Die Töchter der Heilerin
Historischer Roman. Deutsche Erstausgabe
England 1570: Ihre Hände heilen Kinder, ihre Sprüche geben Schutz, ihre Kräuter lindern Schmerz. Die Witwe Demdike hat eine besondere Gabe: Sie ist eine Heilerin. Doch trotz ihrer guten Taten begegnen ihr die Menschen im Dorf mit Misstrauen,...
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Produktinformationen zu „Die Töchter der Heilerin “
England 1570: Ihre Hände heilen Kinder, ihre Sprüche geben Schutz, ihre Kräuter lindern Schmerz. Die Witwe Demdike hat eine besondere Gabe: Sie ist eine Heilerin. Doch trotz ihrer guten Taten begegnen ihr die Menschen im Dorf mit Misstrauen, Furcht und Ablehnung. Dann eskaliert plötzlich die Situation.
Klappentext zu „Die Töchter der Heilerin “
Lancashire, 16. Jahrhundert: Die Witwe Demdike lebt mit ihrer Tochter Liza in einem Turm am Rand des Pendle Forest. Die Menschen tuscheln, wenn sie vorübergehen. Denn die beiden Frauen sind etwas Besonderes: Sie können heilen, und sie können Geheimnisse lüften. Diese Fähigkeiten bringen sie jedoch in Gefahr. Denn zur Zeit der Hexenverfolgung ist der Grat zwischen guter Magie und Hexerei schmal.
Lese-Probe zu „Die Töchter der Heilerin “
Die Töchter der Heilerin von Mary Sharratt Sie war ein uraltes Weib von etwa achtzig Jahren, und fünfzig davon eine Hexe. Im Pendle Forest lebte sie, einem riesigen Wald, der günstig war für ihr Gewerbe. Niemand weiß, was sie zu ihrer Zeit alles verbrochen hat . . . Sie war die Statthalterin des Teufels in diesem ganzen Landstrich, und niemand entkam ihr oder ihren Furien.
Thomas Potts, The Wonderfull Discoverie of Witches in the County of Lancaster, 1613
Zauberspruch
Zu Karfreitag werde ich fasten, bis ich sie höre läuten, die Glocke unsres Herrn. Der Herr sitzt beim Abendmahl mit seinen zwölf guten Aposteln. Was hält er in der Hand? Einen goldenen Stab. Was hält er in der anderen Hand? Den Schlüssel zum Himmelstore. Tut auf, tut auf, Schlüssel zum Himmel. Bleib geschlossen, Höllentor. Lasst das Christuskind zu seiner Mutter lind. Was leuchtet dort so wundersam? Mein eigener lieber Sohn ans Holz geschlagen, weh angeschlagen mit Herz und Hand, die Dornenkrone auf dem Haupt. Wohl dem Manne, der sein Kind diesen Freitagszauber lehrt. EinKreuz vonBlau, einKreuz vonRot. Als der gute Gott am Kreuze hing legte Gabrielsich zum Schlafen nieder Auf den heil'gen Trauergrund. Da kam der gute Gott des Wegs: Schläfst du, wachst du, Gabriel?
Nein, Herr, an Pflock und Pfahl bin ich geschlagen, dass ich nicht schlafen kann, nicht wachen. Steh auf, Gabriel, und komm mit mir nicht Pflock noch Pfahl sollen dich halten hier.
Ein Spruch, um eine verhexte Person zu heilen. Zugeschrieben Elizabeth Southerns' Familie und aufgezeichnet von Thomas Potts während der Hexenprozesse des Jahres 1612 in Lancaster.
I Abenddämmerung Bess Southerns
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1
1610
Seht uns hier versammelt, drei Frauen an Richard Baldwins Tor. Bei mir sind meine Tochter, die scheeläugige Liza, und meine Enkelin Alizon, die gerade fünfzehn ist und strahlend wie die Mittagssonne; so hell, dass sie die Dunkelheit meines versagenden Augenlichts durchdringt. Demdike nennen mich die Leute, nach dem verfluchten Bach nahe meiner Wohnstatt, wo die Bauern vor der Schur ihre Schafe waschen. Als ich noch jünger war und kräftiger, pflegte ich beim Waschen der Schafe zu helfen. Hatte nicht einmal Angst vor den wildesten Böcken. Ich konnte seit jeher alle Wesen beruhigen, indem ich leise und sanft mit ihnen sprach. Und obwohl ich jetzt alt bin, verkrüppelt und fast blind, ist mein Gedächtnis lang wie ein Mittsommertag, und mit meinem inneren Auge sehe ich klar.
