Feenlicht / Sturmjäger von Aradon Bd.1
Die Sturmjäger von Aradon
Der Handel mit Magie hat Aradon reich gemacht. Täglich schickt die Magiergilde die Sturmjäger auf ihren fliegenden Schiffen aus, um Lirium, den Zauber der Berge, Wälder und Flüsse, zu fangen. Mit Lirium bringen die Menschen das...
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Produktinformationen zu „Feenlicht / Sturmjäger von Aradon Bd.1 “
Der Handel mit Magie hat Aradon reich gemacht. Täglich schickt die Magiergilde die Sturmjäger auf ihren fliegenden Schiffen aus, um Lirium, den Zauber der Berge, Wälder und Flüsse, zu fangen. Mit Lirium bringen die Menschen das Zwergenvolk um ihr Gold, knechten die Trolle und umwerben die Feen.
Doch jetzt droht Aradon ein magischer Krieg von ungeahntem Ausmaß. Das Alte Volk, einst Herrscher über alle Völker der Erde, hat fünf Dämonen auserwählt, um die Menschen zu bestrafen, weil sie die Magie des Landes für ihre Zwecke missbrauchen. Wenn die Fünf die verlorenen Totenlichter finden, ist der Untergang der Menschheit besiegelt. Im Auftrag der Magier bricht die Sturmjägerin Hel auf, die Auserwählten aufzuhalten. Bis einer der Dämonen ihr das Leben rettet und sie vor eine schreckliche Entscheidung stellt: zwischen dem Hass auf ihren Feind und ihrer Liebe zu ihm.
Der Auftakt zu einer spektakulären All-Age-Fantasy-Saga von Bestsellerautorin Jenny-Mai Nuyen: Unvergessliche Charaktere in einer Welt voller Magie, Liebe und Gefahr!
Hier Zeichnungen von Jenny-Mai Nuyen zum Downloaden:
Lese-Probe zu „Feenlicht / Sturmjäger von Aradon Bd.1 “
Die Sturmjäger von Aradon – Feenlicht
Erste Leseprobe
Einst herrschten die Vier Druiden des Alten Reichs über alle Völker der Erde und das Lebendige Land. Dann fanden die Menschen einen Weg, Lirium, die Essenz der Magie, aus großen Stürmen zu gewinnen. Seitdem beuten die Sturmjäger von Aradon im Auftrag mächtiger Magier das Land aus. Bis die wandelnden Berge, die fressenden Wüsten und singenden Flüsse sterben. Denn ohne die Magie, entsprungen aus dem tiefsten Kern der Erde, gibt es kein Leben.
Arahel, genannt Hel, ist eine Sturmjägerin mit einer besonderen Gabe: Nachdem sie bei einem Unfall auf einem Auge erblindete, kann sie Lirium sehen. Schon von Weitem erkennt sie die magische Aura, die alles Leben und das Land umgibt. Allerdings nützt auch diese Fähigkeit nichts gegen das unaufhaltsame Verschwinden der magischen Essenz.
Als ihre Flotte vom lebendigen Land angegriffen wird, ist Hel die einzig Überlebende. Schwer verletzt wird sie von Mercurin gefunden, einem geheimnisvollen Fremden auf dem Weg nach Har‘puneptra, der Hauptstadt der Zwerge. Mercurin ist nicht nur sonderbar, er scheint auch zaubern zu können – ganz ohne Lirium.
In Har‘puneptra, wo um die letzten Reserven der magischen Essenz gefeilscht wird, trennen sich ihre Wege auf dramatische Weise. Bald darauf fällt der Fürst der Zwergenstadt einem Attentat zum Opfer; angeblich wurde ihm ein kostbares Relikt gestohlen. Noch immer über Mercurin rätselnd, trifft Hel Nova wieder, einen jungen Sturmjäger mit viel Charme und wenig Anstand. Der alte Bekannte nimmt Hel mit nach Aradon, der Hochstadt der Magierschaft, wo Hel den Verlust ihrer Flotte erklären muss.
... mehr
In Aradon erfährt Hel, dass im ganzen Land Sturmjäger angegriffen wurden. Denn das Alte Reich verfolgt ein tödliches Ziel: Die Vier Druiden wollen das Tiefe Licht aus dem Erdinneren heraufbeschwören, damit es die Menschen für ihre Ausbeuterei strafen kann. Doch um die Erde zu spalten und das Tiefe Licht zu befreien, benötigt man die Totenlichter – mächtige, verschollene Gegenstände, die ihrem Besitzer magische Kräfte verleihen. Fünf Schüler der Druiden, genannt Dämonen, haben sich auf die Suche begeben. Doch nur einer von ihnen kann alle Totenlichter einen – und muss die anderen Dämonen dafür töten.
Als die Magierschaft von Hels besonderer Sehkraft erfährt, betrauen sie sie mit der Aufgabe, die Totenlichter zu finden und vor dem Alten Reich in Sicherheit zu bringen. Dabei stehen ihr die Zwergin Beltis, eine berüchtigte Attentäterin, der Spurensucher Fendur und mehrere Krieger zur Seite. Nova meldet sich freiwillig als Wegführer, denn er ist nicht nur auf der Flucht vor einer verhängnisvollen Verlobung, sondern auch an den Totenlichtern interessiert – und ihrer Macht. Per Schwebeschiff brechen sie zu einer Reise auf, von der Hel alles andere als überzeugt ist.
Schon beim ersten Totenlicht trifft sie Mercurin wieder. Er ist einer der Dämonen des Alten Reichs. Zwar rettet er Hel das Leben im Kampf gegen einen anderen Dämon, doch das Totenlicht nimmt er mit. Er warnt Hel, dass er jeden töten wird, der seiner Aufgabe im Weg steht. Dabei ahnt keiner von beiden, dass die Vier Druiden Hel längst bemerkt haben – und auf ihre Seite ziehen wollen.
Dabei scheint eines unausweichlich: Hel wird Mercurin als Todfeind gegenübertreten. Und sie wird ihn lieben.
Das Kind in der Kiste
Drei Meilen vor Har’punaptra, der Hauptstadt der Zwerge und des Handels, trafen sich Sturmjäger und Trollhändler zu einem nicht ganz legalen Geschäft in den Gebirgen der Wüste.
Nachdem das Schwebeschiff sicher zwischen den Klippen gelandet war, wurde eine breite Planke vom Deck geschoben und Kapitän Redwin Gharra ging an Land. Er trug einen Umhang, der an den Schultern verdächtig ausgepolstert wirkte, denn ansonsten war der Kapitän eine schmächtige Erscheinung. Beine gleich Krummsäbeln steckten in Stiefeln aus dickem Keilpferdleder und sein Kopf wippte auf dem dünnen Hals wie eine Distel im Wind.
Gharra war alt. Er war schon fast immer alt gewesen, das Haar dünnte seit seinem zwanzigsten Lebensjahr aus und starke Himmelsstürme hatte die ersten Falten im Kindesalter in sein Gesicht gegraben. Außerdem knickten die Knie mit jedem Schritt ein wenig zu tief ein, was ihn gebrechlicher wirken ließ, als der Wahrheit entsprach; tatsächlich kam dieser Gang von einem Leben ohne Boden unter den Füßen, denn Gharra war wie die meisten Sturmjäger auf einem schwebenden Schiff zur Welt gekommen und aufgewachsen.
„Seid gegrüßt, meine lieben Freunde, wie schön, euch wohl und munter zu sehen! Wie geht es euch? Was machen die Kinder?“ Die Trollhändler ließen zu, dass Gharra ihnen der Reihe nach die Hände schüttelte und Schultern tätschelte, als suche er nach versteckten Waffen. Oder Siegeln der fürstlichen Wache.
„Kinder sind gut“, knurrte der Anführer der Bande, ein Zwerg mit schwarzen Bartzöpfen. Offenbar hatte er Gharra missverstanden, denn er wies dabei auf die Trolle, die in Ketten hinter ihnen standen. Gharra lächelte nachsichtig. Es war sowieso nicht zu erwarten, dass Trollhändler ein Heim und Familie hatten. Wer sich monatelang durch das Wilde Land schlug und Bestien fing, gehörte eher zur harten, einsamen Sorte.
„Hübsche Tierchen“, kommentierte Gharra. „Aber sind sie auch kräftig?“
Der Zwerg führte ihn zu den Trollen und klärte ihn über Gewicht („Schwer wie Fels – viel Muskelmasse“), Herkunft („Vom Rande der Kauenden Klippen, die beste Brut“) und Zähmung („Hrchm, also … ungezähmt“) auf. Gharra nickte zu alledem, während er die Kolosse musterte. Dann stieg der Zwerg auf eine Gepäckkiste, sodass er auf gleicher Höhe mit Gharra war, und verschränkte die Arme vor der Brust. Nun ging es ans Verhandeln.
„Ich brauche vierzehn Trolle an der Kurbel“, begann Gharra. „Bei der letzten Jagd sind mir leider drei abhanden gekommen. War ein starker Sturm. Ein weiterer ist bedauerlicherweise von seinen Kameraden gefressen worden. Dann habe ich noch zwei alternde Exemplare, die ich ersetzen will.“
„Also braucht Euer Schiff sechs neue Trolle“, schloss der Zwerg. „Ohne Stadtsteuer liegt mein Angebot bei elf Dukaten pro Stück. Dazu zwölf Mal fünf Finger Lirium in Har’punaptra zu einem Freundschaftsrabatt von fünfzehn Prozent.“
„Acht Dukaten und meine beiden alten Trolle. Die könnt ihr noch verhökern.“
„Zehn Dukaten! Meine Trolle sind von exzellenter Qualität, jung und äußerst genügsam …“
Schließlich einigte man sich auf zehn Dukaten pro Troll und einen kleinen Lirium-Handel in Har’punaptra zu einem späteren Zeitpunkt. Gharra war erstaunt über die rasche Abmachung. Zwerge waren nicht gerade dafür bekannt, leicht nachzugeben. Und die Trolle waren in der Tat erlesen; auf den Sklavenmärkten Har’punaptras würden die Händler das Doppelte verlangen können.
„Noch eins“, nuschelte der Zwerg dann. Gharra, eine Hand schon im Wams, um den Geldring zu zücken, hielt inne. „Wir haben noch ein Angebot. Ein Sonderangebot.“
„Sonderangebot.“ Das klang so vielversprechend wie eine Streicheleinheit von einem Troll. Gharra verzog keine Miene.
Der Zwerg winkte nervös seinen Leuten, die zur Seite traten und eine Kiste herbeischleppten. Das Schloss war zauberfest: Es bestand aus reinem Silber. Mit Bedacht sperrte einer der Zwerge auf. Unauffällig legte Gharra die Finger um den Säbelgriff an seinem Gürtel.
Die Zwerge klappten den Deckel auf. Zum Vorschein kamen ein Haufen Stroh und ein Bündel Lumpen. Bei genauerer Betrachtung stellte es sich als Kind heraus.
„Friss mich das Gras, was soll das?“ Gharra spähte auf das Kind hinab, das die Beine und Arme unter dem Körper angezogen hatte. Zerzaustes, schwarzes Haar wucherte über den Schultern. Ganz langsam drehte es den Kopf zur Seite, bedeckte das Gesicht aber mit den Händen. Dann schob es zwei Finger auseinander und blickte aus einem tränenverquollenen Auge zu Gharra auf.
