepasst schien, trug Schafmann darin dicke Stricksocken. »Nur damit's nicht so drückt«, sagte Schafmann, als er Schwemmers Blick bemerkte. Schwemmer war es auch um halb zehn noch zu früh für eine der Krankengeschichten aus Schafmanns unerschöpflichem und immer wieder aufgestocktem Vorrat. »Lass uns über was Erfreulicheres reden«, sagte er. »Ich hätte eine Grabschändung im Angebot.« »Von mir aus«, sagte Schwemmer, aber Schafmanns Miene war ungewohnt ernst. »Miese Sache«, sagte er. »Nicht nur ein paar umgekippte Marterl diesmal. Die haben richtig gegraben.« Er warf einen kleinen Stapel Fotos auf den Tisch vor Schwemmer. Schwemmer blätterte sie durch. Eigentlich nicht spektakulär, eine Grube halt. Die Erde war wüst verstreut worden, offensichtlich hatte man von Anfang an nicht vorgehabt, das Loch wieder zu schließen. Das Kreuz war umgekippt, aber es sah nicht wirklich geschändet aus, eher, als sei es bei der Arbeit im Weg gewesen. »Sind sie runter bis zum Sarg?« »Ja, aber nicht rein, Gott sei Dank. Vielleicht sind sie gestört worden.« »Wessen Grab ist das?« »Gehört einer Familie Kunkel.
Da ist vor drei Monaten eine Frau Antonia Kunkel, geborene Stubschreiner, begraben worden. Verstorben mit hundertvier.« »Jessas. Und die gräbt man wieder aus ... Spurenlage?« »Sohlenabdrücke, scheinen von zwei Personen zu stammen. Dräger sucht noch.« »Verdacht?« »Der Zeuge, der das entdeckt hat, ein Herr Gärtner, der meint, es gäb da eine Rockband.« »Wieso eine Rockband?« Schwemmer griff nach seinem Kaffee. »Die proben in der Nähe in einer alten Fabrikhalle. Der Gärtner meint, das seien Satanisten.« »Das fehlt noch. Wissen wir da was drüber?« »Nein. Keinerlei Erkenntnisse.« »Satanisten!«, murmelte Schwemmer. »Das erzähl ich auf keinen Fall der Zeitung, bevor wir das nicht wasserdicht haben.« »Am besten nicht mal dann«, sagte Schafmann. »Das gibt nur Nachahmer. Aber es weist auch nichts auf irgendwelche Rituale hin oder so was, da ist nur gegraben worden. « Das Telefon läutete und signalisierte einen Internruf von Frau Fuchs. Schwemmer nahm ab. »Ich hab die Wache am Apparat«, sagte sie. »Unten ist Frau Kindel, Johanna Kindel.« Sie sagte das in einem Ton, als wüsste Schwemmer selbstverständlich, wer das sei, was allerdings nicht der Fall war. »Und?«, fragte er also. »Sie möchte Sie sprechen.« Nun klang Frau Fuchs, als würde Schwemmer eine Ehre erwiesen.
Er runzelte die Stirn. »Wer ist diese Dame denn?« »Die Seherin!«, sagte Frau Fuchs, hörbar fassungslos ob seiner Ahnungslosigkeit. »Hä?«, stieß Schwemmer hervor, »die Seherin?«, und sah erstaunt zu Schafmann, als er den »Oh Gott« murmeln hörte. »Soll warten«, sagte er in den Hörer und legte auf. »Die Kindel?«, fragte Schafmann. »Ja. Wer ist das?« Schafmann kratzte sich verdrossen am Kopf. »Das war vor deiner Zeit. Aber du hast noch von ihr profitiert, könnte man sagen. Sonst hättest du deinen Job erst drei Jahre später gekriegt.« »Muss ich das verstehen? Du sprichst in Rätseln!« »Der Fall, in den sie verwickelt war, hat deinen Vorgänger, EKHK Lortzig, mehr oder weniger in die Frühpensionierung getrieben. Nicht direkt, aber dass er sich davon nicht mehr richtig erholt hat, ist ein offenes Geheimnis. « »Allzu offen wohl nicht. Sonst wüsst ich doch davon, oder?« »Da redet hier keiner gerne drüber ...« »Und was hat diese Dame damit zu tun?« Schafmann holte Luft. »Die Kindel galt vielen im Ort als Seherin. Sie hat in den Sechzigern mal einen unerwarteten Todesfall korrekt vorhergesagt.
Sie hat dem Pfarrer erzählt, dass irgendeine junge Frau bald sterben würde. Ein paar Tage später hatte die tatsächlich einen Blinddarmdurchbruch, und bis der Arzt oben auf dem Hof war, war's zu spät. Und dieser Pfarrer, der Depp, hat nix Besseres zu tun, als das rumzuratschen.« »Der Pfarrer?« Schwemmer schüttelte fassungslos den Kopf. »Damit war die Sache doch quasi offiziell?« »Genau«, sagte Schafmann. »Sie war keine, die Aufhebens um sich machte, aber die Leute haben ihr die Bude eingerannt. Obwohl ihre Trefferquote eigentlich ziemlich mager war. Und dann, das war ...«, Schafmann dachte einen Moment nach, »... sechs- oder siebenneunzig muss das gewesen sein, da hatten wir einen Mordfall in Farchant. Ein junger Mann, mit einem Messer bestialisch zugerichtet, zum Schluss mit einer Kugel in den Kopf regelrecht hingerichtet, wie mit einem Fangschuss. Wir hatten ein paar Spuren, aber keine Resultate. Nix.« »Habt ihr die Waffen gefunden?« »Eben nicht. Die sind nie aufgetaucht, das war das Hauptproblem. Lortzig war stocksauer. Hier war eine Atmosphäre ... Wochen ging das. Und dann steht auf einmal die Kindel in der Tür und sagt, der Kugler Alois war's.« »Und wie kam sie darauf?« »Nun, sie hat's eben gesehen. Sie war sich ganz sicher. Nun hatten wir diesen Kugler durchaus auf der Liste, hatten aber nichts gefunden, bis dahin. Wir haben dann weitergebohrt und doch noch das ein oder andere zutage gefördert, bis der alte Felbermayr bei der Staatsanwaltschaft meinte, wir hätten genug Indizien. Er hat Anklage erhoben. Und dann hat das Landgericht in München uns das Ganze derart um die Ohren gehauen, dass wir wie die letzten Deppen dastanden. Freispruch mit Pauken und Trompeten. Wir haben uns verhoben. Dabei ...« Schafmann brach ab.
Mit finsterer Miene sah er zum Fenster hinaus. »Dabei was?«, fragte Schwemmer, obwohl er an Schafmanns Gesicht ablesen konnte, was der Kollege dachte. »Dabei bin ich mir sicher, dass er es wirklich war, der Kugler. Einen anderen haben wir jedenfalls nicht ermittelt. Der Fall ist ungeklärt.« »Wer ist denn dieser Kugler?« »Bauunternehmer, ziemlich reich. Nicht irgendwer. Lortzig bekam es jedenfalls am Herzen.« Schwemmer verstand. Er wusste, welche Meinung Schafmann und die Kollegen von Lortzig hatten. Er war der immer noch unerreichte Held. Natürlich respektierten sie Schwemmer, aber die Stufe des Respekts, mit dem die alten Hasen von EKHK Lortzig redeten, hatte er noch lange nicht erreicht.
Die acht Jahre, die er jetzt Chef war, standen aber auch in keinem echten Verhältnis zu den dreiundzwanzig, die Lortzig hinter sich gebracht hatte. Gut Ding will eben Weile haben. Vielleicht würde er ja auch mal als Legende in Rente gehen, dachte Schwemmer und vernahm gleichzeitig im Hinterkopf das herzliche Lachen seiner Frau. Wie auch immer: Jetzt stand Johanna Kindel wieder in der Tür. Die Frau, die nach Schafmanns Meinung Lortzig das Genick gebrochen hatte. »Immerhin«, sagte Schwemmer, »haben wir keinen ungeklärten Todesfall.« »Ja, ja«, brummte Schafmann. »Vielleicht weiß sie ja was über deine Satanisten.« Es war als Scherz gemeint, fiel aber ins Leere.
»Seit damals hat sie sich geweigert, irgendwas vorauszusagen «, sagte Schafmann ernsthaft. »Nicht mal das Geschlecht von Kindern, dabei war sie darin ziemlich gut. Lag jedenfalls besser als dieser Scharlatan, dieser Kurtzbecker. « Diesen Namen kannte Schwemmer. Gegen Kurtzbecker hatte es Anzeigen wegen Betrugs gegeben, von denen eine sogar einen Strafbefehl zur Folge gehabt hatte. Er versprach eine Geschlechtsvorhersage anhand von Handschriftenproben der Mutter, bei fehlerhafter Voraussage gab es das Geld zurück. Das Konzept war genial: Kurtzbecker versprach immer Mädchen und hatte so eine Trefferquote von fünfzig Prozent - ohne Risiko. Solange er Leute fand, die das mitmachten, war es eine todsichere Sache. Schwemmer hatte es fast widerstrebt, die Anzeige zu verfolgen. Er fand das Angebot gar nicht betrügerisch. Für ihn war es eine offene Verarschung. Am Ende hatte dann weniger der Strafbefehl als das Umsichgreifen von Ultraschalluntersuchungen der Sache ein Ende bereitet. Kurtzbecker hatte mittlerweile auf die Vorhersage von Gewinnzahlen umgestellt. Bisher waren keine Klagen bekannt geworden. Aber es gab Gerüchte, er praktiziere neuerdings auch Geistheilung. »Und was machen wir nun mit Frau Kindel?«, fragte Schwemmer. »Ich kann sie ja schlecht wegschicken.« »Hör dir halt an, was sie will.« Schafmann zuckte die Achseln. »Aber ich bleib hier.« »Na klar«, antwortete Schwemmer und griff zum Telefon, um die Dame von Frau Fuchs hereinbitten zu lassen.