Wir drei warten, bis Baldwin einen Blick auf uns erhascht und herausgestürmt kommt. Durch den milchigen Schleier, den das Alter über meine Augen geworfen hat, erkenne ich seine Gestalt. Dürr wie ein toter, ausgetrockneter Stecken ist er, mit verkniffenem Gesicht, und trägt die nüchternen schwarzen Kleider eines Puritaners. Dick Baldwin hält sich für einen gottesfürchtigen Mann. Ein lauter Knall auf den Boden - er hat eine Pferdepeitsche bei sich. Meine Tochter zuckt zusammen, als er sie auf die von der Dürre gehärtete Erde schnellen lässt. »Huren und Hexen«, keift er so schrill, dass Raben auffliegen würden von seiner Stimme. »Weg von meinem Land.« Ich spüre den Luftzug im Gesicht, als er seine Peitsche schwingt, um uns Angst zu machen, aber ich spüre sein Entsetzen, als ich Alizons Hand, die mich führt, loslasse und vortrete. Fest und sicher stehe ich vor ihm auf meinen mit Lumpen umwickelten Füßen. Wir sind nur gekommen, um zu verlangen, was uns rechtmäßig zusteht.
»Huren und Hexen«, beschimpft er uns noch einmal und schreit so grimmig, dass sein Speichel auf mich spritzt. »Die eine verbrenn' ich, die andere knüpf' ich auf.« Er spricht zu Liza und mir und beachtet die junge Alizon nicht, denn er wagt dieses Mädchen nicht einmal anzusehen, dessen Schönheit und bitterer Hunger genug wären, um ihn auf seine knotigen Knie sinken zu lassen. Ich trete noch einen Schritt vor und zwinge ihn, vor mir zurückzuweichen. Der Mann hat sogar Angst, dass mein Atem ihn berührt. »Deine Worte fechten mich nicht an«, sage ich zu ihm. »Häng dich doch selbst auf.«
Unser Master Baldwin spielt den rechtschaffenen Kirchenmann, aber das, was ich über ihn weiß, würde seinen guten Namen in alle Ewigkeit besudeln. Da kann er seine Psalmen herunterleiern, bis er heiser wird, für ihn wird sich das Himmelstor niemals öffnen. Ich weiß es, er weiß es, und wegen dieses Wissens fürchtet und hasst er mich. Unter seinen schwarzen Kleidern schlägt ein noch schwärzeres Herz. Hat meine Liza angestellt, damit sie Wolle kämmt, der Baldwin, und wollte sie dann nicht entlohnen. Und damit nicht genug, unsere Liza hat noch viel mehr für ihn getan, als Wolle zu kämmen. Puritaner oder nicht, er hat sein Vergnügen mit ihr gehabt, und unsere Liza, die einsam war und um ihren armen ermordeten Mann trauerte, der jetzt zehn Jahre tot ist, war so weichherzig und hat ihn gewähren lassen. Törichtes Mädchen.
»Genug jetzt«, sage ich. »Liza hat Eure Wolle gekämmt. Wo bleibt ihr Lohn? Wir sind arme, hungrige Leute. Wollt Ihr uns verhungern lassen in Eurem Geiz?« Ich spreche in einem leisen, warnenden Ton, nicht unähnlich dem Knurren eines Hundes, bevor er beißt. Männer wie er sollten wissen, dass sie meinesgleichen besser nicht verärgern. Ich bin in ganz Pendle Forest als weise Frau bekannt, in deren Macht es steht zu segnen, aber auch zu verfluchen. Master Baldwin gibt mir die Schuld, weil seine Tochter Ellen zu schwach ist, um von ihrem Bett aufzustehen. Das Mädchen war vom Tag seiner Geburt an blässlich und schwindsüchtig und ihre ganzen neun Jahre lang nie gesund. Einmal hat er mich gerufen, damit ich sie heilen sollte. Ich wischte ihr die Stirn ab, braute ihr einen Trank aus Mutterkraut und Lungenkraut, aber dennoch kränkelte und zitterte sie. Hab mein Bestes versucht, aber manche Kranken kann man nicht heilen. Doch Baldwin glaubt, ich hätte das Mädel aus Bosheit verhext. Warum sollte ich dem armen Mädchen ein Haar krümmen, wo doch seine andere Tochter, die, die er nicht anspricht und die er nicht einmal anschauen will, meine jüngste Enkelin ist, Jennet mit ihren sieben Jahren?