„Was ist das?“, wiederholte Gharra.
„Ein Menschenkind. Ihr könnt es haben.“
Gharra wandte sich dem Zwerg zu. Sein Lederharnisch knirschte, als er sich ein wenig reckte. Der Geldring rutschte mit einem leisen Klirren tiefer in die Brusttasche. „Mein lieber Freund, ein steuerfreier Trollhandel ist eine Sache, Menschenhandel eine andere. Jawohl, ich bin ein Gegner der Sklaverei und würde weder auf Har’punaptras schwarzen Basaren noch hier in der Wüste, noch sonst einem verlassenen Hinterland Menschen kaufen.“ Gharra machte eine gewichtige Pause. „Noch dazu ist das ein Kind, seh ich aus, als hätte ich Mutterliebe zu verschenken?“
„Es ist ein besonderes Menschenkind“, sagte der Zwerg zögernd.
Gharra kratzte sich das Kinn. „Kann es kochen? Sagt bloß nicht ja, wenn es bei Zwergen kochen gelernt hat, da nehme ich mir lieber einen Troll als Küchenchef. Jedenfalls lass ich nicht mehr als drei Schilling springen. Zwei Schilling.“
„Kein Koch“, sagte der Zwerg. „Wir haben es bei den Kauenden Klippen gefunden. Es muss zu Flüchtlingen aus dem Alten Reich gehören, aber es war verletzt und allein.“
„Hm.“ Gharra blickte wieder auf das Kind hinab und überlegte, ob man ihm vielleicht eine Schatzkarte auf den Rücken tätowiert hatte oder ob es Goldeier legte, aber dann würden die Zwerge es doch nicht verkaufen.
„Es ist ein … besonderes Kind“, wiederholte der Zwerg, offenbar bemüht, diese Besonderheit als vorteilhaft darzustellen. Gharra wurde mit jeder Sekunde skeptischer. „Das Land greift das Kind nicht an. Es war ganz allein da draußen, ohne Lirium oder Zauberkiesel.“
Gharra zuckte die Schultern. „Das Land stirbt aus. Vielerorts ist es so ruhig geworden, dass es niemanden mehr angreift.“
„Ja, ja. Aber … jedenfalls wollen wir das Kind verkaufen! Es kommt doch aus dem Alten Reich, mit den Druiden wollen wir nichts zu schaffen haben.“
Gharra, der instinktiv wieder nach seinem Säbelgriff tastete, als er ‚Druide‘ hörte, starrte den Zwerg verständnislos an. „Ein Druidenkind? Ich bin der Liga der Sturmjäger treu ergeben!“
Als Gharra den Fuß ausstreckte, um den Deckel wieder über das Kind zu kippen, trat der Zwerg dazwischen. „Nein, nein! Es gehört nicht zu den Druiden – seht es doch an, es trägt Bauernkleider. Es hat bloß Kräfte.“
Gharra wurde immer unwohler. Als Sturmjäger setzte er zwar sein Leben aufs Spiel, doch von Gefahren auf dem Boden hielt er sich fern. Politik gehörte zu so einer Gefahr. Und, beim Henker, Kräfte.
„Es ist brav und unkompliziert, ihr braucht es nicht mal regelmäßig füttern. Euch wird es sehr hilfreich sein. Es kann Lirium sehen.“ Der Zwerg sprang von seiner Erhöhung und hob das Kind schwungvoll aus der Kiste. Dann hielt er es zu Gharra empor. Viel sah Gharra trotzdem nicht. Das Kind hatte noch immer beide Hände vors Gesicht geschlagen und starrte aus einem angstvollen Auge zu ihm auf. Wie alt es sein mochte? Fünf? Neun? Gharra wusste so viel über Kinder wie über zwergische Großmütter: Gar nichts.
„Da, es kann Magie sehen. Sieht sie überall, meilenweit. Ideal für die Sturmjagd. Ihr müsst es nur in den Mastkorb stecken und warten, dass es Euch die Richtung zum nächsten Liriumsturm weist.“ Der Zwerg zog die Hand des Kindes wie einen klebrigen Seestern von seinem Gesicht. Gharra hielt die Luft an. Zumindest wusste er über Kinder, dass sie für gewöhnlich zwei gleiche Augen hatten.
Dieses Kind nicht. Das eine war dunkel und tränenverquollen. Das andere, linke war milchig-blau und von einer frisch verheilten Wunde in die Länge gezogen, die quer über die Schläfe führte. Das Kind – ein Mädchen, wie Gharra vermutete – war auf einem Auge blind.
„Soll das ein Scherz sein?“, fragte Gharra höflich. „Dein Kindchen ist blind wie der Mond persönlich.“
„Nur auf einem Auge. Mit dem anderen sieht sie alles. Alles.“ Der Zwerg schüttelte das Kind ein wenig. Die angewinkelten Beine schlackerten unter dem Sackkleid.
Gharra beugte sich hinab. Die Kleine zitterte und Wasser lief ihr aus Nase und Augen. Gharra konnte sich nicht entscheiden, ob er sie niedlich oder abstoßend fand.
„Dann sag mir doch, mein hübsches Vögelchen, wo ich meinen Finger Lirium trage.“ Gharra breitete die Arme aus.
„Mach“, befahl der Zwerg und streckte den Arm der Kleinen aus. Zögernd löste sie den Zeigefinger aus ihrer Faust. Zu Gharras Überraschung wies sie auf seine linke Schulter. Tatsächlich trug er einen vollen Liriumflakon im Schulterpolster. Dann schwankte der Finger des Mädchens abermals und richtete sich auf sein Schienbein. Kaum hörbar hauchte sie: „D-da ist eine Klinge mit Lirium.“
Gharra starrte an seinem Bein hinab. Unter dem dicken Stiefelleder war sein magischer Dolch nicht zu sehen. Jedenfalls nicht für ihn.
Der Zwerg setzte das Mädchen ab. Sofort senkte sie den Kopf und hielt sich wieder die Hände vor das entstellte Gesicht. Nur das heile Auge lugte zwischen den Fingern hervor.
„Seht Ihr“, schnaufte der Trollhändler. „Das Kind ist ein Segen für jeden Sturmjäger. In Har’punaptra würde sie uns reich machen.“
„Aber Ihr wollt nicht in der Öffentlichkeit mit ihr gesehen werden.“
Der Zwerg nickte. „Wir wissen nicht, woher sie kommt. Bis jetzt hatten wir keine Probleme, und auf einem Schiff hoch oben im Himmel wird sie niemand suchen. Aber wer weiß, wer in Har’punaptra hinter einem verschollenen Kind her ist.“
Gharra rieb sich wieder das Kinn. „Ein Segen … vielleicht aber auch ein Fluch. Ich tue Euch einen Gefallen, wenn ich sie euch abnehme.“ Er schwieg einen Moment. „Also schön, fünf Schilling.“
„Sie ist mindestens einen Dukaten wert! Allein wenn wir ihre Haare und Zähne verkauften, haben wir schon so viel!“
„Ja, und eine Leiche.“
„Nicht unbedingt“, grollte der Zwerg.
Gharra seufzte. „Also schön. Einen Dukaten.“
Und so tauschten einundsechzig Dukaten, sechs Trolle und ein Mädchen ihre Besitzer. Als man die Trolle auf das Schiff gebracht hatte, legte Gharra beide Hände auf die schmalen Schultern des Kindes. Er spürte die Knochen durch das Sackkleid, was gewiss nicht nur an der Verpflegung der Zwerge lag. Einer der vielen Gründe, weshalb die Menschen aus dem Alten Reich flohen, war der Hunger.
„Mein Name ist Kapitän Redwin Gharra. Aber es reicht, wenn du mich Kapitän nennst. Das bedeutet, dass ich das Kommando habe und alle machen, was ich sage. Und bevor du einen Befehl ausführst, sagst du ‚Aye, Aye, Kapitän‘. Kannst du dir das merken?“
Das Mädchen nickte. Als Gharra sie mit einem erwartungsvollen Blick bedachte, erklang ein leises „Aye, Aye, Kapitän.“
„Sehr schön! Aber ein bisschen lauter nächstes Mal, der Wind weht stark dort oben. Und nun verrate mir deinen Namen.“
Das Kind sah ihn schweigend an.
„Fragt sie was anderes“, mischte sich der Trollhändler hinter Gharra ein, der inzwischen die Käfigwagen für die Weiterreise zu verschloss. „Sie will ihren Namen nicht rausrücken, falls sie einen hat. Wir haben sie Hel genannt, Licht, wegen dem …“ Er deutete auf sein Auge.
Gharra runzelte die Stirn. „Wie lange war sie denn bei euch?“
„Fünf, sechs Monde.“
Gharra fragte sich, wie viel von der Zeit sie in der zauberfesten Kiste verbracht hatte. „Ein zwergischer Name für ein Menschenkind. Licht für eine Halbblinde! Na, wenigstens gibt er deiner traurigen Erscheinung ein bisschen Humor mit. Er wird genügen, bis dir dein echter Name wieder einfällt.“ Er stand auf und hielt ihr die Hand hin, um sie auf das Schiff zu führen. Als sie die Finger in seine Hand legte, war er sich nicht sicher, ob sie „Aye, Aye“ murmelte. Für einen Augenblick durchfuhr den Kapitän ein Gefühl zärtlichster Zuneigung, schwer und süß wie der Wind jener Sommerabende, die er im Tiefflug über den Steppen verbracht hatte, damals, vor fast einem halben Jahrhundert, als er selbst ein Kind gewesen war.
Ebenso rasch, wie das Gefühl aufgekommen war, flaute es wieder ab.
Gharra seufzte. Wenn das Kind Ärger bereitete, würde er es in der nördlichen Wüste über Bord werfen, wo der Sand noch gefräßig war. Dabei fiel ihm wieder etwas ein. Mit einem gutmütigen Lächeln blickte er auf das Mädchen hinab.
„Sag mal, mein hübsches Monsterkind, kannst du auch kochen?“
Doch diesmal wartete Kapitän Gharra vergebens auf das „Aye, Aye.“
LICHTER
Der Wüstenwind war kühl bei Einbruch der Dämmerung und schwemmte die schwere, stehende Hitze des Tages fort wie ein Schwall Wasser. Es war Hels Lieblingszeit.
Sie stand im Mastkorb, zwanzig Fuß über dem Vorderdeck und gut eine halbe Meile über dem Erdboden. Ihre Hände ruhten auf dem Korbrand, ohne sich festzuhalten; das musste sie nicht. Nach neun Jahren hier oben hatten stürmische Winde die Angst längst davongeweht. Sie fühlte sich frei und sicher.
Das lag auch an der hereinbrechenden Dunkelheit und der Tatsache, dass sie unbeobachtet war. In Momenten wie diesen wagte sie die Augenklappe abzunehmen. Die Luft war eine weiche Berührung auf dem linken Augenlid, das sonst nie jemand anfasste und auch nie anfassen würde. Sogar sie selbst scheute davor zurück. Die Narbe an ihrer Schläfe, die unter den Haaren bis zum Hinterkopf reichte, war bleich und buckelig, aber nicht annähernd so abstoßend wie das Auge. Es war leicht in die Länge gezogen und manchmal, wenn Hel doch versehentlich darüber strich oder in einen Spiegel blickte, ohne die Binde zu tragen – was äußerst selten passierte –, kam es ihr vor, als sei das linke Auge größer als das gesunde. Als sei der milchweiße Ball in ihrem Kopf gewachsen und drücke gegen den Stoff, um ihre Aufmerksamkeit zu erzwingen. Sie blinzelte. Ihre Hände schlossen sich um den Korbrand, als die doppelte Sicht kam.
