Die Shakespeare-Morde
Thriller
Ein rästelhaftes Geschenk, eine tote Litearturprofessorin und ein Mörder, der seine Opfer auf symbolhafte Weise umbringt. Als die Theaterregisseurin Kate auf Hinweise zu einem verschollenen Shakespeare-Drama stößt, beginnt für sie ein tödlicher Wettlauf.
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Produktinformationen zu „Die Shakespeare-Morde “
Ein rästelhaftes Geschenk, eine tote Litearturprofessorin und ein Mörder, der seine Opfer auf symbolhafte Weise umbringt. Als die Theaterregisseurin Kate auf Hinweise zu einem verschollenen Shakespeare-Drama stößt, beginnt für sie ein tödlicher Wettlauf.
Klappentext zu „Die Shakespeare-Morde “
Ein rätselhaftes Geschenk, eine tote Literaturprofessorin und ein Mörder, der seine Opfer auf ebenso grausame wie symbolhafte Weise ums Leben bringt: Als die junge Theaterregisseurin Kate Stanley auf Hinweise zu einem verschollenen Shakespeare-Drama stößt, beginnt auch für sie ein atemloser Wettlauf mit dem Tod.
Lese-Probe zu „Die Shakespeare-Morde “
Die Shakespeare-Morde von Jennifer Lee CarrellPROLOG
29. Juni 1613
Vom Fluss sah es aus, als würden zwei Sonnen über London untergehen.
Die eine sank im Westen, ein Strahlenkranz aus orange, rosa und golden schimmernden Bändern. Doch es war die andere Sonne, die die unruhige Flotte von Booten, Barken, Kähnen und Jollen auf die dunkle Themse gelockt hatte: Gegenüber der St. Paul’s Cathedral mit ihrem eingestürzten Turm loderte eine grimmig glutrote Scheibe, als hätte sie den Horizont verfehlt und wäre stattdessen am Südufer der Themse niedergegangen, wo sie zwischen den Schenken und Bordellen von Southwark böse züngelnde Flammen in die Nacht schoss.
Freilich war es keine zweite Sonne, die dort am Ufer glühte, auch wenn die Männer, die sich für Dichter hielten, die trügerische Kunde von Boot zu Boot trugen. Es war ein Bauwerk – war eines gewesen. Das berühmteste aller berühmten Theater Londons – die aus rohen Balken gezimmerte Arena, der runde Sitz der Träume einer ganzen Stadt –, das große Globe höchstselbst war es, das dort in Flammen stand. Und ganz London hatte sich auf dem Fluss versammelt, um seinen Untergang mit anzusehen.
Auch der Graf von Suffolk hatte sich unter das Volk gemischt. »Da ließ der Herr Feuer regnen vom Himmel herab auf Sodom und Gomorra «,murmelte er, als er vom schwimmenden Palast seiner privaten Barke gen Süden blickte. In seinem Amt als Oberkammerherr stand er dem königlichen Hofstaat vor, und das Drama, das vor seinen Augen über die King’s Men hereinbrach – die Theaterkompanie Ihrer Majestät, der nebenbei das Globe Theatre gehörte –, hätte ihn erschüttern sollen. Oder wenigstens den Glanz seines Vergnügens trüben. Die beiden Männer, die mit ihm unter der seidenen Markise saßen und
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im Angesicht der Katastrophe an ihren Weingläsern nippten, schienen von seiner Gelassenheit nicht im Geringsten überrascht. Doch ihr Schweigen war Suffolk nicht genug. »Ist es nicht herrlich? «, fragte er herausfordernd.
»Kitschig«, knurrte sein Onkel, der Graf von Northampton, der trotz seiner weißen Mähne und dem vorgerückten Alter von über siebzig Jahren eine elegante, schlanke Figur abgab.
Theophilus Lord Howard de Walden, Suffolks Sohn und Erbe – der jüngste der drei Männer –, beugte sich vor wie ein gieriger junger Löwe, der seine Beute beobachtete. »Und am Morgen wird unsere Rache noch heller brennen, wenn Mr Shakespeare und seine Kompanie erst die Wahrheit erfahren.«
Northampton musterte seinen Großneffen. »Mr Shakespeare und seine Kompanie, wie du es ausdrückst, werden nichts dergleichen erfahren. «
Einen Augenblick hielt Theo dem Blick seines Großonkels regungslos stand. Dann sprang er auf und schleuderte seinen Kelch auf den Boden der Barke; Wein spritzte auf die safrangelben Livreen der Diener und sprenkelte sie mit dunklen Leopardenflecken. »Man hat meine Schwester auf offener Bühne verspottet«, schrie er, »keine Altmännerverschwörung wird mir meine Satisfaktion verderben.«
»Mein Lordneffe«, sagte Northampton über die Schulter zu Suffolk, »anscheinend leiden all Eure Sprösslinge an diesem misslichen Hang zur Unbesonnenheit. Keine Ahnung, wo sie das herhaben. Ein Howard’scher Zug ist es jedenfalls nicht.«
Dann wandte er sich wieder an Theo, dessen Hand zwanghaft am Griff seines Schwerts zuckte. »Sich des Schadens seiner Feinde zu rühmen ist die Rache der Einfältigen«, rügte er. »Ein überaus bäuerlicher Zug.« Auf sein Nicken reichte ein Diener Theo einen neuen Kelch, der ihn mit wenig Anmut entgegennahm. »Viel eleganter ist es, dem Gegner das Mitgefühl auszusprechen und ihn zum Dank zu verpflichten – während dieser einen Verdacht hegt, den er nicht begründen kann.«
Im gleichen Moment näherte sich ein Einer und legte seitlich an der Barke an. Ein Mann sprang über die Reling und glitt auf Northampton zu, das Licht meidend wie ein abtrünniger Schatten auf dem Weg zurück zu seinem Herrn.