»Richard.« Meine Liza fasst sich ein Herz und tritt auf ihn zu. Flehentlich streckt sie eine Hand aus. »Hab ein Herz. Um unserer Jennet willen. Wir haben nichts mehr zu essen im Haus.« Doch er dreht sich in kalter Furcht von ihr weg und will sie immer noch nicht entlohnen für ihre ehrliche Arbeit, gibt uns keinen Penny. Was kann ich tun? Nur versprechen, dass ich für ihn beten werde, bis er sich eines Besseren besinnt? Halblaut, damit seine puritanischen Ohren es nicht hören, murmle ich die lateinischen Verse des alten Glaubens. Wie er erbleicht und zittert bei meinen geflüsterten Worten - glaubt er denn, dass er tot umfällt davon? Er macht sich auf, zurück zum Haus. Hinter seiner verriegelten Tür wird er sich verstecken, bis er ganz sicher ist, dass wir fort sind.
»Komm, Gran.« Alizon fasst mich am Arm, um mich nach Hause zu führen. In diesem dunklen Herbst meiner Jahre komme ich ohne sie nicht mehr herum. Doch vor meinem inneren Auge sehe ich Tibb auf der Bruchsteinmauer sitzen. Die Sonne bricht durch die Wolken und übergießt sein listiges Gesicht mit goldenem Licht. Dick Baldwin würde ihn einen Teufel nennen, oder sogar den Teufel, aber ich weiß es besser. Tibb, dessen schöne Gestalt für niemanden sichtbar ist außer für mich.
»Allgemein halte ich ja nichts von Schadenzaubern«, lässt Tibb sich vernehmen und streckt die langen Beine aus. »Aber wer könnte es dir übelnehmen, Master Baldwin zu verfluchen, nach allem, was er dir und den Deinen angetan hat?« Er lächelt strahlend. »Willst du Rache?«
»Nein, Tibb. Nur Gerechtigkeit.« Ich spreche mit meiner inneren Stimme, die nur Tibb hören kann. Wenn Baldwin krank werden und sterben würde, was würde dann aus seiner ehelichen Tochter, Ellen? Ihre Mutter ist schon lange tot. Noch so ein armes Mädel, das sein Leben von den Almosen der Gemeinde fristen müsste. Nein, diese Last will ich mir nicht auf die Seele laden. »Gerechtigkeit!« Tibb lacht und schüttelt dann den Kopf. »Von Dick Baldwin und seinesgleichen? Oh, du hast dir viel vorgenommen. «
Tibbs Lachen lässt die Jahre dahinschmelzen und versetzt mich zurück in die alten Zeiten, als ich mit meinen eigenen Augen weit sehen und auf meinen eigenen Beinen gehen konnte und niemanden brauchte, der mich führt.