Früher hatte sie die merkwürdige Überlagerung der zwei Welten kaum ausgehalten, war gelegentlich umgekippt und hatte sich sogar übergeben müssen, vor allem am Anfang, als sie das Leben in der Höhe noch nicht gewohnt gewesen war. Selbst heute brachte sie die doppelte Sicht ein wenig aus dem Gleichgewicht. Deshalb machte sie die Augen meistens zu, wenn sie die Klappe mit der eingearbeiteten Silbermünze nicht trug, die die zweite, unheimliche Sicht abschirmte.
Denn sie war keineswegs blind auf dem Ding in ihrer linken Gesichtshälfte. Selbst mit geschlossenen Augen nicht.
Sie konnte Leben sehen. Bei Nacht und Tag, Nebel und Sturm, durch Holz und Wände. Bis zum Horizont bot sich ihr die Welt dar und weihte sie in ihr pulsierendes Geheimnis ein. Sie sah, welche Berge tot waren und in welchem Gestein Lirium, die Essenz der Magie, glühend schwelte und auf einen Ausbruch wartete. Sie sah schwarz funkelnde Adern, die sich hundert Meter unter der Erdoberfläche durch Lehm und Granit schlängelten, und Steppen, unter denen brodelnde Seen schäumten. Sie sah, wie Lirium perlmuttweißen Spinnweben gleich in die Spitzen der Gräser und in Bäume hinaufkroch und sie mit Magie nährte. Lange bevor eine Klippenwand sich auftat und Pflanzen, Steine, Tiere verschluckte, konnte Hel die Bewegung voraussagen.
Ebenso sah sie den Tod des Wilden Landes. Das zähe Entrinnen der magischen Essenz war eine Alltäglichkeit geworden, denn Lirium wurde gejagt, gefangen und verbraucht. Bald würde nichts mehr da sein – vielleicht in ein paar Jahren, vielleicht in zwanzig, vielleicht fünfzig, wenn sie Glück hatten. Was dann geschah, wusste jeder, auch wenn niemand darüber sprach. Ohne Magie würden die Zivilisationen untergehen.
Hel atmete tief durch und hatte das Gefühl, Staub in die Lunge zu bekommen. Wäre Lirium nicht so knapp geworden, hätte die Schwalbe nie so nah an die Kauenden Klippen vordringen müssen. Doch weil die Liriumvorkommen im Mittland erschöpft waren, musste die Liga der Sturmjäger ihr Jagdgebiet auf unwirtlichere Gegenden ausweiten. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich der wandelnden Gebirgskette zu nähern, die jeden verschlang, der sie durchqueren wollte. Denn hinter den Kauenden Klippen verbarg sich das Alte Reich.
Ein feines Sirren erklang. Im nächsten Moment wehte Hel eine Sandwoge entgegen. Sie kniff die Augen zu. Die Körner trafen sie wie Nadeln, rieselten ihr durch die kinnlangen, schwarzen Haare und in den Kragen ihrer Tunika. Einen Herzschlag später war alles vorbei. Das kam öfter vor, selbst in dieser Höhe. Auch ohne Augenklappe konnte Hel die Wogen nicht immer kommen sehen, denn der Sand war tot.
Mit geschlossenen Augen beobachtete sie ein Blitzen in der Ferne, kaum heller als ein Stern. Sie trat an den äußersten Rand des Mastkorbs. Tatsächlich … gegen Süden trat Licht aus dem Boden, so wie vor einem Liriumsturm. Doch in den südlichen Gebieten war schon lange keine Magie mehr. Oder? Lag dort eine einsame Liriumquelle im toten Land? Sie hatten seit Monaten keinen Sturm mehr gejagt. Wenn sich dort hinten einer zusammenbraute …
Gerade wollte sie nach unten klettern und Alarm schlagen, da verschwand das Funkeln abrupt. Hel hielt inne, ein Bein über dem Korbrand. Der Wind zerrte an ihrem geflickten Mantel. Nichts. Der Funke war erloschen wie ein Kerzenlicht.
Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Sie hatte es sich doch nicht eingebildet.
Hel wartete noch geschlagene fünf Minuten, doch nichts regte sich mehr. Schließlich streifte sie sich die Augenklappe wieder über, die um ihren Hals hing, und kletterte die Strickleiter hinab.
Das Vorderdeck der Schwalbe lag verlassen im Dämmerlicht. Weil sie sparsam mit Lirium umgehen mussten, schwebte nur eine einzige Leuchtkugel bei Jureba: Die alte Trolltreiberin saß auf ihrem Balkonsitz, die Beine über den Vorsprung geschwungen, in einer Hand ein zerfleddertes Buch. Hin und wieder schnalzte sie mit der Peitsche, um die Trolle unter ihr zu Arbeit zu gemahnen. Sieben von ihnen waren an die große Kurbel auf dem Unterdeck gekettet, die unentwegt gedreht werden musste, um das Schiff anzutreiben. Früher war die Kurbel nur in Notfällen eingesetzt worden, doch heute konnte sich niemand mehr leisten, Lirium zu verschwenden. Trollarbeit hingegen kostete nichts.
Im Halbdunkel wirkten ihre Körper wie zusammengepresste Felsbrocken. Massige Arme schoben die Holzpflöcke vor sich her und der Boden bebte im trägen Rhythmus ihrer Schritte. Trolle konnten doppelt so hoch wie Menschen werden und fünfmal so schwer; nur ihr Kopf war kaum größer als ihre Faust und sah zwischen den Schulterbergen geradezu winzig aus. Trotzdem war das Fassungsvermögen ihrer zahnlosen Mäuler nicht zu unterschätzen. Einst waren Zwerge ihre Hauptbeute gewesen – unter Umständen konnten sie sich aber auch Menschen in den Rachen stopfen.
In sicherem Abstand blieb Hel stehen. Nicht weil sie fürchtete, auf die Kurbel zu fallen, sondern wegen des Gestanks, den selbst der Himmelswind aus keiner Trollachsel wehen konnte.
„Was liest du da?“, rief sie Jureba zu. Die Antreiberin neigte den Kopf, sodass ihr das Glasgestell, das sie beim Lesen immer trug, auf die Nasenspitze rutschte. Sie besaß ein ganzes Dutzend der geschliffenen Gläser, denn sie gingen regelmäßig zu Bruch. Wenn nicht bei der Sturmjagd, dann weil sie ihr unter die Trolle fielen oder weil sie betrunken gegen Wände lief. Als sie Hel auf der Brücke erspähte, zeigte Jureba ihr Krötengrinsen und hielt den Buchdeckel etwas höher: Fettflecken hatten den blauen Einband längst in ein schmieriges Grau verwandelt. Die goldenen Buchstaben waren schon vor Jahren sorgfältig abgekratzt worden.
Hel grinste ebenfalls. Jureba hatte ihr das Lesen beigebracht und sie dabei in die Vorlieben ihrer Lektüre eingeweiht: Sie verschlang ausschließlich anrührende Balladen, in denen es um liebeskranke Helden ging, die nach einem leidvollen und sehr gesprächigen Leben in Dolche rannten, Gift von den Lippen vergifteter Geliebter küssten oder über Klippen sprangen. Was genau Jureba daran faszinierte, war Hel nie ganz klar geworden. Jedenfalls stellten die Romanzen einen interessanten Gegensatz zu Jurebas anderer Leidenschaft dar, der Trollhaltung. Sie fütterte sie hingebungsvoll wie kein anderer mit blutigen Fleischkeulen und schlug auch nicht zimperlich zu.
„Die Leiden des jungen Wilnor“, seufzte Hel, die Jurebas Lieblingsbuch erkannte. Laut sagte sie: „Tolle Schlachtszenen! Achtzehn rollende Köpfe auf drei Seiten!“
„Die Stelle kann man nicht oft genug lesen!“, rief Jureba zurück und schwenkte Peitsche und Buch. Vor dem Großteil der Mannschaft – nämlich denen, die nicht lesen konnten – stellte sie den Inhalt ihrer Bücher ein wenig roher dar. Die belesene Besatzung schwieg taktvoll.
„Hast du schon gegessen?“, erkundigte sich Hel.
„Keine Faser! Sei doch so nett und schick Yola mit einem Tritt in den Hintern hoch, ihre Schicht hat längst angefangen.“
„Aye, Aye!“ Hel lief über die Brücke, die im Fahrtwind sanft schwankte. Unter ihr rasselten die Ketten der Trolle. Siebzehn Schritte maß die Brücke jetzt – früher waren es mehr gewesen, als Hel noch kürzere Beine gehabt hatte. Lange Zeit war sie keinen Zentimeter gewachsen, doch vor einem Jahr hatte sie endlich einen „Schub gemacht“, wie Gharra behauptete – auch wenn die Bezeichnung Hel reichlich übertrieben schien. Irgendwie war sie schlaksiger und tollpatschiger geworden und zum ersten Mal hatten Hüften und Taille nicht mehr denselben Umfang, aber das war so gut wie alles. Ihr pausbackiges Gesicht mit dem spitzen Kinn und der kleinen Nase kam ihr nicht im Entferntesten so erwachsen vor, wie sie sich mit höchstens siebzehn, mindestens fünfzehn Jahren fühlte. Nicht nur Hels genaues Alter war im Dunkel ihrer Kindheit verschollen. Auch ihr Wachstum war vom Hunger vergessener Tage beeinflusst, daran änderte selbst die gute Verpflegung auf der Schwalbe nichts. Wahrscheinlich würde sie immer klein bleiben.
Mit einem Sprung legte sie das letzte Stück zurück und landete auf dem Hinterdeck – früher hatte sie sich oft ausgemalt, wie die Brücke just in diesem Moment riss und sie sich in aller Knappheit retten musste. Natürlich war die Brücke nie gerissen. Links und rechts säumten sie Rohre mit Lirium. Selbst wenn sich alle Taue auflösten, würde sie noch in der Luft schweben.
Vor Hel lag der Eingang ins Schiffsinnere. Auf die Trollquartiere und Frachträume türmten sich drei Stockwerke, die die Mannschaft bewohnte. Darüber thronte ein fünfeckiger Pavillon, die Kapitänskajüte. An den Flanken des Schiffes waren die Beutel befestigt: riesige Ballons aus Keilpferdleder, umspannt von versilberten Drahtnetzen, mit denen bei der Sturmjagd Lirium gefangen wurde. Sie waren jetzt fast leer.
Eine Spiraltreppe führte ins erste Stockwerk und knarzte Hel eine vertraute Melodie, wie unter den unzähligen hastigen Füßen davor, die sie glatt getreten hatten. Sie mündete in einen schmalen Flur voller Türen. Hel schlug eine davon auf und betrat den Speiseraum.
Ein säuerlicher Geruch empfing sie. Offenbar gab es Sandwurm. Schon wieder.
„He, Hel! Schon was gesichtet?“ Perrin, einer der Matrosen, ließ ein Deck Spielkarten durch seine Hände flattern. Die anderen Sturmjäger am Tisch blickten hoffnungsvoll zu ihr auf.