»Wenn sich eine Tat lohnt, wie unser Seyton wohl weiß«, fuhr Northampton fort, »dann lohnt es sich, sie perfekt zu vollbringen. Wer es war, spielt dabei eine geringe Rolle. Wer weiß, wer es war, überhaupt keine.« Seyton kniete vor dem alten Grafen nieder, der ihm die Hand auf die Schulter legte. »Mein Lord Suffolk und mein beleidigter Großneffe sind ebenso gespannt auf Euren Bericht wie ich.«
Der Mann räusperte sich leise. Seine Stimme wie seine Kleider und selbst die Augen waren von einem unbestimmten Ton zwischen Grau und Schwarz. »Es fing damit an, mein Lord, dass heute Morgen der Kanonier des Theaters plötzlich erkrankte. Sein Ersatzmann scheint die Kanone mit loser Watte gefüllt zu haben. Fast drängt sich der Verdacht auf, die Watte wäre mit Pech getränkt gewesen.« Sein Mund zuckte. Ein verschlagenes Lächeln vielleicht.
»Sprich weiter.« Northampton wedelte ungeduldig mit der Hand.
»Das Stück, das sie am Nachmittag zeigten, war relativ neu: Heinrich VIII‹.«
»Der große Harry«,murmelte Suffolk, der mit einer Hand im Wasser spielte. »Unserer alten Königin Vater. Gefährliches Terrain.«
»In vielen Beziehungen, mein Lord«, sagte Seyton. »Das Stück ist ein wahrer Karneval der Effekte, sogar ein echter Kanonenschuss kommt darin vor. Als die Kanone gezündet wurde, war das Publikum vom Spektakel so in den Bann geschlagen, dass keiner die Funken bemerkte, die auf dem Dach landeten. Bis jemand den Rauch roch, stand das Stroh längst in hellen Flammen, und es blieb nichts als die Flucht.«
»Opfer?«
»Zwei Verletzte.« Mit blitzenden Augen sah er Theo an. »Ein Mann namens Shelton.«
Theo erbleichte. »Wie?«, stammelte er. »Wie schwer verletzt?«
»Verbrennungen. Nichts Schlimmes. Aber aufsehenerregend. Von meinem Posten – einem sehr guten, wenn ich sagen darf – konnte ich sehen, wie er das Kommando übernahm und die Flucht aus dem Gebäude organisierte. Doch als vermeintlich alle in Sicherheit waren, tauchte plötzlich ein kleines Mädchen in einem der oberen Ränge auf. Ein hübsches Ding mit dunklem Haar und wilden Augen. Ein Hexenkind, wenn es je eins gab.
Bevor man ihn aufhalten konnte, war Mr Shelton in den Flammen verschwunden. Minuten vergingen, und die Menge heulte schon, doch dann trat er mit dem Kind im Arm durch den Feuervorhang. Sein
Rücken stand bereits in Flammen. Eine Hure löschte ihn mit einem Fass Ale, worauf er ein zweites Mal verschwand, diesmal in einer Dampfwolke. Seine Hosen waren verkohlt, doch wundersamerweise kam der Mann mit leichten Brandwunden davon.«
»Wo ist er jetzt?«, rief Theo. »Warum habt Ihr ihn nicht mitgebracht? «
»Ich kenne den Mann kaum, Mylord«, verteidigte sich Seyton.
»Außerdem ist er der Held der Stunde. Es wäre mir nie gelungen, ihn unbemerkt aus der Menge zu lotsen.«
Northampton bedachte seinen Großneffen mit einem verächtlichen Blick, dann beugte er sich vor. »Und das Kind?«
»Bewusstlos.«
»Bedauerlich«, sagte der alte Graf. »Aber Kinder können überraschend stark sein.« Er tauschte eine wortlose Botschaft mit seinem Diener. »Vielleicht überlebt sie.«
»Vielleicht«, sagte Seyton.
Northampton richtete sich auf. »Und der Kanonier?«
Wieder kräuselte sich Seytons Mund zum Schatten eines Lächelns. »Von ihm fehlt jede Spur.«
Northamptons Gesicht zeigte keine Veränderung, doch es ging eine düstere Zufriedenheit von ihm aus. »Das Wichtigste ist das Theater«, sagte Suffolk.
Seyton seufzte. »Ein Totalverlust, Mylord. Mit dem Bühnenhaus im Rücken wird das Theater von den Lagern umringt, mit allen Kostümen und Gewändern, Folienjuwelen, Holzschwertern und Schildern – dem ganzen Besitz der Truppe. Alles ist hin. John Heminges stand auf der Straße und flennte um seinen süßen Palast, seine Konten und vor allem seine Textbücher. Die King’s Men, Mylords, sind heimatlos.«
Mit einem Mal erhob sich über dem Wasser ein großes Brüllen himmelwärts. Was von dem Schauspielhaus übrig war, stürzte in sich zusammen. Zurück blieb ein Haufen Asche und glühender Kohle. Über das Wasser zog ein Schwall heißer Luft und blies ein Rußgestöber vor sich her.
Theo juchzte triumphierend. Sein Vater fuhr sich bedächtig durch Haar und Bart. »Mr Shakespeare wird es nie wieder wagen, sich über die Howards lustig zu machen.«
»Nicht in Eurem und nicht in meinem Leben«, sagte Northampton. Als sein Profil vor dem Feuer aufleuchtete – schwere Schlupflider über undurchdringlichen Augen, die Hakennase vom Alter geschärft –, sah er aus wie das in schwarzen Marmor gehauene Götzenbild eines dämonischen Gottes. »Nie ist eine sehr lange Zeit.«
1
29. Juni 2004
Wir alle werden von Geistern verfolgt. Nicht von Poltergeistern oder weißen Frauen, kopflosen Reitern oder bösen Feen – von echten Geistern, die über die Schlachtfelder unserer Erinnerung wandeln und ewig flüstern: Vergiss mich nicht. Das war die Erkenntnis, die mir kam, als ich eines Abends bei Sonnenuntergang allein auf einem Hügel über London saß. Zu meinen Füßen erstreckte sich Hampstead Heath bis hinunter an die silbergrauen Gestade der großen Stadt. Auf meinem Schoß lag eine kleine, in Goldpapier gewickelte Schachtel. Die Schleife war noch unversehrt.
Behutsam hielt ich die Schachtel hoch.