2
1582
In der Abenddämmerung sah ich ihn zum ersten Mal, einen Knaben, der aus dem Steinbruch in Goldshaw geklettert kam. Die untergehende Sonne ließ sein blondes Haar aufleuchten. Schlank war er und so jung und schön. Und rein. Er hatte nichts Niederträchtiges an sich, keine Tücke oder Bosheit. Ich wusste gleich, dass er mich nicht anspucken würde, weil ich ein barfüßiges Bettelweib war. Er würde mich nicht mit Flüchen überschütten oder versuchen,michinden Straßengrabenzustoßen. Da waretwas in seinen Augen; eine Sanftheit, ein Wissen. Wenn er mich ansah, schienen sich meine schmerzenden Knie in Butter zu verwandeln. Wenn er lächelte, zerschmolz etwas tief in meinem Inneren, und mein Herz schlug, pochte und polterte, bis ich beinahe ohnmächtig wurde. Was sollte so ein Bursche von einer fünfzigjährigen Witwe wie mir wollen? Es war Mai, doch ein kalter Abend. Sein Rock war halb schwarz, halb braun. Bei mir dachte ich, dass er genauso arm sein musste wie ich, denn da bleibt einem nichts anderes übrig, als seine Kleider aus verschiedenfarbigen Lumpen zusammenzunähen. Er streckte die Hand aus, als wollte er einen alten Freund begrüßen. »Elizabeth«, sagte er. »Meine Bess.« Die Namen, unter denen ich als Mädchen mit schlanker Taille, starken Beinen und wallendem kastanienbraunen Haar bekannt war. Woher kannte er meine wahren Namen? Auch damals war ich den meisten schon als Demdike bekannt. Der Knabe lächelte strahlend, mit sauberen weißen Zähnen, von denen keiner fehlte, und seine Augen blitzten teuflisch, so als wäre ich noch diese junge Frau, deren Haut war wie frische Milch. »Na so was«, sagte ich, denn ich war niemals jemand, der lange schweigen konnte. »Du kennst also meinen Namen. Und wie heißt du?«
»Tibb«, sagte er. »Dein Familienname.« Ich nickte, obwohl ich in Pendle Forest keine Tibbs kannte. »Und dein Rufname?« Schließlich, dachte ich, kannte er auch meinen, Gott weiß, woher. Er hob das Gesicht dem rötlich glühenden Himmel entgegen und lachte, als die Sonne endgültig hinter dem Pendle Hill versank. Dann hörte ich hinter mir ein Geräusch: das verblüffte Kreischen eines auffliegenden Fasans. Als ich mich wieder zu dem Burschen umwandte, war er verschwunden. Ich schaute den Weg auf und ab, doch ich entdeckte ihn nirgendwo, konnte nicht einmal seine Fußabdrücke auf dem schlammigen Pfad erkennen. Ließ mein Verstand mich im Stich? War der Knabe überhaupt wirklich gewesen? Da wurde mir ängstlich zumute, und mich fror am ganzen Körper, als hätte sich Reif über meine Haut gelegt.
Zuerst erzählte ich niemandem von Tibb. Wer hätte mir auch geglaubt, da ich es ja selbst kaum fassen konnte? Ich hegte nicht den Wunsch, mich noch mehr zum Gespött zu machen, als ich es ohnehin schon war. Mein Mann Ned Southerns war kurz nach der Geburt unserer schielenden Liza vor neunzehn Jahren verschieden. Er gab mir die Schuld an der Missbildung unserer Tochter, weil er fand, ich hätte zu viel Umgang mit Tieren gehabt, als ich mit ihr schwanger ging, denn in meinen Ehejahren hielt ich fünf Hühner und sogar eine Milchziege. Ich hatte noch ein Kind, Christopher, der drei Jahre älter war als Liza und nicht von meinem Mann. Er war bei Weitem nicht der einzige Bastard in Pendle Forest. Der Adel und die Freibauern zeugten genauso viele illegitime Kinder wie wir armen Leute; sie verstanden sich nur besser darauf, es zu vertuschen. Liza,Kit undich wohntenineinem altenverfallenen Wachturm am Rande von Pendle Forest. Unser Turm war älter als Adam und so zugig, dass man dort nicht einmal Viehfutter aufbewahren konnte, aber für uns reichte er. Malkin Tower hieß er, und wie Ihr sicher wisst, kann »malkin« entweder »Feldhase« oder »loses Weib« bedeuten. Hätte es einen besseren Platz geben können für mich und meine Brut?