Sie schüttelte den Kopf. „Nichts Neues. Ist Gharra oben?“
„Schon den ganzen Tag“, sagte Perrin. „Spielst du mit? Gleich gibt’s Essen.“
„Wenn man das Zeug so nennen mag“, grummelte sie und erntete Kichern und Schnauben.
Hel stieg über den Tisch und rutschte zwischen Lino und Yola, die beiden Gehilfen von Jureba. Mit ihrem breiten Kreuz und den flächigen Gesichtern glichen die Geschwister einander wie ein Ei dem anderen, abgesehen von dem kleinen Unterschied, dass Lino ein Junge war und struppige Koteletten hatte.
„Jureba wartet auf dich“, richtete Hel Yola aus, die diese Nachricht ebenso wenig rührte wie alles andere, was man ihr sagte. Gelassen nahm sie die Karten in die Hand, die Perrin austeilte.
„Ich hab eine Glückssträhne“, meinte sie seelenruhig. Hinter ihren kräftigen Armen lagerte ein Haufen Kupfermünzen. Hel warf einen raschen Blick in die Runde, während sie ihre Karten annahm. Wie es aussah, gründete Yolas Glückssträhne sich auf Meister Zarips Pech: Ausgerechnet der Zahlmeister der Schwalbe, ein alter Sturmjäger, der das windige Deck für die Vorratskammern im Schiffsbauch aufgegeben hatte, kauerte verbittert über seinen letzten drei Münzen. Sonst hielt Meister Zarip sich den Kartenspielen fern, doch die Langeweile, die mit dem Verschwinden von Lirium einherging, ließ so manchen Sturmjäger seine Prinzipien vergessen. Dem Zahlmeister war das heute teuer zu stehen gekommen. Der Rest der Mannschaft machte sich einen Spaß daraus, dem geizigen Zarip Münze für Münze vom Geldring zu ziehen, denn anders als sie spielte er nicht regelmäßig genug, um alle Betrügereien der Sturmjäger zu durchschauen.
„Ja, Yola muss die Runde noch bleiben“, gluckste der dünne Relik, der trotz seiner dreißig Jahre wie ein Knabe im Wachstum aussah. Hinterlistig lugte er auf Meister Zarips Karten. „Drei Kupfermünzen sind noch zu holen.“
„Wer sagt denn, dass nach den Münzen Schluss ist?“ Oriw, der beste Sturmjäger der Schwalbe und unangefochtene Meister jeden Wetttrinkens, entblößte seinen Goldzahn. „Meister Zarip trägt doch ein hübsches Halstüchlein, also ich würde darum spielen! Daran wisch ich meinen Säbel sauber.“
Bleich vor Zorn fasste Meister Zarip nach seinem seidenen Tuch. „Das ist von meiner verstorbenen Großtante!“, fauchte er ins Gelächter. Hel kannte keinen Sturmjäger, der sich so piekfein kleidete wie der Zahlmeister. Sein Sortiment an Halstüchern, Gamaschen und Manschetten war schier unerschöpflich, genau wie seine verstorbene Verwandtschaft, die ihm die mondänen Schätze vermacht hatte. Allerdings ging das Gerücht um, dass die toten Stiefgroßmütter allesamt erfunden waren und Zarip sich den Plunder selbst zusammenhortete. Während unter den Sturmjägern ein Streitgespräch über tote, vielleicht nie am Leben gewesene Angehörige begann, wanderten Hels Gedanken zu dem eigenartigen Funkeln zurück. Wie hatte es einfach auftauchen und verschwinden können, mitten in der toten Wüste? Sie musste mit Gharra sprechen. Durch das Fernrohr konnten sie sich die Stelle genauer ansehen.
Aber davor gewann sie vielleicht noch ein bisschen Kupfer … Hel betrachtete ihre Karten und schob die zwei Nixen nebeneinander, außer denen ihr Blatt nicht viel hergab. Hatte sie nicht noch eine Magierkarte im Stiefel …?
„Du bist dran!“ Lino stieß ihre Schulter an und versuchte dabei einen Blick auf ihre Karten zu erhaschen. Hel legte alle außer den Nixen zurück und zog eine Vier, einen Kobold und einen Reiter vom Stapel. Nicht gerade ein Glücksgriff. Sie räusperte sich und ließ die Hand unauffällig unter den Tisch zu ihrem Stiefel gleiten …
In dem Moment schwang die Küchentür auf. Die Sturmjäger grölten, als Bassia aus Dampf und Rauch erschien wie ein Bote der Unterwelt, im Arm einen zischenden Kessel. Aus den Schubladen unter dem Tisch wurden Schüsseln befördert und heimlich deponierte Spielkarten sorgsam entfernt.
„Platz“, grunzte Bassia. „Macht Platz, ihr Dreckskerle.“
Er wuchtete den Kessel auf den Tisch und warf sich die beiden Handlappen über die Schultern. Bassia war genau das Gegenteil von dem, was man sich unter einem Koch vorstellte: Die muskelbepackten und tätowierten Arme gemahnten an seine Zeit als Söldner, das knochige, sonnengegerbte Gesicht war gezeichnet von gefährlichen Fußreisen durch die Wüste. Dass er gerne kochte – oder überhaupt etwas gerne tat –, war schwer zu glauben, zumal sich seine kulinarischen Künste nur durch Bescheidenheit auszeichneten. Genau genommen konnte er gerade einmal ein Gericht: Sandwurm. Gepökelt, gebraten, gehackt oder in Essig eingelegt, das Fleisch des wirbellosen Wüstentiers war Bassias Spezialität. Deshalb hatte Kapitän Gharra ihn auch als Koch angeheuert, denn Sandwurm war seine Leibspeise. Leider sah es bei der Mannschaft anders aus. Trockener Zwieback war beliebter.
„Und was hast du uns heute Köstliches gezaubert?“, fragte Oriw mit einem beängstigenden Grinsen. Er und Bassia konnten sich nicht ausstehen. Jedenfalls war Hel zu dem Schluss gekommen, obwohl sie die beiden Männer beim besten Willen nicht verstand. Sie piesakten sich unaufhörlich, ohne dabei den feinen Ton zu verlieren. Wenn die Nächte lang wurden und die Weinfässer sich leerten, tauschten sie hin und wieder ein paar Kinnhaken aus. Waren erst genug Krüge zerschmettert, wünschten sie sich gute Nacht und gingen zu Bett. Es war, als hätten sie einen Pakt geschlossen, ihren andauernden Streit unter keinen Umständen zu beenden, sei es durch Diplomatie oder Gewalt. Hel konnte nur vermuten, dass sie ihre Feindschaft insgeheim genossen. Sie gab ihnen Beschäftigung in ereignislosen Zeiten.
„Es gibt Zwielbelsuppe mit Sandwurm“, erwiderte Bassia, die Zähne ebenfalls zu einem Lächeln gefletscht. Ein Murren von Meister Zarip veranlasste den Koch, seinen gefährlichen Blick von Oriw abzuwenden.
„Zwiebeln?“, jammerte der Zahlmeister. „Warum bei allen Gemüsen Zwiebeln? Wir haben Kartoffeln, vier Kisten voll!“
Bassia breitete die Arme aus. „Seh ich aus, als wüsste ich, wie man Kartoffeln macht?“
Zarip säuselte leise Verwünschungen. „Die Großcousine meines Vaters, eine fabelhafte Köchin war das, in Speck gebratene Kartoffeln und Käse mit Pilzen und zum Nachtisch Feigen …“
„Du hast überhaupt noch nie dieses Zeug gegessen, denn dein Täntchen hat’s nie gegeben!“, blaffte Bassia.
„Ich steig aus.“ Hel legte ihre Karten unter den Stapel, bevor das allabendliche Tischgespräch losging. Außerdem hatte sie doch keinen Magier im Stiefel.
Sie füllte zwei Schalen mit Suppe, und nachdem sie alle auffindbaren Wurmstücke aus einer Schale in die andere versetzt hatte, kletterte sie über den Tisch. „Ich bin bei Gharra. Yola, du solltest wirklich bald Jureba ablösen. Du weißt doch, wie sie es hasst, wenn das Essen kalt ist. Viel Glück beim Spielen, Zarip!“ Als sie am Zahlmeister vorbeistieg, lehnte sie sich zu ihm hinab und raunte: „Lino hat drei Könige.“
„Drei Könige? Ja, aber … ich hab doch schon zwei Könige!“
Eilig lief sie aus dem Raum und stieß die Tür auf. Hinter ihr verblasste das Gezanke der Mannschaft im Küchendampf. Sie stieg die Treppen nach oben, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Wollige Stille und Dunkelheit herrschten in den höheren Fluren. Als endlich die eisenbeschlagene Tür über ihr erschien, ging ihr Atem schwer. Hel musste die Schüsseln in eine Hand nehmen, während sie den Türring aufdrehte. Wind hauchte ihr entgegen. Hier oben, auf der höchsten Plattform des Schiffs, schien der Himmel näher zu sein als die Erde. Das Land war längst in Nacht ertrunken.
Aus den Bogenfenstern der Kapitänskajüte drang ein matter Schimmer. Hel klopfte an und drehte den Türring, ohne auf Erlaubnis zu warten. Suppe schwappte auf ihr Handgelenk, als sie eintrat. Fluchend schob sie die Tür mit dem Fuß hinter sich zu.
„Gharra? Ich bin’s!“, rief sie in den leeren Raum.
Als die Magierschaft von Hels besonderer Sehkraft erfährt, betrauen sie sie mit der Aufgabe, die Totenlichter zu finden und vor dem Alten Reich in Sicherheit zu bringen. Dabei stehen ihr die Zwergin Beltis, eine berüchtigte Attentäterin, der Spurensucher Fendur und mehrere Krieger zur Seite. Nova meldet sich freiwillig als Wegführer, denn er ist nicht nur auf der Flucht vor einer verhängnisvollen Verlobung, sondern auch an den Totenlichtern interessiert – und ihrer Macht. Per Schwebeschiff brechen sie zu einer Reise auf, von der Hel alles andere als überzeugt ist.
Schon beim ersten Totenlicht trifft sie Mercurin wieder. Er ist einer der Dämonen des Alten Reichs. Zwar rettet er Hel das Leben im Kampf gegen einen anderen Dämon, doch das Totenlicht nimmt er mit. Er warnt Hel, dass er jeden töten wird, der seiner Aufgabe im Weg steht. Dabei ahnt keiner von beiden, dass die Vier Druiden Hel längst bemerkt haben – und auf ihre Seite ziehen wollen.
Dabei scheint eines unausweichlich: Hel wird Mercurin als Todfeind gegenübertreten. Und sie wird ihn lieben.
Das Kind in der Kiste
Drei Meilen vor Har’punaptra, der Hauptstadt der Zwerge und des Handels, trafen sich Sturmjäger und Trollhändler zu einem nicht ganz legalen Geschäft in den Gebirgen der Wüste.
Nachdem das Schwebeschiff sicher zwischen den Klippen gelandet war, wurde eine breite Planke vom Deck geschoben und Kapitän Redwin Gharra ging an Land. Er trug einen Umhang, der an den Schultern verdächtig ausgepolstert wirkte, denn ansonsten war der Kapitän eine schmächtige Erscheinung. Beine gleich Krummsäbeln steckten in Stiefeln aus dickem Keilpferdleder und sein Kopf wippte auf dem dünnen Hals wie eine Distel im Wind.