Frau Fuchs hielt ihr mit fast unterwürfiger Haltung die Tür auf, aber als Frau Kindel das Büro betrat, war Schwemmer fast ein bisschen enttäuscht. Die »Seherin« war das Musterbild einer einfachen Frau. Sie grüßte höflich, aber nicht unterwürfig, war schlicht, aber nicht schlecht gekleidet, trug einen Stoffbeutel in der Hand und wirkte in keiner Weise auffällig. Fast kam es Schwemmer vor, als kenne er sie, aber er konnte sich genauso an irgendjemand anderen erinnern, wie er sich klarmachte. Er schätzte sie auf Ende sechzig, und sie schien wach und kräftig. Schwemmer stellte sich und Schafmann vor. »Nehmen Sie Platz, Frau Kindel«, sagte er. Sie setzte sich auf den freien Besucherstuhl und stellte den Beutel auf dem Boden ab. »Den Herrn Schafmann kenn i no von damois«, sagte sie und nickte ihm zu. Schwemmer spürte die Spannung zwischen den beiden. Für einen Moment überlegte er, Schafmann doch zu bitten, sie allein zu lassen, verzichtete dann aber darauf. »I woaß ned, wie i ofanga soll«, sagte Frau Kindel zögernd. Sie hob ihren Stoffbeutel wieder vom Boden und zog eine braune, unbeschriftete Flasche hervor. »Zunächst amoi«, sagte sie. »Des is für Eana Frau Gattin. Franzbranntwein mit Arnika, zum Einreibn.« Schwemmer sah sie fragend an. »Des tuat guat bei am Hexnschuss«, sagte Frau Kindel. »Ääh ...«, sagte Schwemmer, und Schafmann sah verblüfft zwischen Schwemmer und Frau Kindel hin und her. »Sie hat doch an Hexnschuss, oder? Seit drei Tag?« Schwemmer nickte stumm.
»So hat's mir die Hoibl Vreni verzählt, gestern«, sagte Frau Kindel. Schwemmer räusperte sich, und Schafmann sah zur Decke. »Sie kennen die Frau Hoibl?«, fragte Schwemmer höflich. »Sie kommt alle paar Monat vorbei, wegn da Kinder. Gestern war's da und hat von eaner Freindin verzählt, der Schwemmer Burgl, der maladn, und da hab i dacht, wann i herkomm ...« Frau Kindel verstummte, sie sah zu Schafmann, der sie aufmerksam, aber distanziert beobachtete. »Könnt ma vielleicht unter vier Augn redn?«, fragte sie Schwemmer. Schwemmer wollte ablehnen, aber Schafmann stand auf, bevor er antworten konnte, und ging grußlos hinaus. Von der Tür her warf er Schwemmer noch einen warnenden Blick zu, als lasse er ihn nun mit einem gewalttätigen Verbrecher allein. Als er gegangen war, hob Schwemmer auffordernd eine Hand. »Sie kennen de oiden Gschichtn?«, fragte Johanna Kindel. »Nicht genau«, antwortete Schwemmer und vermisste Schafmann schon, bevor er wusste, was die Frau überhaupt von ihm wollte. »Diesmal is genauso«, sagte Frau Kindel, so leise, dass Schwemmer sie kaum verstand. »Fast genauso«, korrigierte sie sich. »Und was ist der Unterschied?«, fragte Schwemmer.
»Damals hab i des ois erst vui später zum Sehn kriagt. Wochen später.« »Was haben Sie denn damals gesehen?«, fragte Schwemmer. Frau Kindel sah zur Seite, während sie antwortete. »I hab gsehn, wie der Kugler Alois den Buam abgstochen hat, als wär's a Sau. I hab sein Gsicht gsehn dabei. Jede Bewegung, jedn Stich hab i gsehn. Und am End, da hat er a noch gschossn. In den Kopf. Aber freilich glaubns oam des ned, bei Gericht.« »Wenn Sie so etwas sehen, wie muss ich mir das vorstellen? Wie geht das vor sich?«, fragte Schwemmer mit gerunzelter Stirn. »Des möcht i ned sagn. Ned noch amoi. I kann Dinge sehn, manchmal. Und i kanns mir ned aussuchn.« Sie sah ihn an, offen, nicht verbittert. Sie beklagte nicht, dass ihr nicht geglaubt wurde. Sie wusste es einfach und akzeptierte es. »Und diesmal?«, fragte Schwemmer. »Was ist dieses Mal anders?« »Diesmal is wohl grad erst gschehn. Letzte Nacht. Oder die davor.« Die senkrechten Falten in Schwemmers Stirn blieben mittlerweile stabil. »Können Sie denn auch Zeiträume sehen? « »Na. Aber i kenn den Buam, dens derschossen habn. Vor zwoa Tag hat er noch glebt.« »Ein Bub wurde erschossen? Und wer ist der Junge?« Zum ersten Mal wirkte sie nun doch verlegen. »Des woaß i ned gnau.«
»Aber Sie kennen ihn doch, sagten Sie eben.« »A Freind von meim Buam is der. De machen zsamma Musi. Also was die Buam so Musi nenna, heitzdag. Sicha woaß i nur, dass seine Freind eam Spacko heißn. I glaub, er heißt Oliver Speck, aber sicher bin i ned.« »Oliver Speck? Spacko?«, versicherte sich Schwemmer. Er griff gewohnheitsmäßig nach seinem Block, um den Namen zu notieren, ließ es dann aber bleiben. »Also Sie haben - wie auch immer - gesehen, dass Spacko erschossen wird. Und von wem?« »I kenn den Mann ned. Aber wiedererkennen tat i eam scho.« »Aber Sie wissen nicht genau, wann es passiert ist, und nicht, wo.« »Na. Wo, woaß i.« »Aha ...« Schwemmer sah sie fragend an. »An Holzplatz auf halber Höh an da Straßn am Grubnkopf. I bin heit Morgn naufgfahrn. I war do. Und des hab i gfundn.« Schwemmer sah ihr misstrauisch zu, wie sie einen Gefrierbeutel aus der Stofftasche holte und vor ihn auf den Tisch legte. Er nahm den Beutel und besah sich den Inhalt. Es war ein langes, rötliches Haar. An einem Ende war es brüchig versteift. Wie von getrocknetem Blut. »Des is dem Buam sei Farb. Da san noch mehra davon.« »So.« Schwemmer spitzte die Lippen. Die Sache begann, einiges an Peinlichkeitspotenzial zu entwickeln. Er konnte nicht auf ein einzelnes Haar hin eine offizielle Ermittlung starten, auch wenn es möglicherweise blutverschmiert war. Insbesondere dann nicht, wenn es von einer notorischen - und notorisch unzuverlässigen - Hellseherin angebracht wurde.
Andererseits waren ihre Angaben präzise genug. Wenn er nichts unternahm und die Frau hatte recht - aus welchem Grund auch immer -, dann war er erst recht blamiert. »Das Beste ist, wenn Sie zunächst mal herausfinden, wer dieser Spacko wirklich ist. Und dann feststellen, ob er tatsächlich verschwunden ist.« »Des mach i a. Aber i woaß ned, wie lang's dauert. Und wenn's regnt? Dann san die Spurn da drobn fort.« Schwemmer lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah aus dem Fenster. Dicke Wolken hingen um die Spitze des Wank. Es sah nicht direkt nach einem Gewitter aus, aber das Aprilwetter war seit Tagen typisch unstabil. Er sah Frau Kindel an, und sie erwiderte seinen Blick. Nicht unsicher oder verlegen, sondern klar und geradeaus. Sie war sich der Situation vollständig bewusst. Sie wusste, dass sie Unmögliches verlangte. Aber sie hatte keine Wahl. Denn sie wusste, was sie wusste. Und sie hatte getan, was ihr blieb: den Schwarzen Peter bei Schwemmer ablegen. Er griff nach dem Telefon und wählte das K3 an. »Habt ihr einen Mann frei, für eine Stunde etwa?«, fragte er, als der Kollege sich meldete. »Das ist schlecht«, erhielt er zur Antwort. »Dräger ist noch nicht aus Grainau zurück. Und zwei Mann haben Grippe. Ich bin der Einzige hier im Moment. Ist es dringend? « »Nein, vergessen Sie's«, sagte Schwemmer und legte auf. Wieder sah er zu Frau Kindel, die unverwandt seinen Blick erwiderte.