»Was ist das?«, hatte ich am Nachmittag gefragt, und die Schärfe meiner Stimme hatte durch die Schatten der unteren Galerie des Globe Theatre geschnitten, wo ich die Regie bei Hamlet‹ führte. »Eine Wiedergutmachung? Oder Schweigegeld?«
Vor mir saß Rosalind Howard, Harvards exzentrische Shakespeare- Professorin – eine Mischung aus Amazone, erdiger Mutter und Zigeunerbaronin. Eindringlich beugte sie sich zu mir vor. »Ein Abenteuer. Und, wie es aussieht, ein Geheimnis.«
Ich schob den Finger unter die Schleife, doch Ros griff nach meiner Hand und hielt mich auf. Ihre grünen Augen suchten meinen Blick. Ros war um die fünfzig, hatte kurzes dunkles Haar und trug große, funkelnde Ohrringe, die von ihren Ohrläppchen baumelten. Sie trug einen breitkrempigen weißen Hut mit Pfingstrosen aus üppiger dunkelroter Seide – ein auffälliges Ding, das an das Hollywood der alten Zeit erinnerte. »Wenn du die Schachtel öffnest, musst du dem Weg folgen, den sie dir weist.«
Einst war Ros meine Mentorin gewesen, mein leuchtendes Vorbild und beinahe so etwas wie eine zweite Mutter. Und während sie die Matriarchin spielte, war ich stets die pflichtbewusste Schülerin – bis ich mich vor drei Jahren entschloss, meine akademische Laufbahn aufzugeben und ans Theater zu gehen. Es hatte schon vorher zwischen uns zu kriseln begonnen, doch mein Weggang aus Harvard führte zum endgültigen Bruch. Ros machte keinen Hehl daraus, dass sie meine Flucht aus dem Elfenbeinturm als Verrat betrachtete. Für mich war es eine Flucht nach vorn, auch wenn Ros mich hinter meinem Rücken als Deserteurin bezeichnete, wie ich später erfuhr. Doch das blieben Gerüchte. Seitdem hatte ich kein Wort des Bedauerns oder der Aussöhnung von ihr gehört, bis sie plötzlich an diesem Nachmittag ohne Vorwarnung im Globe auftauchte und mich um ein Gespräch bat. Widerwillig unterbrach ich die Proben für eine Viertelstunde.
Eine Viertelstunde mehr, dachte ich, als sie verdiente.
»Du liest zu viele Märchen«, sagte ich laut und schob die Schachtel zurück zur ihr. »Falls der Weg, den sie weist, nicht direkt zurück zur Probe führt, kann ich sie nicht annehmen.«
»Die kecke Kate«, sagte Ros mit einem wehmütigen Lächeln. »Du kannst nicht oder du willst nicht?«
Ich schwieg.
Ros seufzte. »Ob du sie aufmachst oder nicht, ich will, dass du sie hast.«
»Nein.«
Ros neigte den Kopf und musterte mich. »Ich habe etwas entdeckt, Liebes. Ich habe etwas Großes entdeckt.«
»Genau wie ich.«
Sie ließ den Blick durch das Theater schweifen – über die rohen Fachwerkgalerien, drei Stockwerke hoch, und die Bühne, die am anderen Ende in den Innenhof ragte, prunkvoll herausgeputzt mit künstlichem Marmor und falschem Gold. »Ein echtes Husarenstück, am Globe den Hamlet‹ zu inszenieren. Umso mehr für jemanden wie dich – so jung, aus den Staaten und vor allem eine Frau.Wo die britische Theaterwelt der snobistischste Haufen auf dem Erdball ist.
Glaub mir, es gibt niemanden, dem ich es mehr gönne, die Insel-Elite aufzumischen, als dir.« Ihr Blick glitt zu dem Geschenk, das zwischen uns auf dem Tisch lag, dann sah sie mir in die Augen. »Aber das hier ist größer.«
Ich starrte sie ungläubig an. Verlangte sie im Ernst von mir, dass ich mir den Staub des Theaters von den Stiefeln streifte und ihr folgte, allein auf ein paar Andeutungen hin und eine lächerliche, in Goldpapier gewickelte Schachtel?
»Was steckt dahinter?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist in mein Gedächtnis fest verschlossen, und Ihr solltet selbst dazu den Schlüssel führen.«
Ophelia. Ich stöhnte innerlich. Von Ros hätte ich wenigstens den Hamlet erwartet – die Hauptfigur in der Bühnenmitte. »Kannst du ein Mal aufhören in Rätseln zu sprechen, wenigstens für zwei Minuten?«
Sie nickte in Richtung Tür. »Komm mit.«
»Ich bin mitten in der Probe.«
»Vertrau mir«, sagte sie und beugte sich vor. »Es ist etwas, das du dir nicht entgehen lassen willst.«
Wut wallte in mir auf, und als ich aufstand, riss ich ein paar Bücher vom Tisch.
Mit einem Mal war die kokette Geheimnistuerei aus ihren Augen verschwunden. »Ich brauche Hilfe, Kate.«
»Frag jemand anderen.«
»Deine Hilfe.«
Meine Hilfe? Ich runzelte die Stirn. Ros hatte jede Menge Freunde am Theater; sie musste nicht zu mir kommen, wenn sie Fragen zu Shakespeare auf der Bühne hatte. Und das einzige andere Thema, das sie interessieren könnte – wo ich mich besser auskannte als sie –, lag zwischen uns wie ein Minenfeld: meine Dissertation. Ich hatte über den okkulten Shakespeare geschrieben. Die alte Bedeutung des Wortes okkult‹, beeilte ich mich immer dazuzusagen. Nicht das Dunkle, Magische, sondern das, was im Verborgenen stattfand. Insbesondere hatte ich mir die vielen seltsamen Versuche, speziell des 19. Jahrhunderts, angesehen, kodiertes Geheimwissen aus Shakespeares Werken herauszulesen. Ros fand das Thema ebenso schillernd und faszinierend wie ich – zumindest hatte sie das behauptet. Allerdings hatte ich später um drei Ecken erfahren, dass sie kein gutes Haar an meiner Arbeit ließ und sogar meine Wissenschaftlichkeit in Zweifel zog. Und jetzt wollte sie meine Hilfe?
»Warum?«, fragte ich. »Was hast du entdeckt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht hier.« Dann sprach sie leise, drängend:
»Wann bist du fertig?«
»Gegen acht.«
Sie beugte sich weiter vor. »Dann treffen wir uns um neun, oben auf dem Parliament Hill.«
Um neun brach die Dämmerung herein, und Parliament Hill war einer der einsamsten Orte in London. Nicht die sicherste Zeit, um draußen in Hampstead Heath herumzuspazieren. Dafür hatte man von dort oben einen fantastischen Blick auf den Sonnenuntergang. Als ich zögerte,meinte ich, in Ros’Augen so etwas wie Angst zu sehen.