Gharra war alt. Er war schon fast immer alt gewesen, das Haar dünnte seit seinem zwanzigsten Lebensjahr aus und starke Himmelsstürme hatte die ersten Falten im Kindesalter in sein Gesicht gegraben. Außerdem knickten die Knie mit jedem Schritt ein wenig zu tief ein, was ihn gebrechlicher wirken ließ, als der Wahrheit entsprach; tatsächlich kam dieser Gang von einem Leben ohne Boden unter den Füßen, denn Gharra war wie die meisten Sturmjäger auf einem schwebenden Schiff zur Welt gekommen und aufgewachsen.
„Seid gegrüßt, meine lieben Freunde, wie schön, euch wohl und munter zu sehen! Wie geht es euch? Was machen die Kinder?“ Die Trollhändler ließen zu, dass Gharra ihnen der Reihe nach die Hände schüttelte und Schultern tätschelte, als suche er nach versteckten Waffen. Oder Siegeln der fürstlichen Wache.
„Kinder sind gut“, knurrte der Anführer der Bande, ein Zwerg mit schwarzen Bartzöpfen. Offenbar hatte er Gharra missverstanden, denn er wies dabei auf die Trolle, die in Ketten hinter ihnen standen. Gharra lächelte nachsichtig. Es war sowieso nicht zu erwarten, dass Trollhändler ein Heim und Familie hatten. Wer sich monatelang durch das Wilde Land schlug und Bestien fing, gehörte eher zur harten, einsamen Sorte.
„Hübsche Tierchen“, kommentierte Gharra. „Aber sind sie auch kräftig?“
Der Zwerg führte ihn zu den Trollen und klärte ihn über Gewicht („Schwer wie Fels – viel Muskelmasse“), Herkunft („Vom Rande der Kauenden Klippen, die beste Brut“) und Zähmung („Hrchm, also … ungezähmt“) auf. Gharra nickte zu alledem, während er die Kolosse musterte. Dann stieg der Zwerg auf eine Gepäckkiste, sodass er auf gleicher Höhe mit Gharra war, und verschränkte die Arme vor der Brust. Nun ging es ans Verhandeln.
„Ich brauche vierzehn Trolle an der Kurbel“, begann Gharra. „Bei der letzten Jagd sind mir leider drei abhanden gekommen. War ein starker Sturm. Ein weiterer ist bedauerlicherweise von seinen Kameraden gefressen worden. Dann habe ich noch zwei alternde Exemplare, die ich ersetzen will.“
„Also braucht Euer Schiff sechs neue Trolle“, schloss der Zwerg. „Ohne Stadtsteuer liegt mein Angebot bei elf Dukaten pro Stück. Dazu zwölf Mal fünf Finger Lirium in Har’punaptra zu einem Freundschaftsrabatt von fünfzehn Prozent.“
„Acht Dukaten und meine beiden alten Trolle. Die könnt ihr noch verhökern.“
„Zehn Dukaten! Meine Trolle sind von exzellenter Qualität, jung und äußerst genügsam …“
Schließlich einigte man sich auf zehn Dukaten pro Troll und einen kleinen Lirium-Handel in Har’punaptra zu einem späteren Zeitpunkt. Gharra war erstaunt über die rasche Abmachung. Zwerge waren nicht gerade dafür bekannt, leicht nachzugeben. Und die Trolle waren in der Tat erlesen; auf den Sklavenmärkten Har’punaptras würden die Händler das Doppelte verlangen können.
„Noch eins“, nuschelte der Zwerg dann. Gharra, eine Hand schon im Wams, um den Geldring zu zücken, hielt inne. „Wir haben noch ein Angebot. Ein Sonderangebot.“
„Sonderangebot.“ Das klang so vielversprechend wie eine Streicheleinheit von einem Troll. Gharra verzog keine Miene.
Der Zwerg winkte nervös seinen Leuten, die zur Seite traten und eine Kiste herbeischleppten. Das Schloss war zauberfest: Es bestand aus reinem Silber. Mit Bedacht sperrte einer der Zwerge auf. Unauffällig legte Gharra die Finger um den Säbelgriff an seinem Gürtel.
Die Zwerge klappten den Deckel auf. Zum Vorschein kamen ein Haufen Stroh und ein Bündel Lumpen. Bei genauerer Betrachtung stellte es sich als Kind heraus.
„Friss mich das Gras, was soll das?“ Gharra spähte auf das Kind hinab, das die Beine und Arme unter dem Körper angezogen hatte. Zerzaustes, schwarzes Haar wucherte über den Schultern. Ganz langsam drehte es den Kopf zur Seite, bedeckte das Gesicht aber mit den Händen. Dann schob es zwei Finger auseinander und blickte aus einem tränenverquollenen Auge zu Gharra auf.
„Was ist das?“, wiederholte Gharra.
„Ein Menschenkind. Ihr könnt es haben.“
Gharra wandte sich dem Zwerg zu. Sein Lederharnisch knirschte, als er sich ein wenig reckte. Der Geldring rutschte mit einem leisen Klirren tiefer in die Brusttasche. „Mein lieber Freund, ein steuerfreier Trollhandel ist eine Sache, Menschenhandel eine andere. Jawohl, ich bin ein Gegner der Sklaverei und würde weder auf Har’punaptras schwarzen Basaren noch hier in der Wüste, noch sonst einem verlassenen Hinterland Menschen kaufen.“ Gharra machte eine gewichtige Pause. „Noch dazu ist das ein Kind, seh ich aus, als hätte ich Mutterliebe zu verschenken?“
„Es ist ein besonderes Menschenkind“, sagte der Zwerg zögernd.
Gharra kratzte sich das Kinn. „Kann es kochen? Sagt bloß nicht ja, wenn es bei Zwergen kochen gelernt hat, da nehme ich mir lieber einen Troll als Küchenchef. Jedenfalls lass ich nicht mehr als drei Schilling springen. Zwei Schilling.“
„Kein Koch“, sagte der Zwerg. „Wir haben es bei den Kauenden Klippen gefunden. Es muss zu Flüchtlingen aus dem Alten Reich gehören, aber es war verletzt und allein.“
„Hm.“ Gharra blickte wieder auf das Kind hinab und überlegte, ob man ihm vielleicht eine Schatzkarte auf den Rücken tätowiert hatte oder ob es Goldeier legte, aber dann würden die Zwerge es doch nicht verkaufen.
„Es ist ein … besonderes Kind“, wiederholte der Zwerg, offenbar bemüht, diese Besonderheit als vorteilhaft darzustellen. Gharra wurde mit jeder Sekunde skeptischer. „Das Land greift das Kind nicht an. Es war ganz allein da draußen, ohne Lirium oder Zauberkiesel.“
Gharra zuckte die Schultern. „Das Land stirbt aus. Vielerorts ist es so ruhig geworden, dass es niemanden mehr angreift.“
„Ja, ja. Aber … jedenfalls wollen wir das Kind verkaufen! Es kommt doch aus dem Alten Reich, mit den Druiden wollen wir nichts zu schaffen haben.“
Gharra, der instinktiv wieder nach seinem Säbelgriff tastete, als er ‚Druide‘ hörte, starrte den Zwerg verständnislos an. „Ein Druidenkind? Ich bin der Liga der Sturmjäger treu ergeben!“
Als Gharra den Fuß ausstreckte, um den Deckel wieder über das Kind zu kippen, trat der Zwerg dazwischen. „Nein, nein! Es gehört nicht zu den Druiden – seht es doch an, es trägt Bauernkleider. Es hat bloß Kräfte.“
Gharra wurde immer unwohler. Als Sturmjäger setzte er zwar sein Leben aufs Spiel, doch von Gefahren auf dem Boden hielt er sich fern. Politik gehörte zu so einer Gefahr. Und, beim Henker, Kräfte.
„Es ist brav und unkompliziert, ihr braucht es nicht mal regelmäßig füttern. Euch wird es sehr hilfreich sein. Es kann Lirium sehen.“ Der Zwerg sprang von seiner Erhöhung und hob das Kind schwungvoll aus der Kiste. Dann hielt er es zu Gharra empor. Viel sah Gharra trotzdem nicht. Das Kind hatte noch immer beide Hände vors Gesicht geschlagen und starrte aus einem angstvollen Auge zu ihm auf. Wie alt es sein mochte? Fünf? Neun? Gharra wusste so viel über Kinder wie über zwergische Großmütter: Gar nichts.
„Da, es kann Magie sehen. Sieht sie überall, meilenweit. Ideal für die Sturmjagd. Ihr müsst es nur in den Mastkorb stecken und warten, dass es Euch die Richtung zum nächsten Liriumsturm weist.“ Der Zwerg zog die Hand des Kindes wie einen klebrigen Seestern von seinem Gesicht. Gharra hielt die Luft an. Zumindest wusste er über Kinder, dass sie für gewöhnlich zwei gleiche Augen hatten.
Dieses Kind nicht. Das eine war dunkel und tränenverquollen. Das andere, linke war milchig-blau und von einer frisch verheilten Wunde in die Länge gezogen, die quer über die Schläfe führte. Das Kind – ein Mädchen, wie Gharra vermutete – war auf einem Auge blind.
„Soll das ein Scherz sein?“, fragte Gharra höflich. „Dein Kindchen ist blind wie der Mond persönlich.“
„Nur auf einem Auge. Mit dem anderen sieht sie alles. Alles.“ Der Zwerg schüttelte das Kind ein wenig. Die angewinkelten Beine schlackerten unter dem Sackkleid.
Gharra beugte sich hinab. Die Kleine zitterte und Wasser lief ihr aus Nase und Augen. Gharra konnte sich nicht entscheiden, ob er sie niedlich oder abstoßend fand.
„Dann sag mir doch, mein hübsches Vögelchen, wo ich meinen Finger Lirium trage.“ Gharra breitete die Arme aus.
„Mach“, befahl der Zwerg und streckte den Arm der Kleinen aus. Zögernd löste sie den Zeigefinger aus ihrer Faust. Zu Gharras Überraschung wies sie auf seine linke Schulter. Tatsächlich trug er einen vollen Liriumflakon im Schulterpolster. Dann schwankte der Finger des Mädchens abermals und richtete sich auf sein Schienbein. Kaum hörbar hauchte sie: „D-da ist eine Klinge mit Lirium.“
Gharra starrte an seinem Bein hinab. Unter dem dicken Stiefelleder war sein magischer Dolch nicht zu sehen. Jedenfalls nicht für ihn.
Der Zwerg setzte das Mädchen ab. Sofort senkte sie den Kopf und hielt sich wieder die Hände vor das entstellte Gesicht. Nur das heile Auge lugte zwischen den Fingern hervor.