Er konnte sie warten lassen, bis Dräger wieder da war. Das mochte noch eine gute Stunde dauern, in der sie auf dem Gang den misstrauischen Blicken der Kollegen ausgesetzt war, während die interne Gerüchteküche brodelte. Er konnte Schafmann schicken, aber das würde weder der noch Frau Kindel wollen. Er konnte sie wegschicken. Kopfschüttelnd und mit einem kleinen Seufzer stand er auf und öffnete die Tür zum Vorzimmer. »Frau Fuchs«, sagte er. »Ich bin mal eine Stunde aus dem Haus.«
* * *
Johanna folgte in ihrem kleinen japanischen Auto dem dunkelblauen Passat des Kommissars. Er hatte sie nicht gebeten, in seinem Wagen mitzufahren, und das war ihr auch recht. Sie fühlte sich unwohl mit fremden Menschen in einem Auto, litt unter der erzwungenen Nähe. Trotzdem war ihr schon klar, dass diese nicht erfolgte Aufforderung weniger eine Unhöflichkeit als ein Zeichen der Distanz war. Dieser Schwemmer war ihr nicht unsympathisch. Er wirkte um einiges menschlicher und einfühlsamer als Hauptkommissar Lortzig, den sie immer als grob empfunden hatte, jedenfalls im Umgang mit ihr, damals. Er hatte sie angeschrien, nach Kuglers Freispruch, als sei das alles ihre Schuld. Dabei hatte sie nur die Wahrheit gesagt. Hatte dem Richter von dem Adler erzählt und die Fragen des Verteidigers beantwortet, so gut sie konnte. Aber das war nicht gut genug gewesen. Seine Fragen waren immer schärfer geworden und die Stimme immer höhnischer, und irgendwann hatte das Publikum angefangen zu kichern und bald darauf zu lachen, und sie hatte ihre Tränen nicht mehr kontrollieren können. Gedemütigt wie eine dumme, kleine Pute hatte sie dagestanden, eine erwachsene Frau, Mitte fünfzig damals schon, Mutter und Großmutter. Sie hatte vor all diesen höhnischen Menschen geweint und sich schon dort, im Gerichtssaal zu München, geschworen, dass sie niemals und niemandem mehr etwas berichten würde von dem, was der Adler ihr zeigte. Sie würde nie mehr darum betteln, dass ihr geglaubt würde, was sie doch wusste. Aber das Schlimmste war Kuglers Gesicht gewesen, das Gesicht des Mörders, den sie freilassen würden. Das feiste und hinterhältige Grinsen, das er ihr gezeigt hatte, als sie geschlagen aus dem Zeugenstand gewankt und klar war, dass sie verloren hatten, sie und Lortzig.
Und die Erinnerung an dieses Gesicht war es auch, die sie veranlasst hatte, ihren Schwur zu brechen. Sie erreichten Burgrain und bogen am Ende in die Feldernkopfstraße. Bald endete der Teerbelag. Es wurde steiler, und der kleine Motor ihres Wagens kämpfte, um dem kraftvollen Diesel Schwemmers zu folgen. Sie fuhr durch die dichte, grauweiße Staubfahne, die Schwemmers Auto hinter sich herzog. Nach ein paar Minuten erreichten sie den Holzplatz. Sie hielten am Rand an und stiegen aus. Johanna war sich anfangs nicht ganz sicher gewesen, ob es der richtige Ort war. Die Holzstapel waren dort, auch die Mulde auf der anderen Seite des Wegs, doch die Bäume schienen nicht ganz zu passen. Aber als sie die blutigen Haare gefunden hatte, waren ihre Zweifel verschwunden. Hier musste es passiert sein.
Schwemmer sah sie schweigend und auffordernd an. Er trug eine kleine Mappe in der Hand. Sie ging zielsicher zur Mitte des Platzes, und er folgte ihr. Sie hatte einige Steine zu einem kleinen Haufen getürmt, ein paar Schritt entfernt von der Stelle, an der sie die Haare gefunden hatte. Sie führte ihn hin und wies auf den roten Fleck auf dem Boden. Er war nicht besonders groß, halb so groß wie ihr Handteller etwa, und da klebten immer noch zwei dünne, vielleicht zehn Zentimeter lange rötliche Haare, die sich in eine Klette gewickelt hatten. »Da hat's drinklebt, in dem Bluat. So wie die zwoa do a.« Schwemmer ging in die Knie und besah sich den Fleck. Dann öffnete er die Mappe. Sie enthielt eine Reihe kleiner Werkzeuge, daneben eine Packung mit Einweghandschuhen und etliche verschließbare Plastiktüten. Schwemmer zog sich einen Handschuh über, zog mit einer Pinzette die Haare aus dem Fleck und verstaute sie samt der Klette in einer der Tüten. Er nahm einen Spatel aus der Mappe und beförderte eine Probe der dunkelroten Masse in eine zweite Tüte. Dann verschloss er beide, richtete sich auf und sah sich um.
Schwemmers Miene war missmutig, als wäre ihm lieber gewesen, hier nichts zu finden. Und Johanna war sich sicher, dass es genauso war. »Zeigen Sie mir mal, was sich Ihrer Meinung nach hier abgespielt hat«, sagte er. Sie zeigte ihm den Baum, hinter dem der Mann gewartet hatte, den Punkt, an dem der Rucksack gestanden hatte, und wo Spacko war, als der Mann auf ihn geschossen hatte. Schwemmer sagte nichts, aber er sah abschätzend von dort aus zu dem Fleck mit den Haaren, der sich fast zehn Meter entfernt befand. Sie sah ihm an, was er dachte.
Denn sie hatte das Gleiche gedacht, als sie den Fleck gefunden hatte. Wie sollten die Haare und das Blut dorthin gekommen sein? Schwemmers Blick verlängerte die Linie von dem Punkt, an dem sie standen, über den Fleck hinaus und ging in dieser Richtung zum Waldrand. Sie folgte ihm. Dort war dichtes Gehölz, das er sich ansah, so wie sie es eben schon getan hatte. Es gab dort keine Spur, dass hier etwas hineingetragen oder -geworfen worden wäre. Sie zeigte ihm noch die Mulde, in der der Junge gehockt hatte. Aber auch hier fand sich nichts, was irgendeinen Hinweis gegeben hätte. Schweigend gingen sie zurück zu den Wagen.
Schwemmer räusperte sich, bevor er sprach. »Das ist zu wenig, Frau Kindel. Das werden Sie verstehen.« Sie nickte. »Trotzdem vergelt's Gott, Herr Kommissar. Und drei Hand voll einreibn, mitm Branntwein. In da Früh und am Abnd.« Schwemmer hob zum Abschied die Hand und stieg in seinen Wagen. Sie sah ihm hinterher, wie er die Straße hinabrollte. Dann ging sie noch einmal den Platz ab, um sicherzugehen, nichts übersehen zu haben. Als sie wieder an ihrem Auto angelangt war, überkam sie erneut der Zweifel, am richtigen Ort zu sein. Aber einen anderen kannte sie nicht.
* * *
Schwemmer steckte sein Handy in die Halterung der Freisprecheinrichtung und rief Burgl an, während er den Wagen die Serpentinen nach Burgrain hinuntersteuerte. Es war die Hoibl Vreni, die sich meldete. »Und?«, fragte Schwemmer. »Wart ihr beim Arzt?« Vreni erläuterte wortreich, dass dem Patienten immer die letzte Entscheidung zustehe, es eigentlich gar nicht wirklich notwendig sei und man überhaupt der Schulmedizin nicht blind hinterherlaufen sollte. Schwemmer widersprach nicht. »Sag, wo ich dich grad am Apparat hab«, sagte er stattdessen. »Du kennst die Johanna Kindel, hab ich gehört. Was hast du denn mit der zu schaffen?« Die Tonlage von Vrenis Stimme erhöhte sich merklich. Mit der Familie Kindel hatte sie nur gelegentlich dienstlich zu tun, und darüber durfte sie nicht sprechen, wegen Datenschutz. »Ich bin immerhin die Polizei«, sagte Schwemmer und gönnte sich ein kleines, boshaftes Grinsen. Eben drum erst recht, meinte Vreni dazu. Da müsse er ihr schon dienstlich kommen.
© 2010 by Hermann-Josef Emons Verlag
Jetzt hört sie etwas. Ein Fahrzeug nähert sich aus dem Tal. Bald darauf rollt ein schwarzes Motorrad auf den schlammigen Platz. Es hält mit laufendem Motor. Der Fahrer, unkenntlich unter Helm und Schutzbrille, streift einen schwarzen Rucksack vom Rücken und stellt ihn auf den Boden. Dann fährt er wieder an, dreht eine ruhige Kurve und rollt zurück auf die Straße. Er fährt weiter den Berg hinauf. Das Motorrad ist noch nicht außer Hörweite, als der Junge aus der Senke kriecht und eine kleine Taschenlampe anschaltet, in deren Schein er die Straße überquert. Der Adler zeigt ihr sein Gesicht, und sie erschrickt. Sie kennt den Jungen. Nicht beim Namen, aber sie weiß, wer er ist; sie hat ihm schon gegenübergestanden, in ihrer eigenen Stube. Der Junge nähert sich dem Rucksack. Sie will ihm eine Warnung zuschreien, aber der Adler erlaubt es nicht, das tut er nie. Er zeigt ihr nur den Mann, der sich lautlos aus der anderen Richtung dem Rucksack nähert - und das dunkle Metall in seiner Hand.
Der Junge kann ihn nicht hören und in der Schwärze der Nacht erst sehen, als ihn der Lichtkegel der Taschenlampe trifft. Und da ist es zu spät. Dem Jungen entfährt ein erschreckter Schrei. Die Waffe in der Hand des Mannes stößt Feuer aus, zweimal, und noch einmal. Sie ringt um Atem, hat das Gefühl zu ersticken an ihrer Stummheit. Der Adler stößt sich sanft von dem Ast ab, auf dem er geruht hat. Lautlos, mit ausgebreiteten Schwingen gleitet er über das Geschehen hin. Dann fliegt er davon. Steigt hinauf, immer höher, in die Wolken, erreicht sie, steigt weiter in die feuchte, blinde Watte. Und dort lässt er sie fallen. Johanna Kindel wachte schlagartig auf.
Keuchend und um Atem ringend tastete sie nach der Nachttischlampe und setzte sich auf. Die Luft kam kalt durch das kleine, auf Kipp stehende Fenster, hinter dem schwarze Nacht herrschte, aber ihr Nachthemd war klamm und feucht von Schweiß. Sie begann zu zittern, doch es war nicht die Kälte. Sie zitterte vor Angst. Von der Tür herein flüsterndes Rufen. »Großmama?« »Es is nix, Danni«, antwortete sie. »Aber warum hast geschrien?« Johanna stand auf. Sie streifte ihre Pantoffeln über und öffnete die Tür. Daniela sah zu ihr auf mit der ganzen Besorgnis, zu der ein zehnjähriges Mädchen fähig war. Johanna beugte sich zu ihr hinab und nahm sie in den Arm. »Hast geträumt?«, fragte Danni. Johanna nickte und zog die Nase hoch. »War's einer von dene Träum?«, fragte die Kleine. »Na«, antwortete Johanna entschieden. »Was redst da wieder? I hob dacht, mir warn einig?« »Aber du hast geschrien!« »Es gibt solche Träum ned, hörst!« »Aber Tante Mariandl hat doch gesagt ...« Danni wandte sich halb ab und versuchte, sich aus ihrer Umarmung zu befreien.