»Bitte.«
Dann streckte sie die Hand aus, und einen Moment lang dachte ich, sie wollte die Schachtel zurücknehmen, doch stattdessen strich sie mir über das Haar. »Immer noch das gleiche rote Haar, die gleichen schwarzen Boleyn-Augen«, murmelte sie. »Weißt du, wie königlich du aussiehst, wenn du wütend bist?«
Damit hatte sie mich früher immer aufgezogen – dass ich in bestimmten Launen wie die Königin von England aussah. Nicht Elisabeth II., sondern Elisabeth I., Shakespeares Königin. Es war nicht nur wegen meines rotbraunen Haars und der dunklen Augen, sondern auch wegen der Form meiner Nase und meiner hellen Haut, die in der Sonne sommersprossig wurde. Ein- oder zweimal hatte ich die Ähnlichkeit im Spiegel selbst gesehen, aber der Vergleich, und was er implizierte, hatte mir nie gefallen. Meine Eltern starben, als ich fünfzehn war, und später hatte ich bei einer Großtante gelebt. Ich hatte viel Zeit meines Lebens in der Gesellschaft autokratischer älterer Damen verbracht, und ich hatte mir geschworen, dass ich nie so werden würde wie sie. Und so wollte ich so wenig wie möglich gemein haben mit jener unbarmherzigen Tudor-Königin, bis auf ihre Intelligenz vielleicht, und die Liebe zu Shakespeare.
»Na schön«, hörte ich mich sagen, »treffen wir uns um neun auf dem Parliament Hill.«
Ros ließ die Hand sinken. Vielleicht war sie überrascht, dass ich so leicht aufgab. Ich konnte es selbst kaum glauben. Doch meine Wut war verraucht.
Im Theater knisterten die Lautsprecher. »Ladys und Gentlemen«, kollerte die Stimme meines Inspizienten, »in fünf Minuten auf die Plätze.«
Schauspieler strömten auf den sonnendurchfluteten Hof. Ros lächelte, dann stand sie auf. »Dein Auftritt und mein Abtritt«, sagte sie spöttisch. Mit einem Anflug von Nostalgie erinnerte ich mich an den
alten Witz und Geist, der früher zwischen uns geherrscht hatte. »Pass gut darauf auf, Katie«, sagte sie mit einem Blick auf die Schachtel.
Dann verließ sie mich.
Und so kam es, dass ich am Ende eines langen Tages auf dem Parliament Hill auf einer Parkbank saß und das tat, was ich nie wieder zu tun geschworen hatte: Ich wartete auf Ros. Ich streckte meine Glieder und dachte an die Welt, die unter mir lag. Trotz der Türme von Canary Wharf, die im Osten wie Krallen in den Himmel ragten, und des Hochhauses in Midtown sah London von hier oben friedlich aus, wie es sich um die St. Paul’s Cathedral schmiegte – die Kuppel lugte hervor wie ein leuchtendes Ei aus einem riesigen Daunennest. In der letzten Stunde war ein stetes Rinnsal von Spaziergängern auf dem Weg unter mir vorbeigekommen. Doch keiner von ihnen hatte mich eines Blickes gewürdigt oder war mit Ros’ selbstbewussten Schritten durch das Gras heraufgekommen. Wo blieb sie?
(Und was erhoffte sie sich? Niemand, der einigermaßen bei Sinnen war, käme auf die Idee, dass ich die Regie des Hamlet‹ am Globe aufgeben würde. Ich war noch keine dreißig, Amerikanerin und Literaturwissenschaftlerin, was mich wahrscheinlich zum toxischen Gegenteil dessen machte, was sich die Götter der britischen Theaterwelt als idealen Kandidaten für die Regie erträumten. Das Angebot, Hamlet‹ zu übernehmen – der edelste Stein in der Krone des britischen Theaters –,war ein Geschenk des Schicksals gewesen, das an ein Wunder grenzte. Ich hatte die Nachricht des Intendanten des Globe immer noch auf meinem Anrufbeantworter gespeichert. Jeden Morgen spielte ich mir seine manische, abgehackte Stimme vor, nur um mich zu versichern, dass ich nicht alles geträumt hatte. Ich war in einer Lage, wo es mir vollkommen egal sein konnte, ob Ros’ Schachtel die Landkarte von Atlantis oder den Schlüssel zur Bundeslade enthielt. Nicht einmal Ros, die Königin der Egozentrik, konnte erwarten, dass ich meinen Titel »Master of Play« gegen irgendein Geheimnis eintauschte, sei es groß oder klein, das sie mir anvertrauen wollte.
In drei Wochen war Premiere. Zehn Tage später stand mir der schlimmste Teil des Theaterlebens bevor: Als Regisseurin würde ich die Zügel aus der Hand geben müssen, mich vom Team und von den Schauspielern trennen und hinausschleichen – und die Show den Schauspielern überlassen müssen. Falls ich bis dahin kein Anschlussprojekt fand.
Die Schachtel auf meinem Schoß glänzte im Abendlicht.
Ja, aber nicht jetzt, könnte ich Ros antworten. Ich kümmere mich um dein teuflisches Geschenk, sobald ich mit Hamlet‹ fertig bin. Falls sie überhaupt heute Abend hier erschien, um sich meine Antwort anzuhören. Während die Dunkelheit in die Stadt kroch wie eine dunkle Flut, flackerten am Fuß des Hügels die Laternen auf. Am Nachmittag war es heiß gewesen, doch jetzt war es kühl, und ich war froh, dass ich meine Jacke dabeihatte. Als ich sie überstreifte, hörte ich plötzlich ein Knacken hinter mir in den Büschen. Im selben Moment spürte ich Blicke im Rücken. Erschrocken stand ich auf und drehte mich um. Die Dunkelheit hatte bereits die Bäume verschluckt, die die Kuppe des Hügels säumten. Nichts regte sich bis auf die Wipfel, die im Wind zitterten. Ich trat einen Schritt vor. »Ros?«
Niemand antwortete.