„Seht Ihr“, schnaufte der Trollhändler. „Das Kind ist ein Segen für jeden Sturmjäger. In Har’punaptra würde sie uns reich machen.“
„Aber Ihr wollt nicht in der Öffentlichkeit mit ihr gesehen werden.“
Der Zwerg nickte. „Wir wissen nicht, woher sie kommt. Bis jetzt hatten wir keine Probleme, und auf einem Schiff hoch oben im Himmel wird sie niemand suchen. Aber wer weiß, wer in Har’punaptra hinter einem verschollenen Kind her ist.“
Gharra rieb sich wieder das Kinn. „Ein Segen … vielleicht aber auch ein Fluch. Ich tue Euch einen Gefallen, wenn ich sie euch abnehme.“ Er schwieg einen Moment. „Also schön, fünf Schilling.“
„Sie ist mindestens einen Dukaten wert! Allein wenn wir ihre Haare und Zähne verkauften, haben wir schon so viel!“
„Ja, und eine Leiche.“
„Nicht unbedingt“, grollte der Zwerg.
Gharra seufzte. „Also schön. Einen Dukaten.“
Und so tauschten einundsechzig Dukaten, sechs Trolle und ein Mädchen ihre Besitzer. Als man die Trolle auf das Schiff gebracht hatte, legte Gharra beide Hände auf die schmalen Schultern des Kindes. Er spürte die Knochen durch das Sackkleid, was gewiss nicht nur an der Verpflegung der Zwerge lag. Einer der vielen Gründe, weshalb die Menschen aus dem Alten Reich flohen, war der Hunger.
„Mein Name ist Kapitän Redwin Gharra. Aber es reicht, wenn du mich Kapitän nennst. Das bedeutet, dass ich das Kommando habe und alle machen, was ich sage. Und bevor du einen Befehl ausführst, sagst du ‚Aye, Aye, Kapitän‘. Kannst du dir das merken?“
Das Mädchen nickte. Als Gharra sie mit einem erwartungsvollen Blick bedachte, erklang ein leises „Aye, Aye, Kapitän.“
„Sehr schön! Aber ein bisschen lauter nächstes Mal, der Wind weht stark dort oben. Und nun verrate mir deinen Namen.“
Das Kind sah ihn schweigend an.
„Fragt sie was anderes“, mischte sich der Trollhändler hinter Gharra ein, der inzwischen die Käfigwagen für die Weiterreise zu verschloss. „Sie will ihren Namen nicht rausrücken, falls sie einen hat. Wir haben sie Hel genannt, Licht, wegen dem …“ Er deutete auf sein Auge.
Gharra runzelte die Stirn. „Wie lange war sie denn bei euch?“
„Fünf, sechs Monde.“
Gharra fragte sich, wie viel von der Zeit sie in der zauberfesten Kiste verbracht hatte. „Ein zwergischer Name für ein Menschenkind. Licht für eine Halbblinde! Na, wenigstens gibt er deiner traurigen Erscheinung ein bisschen Humor mit. Er wird genügen, bis dir dein echter Name wieder einfällt.“ Er stand auf und hielt ihr die Hand hin, um sie auf das Schiff zu führen. Als sie die Finger in seine Hand legte, war er sich nicht sicher, ob sie „Aye, Aye“ murmelte. Für einen Augenblick durchfuhr den Kapitän ein Gefühl zärtlichster Zuneigung, schwer und süß wie der Wind jener Sommerabende, die er im Tiefflug über den Steppen verbracht hatte, damals, vor fast einem halben Jahrhundert, als er selbst ein Kind gewesen war.
Ebenso rasch, wie das Gefühl aufgekommen war, flaute es wieder ab.
Gharra seufzte. Wenn das Kind Ärger bereitete, würde er es in der nördlichen Wüste über Bord werfen, wo der Sand noch gefräßig war. Dabei fiel ihm wieder etwas ein. Mit einem gutmütigen Lächeln blickte er auf das Mädchen hinab.
„Sag mal, mein hübsches Monsterkind, kannst du auch kochen?“
Doch diesmal wartete Kapitän Gharra vergebens auf das „Aye, Aye.“
LICHTER
Der Wüstenwind war kühl bei Einbruch der Dämmerung und schwemmte die schwere, stehende Hitze des Tages fort wie ein Schwall Wasser. Es war Hels Lieblingszeit.
Sie stand im Mastkorb, zwanzig Fuß über dem Vorderdeck und gut eine halbe Meile über dem Erdboden. Ihre Hände ruhten auf dem Korbrand, ohne sich festzuhalten; das musste sie nicht. Nach neun Jahren hier oben hatten stürmische Winde die Angst längst davongeweht. Sie fühlte sich frei und sicher.
Das lag auch an der hereinbrechenden Dunkelheit und der Tatsache, dass sie unbeobachtet war. In Momenten wie diesen wagte sie die Augenklappe abzunehmen. Die Luft war eine weiche Berührung auf dem linken Augenlid, das sonst nie jemand anfasste und auch nie anfassen würde. Sogar sie selbst scheute davor zurück. Die Narbe an ihrer Schläfe, die unter den Haaren bis zum Hinterkopf reichte, war bleich und buckelig, aber nicht annähernd so abstoßend wie das Auge. Es war leicht in die Länge gezogen und manchmal, wenn Hel doch versehentlich darüber strich oder in einen Spiegel blickte, ohne die Binde zu tragen – was äußerst selten passierte –, kam es ihr vor, als sei das linke Auge größer als das gesunde. Als sei der milchweiße Ball in ihrem Kopf gewachsen und drücke gegen den Stoff, um ihre Aufmerksamkeit zu erzwingen. Sie blinzelte. Ihre Hände schlossen sich um den Korbrand, als die doppelte Sicht kam.
Früher hatte sie die merkwürdige Überlagerung der zwei Welten kaum ausgehalten, war gelegentlich umgekippt und hatte sich sogar übergeben müssen, vor allem am Anfang, als sie das Leben in der Höhe noch nicht gewohnt gewesen war. Selbst heute brachte sie die doppelte Sicht ein wenig aus dem Gleichgewicht. Deshalb machte sie die Augen meistens zu, wenn sie die Klappe mit der eingearbeiteten Silbermünze nicht trug, die die zweite, unheimliche Sicht abschirmte.
Denn sie war keineswegs blind auf dem Ding in ihrer linken Gesichtshälfte. Selbst mit geschlossenen Augen nicht.
Sie konnte Leben sehen. Bei Nacht und Tag, Nebel und Sturm, durch Holz und Wände. Bis zum Horizont bot sich ihr die Welt dar und weihte sie in ihr pulsierendes Geheimnis ein. Sie sah, welche Berge tot waren und in welchem Gestein Lirium, die Essenz der Magie, glühend schwelte und auf einen Ausbruch wartete. Sie sah schwarz funkelnde Adern, die sich hundert Meter unter der Erdoberfläche durch Lehm und Granit schlängelten, und Steppen, unter denen brodelnde Seen schäumten. Sie sah, wie Lirium perlmuttweißen Spinnweben gleich in die Spitzen der Gräser und in Bäume hinaufkroch und sie mit Magie nährte. Lange bevor eine Klippenwand sich auftat und Pflanzen, Steine, Tiere verschluckte, konnte Hel die Bewegung voraussagen.
Ebenso sah sie den Tod des Wilden Landes. Das zähe Entrinnen der magischen Essenz war eine Alltäglichkeit geworden, denn Lirium wurde gejagt, gefangen und verbraucht. Bald würde nichts mehr da sein – vielleicht in ein paar Jahren, vielleicht in zwanzig, vielleicht fünfzig, wenn sie Glück hatten. Was dann geschah, wusste jeder, auch wenn niemand darüber sprach. Ohne Magie würden die Zivilisationen untergehen.
Hel atmete tief durch und hatte das Gefühl, Staub in die Lunge zu bekommen. Wäre Lirium nicht so knapp geworden, hätte die Schwalbe nie so nah an die Kauenden Klippen vordringen müssen. Doch weil die Liriumvorkommen im Mittland erschöpft waren, musste die Liga der Sturmjäger ihr Jagdgebiet auf unwirtlichere Gegenden ausweiten. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich der wandelnden Gebirgskette zu nähern, die jeden verschlang, der sie durchqueren wollte. Denn hinter den Kauenden Klippen verbarg sich das Alte Reich.
Ein feines Sirren erklang. Im nächsten Moment wehte Hel eine Sandwoge entgegen. Sie kniff die Augen zu. Die Körner trafen sie wie Nadeln, rieselten ihr durch die kinnlangen, schwarzen Haare und in den Kragen ihrer Tunika. Einen Herzschlag später war alles vorbei. Das kam öfter vor, selbst in dieser Höhe. Auch ohne Augenklappe konnte Hel die Wogen nicht immer kommen sehen, denn der Sand war tot.
Mit geschlossenen Augen beobachtete sie ein Blitzen in der Ferne, kaum heller als ein Stern. Sie trat an den äußersten Rand des Mastkorbs. Tatsächlich … gegen Süden trat Licht aus dem Boden, so wie vor einem Liriumsturm. Doch in den südlichen Gebieten war schon lange keine Magie mehr. Oder? Lag dort eine einsame Liriumquelle im toten Land? Sie hatten seit Monaten keinen Sturm mehr gejagt. Wenn sich dort hinten einer zusammenbraute …
Gerade wollte sie nach unten klettern und Alarm schlagen, da verschwand das Funkeln abrupt. Hel hielt inne, ein Bein über dem Korbrand. Der Wind zerrte an ihrem geflickten Mantel. Nichts. Der Funke war erloschen wie ein Kerzenlicht.
Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Sie hatte es sich doch nicht eingebildet.
Hel wartete noch geschlagene fünf Minuten, doch nichts regte sich mehr. Schließlich streifte sie sich die Augenklappe wieder über, die um ihren Hals hing, und kletterte die Strickleiter hinab.
Das Vorderdeck der Schwalbe lag verlassen im Dämmerlicht. Weil sie sparsam mit Lirium umgehen mussten, schwebte nur eine einzige Leuchtkugel bei Jureba: Die alte Trolltreiberin saß auf ihrem Balkonsitz, die Beine über den Vorsprung geschwungen, in einer Hand ein zerfleddertes Buch. Hin und wieder schnalzte sie mit der Peitsche, um die Trolle unter ihr zu Arbeit zu gemahnen. Sieben von ihnen waren an die große Kurbel auf dem Unterdeck gekettet, die unentwegt gedreht werden musste, um das Schiff anzutreiben. Früher war die Kurbel nur in Notfällen eingesetzt worden, doch heute konnte sich niemand mehr leisten, Lirium zu verschwenden. Trollarbeit hingegen kostete nichts.
Im Halbdunkel wirkten ihre Körper wie zusammengepresste Felsbrocken. Massige Arme schoben die Holzpflöcke vor sich her und der Boden bebte im trägen Rhythmus ihrer Schritte. Trolle konnten doppelt so hoch wie Menschen werden und fünfmal so schwer; nur ihr Kopf war kaum größer als ihre Faust und sah zwischen den Schulterbergen geradezu winzig aus. Trotzdem war das Fassungsvermögen ihrer zahnlosen Mäuler nicht zu unterschätzen. Einst waren Zwerge ihre Hauptbeute gewesen – unter Umständen konnten sie sich aber auch Menschen in den Rachen stopfen.
In sicherem Abstand blieb Hel stehen. Nicht weil sie fürchtete, auf die Kurbel zu fallen, sondern wegen des Gestanks, den selbst der Himmelswind aus keiner Trollachsel wehen konnte.