Johanna ließ sie los. »Da hat die Tant an Spaß gmacht, des hab i dir schon so oft gsagt«, sagte sie sanft. Dannis Augen waren halb hinter ihren glatten blonden Haaren verborgen, aber Johanna sah die Tränen darin. »Mach dir keine Sorgen, mei Kloans. Ois werd gut.« »Wirklich?« Johanna zwang sich zu einem Lächeln. Mit einem entschiedenen Nicken log sie ihre Enkelin an. »Und jetzt gemma wieder ins Bett«, sagte sie bestimmt. Danni gehorchte. Johanna wartete, bis sie in ihrem Zimmer verschwunden war, dann ging sie leise über den Flur zur Stiege und sah hinauf. Durch den Spalt der Dachbodentür leuchtete ein schwacher Lichtschein. Johanna setzte einen Fuß auf die unterste Stufe, aber das laute Knarren, mit dem die Stiege darauf antwortete, ließ sie innehalten. Es hatte keinen Sinn, jetzt an Severins Tür zu klopfen.
Wahrscheinlich würde er Kopfhörer tragen und seine Bassgitarre spielen und sie gar nicht hören. Und wahrscheinlich würde er sie auch nicht hineinlassen. Sie ging zurück in ihr Zimmer. Der Wecker zeigte nach drei. Sie streifte das klamme Nachthemd vom Körper und holte ein frisches aus dem Kleiderschrank. Dann schüttelte sie Kissen und Federbett auf, drehte beide um und legte sich wieder ins Bett. Sie lag wach im Licht ihrer Nachttischlampe. Es gab diese Träume. Natürlich. Der Adler begleitete sie seit dem Ende ihrer Kindheit, bald fünfzig Jahre nun. Sie hatte schon lange Zeit zu niemandem mehr darüber gesprochen.
Oft, meist sogar, gab es auch gar nichts zu erzählen. Der Adler zeigte ihr das Land, den Himmel, die Berge, sogar das Meer manchmal. Und Geschehnisse, die sie nicht verstand. Handlungen von Menschen, die sie nicht kannte. Und sie sah Menschen sterben - und geboren werden. Den Tod und das Leben. Ja, der Adler hatte ihr viele Tode gezeigt. Sanfte und harte, schmerzhafte und unerwartete. Wichtige und unwichtige. Die wichtigen - die für Johanna Kindel wichtigen, die beiden wichtigsten von allen -, die hatte er ihr nicht gezeigt. Und dafür war sie dankbar. Es war fast so wie vor dreizehn Jahren, als sie das letzte Mal vom Adler erzählt hatte. Damals hatte sie es sehr bereut. So sehr, dass sie es nie wieder getan hatte. Und es war die richtige Entscheidung gewesen. Aber nun war alles anders. Sie kannte diesen Jungen, und das Gesicht des Mörders würde sie nie mehr vergessen.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie schlief erst ein, als hinter den Gardinen ihres kleinen Fensters bereits der Morgen dämmerte; und als viel zu bald darauf ihr Wecker fiepte, musste sie alle Kraft aufbieten, um aufzustehen und den Kindern das Frühstück zu machen. Danni kam als Erste, wie eigentlich immer. Sie gab Johanna einen nach Zahncreme schmeckenden Kuss auf den Mund und rutschte dann auf die Bank. »Geht's dir besser, Großmama?«, fragte sie. Johanna nickte lächelnd, aber offenbar hatte die Nacht solche Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen, dass sie nicht einmal eine Zehnjährige überzeugen konnte.
»Oder bist krank?«, fragte Danni. »Na«, antwortete Johanna nur und begann, Pausenbrote zu schmieren. »Weißt, wann der Seve in de Schul muss?« »Zur zweiten, glaub i«, antwortete Danni. Sie biss in ihr Nutellabrot und ließ Johanna nicht aus den Augen - großen, besorgten Kinderaugen. »I möcht nicht, dass du krank wirst«, sagte sie ernst. »I pass scho auf mi auf«, antwortete Johanna, ebenso ernst. Sie würde alles tun, dass Danni und Severin nicht allein zurückblieben; solange es irgendwie ging, würde sie bei ihnen bleiben, bei ihnen bleiben müssen. Sie durfte keine Fehler machen. Die Kinder brauchten sie. Auch wenn Severin das anders sah. So anders, wie siebzehnjährige Buben etwas anders sehen konnten. Ganz anders eben.
Als Severin herunterkam, war Danni schon weg. Es blieben ihm keine fünf Minuten fürs Frühstück, wenn er den Bus nicht verpassen wollte. Er gab ihr natürlich keinen Kuss, und wenn, hätte der wahrscheinlich nicht nach Zahncreme geschmeckt. Er stieß nur ein Brummen aus, schenkte sich einen Kaffee ein und trank ihn geräuschvoll. Er schien nichts essen zu wollen, wie so oft. Johanna sorgte sich deshalb, er magerte mehr und mehr ab. Jungen im Wachstum mussten essen, aber er tat es nicht, zumindest nicht in ihrer Gegenwart. Sie hatte ihm Brote mit Käse belegt und eingepackt. Wurst und Fleisch aß er gar nicht. Er hatte sie geradezu beschimpft, als er einmal Salami auf seinem Brot vorgefunden hatte, nachdem er sich zum Vegetarier erklärt hatte. Immerhin den Käse hatte sie ihm abhandeln können.
Sie bemerkte erleichtert, dass er ein sauberes T-Shirt trug. Natürlich war sein Kleiderschrank stets voll mit sauberer Wäsche, aber er trug immer dieselbe schwarze Jeans und wechselte zwischen höchstens drei ebenfalls schwarzen, mit grauslich bluttriefenden Motiven bedruckten T-Shirts. Und er hatte immer dieselbe Lederjacke an, die er auf dem Flohmarkt in Oberau gekauft hatte. Dass er seit einigen Monaten Kajal um die Augen trug, erschien ihr neben dem allem als Kleinigkeit. Selbst die beiden Piercings in der Augenbraue konnte sie besser ertragen als die feindselige Wortkargheit, mit der er sie traktierte. »Severin?«, sprach sie ihn vorsichtig an. »Was«, antwortete er nur, ohne sie anzusehen. »Der Bua, der mit dir Musi macht, wie hoaßtn der? Der Nette.« Severin sah sie misstrauisch an. »Warum?« »Nur so ...« Sie sah ihn nicht an, sondern griff nach der Dose mit den Pausenbroten. »Mir is nur kommen, dass i dem sein Namen gar ned kenn.« »Weiß ned, wenst meinst.« »Der mit dene rötliche, dünne Haar. Mit dem nettn Gsicht, dem rundn.« »Spacko«, sagte Severin und trank seinen Kaffee aus. »Spacko? Des is doch koa Name!« »So heißt er bei uns.« Severin griff nach der Plastikdose und steckte sie ohne Dank in seine Umhängetasche. »Und wie heißt der wirklich?«
»Wann di jemand beim Namen nennt, dann heißt halt so. Und wannst einen Namen hast, bei dem di keiner nennt, dann heißt ned so. Deshalb heißt er wirklich Spacko.« Er schloss seine Tasche. Dann streifte er die Rucksacktasche mit seiner Bassgitarre über. »Hab Prob nach der Schul«, sagte er und ging aus der Stube. Johanna hörte die Haustür lautstark zufallen. Sie stützte die Stirn in die Hände und schloss die Augen. Sie dachte nach. Dachte an »Spacko«, wie er verrenkt dalag auf dem schlammigen Boden des Parkplatzes. Sah das vom Blitzen der Waffe erhellte Gesicht des Mannes, seine ungerührten Züge, als er dem Sterben des Jungen zusah. Sie ging hinüber ins Wohnzimmer zu dem alten, weinroten Tastentelefon und griff nach dem Telefonbuch, das darunterlag. Zögernd blätterte sie darin. Wen konnte sie fragen nach »Spacko«? Sie kannte kaum einen der Buben mit Nachnamen. Sie entschied sich für Frau Schreier, die Mutter von Inga, einem Mädchen, mit dem Severin bis vor einiger Zeit gemeinsam Hausaufgaben gemacht hatte. Jedenfalls hatten die beiden das behauptet. In den letzten Monaten hatte Inga sich allerdings nicht mehr sehen lassen. »Griaß Gott, Frau Schreier, die Kindel Johanna hier.« Frau Schreier klang überrascht, als sie ihren Namen hörte. »I hob nur a Frag, Frau Schreier. Unser Severin, der hat an Freind, so an Kloana, an bisserl an Gwamperter, mit am freindlichn Gsicht. Die Buam hoaßen eam Spacko. Kennens den vielleicht mitm vollen Nam?« »Da fragen Sie mich was ...« Frau Schreier dachte nach. »Die geben sich ja alle so komische Namen heut ... Ich glaub, ich weiß, wen Sie meinen. Inga hat ihn mal Oliver genannt, wenn ich mich recht erinnere.