Ich drehte mich um und suchte die Landschaft unter mir ab. Es war niemand zu sehen, doch allmählich fiel mir etwas auf, das ich vorher nicht gesehen hatte. Weit unter mir, auf der anderen Seite von St. Paul’s, stieg eine blasse Rauchsäule träge zum Himmel. Mir stockte der Atem. Am Südufer der Themse, jenseits von St. Paul’s, befand sich das wiedererbaute Globe Theatre mit seinen weiß verputzten Wänden, dem Eichenfachwerk und dem stoppeligen Dach aus trockenem Stroh. Wegen der Feuergefährlichkeit war das Globe das erste mit Stroh gedeckte Gebäude in London seit dem großen Brand von 1666, der vor fast dreieinhalb Jahrhunderten die halbe Stadt in Schutt und schwelende Asche gelegt hatte.
Es musste eine optische Täuschung sein. Vielleicht stieg der Rauch an einer Stelle zwanzig Kilometer südlich des Globe auf, oder einen Kilometer weiter östlich.
Die Rauchsäule wurde breiter und färbte sich grau, dann schwarz.
Dann frischte der Wind auf und riss die Schwaden auseinander. In ihrem Herzen blitzte ein unheilverkündendes rotes Flackern auf. Hastig schob ich Ros’Geschenk in die Jackentasche und lief hügelabwärts. Kaum hatte ich den Weg erreicht, begann ich zu rennen.
Übersetzung: Sophie Zeitz
© der deutschsprachigen Ausgabe 2008 by
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin.
»Kitschig«, knurrte sein Onkel, der Graf von Northampton, der trotz seiner weißen Mähne und dem vorgerückten Alter von über siebzig Jahren eine elegante, schlanke Figur abgab.
Theophilus Lord Howard de Walden, Suffolks Sohn und Erbe – der jüngste der drei Männer –, beugte sich vor wie ein gieriger junger Löwe, der seine Beute beobachtete. »Und am Morgen wird unsere Rache noch heller brennen, wenn Mr Shakespeare und seine Kompanie erst die Wahrheit erfahren.«
Northampton musterte seinen Großneffen. »Mr Shakespeare und seine Kompanie, wie du es ausdrückst, werden nichts dergleichen erfahren. «
Einen Augenblick hielt Theo dem Blick seines Großonkels regungslos stand. Dann sprang er auf und schleuderte seinen Kelch auf den Boden der Barke; Wein spritzte auf die safrangelben Livreen der Diener und sprenkelte sie mit dunklen Leopardenflecken. »Man hat meine Schwester auf offener Bühne verspottet«, schrie er, »keine Altmännerverschwörung wird mir meine Satisfaktion verderben.«
»Mein Lordneffe«, sagte Northampton über die Schulter zu Suffolk, »anscheinend leiden all Eure Sprösslinge an diesem misslichen Hang zur Unbesonnenheit. Keine Ahnung, wo sie das herhaben. Ein Howard’scher Zug ist es jedenfalls nicht.«
Dann wandte er sich wieder an Theo, dessen Hand zwanghaft am Griff seines Schwerts zuckte. »Sich des Schadens seiner Feinde zu rühmen ist die Rache der Einfältigen«, rügte er. »Ein überaus bäuerlicher Zug.« Auf sein Nicken reichte ein Diener Theo einen neuen Kelch, der ihn mit wenig Anmut entgegennahm. »Viel eleganter ist es, dem Gegner das Mitgefühl auszusprechen und ihn zum Dank zu verpflichten – während dieser einen Verdacht hegt, den er nicht begründen kann.«
Im gleichen Moment näherte sich ein Einer und legte seitlich an der Barke an. Ein Mann sprang über die Reling und glitt auf Northampton zu, das Licht meidend wie ein abtrünniger Schatten auf dem Weg zurück zu seinem Herrn.
»Wenn sich eine Tat lohnt, wie unser Seyton wohl weiß«, fuhr Northampton fort, »dann lohnt es sich, sie perfekt zu vollbringen. Wer es war, spielt dabei eine geringe Rolle. Wer weiß, wer es war, überhaupt keine.« Seyton kniete vor dem alten Grafen nieder, der ihm die Hand auf die Schulter legte. »Mein Lord Suffolk und mein beleidigter Großneffe sind ebenso gespannt auf Euren Bericht wie ich.«
Der Mann räusperte sich leise. Seine Stimme wie seine Kleider und selbst die Augen waren von einem unbestimmten Ton zwischen Grau und Schwarz. »Es fing damit an, mein Lord, dass heute Morgen der Kanonier des Theaters plötzlich erkrankte. Sein Ersatzmann scheint die Kanone mit loser Watte gefüllt zu haben. Fast drängt sich der Verdacht auf, die Watte wäre mit Pech getränkt gewesen.« Sein Mund zuckte. Ein verschlagenes Lächeln vielleicht.
»Sprich weiter.« Northampton wedelte ungeduldig mit der Hand.
»Das Stück, das sie am Nachmittag zeigten, war relativ neu: Heinrich VIII‹.«
»Der große Harry«,murmelte Suffolk, der mit einer Hand im Wasser spielte. »Unserer alten Königin Vater. Gefährliches Terrain.«
»In vielen Beziehungen, mein Lord«, sagte Seyton. »Das Stück ist ein wahrer Karneval der Effekte, sogar ein echter Kanonenschuss kommt darin vor. Als die Kanone gezündet wurde, war das Publikum vom Spektakel so in den Bann geschlagen, dass keiner die Funken bemerkte, die auf dem Dach landeten. Bis jemand den Rauch roch, stand das Stroh längst in hellen Flammen, und es blieb nichts als die Flucht.«
»Opfer?«
»Zwei Verletzte.« Mit blitzenden Augen sah er Theo an. »Ein Mann namens Shelton.«
Theo erbleichte. »Wie?«, stammelte er. »Wie schwer verletzt?«
»Verbrennungen. Nichts Schlimmes. Aber aufsehenerregend. Von meinem Posten – einem sehr guten, wenn ich sagen darf – konnte ich sehen, wie er das Kommando übernahm und die Flucht aus dem Gebäude organisierte. Doch als vermeintlich alle in Sicherheit waren, tauchte plötzlich ein kleines Mädchen in einem der oberen Ränge auf. Ein hübsches Ding mit dunklem Haar und wilden Augen. Ein Hexenkind, wenn es je eins gab.