„Was liest du da?“, rief sie Jureba zu. Die Antreiberin neigte den Kopf, sodass ihr das Glasgestell, das sie beim Lesen immer trug, auf die Nasenspitze rutschte. Sie besaß ein ganzes Dutzend der geschliffenen Gläser, denn sie gingen regelmäßig zu Bruch. Wenn nicht bei der Sturmjagd, dann weil sie ihr unter die Trolle fielen oder weil sie betrunken gegen Wände lief. Als sie Hel auf der Brücke erspähte, zeigte Jureba ihr Krötengrinsen und hielt den Buchdeckel etwas höher: Fettflecken hatten den blauen Einband längst in ein schmieriges Grau verwandelt. Die goldenen Buchstaben waren schon vor Jahren sorgfältig abgekratzt worden.
Hel grinste ebenfalls. Jureba hatte ihr das Lesen beigebracht und sie dabei in die Vorlieben ihrer Lektüre eingeweiht: Sie verschlang ausschließlich anrührende Balladen, in denen es um liebeskranke Helden ging, die nach einem leidvollen und sehr gesprächigen Leben in Dolche rannten, Gift von den Lippen vergifteter Geliebter küssten oder über Klippen sprangen. Was genau Jureba daran faszinierte, war Hel nie ganz klar geworden. Jedenfalls stellten die Romanzen einen interessanten Gegensatz zu Jurebas anderer Leidenschaft dar, der Trollhaltung. Sie fütterte sie hingebungsvoll wie kein anderer mit blutigen Fleischkeulen und schlug auch nicht zimperlich zu.
„Die Leiden des jungen Wilnor“, seufzte Hel, die Jurebas Lieblingsbuch erkannte. Laut sagte sie: „Tolle Schlachtszenen! Achtzehn rollende Köpfe auf drei Seiten!“
„Die Stelle kann man nicht oft genug lesen!“, rief Jureba zurück und schwenkte Peitsche und Buch. Vor dem Großteil der Mannschaft – nämlich denen, die nicht lesen konnten – stellte sie den Inhalt ihrer Bücher ein wenig roher dar. Die belesene Besatzung schwieg taktvoll.
„Hast du schon gegessen?“, erkundigte sich Hel.
„Keine Faser! Sei doch so nett und schick Yola mit einem Tritt in den Hintern hoch, ihre Schicht hat längst angefangen.“
„Aye, Aye!“ Hel lief über die Brücke, die im Fahrtwind sanft schwankte. Unter ihr rasselten die Ketten der Trolle. Siebzehn Schritte maß die Brücke jetzt – früher waren es mehr gewesen, als Hel noch kürzere Beine gehabt hatte. Lange Zeit war sie keinen Zentimeter gewachsen, doch vor einem Jahr hatte sie endlich einen „Schub gemacht“, wie Gharra behauptete – auch wenn die Bezeichnung Hel reichlich übertrieben schien. Irgendwie war sie schlaksiger und tollpatschiger geworden und zum ersten Mal hatten Hüften und Taille nicht mehr denselben Umfang, aber das war so gut wie alles. Ihr pausbackiges Gesicht mit dem spitzen Kinn und der kleinen Nase kam ihr nicht im Entferntesten so erwachsen vor, wie sie sich mit höchstens siebzehn, mindestens fünfzehn Jahren fühlte. Nicht nur Hels genaues Alter war im Dunkel ihrer Kindheit verschollen. Auch ihr Wachstum war vom Hunger vergessener Tage beeinflusst, daran änderte selbst die gute Verpflegung auf der Schwalbe nichts. Wahrscheinlich würde sie immer klein bleiben.
Mit einem Sprung legte sie das letzte Stück zurück und landete auf dem Hinterdeck – früher hatte sie sich oft ausgemalt, wie die Brücke just in diesem Moment riss und sie sich in aller Knappheit retten musste. Natürlich war die Brücke nie gerissen. Links und rechts säumten sie Rohre mit Lirium. Selbst wenn sich alle Taue auflösten, würde sie noch in der Luft schweben.
Vor Hel lag der Eingang ins Schiffsinnere. Auf die Trollquartiere und Frachträume türmten sich drei Stockwerke, die die Mannschaft bewohnte. Darüber thronte ein fünfeckiger Pavillon, die Kapitänskajüte. An den Flanken des Schiffes waren die Beutel befestigt: riesige Ballons aus Keilpferdleder, umspannt von versilberten Drahtnetzen, mit denen bei der Sturmjagd Lirium gefangen wurde. Sie waren jetzt fast leer.
Eine Spiraltreppe führte ins erste Stockwerk und knarzte Hel eine vertraute Melodie, wie unter den unzähligen hastigen Füßen davor, die sie glatt getreten hatten. Sie mündete in einen schmalen Flur voller Türen. Hel schlug eine davon auf und betrat den Speiseraum.
Ein säuerlicher Geruch empfing sie. Offenbar gab es Sandwurm. Schon wieder.
„He, Hel! Schon was gesichtet?“ Perrin, einer der Matrosen, ließ ein Deck Spielkarten durch seine Hände flattern. Die anderen Sturmjäger am Tisch blickten hoffnungsvoll zu ihr auf.
Sie schüttelte den Kopf. „Nichts Neues. Ist Gharra oben?“
„Schon den ganzen Tag“, sagte Perrin. „Spielst du mit? Gleich gibt’s Essen.“
„Wenn man das Zeug so nennen mag“, grummelte sie und erntete Kichern und Schnauben.
Hel stieg über den Tisch und rutschte zwischen Lino und Yola, die beiden Gehilfen von Jureba. Mit ihrem breiten Kreuz und den flächigen Gesichtern glichen die Geschwister einander wie ein Ei dem anderen, abgesehen von dem kleinen Unterschied, dass Lino ein Junge war und struppige Koteletten hatte.
„Jureba wartet auf dich“, richtete Hel Yola aus, die diese Nachricht ebenso wenig rührte wie alles andere, was man ihr sagte. Gelassen nahm sie die Karten in die Hand, die Perrin austeilte.
„Ich hab eine Glückssträhne“, meinte sie seelenruhig. Hinter ihren kräftigen Armen lagerte ein Haufen Kupfermünzen. Hel warf einen raschen Blick in die Runde, während sie ihre Karten annahm. Wie es aussah, gründete Yolas Glückssträhne sich auf Meister Zarips Pech: Ausgerechnet der Zahlmeister der Schwalbe, ein alter Sturmjäger, der das windige Deck für die Vorratskammern im Schiffsbauch aufgegeben hatte, kauerte verbittert über seinen letzten drei Münzen. Sonst hielt Meister Zarip sich den Kartenspielen fern, doch die Langeweile, die mit dem Verschwinden von Lirium einherging, ließ so manchen Sturmjäger seine Prinzipien vergessen. Dem Zahlmeister war das heute teuer zu stehen gekommen. Der Rest der Mannschaft machte sich einen Spaß daraus, dem geizigen Zarip Münze für Münze vom Geldring zu ziehen, denn anders als sie spielte er nicht regelmäßig genug, um alle Betrügereien der Sturmjäger zu durchschauen.
„Ja, Yola muss die Runde noch bleiben“, gluckste der dünne Relik, der trotz seiner dreißig Jahre wie ein Knabe im Wachstum aussah. Hinterlistig lugte er auf Meister Zarips Karten. „Drei Kupfermünzen sind noch zu holen.“
„Wer sagt denn, dass nach den Münzen Schluss ist?“ Oriw, der beste Sturmjäger der Schwalbe und unangefochtene Meister jeden Wetttrinkens, entblößte seinen Goldzahn. „Meister Zarip trägt doch ein hübsches Halstüchlein, also ich würde darum spielen! Daran wisch ich meinen Säbel sauber.“
Bleich vor Zorn fasste Meister Zarip nach seinem seidenen Tuch. „Das ist von meiner verstorbenen Großtante!“, fauchte er ins Gelächter. Hel kannte keinen Sturmjäger, der sich so piekfein kleidete wie der Zahlmeister. Sein Sortiment an Halstüchern, Gamaschen und Manschetten war schier unerschöpflich, genau wie seine verstorbene Verwandtschaft, die ihm die mondänen Schätze vermacht hatte. Allerdings ging das Gerücht um, dass die toten Stiefgroßmütter allesamt erfunden waren und Zarip sich den Plunder selbst zusammenhortete. Während unter den Sturmjägern ein Streitgespräch über tote, vielleicht nie am Leben gewesene Angehörige begann, wanderten Hels Gedanken zu dem eigenartigen Funkeln zurück. Wie hatte es einfach auftauchen und verschwinden können, mitten in der toten Wüste? Sie musste mit Gharra sprechen. Durch das Fernrohr konnten sie sich die Stelle genauer ansehen.
Aber davor gewann sie vielleicht noch ein bisschen Kupfer … Hel betrachtete ihre Karten und schob die zwei Nixen nebeneinander, außer denen ihr Blatt nicht viel hergab. Hatte sie nicht noch eine Magierkarte im Stiefel …?
„Du bist dran!“ Lino stieß ihre Schulter an und versuchte dabei einen Blick auf ihre Karten zu erhaschen. Hel legte alle außer den Nixen zurück und zog eine Vier, einen Kobold und einen Reiter vom Stapel. Nicht gerade ein Glücksgriff. Sie räusperte sich und ließ die Hand unauffällig unter den Tisch zu ihrem Stiefel gleiten …
In dem Moment schwang die Küchentür auf. Die Sturmjäger grölten, als Bassia aus Dampf und Rauch erschien wie ein Bote der Unterwelt, im Arm einen zischenden Kessel. Aus den Schubladen unter dem Tisch wurden Schüsseln befördert und heimlich deponierte Spielkarten sorgsam entfernt.
„Platz“, grunzte Bassia. „Macht Platz, ihr Dreckskerle.“
Er wuchtete den Kessel auf den Tisch und warf sich die beiden Handlappen über die Schultern. Bassia war genau das Gegenteil von dem, was man sich unter einem Koch vorstellte: Die muskelbepackten und tätowierten Arme gemahnten an seine Zeit als Söldner, das knochige, sonnengegerbte Gesicht war gezeichnet von gefährlichen Fußreisen durch die Wüste. Dass er gerne kochte – oder überhaupt etwas gerne tat –, war schwer zu glauben, zumal sich seine kulinarischen Künste nur durch Bescheidenheit auszeichneten. Genau genommen konnte er gerade einmal ein Gericht: Sandwurm. Gepökelt, gebraten, gehackt oder in Essig eingelegt, das Fleisch des wirbellosen Wüstentiers war Bassias Spezialität. Deshalb hatte Kapitän Gharra ihn auch als Koch angeheuert, denn Sandwurm war seine Leibspeise. Leider sah es bei der Mannschaft anders aus. Trockener Zwieback war beliebter.
„Und was hast du uns heute Köstliches gezaubert?“, fragte Oriw mit einem beängstigenden Grinsen. Er und Bassia konnten sich nicht ausstehen. Jedenfalls war Hel zu dem Schluss gekommen, obwohl sie die beiden Männer beim besten Willen nicht verstand. Sie piesakten sich unaufhörlich, ohne dabei den feinen Ton zu verlieren. Wenn die Nächte lang wurden und die Weinfässer sich leerten, tauschten sie hin und wieder ein paar Kinnhaken aus. Waren erst genug Krüge zerschmettert, wünschten sie sich gute Nacht und gingen zu Bett. Es war, als hätten sie einen Pakt geschlossen, ihren andauernden Streit unter keinen Umständen zu beenden, sei es durch Diplomatie oder Gewalt. Hel konnte nur vermuten, dass sie ihre Feindschaft insgeheim genossen. Sie gab ihnen Beschäftigung in ereignislosen Zeiten.