Den Nachnamen weiß ich aber auch nicht.« Frau Schreier versprach, Inga zu fragen, wenn sie aus der Schule kam; dann erkundigte sie sich noch, warum Severin sich nicht mehr bei ihnen blicken ließ, und seufzte verstehend, als Johanna ihr die Frage zurückgab. »Kinder halt«, sagte Frau Schreier noch, bevor sie auflegte. Johanna wählte eine zweite Nummer, die des Sekretariats des Werdenfels-Gymnasiums. Die Sekretärin war freundlich und entgegenkommend, aber sie bat um Verständnis, dass sie bei tausendeinhundert Schülern nicht jeden Oliver kennen könne. Dann meinte sie sich aber zu erinnern, dass vor einem Jahr ein Oliver Speck nach der zehnten Klasse abgegangen war. Und das war, wie sie in vertraulichem Ton hinzufügte, eigentlich schon mehr, als sie am Telefon erzählen durfte. Johanna bedankte sich und blätterte weiter im Telefonbuch. Es gab nur einen Eintrag unter dem Namen »Speck«, und dort meldete sich niemand. Müde legte sie den Hörer auf und setzte sich wieder an den Tisch.
Der Adler zeigte ihr Bilder, Szenen, aber nie wusste sie, wann das, was sie er sie sehen ließ, passierte. Er hatte ihr das Sterben von Menschen gezeigt, die schon Wochen tot waren. Aber ein-, zweimal auch das von solchen, die ihr tags drauf auf der Straße begegneten. Es war schlimm. Jedes Mal. Meistens waren es ja Alte, Greise oder Schwerkranke. Aber einmal war es ein Kind gewesen, das sie gar nicht kannte. Der Adler hatte ihr gezeigt, wie es vor einen Lastwagen lief. Und wenig später, sie saß im Zug nach Mittenwald, er war gerade angefahren, da sah sie das Kind an der Hand seiner Mutter den Bahnsteig entlanggehen. Fröhlich hüpfend. Es waren diese Momente, die sie den Adler verfluchen ließen. Aber ihre Flüche beeindruckten den Adler so wenig wie ihre Gebete. Tag für Tag hatte sie in der Kirche gekniet, jahrelang, hatte gebetet, dass er sie in Ruhe lassen, jemand anderen mitnehmen solle. Aber er kam immer wieder, wann und sooft er wollte. Manchmal ließ er sie für Wochen in Frieden, so lange, dass sie dachte, er habe sie vergessen, aber irgendwann kam er doch immer wieder und nahm sie mit, ohne dass ihn scherte, was er ihr antat. Johanna schenkte sich noch einen Kaffee ein, den dritten, den sie sich sonst immer verkniff, und überlegte angestrengt, wo der Ort sein konnte, den der Adler ihr gezeigt hatte.
Sie wusste, dass sie schon einmal dort gewesen war, aber es wollte ihr nicht einfallen. Eine schmale, steile Forststraße, grauer Schotter, ein Holzlagerplatz. Es gab so viele davon rund um Garmisch, aber sie wusste, dass sie diesen Ort kannte. Und dann, plötzlich, sah sie die Straße vor sich, die sich von Burg rain steil zum Grubenkopf und weiter zum Reschberg und zum Felderkopf hochschlängelte. Dort waren sie oft gewandert, vor Jahren, als das Bienerl noch lebte und Severin noch klein war und mit Freude steile Berge hinaufgelaufen war. Dort gab es so einen Platz, irgendwie übergeblieben beim Bau des Weges. Sie hatten dort auf ein paar großen Steinen gesessen und gevespert. Mit einem entschlossenen Nicken stand sie auf und räumte den Frühstückstisch ab. Dann zog sie ihre blaue Windjacke über, griff nach dem Schlüssel für ihren kleinen Nissan und verließ das Haus.
* * *
Erster Kriminalhauptkommissar Schwemmer sah zweifelnd und mitleidig auf seine Frau hinunter, die sich mit schmerzverzerrtem Gesicht Zentimeter um Zentimeter an seiner Hand aus der Waagerechten zog. Es dauerte endlos, bis sie aufrecht saß, und noch einmal fast genauso lange, bis sie die Füße auf dem Boden hatte. »Burgl, ich ruf jetzt Doktor Vrede an. Das guck ich mir nicht länger an«, sagte Schwemmer. »Seit drei Tagen geht das jetzt schon. Lass dir doch bitte eine Spritze geben.« Aber Burgl sah ihn nur an, und er knickte ein, bevor er richtig angefangen hatte. Sie hatte eine so tief sitzende Abneigung gegen Spritzen, dass selbst ein Drei-Tage-Hexenschuss sie nicht dazu brachte, sie aufzugeben. In Zeitlupe zog sie sich an seiner Hand hoch. »Im Stehen geht's schon wieder«, sagte sie und lächelte ihn an. Schwemmer schüttelte den Kopf. »Mag ja sein, aber wie kommst du die Stiege runter?«
»Das geht schon«, sagte sie und strafte den Optimismus in ihrer Stimme Lügen mit ihrer Körperhaltung. Schwemmer warf einen Blick auf die Uhr, dann ging er zu seinem Nachttisch, nahm das Telefon aus der Ladeschale und rief sein Büro an. »Frau Fuchs«, sagte er, als seine Sekretärin sich meldete, »ich komm eine halbe Stunde später heute. Hab ich irgendwelche Termine? ... Oh ...« Frau Steinbach. Die hatte er vergessen. Frau Steinbach von den Mietwäsche-Steinbachs. Sie hatte den Plan, im Landkreis einen Verkehrskasper zu engagieren, der Kindern richtiges Verhalten im Verkehr nahebringen sollte, so wie sie es in Hamburg gesehen hatte. Der EKHK Dengg von den Uniformierten war in Urlaub, und mit niederrangigen Vertretungen ließ sich eine Frau Steinbach nicht abspeisen. Und da es ihr ein dringendes Anliegen war, war der Termin um halb acht. Ein Puppenspieler, dachte Schwemmer. Ein Puppenspieler für Kinder. Im dritten Jahrtausend. »Sagen Sie ihr ... Sagen Sie ihr irgendwas. Ich müsse einen Mord aufklären oder so was ... Ja, danke, Frau Fuchs.« Er stellte das Telefon wieder an seinen Platz, griff nach der Packung mit dem ABC-Pflaster und folgte seiner Frau, die auf dem Weg zur Treppe bereits locker zweieinhalb Meter zurückgelegt hatte. Er kam am Ende dann fast vierzig Minuten zu spät, weil er in der Rießerkopfstraße hinter der Müllabfuhr hängen geblieben war und nicht mehr rückwärts in die Waxensteinstraße ausweichen konnte, da dicht hinter ihm ein Möbelwagen fuhr.
Seine Laune war deutlich unter mittel, als er endlich an seinem Schreibtisch saß. Und das war offenbar merklich, denn Frau Fuchs brachte unaufgefordert, sofort und freundlichst einen Becher Kaffee. Mit einem mütterlichen Lächeln im Gesicht wartete sie geduldig, bis er den ersten Schluck getan und seine Züge sich etwas geglättet hatten. »Da ist noch einer von der Zeitung«, flüsterte sie dann. »Der war nicht angemeldet, wartet aber.« Schwemmers Gesicht zerfaltete sich wieder. »Was will der denn?«, fragte er mit jammerndem Unterton. »Kann Schafmann sich nicht um den kümmern?« »Hauptkommissar Schafmann ist im Einsatz«, flüsterte Frau Fuchs sanft. »Was ist denn?« »Grabschändung. In Grainau.« »Oha«, sagte Schwemmer. Das klang nach lästigem Ärger. Wahrscheinlich war es das Beste, jemanden von der Zeitung nicht mehr im Haus zu haben, wenn das bekannt wurde. »Dann bitten Sie den Herrn herein. Sagen Sie ihm aber, ich hätte nur ein paar Minuten über.« Frau Fuchs verschwand, und Schwemmer hatte gerade seinen zweiten Schluck Kaffee genommen, als ein glatt wirkender Endzwanziger sein Büro betrat, der sich als Herr Schmitz von der SZ vorstellte. Das Gespräch war wenig problematisch, Herr Schmitz wollte nur eine kurze Einschätzung zum Zusammenhang zwischen Tourismus und Drogenkriminalität und war mehr an knackigen Statements als an Fakten interessiert.
Nach fünf Minuten bedankte Herr Schmitz sich, aber bevor er seinen Block zuklappte, fragte er: »Und was ist das für ein Mord, den Sie da aufklären?« Schwemmer sah ihn irritiert an. »Ich weiß jetzt gerade nicht, was Sie meinen«, sagte er. »Ihre Sekretärin hat eben einer Dame, die da mit mir wartete, gesagt, Sie seien durch einen Mordfall aufgehalten worden.« Schwemmer räusperte sich und hoffte inständig, nicht rot anzulaufen, aber er fühlte, wie seine Wangen heiß wurden. »Es ist ... äh ... zu früh, zu dem Fall etwas zu sagen. Es steht ohnehin noch in Frage, ob es sich überhaupt um ein ... ähm ... Tötungsdelikt handelt.« »Können Sie mich denn auf dem Laufenden halten? Meine Karte haben Sie ja.« Herr Schmitz lächelte ihn an - irgendwie hinterhältig, wie Schwemmer fand. »Natürlich ... natürlich, das machen wir.« Herr Schmitz verabschiedete sich freundlichst. Sobald die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, sank Schwemmer stöhnend in seinem Drehstuhl zusammen. Es dauerte einen Moment, bis seine innere Schimpftirade auf den Leiter der Kriminalpolizeistation Garmisch-Partenkirchen, einen gewissen Balthasar Schwemmer, abgeklungen war. Dann bestellte er bei Frau Fuchs noch einen Kaffee und griff zum Telefon. Er rief Verena Hoibl an, Mitarbeiterin des Jugendamtes und alte Freundin von Burgl. Wie er erhofft hatte, würde sie gegen Mittag einige Außentermine haben und bei der Gelegenheit mal nach Burgl schauen, wie sie es gestern schon getan hatte.