Bevor man ihn aufhalten konnte, war Mr Shelton in den Flammen verschwunden. Minuten vergingen, und die Menge heulte schon, doch dann trat er mit dem Kind im Arm durch den Feuervorhang. Sein
Rücken stand bereits in Flammen. Eine Hure löschte ihn mit einem Fass Ale, worauf er ein zweites Mal verschwand, diesmal in einer Dampfwolke. Seine Hosen waren verkohlt, doch wundersamerweise kam der Mann mit leichten Brandwunden davon.«
»Wo ist er jetzt?«, rief Theo. »Warum habt Ihr ihn nicht mitgebracht? «
»Ich kenne den Mann kaum, Mylord«, verteidigte sich Seyton.
»Außerdem ist er der Held der Stunde. Es wäre mir nie gelungen, ihn unbemerkt aus der Menge zu lotsen.«
Northampton bedachte seinen Großneffen mit einem verächtlichen Blick, dann beugte er sich vor. »Und das Kind?«
»Bewusstlos.«
»Bedauerlich«, sagte der alte Graf. »Aber Kinder können überraschend stark sein.« Er tauschte eine wortlose Botschaft mit seinem Diener. »Vielleicht überlebt sie.«
»Vielleicht«, sagte Seyton.
Northampton richtete sich auf. »Und der Kanonier?«
Wieder kräuselte sich Seytons Mund zum Schatten eines Lächelns. »Von ihm fehlt jede Spur.«
Northamptons Gesicht zeigte keine Veränderung, doch es ging eine düstere Zufriedenheit von ihm aus. »Das Wichtigste ist das Theater«, sagte Suffolk.
Seyton seufzte. »Ein Totalverlust, Mylord. Mit dem Bühnenhaus im Rücken wird das Theater von den Lagern umringt, mit allen Kostümen und Gewändern, Folienjuwelen, Holzschwertern und Schildern – dem ganzen Besitz der Truppe. Alles ist hin. John Heminges stand auf der Straße und flennte um seinen süßen Palast, seine Konten und vor allem seine Textbücher. Die King’s Men, Mylords, sind heimatlos.«
Mit einem Mal erhob sich über dem Wasser ein großes Brüllen himmelwärts. Was von dem Schauspielhaus übrig war, stürzte in sich zusammen. Zurück blieb ein Haufen Asche und glühender Kohle. Über das Wasser zog ein Schwall heißer Luft und blies ein Rußgestöber vor sich her.
Theo juchzte triumphierend. Sein Vater fuhr sich bedächtig durch Haar und Bart. »Mr Shakespeare wird es nie wieder wagen, sich über die Howards lustig zu machen.«
»Nicht in Eurem und nicht in meinem Leben«, sagte Northampton. Als sein Profil vor dem Feuer aufleuchtete – schwere Schlupflider über undurchdringlichen Augen, die Hakennase vom Alter geschärft –, sah er aus wie das in schwarzen Marmor gehauene Götzenbild eines dämonischen Gottes. »Nie ist eine sehr lange Zeit.«
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29. Juni 2004
Wir alle werden von Geistern verfolgt. Nicht von Poltergeistern oder weißen Frauen, kopflosen Reitern oder bösen Feen – von echten Geistern, die über die Schlachtfelder unserer Erinnerung wandeln und ewig flüstern: Vergiss mich nicht. Das war die Erkenntnis, die mir kam, als ich eines Abends bei Sonnenuntergang allein auf einem Hügel über London saß. Zu meinen Füßen erstreckte sich Hampstead Heath bis hinunter an die silbergrauen Gestade der großen Stadt. Auf meinem Schoß lag eine kleine, in Goldpapier gewickelte Schachtel. Die Schleife war noch unversehrt.
Behutsam hielt ich die Schachtel hoch.
»Was ist das?«, hatte ich am Nachmittag gefragt, und die Schärfe meiner Stimme hatte durch die Schatten der unteren Galerie des Globe Theatre geschnitten, wo ich die Regie bei Hamlet‹ führte. »Eine Wiedergutmachung? Oder Schweigegeld?«
Vor mir saß Rosalind Howard, Harvards exzentrische Shakespeare- Professorin – eine Mischung aus Amazone, erdiger Mutter und Zigeunerbaronin. Eindringlich beugte sie sich zu mir vor. »Ein Abenteuer. Und, wie es aussieht, ein Geheimnis.«
Ich schob den Finger unter die Schleife, doch Ros griff nach meiner Hand und hielt mich auf. Ihre grünen Augen suchten meinen Blick. Ros war um die fünfzig, hatte kurzes dunkles Haar und trug große, funkelnde Ohrringe, die von ihren Ohrläppchen baumelten. Sie trug einen breitkrempigen weißen Hut mit Pfingstrosen aus üppiger dunkelroter Seide – ein auffälliges Ding, das an das Hollywood der alten Zeit erinnerte. »Wenn du die Schachtel öffnest, musst du dem Weg folgen, den sie dir weist.«
Einst war Ros meine Mentorin gewesen, mein leuchtendes Vorbild und beinahe so etwas wie eine zweite Mutter. Und während sie die Matriarchin spielte, war ich stets die pflichtbewusste Schülerin – bis ich mich vor drei Jahren entschloss, meine akademische Laufbahn aufzugeben und ans Theater zu gehen. Es hatte schon vorher zwischen uns zu kriseln begonnen, doch mein Weggang aus Harvard führte zum endgültigen Bruch. Ros machte keinen Hehl daraus, dass sie meine Flucht aus dem Elfenbeinturm als Verrat betrachtete. Für mich war es eine Flucht nach vorn, auch wenn Ros mich hinter meinem Rücken als Deserteurin bezeichnete, wie ich später erfuhr. Doch das blieben Gerüchte. Seitdem hatte ich kein Wort des Bedauerns oder der Aussöhnung von ihr gehört, bis sie plötzlich an diesem Nachmittag ohne Vorwarnung im Globe auftauchte und mich um ein Gespräch bat. Widerwillig unterbrach ich die Proben für eine Viertelstunde.
Eine Viertelstunde mehr, dachte ich, als sie verdiente.
»Du liest zu viele Märchen«, sagte ich laut und schob die Schachtel zurück zur ihr. »Falls der Weg, den sie weist, nicht direkt zurück zur Probe führt, kann ich sie nicht annehmen.«
»Die kecke Kate«, sagte Ros mit einem wehmütigen Lächeln. »Du kannst nicht oder du willst nicht?«
Ich schwieg.