Trotzdem flüsterten die Leute, es sei schon merkwürdig, dass eine wie ich in einem Turm aus dickem Stein lebe, der sich unten am Fuß sogar einer Außenküche mit einer richtigen Feuerstätte rühmen konnte, während manch arme Witwe sich mit einer Kate aus nur einem einzigen Raum ohne Herd, nur mit einer Feuerstelle im nackten Erdboden, begnügen musste. Die Wahrheit ist, dass meiner armen toten Mutter der Turm auf Lebenszeit zugesprochen wurde - Türme, die nach gefallenen Mädchen benannt waren, bargen stets peinliche Geheimnisse. Als meine Mam jung und ansehnlich war, diente sie bei den Nowells von Read Hall. Sie war die Tochter des obersten Stallknechts und hatte gute Aussichten und dazu noch eine bescheidene Mitgift. Was hatte sie getan, um den Blick von Master Nowells Sohn auf sich zu ziehen, der damals ein Bursche von siebzehn Jahren war? Die Nowells waren keine alte Familie und nicht halb so bedeutend wie die Shuttleworths von Gawthorpe Hall oder die Lacys aus Clitheroe. Das Vermögen der Nowells war zusammen mit dem Aufschwung des neuen Glaubens gewachsen. Damals, als die Truppen des alten Königs Henry kamen, um die Abtei von Whalley zu brandschatzen, schickten die Nowells ihre Männer, damit sie halfen, die uralten Steinmauern einzureißen. Der König belohnte ihre Treue, indem er den Nowells einen Gutteil der Ländereien der Abtei übertrug. Einer der Söhne des alten Nowell ging ins ferne Cambridgeshire und machte sich einen Namen als puritanischer Gottesmann, so hat man es mir jedenfalls erzählt. Die Nowells lassen landauf, landab verbreiten, sie seien gottesfürchtige Leute. Doch selbst die Frommen sind nicht gefeit vor jugendlicher Torheit.
Meine Mam war, bevor sie in Ungnade fiel, ein rechtschaffenes Mädchen gewesen, daher konnte der junge Master Roger sie nicht so einfach abschieben wie eine Schankmagd. Und so wurde meiner Mam der Malkin Tower auf Lebenszeit zugesprochen, unter der Bedingung, dass sie die Nowells von Read Hall nie wieder behelligte. Er lag so weit von Read entfernt, dass ihr Anblick sie nicht störte, aber nah genug, um sie im Auge zu behalten, für den Fall, dass sie versuchte, deren guten Namen zu beschmutzen. Meine Mam und ich waren niemals achtbar; Achtung kostet Geld, und wir hatten nicht einmal das Schwarze unterm Fingernagel. Wir hatten den Malkin-Turm, in dem wir wohnten, aber nicht das kleinste Stückchen Land, auf dem wir Schafe hätten weiden können. Das Beste, was wir zustande brachten, war ein kleiner Garten auf dem steinigen Boden. Ich glaube, im Lauf der Zeit hatten die Nowells uns ganz vergessen. Als meine Mam - Gott sei ihrer unsterblichen Seele gnädig - starb, war der Turm so verfallen, dass sie ihn anscheinend nicht zurückhaben wollten. Also blieb ich,denn wohin hätte ich mich auch sonst wenden sollen? Anscheinend zogen sie es vor, keinen Umgang mit mir zu pflegen, und es beschämte sie weniger, mich hier hausen zu lassen, ohne dass ich einen Viertelpenny Zins bezahlte.
Mein leiblicher Vater ist vor einigen Jahren glücklich, fett und reich gestorben. Sein ältester Sohn, mein Halbbruder, der ebenfalls Roger heißt, wurde der neue Herr von Read Hall, das zum Teil aus den Steinen erbaut ist, die die Knechte seines Großvaters aus der zerstörten Abtei weggetragen hatten. Mein Halbbruder war ungefähr zwanzig Jahre jünger als ich. Unsere Wege kreuzten sich selten, denn die Nowells gingen zusammen mit den anderen feinen Leuten in Whalley zur Kirche und besuchten niemals die New Church in Goldshaw, in der die Freibauern und der niedere Adel beteten. Aber einmal, an einem Markttag in Colne, bekam ich Roger Nowell zu Gesicht. Er war unverkennbar, wie er da saß, wie ein siegreicher Ritter auf seinem großen Shire-Pferd mit dem blauschwarz schimmernden Fell und den roten Bändern, die in seine Mähne eingeflochten waren. Das war vor einigen Jahren, als das Gesicht meines Halbbruders noch glatt und faltenlos war. Ein ansehnlicher Mann war er und hatte ein kräftiges Kinn, genau wie ich. Ich sah ihn geradewegs an, um festzustellen, ob er seine Blutsverwandte erkennen würde. Aber seine scharfen blauen Augen glitten über mich hinweg, als wäre ich nichts als ein Haufen Unrat.