„Es gibt Zwielbelsuppe mit Sandwurm“, erwiderte Bassia, die Zähne ebenfalls zu einem Lächeln gefletscht. Ein Murren von Meister Zarip veranlasste den Koch, seinen gefährlichen Blick von Oriw abzuwenden.
„Zwiebeln?“, jammerte der Zahlmeister. „Warum bei allen Gemüsen Zwiebeln? Wir haben Kartoffeln, vier Kisten voll!“
Bassia breitete die Arme aus. „Seh ich aus, als wüsste ich, wie man Kartoffeln macht?“
Zarip säuselte leise Verwünschungen. „Die Großcousine meines Vaters, eine fabelhafte Köchin war das, in Speck gebratene Kartoffeln und Käse mit Pilzen und zum Nachtisch Feigen …“
„Du hast überhaupt noch nie dieses Zeug gegessen, denn dein Täntchen hat’s nie gegeben!“, blaffte Bassia.
„Ich steig aus.“ Hel legte ihre Karten unter den Stapel, bevor das allabendliche Tischgespräch losging. Außerdem hatte sie doch keinen Magier im Stiefel.
Sie füllte zwei Schalen mit Suppe, und nachdem sie alle auffindbaren Wurmstücke aus einer Schale in die andere versetzt hatte, kletterte sie über den Tisch. „Ich bin bei Gharra. Yola, du solltest wirklich bald Jureba ablösen. Du weißt doch, wie sie es hasst, wenn das Essen kalt ist. Viel Glück beim Spielen, Zarip!“ Als sie am Zahlmeister vorbeistieg, lehnte sie sich zu ihm hinab und raunte: „Lino hat drei Könige.“
„Drei Könige? Ja, aber … ich hab doch schon zwei Könige!“
Eilig lief sie aus dem Raum und stieß die Tür auf. Hinter ihr verblasste das Gezanke der Mannschaft im Küchendampf. Sie stieg die Treppen nach oben, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Wollige Stille und Dunkelheit herrschten in den höheren Fluren. Als endlich die eisenbeschlagene Tür über ihr erschien, ging ihr Atem schwer. Hel musste die Schüsseln in eine Hand nehmen, während sie den Türring aufdrehte. Wind hauchte ihr entgegen. Hier oben, auf der höchsten Plattform des Schiffs, schien der Himmel näher zu sein als die Erde. Das Land war längst in Nacht ertrunken.
Aus den Bogenfenstern der Kapitänskajüte drang ein matter Schimmer. Hel klopfte an und drehte den Türring, ohne auf Erlaubnis zu warten. Suppe schwappte auf ihr Handgelenk, als sie eintrat. Fluchend schob sie die Tür mit dem Fuß hinter sich zu.
„Gharra? Ich bin’s!“, rief sie in den leeren Raum.
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Autoren-Porträt von Jenny-Mai Nuyen
Jenny-Mai Nuyen wurde 1988 als Tochter deutsch-vietnamesischer Eltern in München geboren. Geschichten schreibt sie, seit sie fünf ist, und mit dreizehn verfasste sie ihren ersten Roman. Als großer Fantasy-Fan hat Jenny-Mai Nuyen alles verschlungen, was es an literarischen Vorbildern gab: von Lloyd Alexander über Michael Ende bis zu Jonathan Stroud und Christopher Paolini. Nach einem Filmstudium an der New York University lebt Jenny-Mai Nuyen heute in Berlin und widmet sich ganz dem Schreiben.
Autoren-Interview mit Jenny-Mai Nuyen
Exklusives Interview mit Jenny-Mai Nuyen1. Sie haben bereits mit fünf Jahren begonnen zu schreiben. Hatten Sie schon als Kind eine Liebe zum Fantastischen? Wovon handelten die Geschichten der „kleinen Jenny“?
Nuyen: Die geheimnisvollen Welten haben mich schon immer am meisten gereizt, vor allem als Kind. Meine ersten Geschichten handelten von zwei Mäusen, die sich gegenseitig besuchen. Dann wird eine Maus entführt. Der Fall ist leider bis heute ungeklärt, denn hier endet die Geschichte auch schon!
2. Woher rührt Ihre Faszination für Fantasy-Thematik und Fantasy-Literatur? Sehen Sie sich in einer bestimmten Tradition oder gibt es einen Autor, der Sie besonders beeinflusst hat?
Nuyen: „Krabat“ von Ottfried Preußler und „Ronja Räubertochter“ von Astrid Lindgren waren für mich die ersten und wichtigsten Fantasy-Einflüsse. In beiden Geschichten ereignen sich zwar mystische Dinge, bzw. es gibt Fabelwesen, doch die Magie steht nicht im Vordergrund, sie fügt sich ganz natürlich in die echte Welt. Das versuche ich auch in meinen Büchern: Die Figuren und ihre Konflikte sollen real sein – aber die Umgebung darf ruhig verzaubern.
3. In ihren Geschichten tauchen zwar bekannte und geläufige Gestalten der Fantasywelt auf – wie Drachen oder Elfen - aber die Figuren sind oft mit anderen Merkmalen ausgestattet, Schwarz-Weiß-Gegensätze oder der klassische Kampf von Gut und Böse fehlen oft. Brechen Sie bewusst mit typischen Fantasy-Charakteristika?
Nuyen: Das ist für mich gerade das Spannende. Als Leser möchte ich vertraute Figuren haben, die ich einordnen kann. Aber ganz wichtig ist auch, dass ich überrascht werde, dass mich ein Buch zum Nachdenken oder sogar Umdenken anregt. Beim Schreiben ist das genauso. Ich möchte nicht langweilen, indem
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ich Bekanntes wiederhole.
4. Woher nehmen Sie die Ideen für Ihre Geschichten? Fliegen Sie Ihnen einfach zu – morgens beim Kaffee trinken oder beim Autofahren – oder setzen Sie sich bewusst hin, um sich etwas auszudenken?
Nuyen: Das kommt darauf an. Da ich in den letzten Jahren sehr viel geschrieben habe, ist das Ausdenken ein wenig routinierter geworden. Aber die spontanen Einfälle, die Ideen, die unangemeldet kommen, sind und bleiben die besten. Davon leben auch meine Bücher. Ich glaube, ich könnte keinen Roman schreiben, der nicht ursprünglich durch einen plötzlichen Einfall angeregt wurde.
5. Sie haben schon mit zehn ihr erstes Drehbuch verfasst und studieren heute Filmwissenschaften. Auch Ihre Romane lesen sich durchaus „filmisch“. Denken Sie beim Schreiben bewusst an die Verfilmbarkeit Ihrer Geschichten bzw. könnten Sie sich generell vorstellen, dass Ihre Bücher verfilmt werden?
Nuyen: Ich schreibe nicht, damit ein Stoff verfilmt werden kann. Für mich leben die Geschichten in meinen Büchern und brauchen nicht unbedingt eine zweite Existenz im Film. Aber wenn es zur Verfilmung käme, würde ich natürlich gern am Drehbuch mitmischen wollen. Am allerliebsten würde ich jedoch ganz neue Drehbücher schreiben.
6. Wie sieht der normale Arbeitsalltag der Schriftstellerin Jenny-Mai Nuyen aus – wo schreiben Sie, gibt es bestimmte Schreibrituale, Zeiten oder ähnliches?
Nuyen: Während des Studiums schreibe ich, wann und wo ich Zeit dazu finde. Sonst gehe ich gerne morgens in ruhige Cafés oder Bibliotheken. Oft arbeite ich auch nachts. Eigentlich immer, wenn sich die Möglichkeit ergibt!
7. Haben Sie schon eine Idee für einen neuen Roman? Verraten Sie, worum es gehen wird?
Nuyen: Momentan schreibe ich am zweiten Teil der „Sturmjäger von Aradon“, meiner ersten Trilogie. Für mich ist das eine ganz neue Erfahrung: Bisher habe ich nie Fortsetzungen geschrieben, weil ich zu ungeduldig bin, um lange auf das Ende zu warten! Aber das Schöne an Trilogien ist, dass die Figuren einem so ans Herz wachsen. Irgendwann kennt man sie besser als sich selbst.
Das Interview führte Nina Freimüller.
4. Woher nehmen Sie die Ideen für Ihre Geschichten? Fliegen Sie Ihnen einfach zu – morgens beim Kaffee trinken oder beim Autofahren – oder setzen Sie sich bewusst hin, um sich etwas auszudenken?
Nuyen: Das kommt darauf an. Da ich in den letzten Jahren sehr viel geschrieben habe, ist das Ausdenken ein wenig routinierter geworden. Aber die spontanen Einfälle, die Ideen, die unangemeldet kommen, sind und bleiben die besten. Davon leben auch meine Bücher. Ich glaube, ich könnte keinen Roman schreiben, der nicht ursprünglich durch einen plötzlichen Einfall angeregt wurde.
5. Sie haben schon mit zehn ihr erstes Drehbuch verfasst und studieren heute Filmwissenschaften. Auch Ihre Romane lesen sich durchaus „filmisch“. Denken Sie beim Schreiben bewusst an die Verfilmbarkeit Ihrer Geschichten bzw. könnten Sie sich generell vorstellen, dass Ihre Bücher verfilmt werden?
Nuyen: Ich schreibe nicht, damit ein Stoff verfilmt werden kann. Für mich leben die Geschichten in meinen Büchern und brauchen nicht unbedingt eine zweite Existenz im Film. Aber wenn es zur Verfilmung käme, würde ich natürlich gern am Drehbuch mitmischen wollen. Am allerliebsten würde ich jedoch ganz neue Drehbücher schreiben.
6. Wie sieht der normale Arbeitsalltag der Schriftstellerin Jenny-Mai Nuyen aus – wo schreiben Sie, gibt es bestimmte Schreibrituale, Zeiten oder ähnliches?
Nuyen: Während des Studiums schreibe ich, wann und wo ich Zeit dazu finde. Sonst gehe ich gerne morgens in ruhige Cafés oder Bibliotheken. Oft arbeite ich auch nachts. Eigentlich immer, wenn sich die Möglichkeit ergibt!
7. Haben Sie schon eine Idee für einen neuen Roman? Verraten Sie, worum es gehen wird?
Nuyen: Momentan schreibe ich am zweiten Teil der „Sturmjäger von Aradon“, meiner ersten Trilogie. Für mich ist das eine ganz neue Erfahrung: Bisher habe ich nie Fortsetzungen geschrieben, weil ich zu ungeduldig bin, um lange auf das Ende zu warten! Aber das Schöne an Trilogien ist, dass die Figuren einem so ans Herz wachsen. Irgendwann kennt man sie besser als sich selbst.
Das Interview führte Nina Freimüller.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Jenny-Mai Nuyen
- Altersempfehlung: 12 - 15 Jahre
- 2009, 1, 463 Seiten, teilweise Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: cbt
- ISBN-10: 3570160335
- ISBN-13: 9783570160336
Rezension zu „Feenlicht / Sturmjäger von Aradon Bd.1 “
»Jenny-Mai Nuyen gehört in die oberste Riege deutscher Fantasy-Autoren.«
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