Ros seufzte. »Ob du sie aufmachst oder nicht, ich will, dass du sie hast.«
»Nein.«
Ros neigte den Kopf und musterte mich. »Ich habe etwas entdeckt, Liebes. Ich habe etwas Großes entdeckt.«
»Genau wie ich.«
Sie ließ den Blick durch das Theater schweifen – über die rohen Fachwerkgalerien, drei Stockwerke hoch, und die Bühne, die am anderen Ende in den Innenhof ragte, prunkvoll herausgeputzt mit künstlichem Marmor und falschem Gold. »Ein echtes Husarenstück, am Globe den Hamlet‹ zu inszenieren. Umso mehr für jemanden wie dich – so jung, aus den Staaten und vor allem eine Frau.Wo die britische Theaterwelt der snobistischste Haufen auf dem Erdball ist.
Glaub mir, es gibt niemanden, dem ich es mehr gönne, die Insel-Elite aufzumischen, als dir.« Ihr Blick glitt zu dem Geschenk, das zwischen uns auf dem Tisch lag, dann sah sie mir in die Augen. »Aber das hier ist größer.«
Ich starrte sie ungläubig an. Verlangte sie im Ernst von mir, dass ich mir den Staub des Theaters von den Stiefeln streifte und ihr folgte, allein auf ein paar Andeutungen hin und eine lächerliche, in Goldpapier gewickelte Schachtel?
»Was steckt dahinter?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist in mein Gedächtnis fest verschlossen, und Ihr solltet selbst dazu den Schlüssel führen.«
Ophelia. Ich stöhnte innerlich. Von Ros hätte ich wenigstens den Hamlet erwartet – die Hauptfigur in der Bühnenmitte. »Kannst du ein Mal aufhören in Rätseln zu sprechen, wenigstens für zwei Minuten?«
Sie nickte in Richtung Tür. »Komm mit.«
»Ich bin mitten in der Probe.«
»Vertrau mir«, sagte sie und beugte sich vor. »Es ist etwas, das du dir nicht entgehen lassen willst.«
Wut wallte in mir auf, und als ich aufstand, riss ich ein paar Bücher vom Tisch.
Mit einem Mal war die kokette Geheimnistuerei aus ihren Augen verschwunden. »Ich brauche Hilfe, Kate.«
»Frag jemand anderen.«
»Deine Hilfe.«
Meine Hilfe? Ich runzelte die Stirn. Ros hatte jede Menge Freunde am Theater; sie musste nicht zu mir kommen, wenn sie Fragen zu Shakespeare auf der Bühne hatte. Und das einzige andere Thema, das sie interessieren könnte – wo ich mich besser auskannte als sie –, lag zwischen uns wie ein Minenfeld: meine Dissertation. Ich hatte über den okkulten Shakespeare geschrieben. Die alte Bedeutung des Wortes okkult‹, beeilte ich mich immer dazuzusagen. Nicht das Dunkle, Magische, sondern das, was im Verborgenen stattfand. Insbesondere hatte ich mir die vielen seltsamen Versuche, speziell des 19. Jahrhunderts, angesehen, kodiertes Geheimwissen aus Shakespeares Werken herauszulesen. Ros fand das Thema ebenso schillernd und faszinierend wie ich – zumindest hatte sie das behauptet. Allerdings hatte ich später um drei Ecken erfahren, dass sie kein gutes Haar an meiner Arbeit ließ und sogar meine Wissenschaftlichkeit in Zweifel zog. Und jetzt wollte sie meine Hilfe?
»Warum?«, fragte ich. »Was hast du entdeckt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht hier.« Dann sprach sie leise, drängend:
»Wann bist du fertig?«
»Gegen acht.«
Sie beugte sich weiter vor. »Dann treffen wir uns um neun, oben auf dem Parliament Hill.«
Um neun brach die Dämmerung herein, und Parliament Hill war einer der einsamsten Orte in London. Nicht die sicherste Zeit, um draußen in Hampstead Heath herumzuspazieren. Dafür hatte man von dort oben einen fantastischen Blick auf den Sonnenuntergang. Als ich zögerte,meinte ich, in Ros’Augen so etwas wie Angst zu sehen.
»Bitte.«
Dann streckte sie die Hand aus, und einen Moment lang dachte ich, sie wollte die Schachtel zurücknehmen, doch stattdessen strich sie mir über das Haar. »Immer noch das gleiche rote Haar, die gleichen schwarzen Boleyn-Augen«, murmelte sie. »Weißt du, wie königlich du aussiehst, wenn du wütend bist?«
Damit hatte sie mich früher immer aufgezogen – dass ich in bestimmten Launen wie die Königin von England aussah. Nicht Elisabeth II., sondern Elisabeth I., Shakespeares Königin. Es war nicht nur wegen meines rotbraunen Haars und der dunklen Augen, sondern auch wegen der Form meiner Nase und meiner hellen Haut, die in der Sonne sommersprossig wurde. Ein- oder zweimal hatte ich die Ähnlichkeit im Spiegel selbst gesehen, aber der Vergleich, und was er implizierte, hatte mir nie gefallen. Meine Eltern starben, als ich fünfzehn war, und später hatte ich bei einer Großtante gelebt. Ich hatte viel Zeit meines Lebens in der Gesellschaft autokratischer älterer Damen verbracht, und ich hatte mir geschworen, dass ich nie so werden würde wie sie. Und so wollte ich so wenig wie möglich gemein haben mit jener unbarmherzigen Tudor-Königin, bis auf ihre Intelligenz vielleicht, und die Liebe zu Shakespeare.
»Na schön«, hörte ich mich sagen, »treffen wir uns um neun auf dem Parliament Hill.«
Ros ließ die Hand sinken. Vielleicht war sie überrascht, dass ich so leicht aufgab. Ich konnte es selbst kaum glauben. Doch meine Wut war verraucht.
Im Theater knisterten die Lautsprecher. »Ladys und Gentlemen«, kollerte die Stimme meines Inspizienten, »in fünf Minuten auf die Plätze.«
Schauspieler strömten auf den sonnendurchfluteten Hof. Ros lächelte, dann stand sie auf. »Dein Auftritt und mein Abtritt«, sagte sie spöttisch. Mit einem Anflug von Nostalgie erinnerte ich mich an den
alten Witz und Geist, der früher zwischen uns geherrscht hatte. »Pass gut darauf auf, Katie«, sagte sie mit einem Blick auf die Schachtel.
Dann verließ sie mich.