Gleichwohl konnte Vreni nicht mit Kritik hinter dem Berg halten an dem Ehemann, der es nicht schaffte, seine Frau einfach mal zum Arzt zu bringen. »Probier's doch selber mal, blöde Kuh«, murmelte Schwemmer, aber erst, nachdem er aufgelegt hatte. Frau Fuchs brachte den zweiten Kaffee, und er griff nach den Akten, die die Nachtschicht hinterlassen hatte. Er ging die Fälle durch, fand keinen Grund zur Kritik an der Arbeit der Kollegen und näherte sich halbwegs seiner Normalform, von der seine Mitarbeiter wussten, dass sie sich zur Gänze nicht vor halb zehn einstellte. Mittlerweile waren sie darauf eingerichtet und reagierten mit einer Mischung aus Toleranz und Zeitmanagement. Denn sie wussten: In aller Regel lohnte es nicht, selbst dringende Probleme früh mit Schwemmer zu besprechen, weil sie sowieso erst nach halb zehn gelöst wurden. Und nach halb zehn ging dann alles einfacher, schneller und angenehmer. So wunderte es Schwemmer wenig, als um neun Uhr zweiunddreißig Hauptkommissar Schafmann an die Tür klopfte und eintrat. Er nickte Schwemmer einen kurzen Gruß zu und setzte sich. »Wie geht's zu Hause?«, fragte er zum Auftakt. »Gehen geht gar nicht«, antwortete Schwemmer. »Sitzen auch nicht. Stehen geht. Liegen nur halb. Und bei dir?« »Grippe bei der Kleinen, eine Sechs in Mathe beim Großen, neue Schlittschuhe fällig beim Kleinen, Waschmaschine kaputt, und ich glaub, ich krieg Gicht. Meiner Frau geht's gut, danke.« »Wieso Gicht?«
»Ich hab ein Stechen am Gelenk vom großen Zeh. Links.« Er zeigte auf seinen Fuß, der in einer sehr undienstlich wirkenden Sandale steckte. Da sie zudem der Witterung ziemlich unangepasst schien, trug Schafmann darin dicke Stricksocken. »Nur damit's nicht so drückt«, sagte Schafmann, als er Schwemmers Blick bemerkte. Schwemmer war es auch um halb zehn noch zu früh für eine der Krankengeschichten aus Schafmanns unerschöpflichem und immer wieder aufgestocktem Vorrat. »Lass uns über was Erfreulicheres reden«, sagte er. »Ich hätte eine Grabschändung im Angebot.« »Von mir aus«, sagte Schwemmer, aber Schafmanns Miene war ungewohnt ernst. »Miese Sache«, sagte er. »Nicht nur ein paar umgekippte Marterl diesmal. Die haben richtig gegraben.« Er warf einen kleinen Stapel Fotos auf den Tisch vor Schwemmer. Schwemmer blätterte sie durch. Eigentlich nicht spektakulär, eine Grube halt. Die Erde war wüst verstreut worden, offensichtlich hatte man von Anfang an nicht vorgehabt, das Loch wieder zu schließen. Das Kreuz war umgekippt, aber es sah nicht wirklich geschändet aus, eher, als sei es bei der Arbeit im Weg gewesen. »Sind sie runter bis zum Sarg?« »Ja, aber nicht rein, Gott sei Dank. Vielleicht sind sie gestört worden.« »Wessen Grab ist das?« »Gehört einer Familie Kunkel.
Da ist vor drei Monaten eine Frau Antonia Kunkel, geborene Stubschreiner, begraben worden. Verstorben mit hundertvier.« »Jessas. Und die gräbt man wieder aus ... Spurenlage?« »Sohlenabdrücke, scheinen von zwei Personen zu stammen. Dräger sucht noch.« »Verdacht?« »Der Zeuge, der das entdeckt hat, ein Herr Gärtner, der meint, es gäb da eine Rockband.« »Wieso eine Rockband?« Schwemmer griff nach seinem Kaffee. »Die proben in der Nähe in einer alten Fabrikhalle. Der Gärtner meint, das seien Satanisten.« »Das fehlt noch. Wissen wir da was drüber?« »Nein. Keinerlei Erkenntnisse.« »Satanisten!«, murmelte Schwemmer. »Das erzähl ich auf keinen Fall der Zeitung, bevor wir das nicht wasserdicht haben.« »Am besten nicht mal dann«, sagte Schafmann. »Das gibt nur Nachahmer. Aber es weist auch nichts auf irgendwelche Rituale hin oder so was, da ist nur gegraben worden. « Das Telefon läutete und signalisierte einen Internruf von Frau Fuchs. Schwemmer nahm ab. »Ich hab die Wache am Apparat«, sagte sie. »Unten ist Frau Kindel, Johanna Kindel.« Sie sagte das in einem Ton, als wüsste Schwemmer selbstverständlich, wer das sei, was allerdings nicht der Fall war. »Und?«, fragte er also. »Sie möchte Sie sprechen.« Nun klang Frau Fuchs, als würde Schwemmer eine Ehre erwiesen.
Er runzelte die Stirn. »Wer ist diese Dame denn?« »Die Seherin!«, sagte Frau Fuchs, hörbar fassungslos ob seiner Ahnungslosigkeit. »Hä?«, stieß Schwemmer hervor, »die Seherin?«, und sah erstaunt zu Schafmann, als er den »Oh Gott« murmeln hörte. »Soll warten«, sagte er in den Hörer und legte auf. »Die Kindel?«, fragte Schafmann. »Ja. Wer ist das?« Schafmann kratzte sich verdrossen am Kopf. »Das war vor deiner Zeit. Aber du hast noch von ihr profitiert, könnte man sagen. Sonst hättest du deinen Job erst drei Jahre später gekriegt.« »Muss ich das verstehen? Du sprichst in Rätseln!« »Der Fall, in den sie verwickelt war, hat deinen Vorgänger, EKHK Lortzig, mehr oder weniger in die Frühpensionierung getrieben. Nicht direkt, aber dass er sich davon nicht mehr richtig erholt hat, ist ein offenes Geheimnis. « »Allzu offen wohl nicht. Sonst wüsst ich doch davon, oder?« »Da redet hier keiner gerne drüber ...« »Und was hat diese Dame damit zu tun?« Schafmann holte Luft. »Die Kindel galt vielen im Ort als Seherin. Sie hat in den Sechzigern mal einen unerwarteten Todesfall korrekt vorhergesagt.
Sie hat dem Pfarrer erzählt, dass irgendeine junge Frau bald sterben würde. Ein paar Tage später hatte die tatsächlich einen Blinddarmdurchbruch, und bis der Arzt oben auf dem Hof war, war's zu spät. Und dieser Pfarrer, der Depp, hat nix Besseres zu tun, als das rumzuratschen.« »Der Pfarrer?« Schwemmer schüttelte fassungslos den Kopf. »Damit war die Sache doch quasi offiziell?« »Genau«, sagte Schafmann. »Sie war keine, die Aufhebens um sich machte, aber die Leute haben ihr die Bude eingerannt. Obwohl ihre Trefferquote eigentlich ziemlich mager war. Und dann, das war ...«, Schafmann dachte einen Moment nach, »... sechs- oder siebenneunzig muss das gewesen sein, da hatten wir einen Mordfall in Farchant. Ein junger Mann, mit einem Messer bestialisch zugerichtet, zum Schluss mit einer Kugel in den Kopf regelrecht hingerichtet, wie mit einem Fangschuss. Wir hatten ein paar Spuren, aber keine Resultate. Nix.« »Habt ihr die Waffen gefunden?« »Eben nicht. Die sind nie aufgetaucht, das war das Hauptproblem. Lortzig war stocksauer. Hier war eine Atmosphäre ... Wochen ging das. Und dann steht auf einmal die Kindel in der Tür und sagt, der Kugler Alois war's.« »Und wie kam sie darauf?« »Nun, sie hat's eben gesehen. Sie war sich ganz sicher. Nun hatten wir diesen Kugler durchaus auf der Liste, hatten aber nichts gefunden, bis dahin. Wir haben dann weitergebohrt und doch noch das ein oder andere zutage gefördert, bis der alte Felbermayr bei der Staatsanwaltschaft meinte, wir hätten genug Indizien. Er hat Anklage erhoben. Und dann hat das Landgericht in München uns das Ganze derart um die Ohren gehauen, dass wir wie die letzten Deppen dastanden. Freispruch mit Pauken und Trompeten. Wir haben uns verhoben. Dabei ...« Schafmann brach ab.
Mit finsterer Miene sah er zum Fenster hinaus. »Dabei was?«, fragte Schwemmer, obwohl er an Schafmanns Gesicht ablesen konnte, was der Kollege dachte. »Dabei bin ich mir sicher, dass er es wirklich war, der Kugler. Einen anderen haben wir jedenfalls nicht ermittelt. Der Fall ist ungeklärt.« »Wer ist denn dieser Kugler?« »Bauunternehmer, ziemlich reich. Nicht irgendwer. Lortzig bekam es jedenfalls am Herzen.« Schwemmer verstand. Er wusste, welche Meinung Schafmann und die Kollegen von Lortzig hatten. Er war der immer noch unerreichte Held. Natürlich respektierten sie Schwemmer, aber die Stufe des Respekts, mit dem die alten Hasen von EKHK Lortzig redeten, hatte er noch lange nicht erreicht.
Die acht Jahre, die er jetzt Chef war, standen aber auch in keinem echten Verhältnis zu den dreiundzwanzig, die Lortzig hinter sich gebracht hatte. Gut Ding will eben Weile haben. Vielleicht würde er ja auch mal als Legende in Rente gehen, dachte Schwemmer und vernahm gleichzeitig im Hinterkopf das herzliche Lachen seiner Frau. Wie auch immer: Jetzt stand Johanna Kindel wieder in der Tür. Die Frau, die nach Schafmanns Meinung Lortzig das Genick gebrochen hatte. »Immerhin«, sagte Schwemmer, »haben wir keinen ungeklärten Todesfall.« »Ja, ja«, brummte Schafmann. »Vielleicht weiß sie ja was über deine Satanisten.« Es war als Scherz gemeint, fiel aber ins Leere.
»Seit damals hat sie sich geweigert, irgendwas vorauszusagen «, sagte Schafmann ernsthaft. »Nicht mal das Geschlecht von Kindern, dabei war sie darin ziemlich gut. Lag jedenfalls besser als dieser Scharlatan, dieser Kurtzbecker. « Diesen Namen kannte Schwemmer. Gegen Kurtzbecker hatte es Anzeigen wegen Betrugs gegeben, von denen eine sogar einen Strafbefehl zur Folge gehabt hatte. Er versprach eine Geschlechtsvorhersage anhand von Handschriftenproben der Mutter, bei fehlerhafter Voraussage gab es das Geld zurück. Das Konzept war genial: Kurtzbecker versprach immer Mädchen und hatte so eine Trefferquote von fünfzig Prozent - ohne Risiko. Solange er Leute fand, die das mitmachten, war es eine todsichere Sache. Schwemmer hatte es fast widerstrebt, die Anzeige zu verfolgen. Er fand das Angebot gar nicht betrügerisch. Für ihn war es eine offene Verarschung. Am Ende hatte dann weniger der Strafbefehl als das Umsichgreifen von Ultraschalluntersuchungen der Sache ein Ende bereitet. Kurtzbecker hatte mittlerweile auf die Vorhersage von Gewinnzahlen umgestellt. Bisher waren keine Klagen bekannt geworden. Aber es gab Gerüchte, er praktiziere neuerdings auch Geistheilung. »Und was machen wir nun mit Frau Kindel?«, fragte Schwemmer. »Ich kann sie ja schlecht wegschicken.« »Hör dir halt an, was sie will.« Schafmann zuckte die Achseln. »Aber ich bleib hier.« »Na klar«, antwortete Schwemmer und griff zum Telefon, um die Dame von Frau Fuchs hereinbitten zu lassen.
Frau Fuchs hielt ihr mit fast unterwürfiger Haltung die Tür auf, aber als Frau Kindel das Büro betrat, war Schwemmer fast ein bisschen enttäuscht. Die »Seherin« war das Musterbild einer einfachen Frau. Sie grüßte höflich, aber nicht unterwürfig, war schlicht, aber nicht schlecht gekleidet, trug einen Stoffbeutel in der Hand und wirkte in keiner Weise auffällig. Fast kam es Schwemmer vor, als kenne er sie, aber er konnte sich genauso an irgendjemand anderen erinnern, wie er sich klarmachte. Er schätzte sie auf Ende sechzig, und sie schien wach und kräftig. Schwemmer stellte sich und Schafmann vor. »Nehmen Sie Platz, Frau Kindel«, sagte er. Sie setzte sich auf den freien Besucherstuhl und stellte den Beutel auf dem Boden ab. »Den Herrn Schafmann kenn i no von damois«, sagte sie und nickte ihm zu. Schwemmer spürte die Spannung zwischen den beiden. Für einen Moment überlegte er, Schafmann doch zu bitten, sie allein zu lassen, verzichtete dann aber darauf. »I woaß ned, wie i ofanga soll«, sagte Frau Kindel zögernd. Sie hob ihren Stoffbeutel wieder vom Boden und zog eine braune, unbeschriftete Flasche hervor. »Zunächst amoi«, sagte sie. »Des is für Eana Frau Gattin. Franzbranntwein mit Arnika, zum Einreibn.« Schwemmer sah sie fragend an. »Des tuat guat bei am Hexnschuss«, sagte Frau Kindel. »Ääh ...«, sagte Schwemmer, und Schafmann sah verblüfft zwischen Schwemmer und Frau Kindel hin und her. »Sie hat doch an Hexnschuss, oder? Seit drei Tag?« Schwemmer nickte stumm.
»So hat's mir die Hoibl Vreni verzählt, gestern«, sagte Frau Kindel. Schwemmer räusperte sich, und Schafmann sah zur Decke. »Sie kennen die Frau Hoibl?«, fragte Schwemmer höflich. »Sie kommt alle paar Monat vorbei, wegn da Kinder. Gestern war's da und hat von eaner Freindin verzählt, der Schwemmer Burgl, der maladn, und da hab i dacht, wann i herkomm ...« Frau Kindel verstummte, sie sah zu Schafmann, der sie aufmerksam, aber distanziert beobachtete. »Könnt ma vielleicht unter vier Augn redn?«, fragte sie Schwemmer. Schwemmer wollte ablehnen, aber Schafmann stand auf, bevor er antworten konnte, und ging grußlos hinaus. Von der Tür her warf er Schwemmer noch einen warnenden Blick zu, als lasse er ihn nun mit einem gewalttätigen Verbrecher allein. Als er gegangen war, hob Schwemmer auffordernd eine Hand. »Sie kennen de oiden Gschichtn?«, fragte Johanna Kindel. »Nicht genau«, antwortete Schwemmer und vermisste Schafmann schon, bevor er wusste, was die Frau überhaupt von ihm wollte. »Diesmal is genauso«, sagte Frau Kindel, so leise, dass Schwemmer sie kaum verstand. »Fast genauso«, korrigierte sie sich. »Und was ist der Unterschied?«, fragte Schwemmer.
»Damals hab i des ois erst vui später zum Sehn kriagt. Wochen später.« »Was haben Sie denn damals gesehen?«, fragte Schwemmer. Frau Kindel sah zur Seite, während sie antwortete. »I hab gsehn, wie der Kugler Alois den Buam abgstochen hat, als wär's a Sau. I hab sein Gsicht gsehn dabei. Jede Bewegung, jedn Stich hab i gsehn. Und am End, da hat er a noch gschossn. In den Kopf. Aber freilich glaubns oam des ned, bei Gericht.« »Wenn Sie so etwas sehen, wie muss ich mir das vorstellen? Wie geht das vor sich?«, fragte Schwemmer mit gerunzelter Stirn. »Des möcht i ned sagn. Ned noch amoi. I kann Dinge sehn, manchmal. Und i kanns mir ned aussuchn.« Sie sah ihn an, offen, nicht verbittert. Sie beklagte nicht, dass ihr nicht geglaubt wurde. Sie wusste es einfach und akzeptierte es. »Und diesmal?«, fragte Schwemmer. »Was ist dieses Mal anders?« »Diesmal is wohl grad erst gschehn. Letzte Nacht. Oder die davor.« Die senkrechten Falten in Schwemmers Stirn blieben mittlerweile stabil. »Können Sie denn auch Zeiträume sehen? « »Na. Aber i kenn den Buam, dens derschossen habn. Vor zwoa Tag hat er noch glebt.« »Ein Bub wurde erschossen? Und wer ist der Junge?« Zum ersten Mal wirkte sie nun doch verlegen. »Des woaß i ned gnau.«
»Aber Sie kennen ihn doch, sagten Sie eben.« »A Freind von meim Buam is der. De machen zsamma Musi. Also was die Buam so Musi nenna, heitzdag. Sicha woaß i nur, dass seine Freind eam Spacko heißn. I glaub, er heißt Oliver Speck, aber sicher bin i ned.« »Oliver Speck? Spacko?«, versicherte sich Schwemmer. Er griff gewohnheitsmäßig nach seinem Block, um den Namen zu notieren, ließ es dann aber bleiben. »Also Sie haben - wie auch immer - gesehen, dass Spacko erschossen wird. Und von wem?« »I kenn den Mann ned. Aber wiedererkennen tat i eam scho.« »Aber Sie wissen nicht genau, wann es passiert ist, und nicht, wo.« »Na. Wo, woaß i.« »Aha ...« Schwemmer sah sie fragend an. »An Holzplatz auf halber Höh an da Straßn am Grubnkopf. I bin heit Morgn naufgfahrn. I war do. Und des hab i gfundn.« Schwemmer sah ihr misstrauisch zu, wie sie einen Gefrierbeutel aus der Stofftasche holte und vor ihn auf den Tisch legte. Er nahm den Beutel und besah sich den Inhalt. Es war ein langes, rötliches Haar. An einem Ende war es brüchig versteift. Wie von getrocknetem Blut. »Des is dem Buam sei Farb. Da san noch mehra davon.« »So.« Schwemmer spitzte die Lippen. Die Sache begann, einiges an Peinlichkeitspotenzial zu entwickeln. Er konnte nicht auf ein einzelnes Haar hin eine offizielle Ermittlung starten, auch wenn es möglicherweise blutverschmiert war. Insbesondere dann nicht, wenn es von einer notorischen - und notorisch unzuverlässigen - Hellseherin angebracht wurde.