Und so kam es, dass ich am Ende eines langen Tages auf dem Parliament Hill auf einer Parkbank saß und das tat, was ich nie wieder zu tun geschworen hatte: Ich wartete auf Ros. Ich streckte meine Glieder und dachte an die Welt, die unter mir lag. Trotz der Türme von Canary Wharf, die im Osten wie Krallen in den Himmel ragten, und des Hochhauses in Midtown sah London von hier oben friedlich aus, wie es sich um die St. Paul’s Cathedral schmiegte – die Kuppel lugte hervor wie ein leuchtendes Ei aus einem riesigen Daunennest. In der letzten Stunde war ein stetes Rinnsal von Spaziergängern auf dem Weg unter mir vorbeigekommen. Doch keiner von ihnen hatte mich eines Blickes gewürdigt oder war mit Ros’ selbstbewussten Schritten durch das Gras heraufgekommen. Wo blieb sie?
(Und was erhoffte sie sich? Niemand, der einigermaßen bei Sinnen war, käme auf die Idee, dass ich die Regie des Hamlet‹ am Globe aufgeben würde. Ich war noch keine dreißig, Amerikanerin und Literaturwissenschaftlerin, was mich wahrscheinlich zum toxischen Gegenteil dessen machte, was sich die Götter der britischen Theaterwelt als idealen Kandidaten für die Regie erträumten. Das Angebot, Hamlet‹ zu übernehmen – der edelste Stein in der Krone des britischen Theaters –,war ein Geschenk des Schicksals gewesen, das an ein Wunder grenzte. Ich hatte die Nachricht des Intendanten des Globe immer noch auf meinem Anrufbeantworter gespeichert. Jeden Morgen spielte ich mir seine manische, abgehackte Stimme vor, nur um mich zu versichern, dass ich nicht alles geträumt hatte. Ich war in einer Lage, wo es mir vollkommen egal sein konnte, ob Ros’ Schachtel die Landkarte von Atlantis oder den Schlüssel zur Bundeslade enthielt. Nicht einmal Ros, die Königin der Egozentrik, konnte erwarten, dass ich meinen Titel »Master of Play« gegen irgendein Geheimnis eintauschte, sei es groß oder klein, das sie mir anvertrauen wollte.
In drei Wochen war Premiere. Zehn Tage später stand mir der schlimmste Teil des Theaterlebens bevor: Als Regisseurin würde ich die Zügel aus der Hand geben müssen, mich vom Team und von den Schauspielern trennen und hinausschleichen – und die Show den Schauspielern überlassen müssen. Falls ich bis dahin kein Anschlussprojekt fand.
Die Schachtel auf meinem Schoß glänzte im Abendlicht.
Ja, aber nicht jetzt, könnte ich Ros antworten. Ich kümmere mich um dein teuflisches Geschenk, sobald ich mit Hamlet‹ fertig bin. Falls sie überhaupt heute Abend hier erschien, um sich meine Antwort anzuhören. Während die Dunkelheit in die Stadt kroch wie eine dunkle Flut, flackerten am Fuß des Hügels die Laternen auf. Am Nachmittag war es heiß gewesen, doch jetzt war es kühl, und ich war froh, dass ich meine Jacke dabeihatte. Als ich sie überstreifte, hörte ich plötzlich ein Knacken hinter mir in den Büschen. Im selben Moment spürte ich Blicke im Rücken. Erschrocken stand ich auf und drehte mich um. Die Dunkelheit hatte bereits die Bäume verschluckt, die die Kuppe des Hügels säumten. Nichts regte sich bis auf die Wipfel, die im Wind zitterten. Ich trat einen Schritt vor. »Ros?«
Niemand antwortete.
Ich drehte mich um und suchte die Landschaft unter mir ab. Es war niemand zu sehen, doch allmählich fiel mir etwas auf, das ich vorher nicht gesehen hatte. Weit unter mir, auf der anderen Seite von St. Paul’s, stieg eine blasse Rauchsäule träge zum Himmel. Mir stockte der Atem. Am Südufer der Themse, jenseits von St. Paul’s, befand sich das wiedererbaute Globe Theatre mit seinen weiß verputzten Wänden, dem Eichenfachwerk und dem stoppeligen Dach aus trockenem Stroh. Wegen der Feuergefährlichkeit war das Globe das erste mit Stroh gedeckte Gebäude in London seit dem großen Brand von 1666, der vor fast dreieinhalb Jahrhunderten die halbe Stadt in Schutt und schwelende Asche gelegt hatte.
Es musste eine optische Täuschung sein. Vielleicht stieg der Rauch an einer Stelle zwanzig Kilometer südlich des Globe auf, oder einen Kilometer weiter östlich.
Die Rauchsäule wurde breiter und färbte sich grau, dann schwarz.
Dann frischte der Wind auf und riss die Schwaden auseinander. In ihrem Herzen blitzte ein unheilverkündendes rotes Flackern auf. Hastig schob ich Ros’Geschenk in die Jackentasche und lief hügelabwärts. Kaum hatte ich den Weg erreicht, begann ich zu rennen.
Übersetzung: Sophie Zeitz
© der deutschsprachigen Ausgabe 2008 by
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin.
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Autoren-Porträt von Jennifer Lee Carrell
Jennifer Lee Carrell ist promovierte Anglistin und Amerikanistin. Sie hat Literatur und Geschichte an der Harvard University unterrichtet und für die Hyperion Theatre Company bei zahlreichen Shakespeare-Aufführungen Regie geführt. Als Journalistin schreibt sie u.a. für das Smithsonian Magazine.Sophie Zeitz, geb. 1972 in Frankfurt am Main, hat Amerikanistik, Spanisch, Philosophie und Literaturübersetzung studiert. Heute lebt und arbeitet sie als Verlagslektorin und Literaturübersetzerin in München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jennifer Lee Carrell
- 2009, 464 Seiten, Maße: 12,1 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Zeitz, Sophie
- Übersetzer: Sophie Zeitz
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548281222
- ISBN-13: 9783548281223
Rezension zu „Die Shakespeare-Morde “
»Ein sensationelles Romandebüt, wahnsinnig spannend und unglaublich klug.« B.Z. »J. L. Carrell erzählt eine so spannende wie intelligente Geschichte, die sie wie ein Shakespeare-Drama aufbaut.« Münchner Merkur
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