Andererseits waren ihre Angaben präzise genug. Wenn er nichts unternahm und die Frau hatte recht - aus welchem Grund auch immer -, dann war er erst recht blamiert. »Das Beste ist, wenn Sie zunächst mal herausfinden, wer dieser Spacko wirklich ist. Und dann feststellen, ob er tatsächlich verschwunden ist.« »Des mach i a. Aber i woaß ned, wie lang's dauert. Und wenn's regnt? Dann san die Spurn da drobn fort.« Schwemmer lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah aus dem Fenster. Dicke Wolken hingen um die Spitze des Wank. Es sah nicht direkt nach einem Gewitter aus, aber das Aprilwetter war seit Tagen typisch unstabil. Er sah Frau Kindel an, und sie erwiderte seinen Blick. Nicht unsicher oder verlegen, sondern klar und geradeaus. Sie war sich der Situation vollständig bewusst. Sie wusste, dass sie Unmögliches verlangte. Aber sie hatte keine Wahl. Denn sie wusste, was sie wusste. Und sie hatte getan, was ihr blieb: den Schwarzen Peter bei Schwemmer ablegen. Er griff nach dem Telefon und wählte das K3 an. »Habt ihr einen Mann frei, für eine Stunde etwa?«, fragte er, als der Kollege sich meldete. »Das ist schlecht«, erhielt er zur Antwort. »Dräger ist noch nicht aus Grainau zurück. Und zwei Mann haben Grippe. Ich bin der Einzige hier im Moment. Ist es dringend? « »Nein, vergessen Sie's«, sagte Schwemmer und legte auf. Wieder sah er zu Frau Kindel, die unverwandt seinen Blick erwiderte.
Er konnte sie warten lassen, bis Dräger wieder da war. Das mochte noch eine gute Stunde dauern, in der sie auf dem Gang den misstrauischen Blicken der Kollegen ausgesetzt war, während die interne Gerüchteküche brodelte. Er konnte Schafmann schicken, aber das würde weder der noch Frau Kindel wollen. Er konnte sie wegschicken. Kopfschüttelnd und mit einem kleinen Seufzer stand er auf und öffnete die Tür zum Vorzimmer. »Frau Fuchs«, sagte er. »Ich bin mal eine Stunde aus dem Haus.«
* * *
Johanna folgte in ihrem kleinen japanischen Auto dem dunkelblauen Passat des Kommissars. Er hatte sie nicht gebeten, in seinem Wagen mitzufahren, und das war ihr auch recht. Sie fühlte sich unwohl mit fremden Menschen in einem Auto, litt unter der erzwungenen Nähe. Trotzdem war ihr schon klar, dass diese nicht erfolgte Aufforderung weniger eine Unhöflichkeit als ein Zeichen der Distanz war. Dieser Schwemmer war ihr nicht unsympathisch. Er wirkte um einiges menschlicher und einfühlsamer als Hauptkommissar Lortzig, den sie immer als grob empfunden hatte, jedenfalls im Umgang mit ihr, damals. Er hatte sie angeschrien, nach Kuglers Freispruch, als sei das alles ihre Schuld. Dabei hatte sie nur die Wahrheit gesagt. Hatte dem Richter von dem Adler erzählt und die Fragen des Verteidigers beantwortet, so gut sie konnte. Aber das war nicht gut genug gewesen. Seine Fragen waren immer schärfer geworden und die Stimme immer höhnischer, und irgendwann hatte das Publikum angefangen zu kichern und bald darauf zu lachen, und sie hatte ihre Tränen nicht mehr kontrollieren können. Gedemütigt wie eine dumme, kleine Pute hatte sie dagestanden, eine erwachsene Frau, Mitte fünfzig damals schon, Mutter und Großmutter. Sie hatte vor all diesen höhnischen Menschen geweint und sich schon dort, im Gerichtssaal zu München, geschworen, dass sie niemals und niemandem mehr etwas berichten würde von dem, was der Adler ihr zeigte. Sie würde nie mehr darum betteln, dass ihr geglaubt würde, was sie doch wusste. Aber das Schlimmste war Kuglers Gesicht gewesen, das Gesicht des Mörders, den sie freilassen würden. Das feiste und hinterhältige Grinsen, das er ihr gezeigt hatte, als sie geschlagen aus dem Zeugenstand gewankt und klar war, dass sie verloren hatten, sie und Lortzig.
Und die Erinnerung an dieses Gesicht war es auch, die sie veranlasst hatte, ihren Schwur zu brechen. Sie erreichten Burgrain und bogen am Ende in die Feldernkopfstraße. Bald endete der Teerbelag. Es wurde steiler, und der kleine Motor ihres Wagens kämpfte, um dem kraftvollen Diesel Schwemmers zu folgen. Sie fuhr durch die dichte, grauweiße Staubfahne, die Schwemmers Auto hinter sich herzog. Nach ein paar Minuten erreichten sie den Holzplatz. Sie hielten am Rand an und stiegen aus. Johanna war sich anfangs nicht ganz sicher gewesen, ob es der richtige Ort war. Die Holzstapel waren dort, auch die Mulde auf der anderen Seite des Wegs, doch die Bäume schienen nicht ganz zu passen. Aber als sie die blutigen Haare gefunden hatte, waren ihre Zweifel verschwunden. Hier musste es passiert sein.
Schwemmer sah sie schweigend und auffordernd an. Er trug eine kleine Mappe in der Hand. Sie ging zielsicher zur Mitte des Platzes, und er folgte ihr. Sie hatte einige Steine zu einem kleinen Haufen getürmt, ein paar Schritt entfernt von der Stelle, an der sie die Haare gefunden hatte. Sie führte ihn hin und wies auf den roten Fleck auf dem Boden. Er war nicht besonders groß, halb so groß wie ihr Handteller etwa, und da klebten immer noch zwei dünne, vielleicht zehn Zentimeter lange rötliche Haare, die sich in eine Klette gewickelt hatten. »Da hat's drinklebt, in dem Bluat. So wie die zwoa do a.« Schwemmer ging in die Knie und besah sich den Fleck. Dann öffnete er die Mappe. Sie enthielt eine Reihe kleiner Werkzeuge, daneben eine Packung mit Einweghandschuhen und etliche verschließbare Plastiktüten. Schwemmer zog sich einen Handschuh über, zog mit einer Pinzette die Haare aus dem Fleck und verstaute sie samt der Klette in einer der Tüten. Er nahm einen Spatel aus der Mappe und beförderte eine Probe der dunkelroten Masse in eine zweite Tüte. Dann verschloss er beide, richtete sich auf und sah sich um.
Schwemmers Miene war missmutig, als wäre ihm lieber gewesen, hier nichts zu finden. Und Johanna war sich sicher, dass es genauso war. »Zeigen Sie mir mal, was sich Ihrer Meinung nach hier abgespielt hat«, sagte er. Sie zeigte ihm den Baum, hinter dem der Mann gewartet hatte, den Punkt, an dem der Rucksack gestanden hatte, und wo Spacko war, als der Mann auf ihn geschossen hatte. Schwemmer sagte nichts, aber er sah abschätzend von dort aus zu dem Fleck mit den Haaren, der sich fast zehn Meter entfernt befand. Sie sah ihm an, was er dachte.
Denn sie hatte das Gleiche gedacht, als sie den Fleck gefunden hatte. Wie sollten die Haare und das Blut dorthin gekommen sein? Schwemmers Blick verlängerte die Linie von dem Punkt, an dem sie standen, über den Fleck hinaus und ging in dieser Richtung zum Waldrand. Sie folgte ihm. Dort war dichtes Gehölz, das er sich ansah, so wie sie es eben schon getan hatte. Es gab dort keine Spur, dass hier etwas hineingetragen oder -geworfen worden wäre. Sie zeigte ihm noch die Mulde, in der der Junge gehockt hatte. Aber auch hier fand sich nichts, was irgendeinen Hinweis gegeben hätte. Schweigend gingen sie zurück zu den Wagen.
Schwemmer räusperte sich, bevor er sprach. »Das ist zu wenig, Frau Kindel. Das werden Sie verstehen.« Sie nickte. »Trotzdem vergelt's Gott, Herr Kommissar. Und drei Hand voll einreibn, mitm Branntwein. In da Früh und am Abnd.« Schwemmer hob zum Abschied die Hand und stieg in seinen Wagen. Sie sah ihm hinterher, wie er die Straße hinabrollte. Dann ging sie noch einmal den Platz ab, um sicherzugehen, nichts übersehen zu haben. Als sie wieder an ihrem Auto angelangt war, überkam sie erneut der Zweifel, am richtigen Ort zu sein. Aber einen anderen kannte sie nicht.
* * *
Schwemmer steckte sein Handy in die Halterung der Freisprecheinrichtung und rief Burgl an, während er den Wagen die Serpentinen nach Burgrain hinuntersteuerte. Es war die Hoibl Vreni, die sich meldete. »Und?«, fragte Schwemmer. »Wart ihr beim Arzt?« Vreni erläuterte wortreich, dass dem Patienten immer die letzte Entscheidung zustehe, es eigentlich gar nicht wirklich notwendig sei und man überhaupt der Schulmedizin nicht blind hinterherlaufen sollte. Schwemmer widersprach nicht. »Sag, wo ich dich grad am Apparat hab«, sagte er stattdessen. »Du kennst die Johanna Kindel, hab ich gehört. Was hast du denn mit der zu schaffen?« Die Tonlage von Vrenis Stimme erhöhte sich merklich. Mit der Familie Kindel hatte sie nur gelegentlich dienstlich zu tun, und darüber durfte sie nicht sprechen, wegen Datenschutz. »Ich bin immerhin die Polizei«, sagte Schwemmer und gönnte sich ein kleines, boshaftes Grinsen. Eben drum erst recht, meinte Vreni dazu. Da müsse er ihr schon dienstlich kommen.
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Autoren-Porträt von Martin Schüller
Martin Schüller, Jahrgang 1960, kam über die Musik zum Schreiben. Von Martin Schüller erschienen bisher sechs Kriminalromane. Mit "Tod in Garmisch" siedelte der gebürtige Rheinländer erstmals eine Geschichte in Oberbayern an.Weitere Informationen über den Autor erhalten sie unter: www.schuellerschreibt.de.
Bibliographische Angaben
- Autor: Martin Schüller
- 2013, 1, 384 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863653882
- ISBN-13: 9783863653880
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