Im Laufe der Jahre war er ein mächtiger Mann geworden, Magistrat und Friedensrichter. Im Pendle Forest bemühten wir uns, ihn nicht zu verärgern oder ihm irgendeinen Anlass zur Beschwerde zu geben. Da ich eine arme Witwe war, gewährte er mir eine Bettlerlizenz, wohlgemerkt über den Constable, ohne ein Wort mit mir zu sprechen. Und so blieb mir nichts anderes übrig, als über die Wege des Pendle Forest zu wandern und unterwürfig um Essen und um ehrliche Arbeit zu bitten.
Aber die Zeiten, in denen ein Christenmensch sich verpflichtet fühlte, den Armen Almosen zu geben, waren vorbei. Als ich ein kleines Mädchen war,versorgten die Mönche von Whalley Abbey die Bedürftigen mit Essen und mit Kleidung, und die reichen Leute hielten es ebenso, denn wenn sie uns gegenüber geizig waren, würde ihre Seele lange, lange im Fegefeuer leiden. In den alten Zeiten achtete man die Armen, weil unsere Gebete bei Gott besser angesehen waren als die der Reichen. Manch ein Wohlhabender ließ auf dem Totenbett Essen und Almosen an die Ärmsten in der Gemeinde verteilen, wenn sie nur für seine unsterbliche Seele beteten. So hat es mir meine Mam erzählt. Beim Begräbnis erhielten die Armen dann Brot und Allerseelengebäck als milde Gabe. Die Reformierten behaupteten, das Fegefeuer sei Häresie: Es gab nur den Himmel für die Auserwählten und die Hölle für alle anderen; wozu also brauchten die Reichen die Armen zu bestechen, damit sie für sie beteten? Uns einfaches Volk betrachteten sie nicht länger als gottgesegnet, sondern als Plage. Wenn ich um eine bloße Schale Magermilch oder eine Hand voll Hafer bettelte, um Wasserporridge zu kochen, zogen die Hargreaves und die Bannisters und die Mittons die Augenbrauen zusammen und sagten, mein schweres Los sei Gottes Strafe für meine Sünde, weil ich einen Bankert in die Welt gesetzt hatte. Bodenlos geizig waren sie. Sie hatten ja keine Ahnung. Liza, mein ehelich gezeugtes Kind, war missgebildet, weil ihr Vater, mein Mann, mir keine nennenswerte Lust geschenkt hatte, während Kit, mein Bastard, der aus Leidenschaft und Begehren geboren war, groß, schön und wohlgestalt war wie eine Lärche. Aber ach, die Puritaner sahen nur, was sie sehen wollten. Ihre sogenannte Wohltätigkeit bestand größtenteils aus einem halben Laib harten Brots, wofür ich einen ganzen Tag schmutzige Unterwäsche zu waschen hatte.
Doch sogar das würde ich ihnen vergeben, wenn sie mein Leben nicht seines Trosts und seiner Freude beraubt hätten. In den alten Zeiten hatten wir Heilige für alles: Margaret half im Kindbett, Anne bot Schutz bei Gewitter, Anthony bewahrte vor Feuer, George heilte Pferde und beschützte sie vor Hexerei. Der alte König Henry verbot uns, vor den Heiligen Kerzen anzuzünden, aber wenigstens ließ er uns die Altäre. In den alten Zeiten wurden wir auch nicht gezwungen, zur Kirche zu gehen, nicht einmal zur Kommunion an Ostern. Das Kirchenschiff gehörte uns, den einfachen Leuten, und es war unser gemeinsames zweites Heim. Ein aus Eichenholz geschnitztes Altargitter, hinter dessen Bogen der Priester stand, wenn er die Messe hielt, trennte das Kirchenschiff vom Altarraum mit dem Hochaltar. Und wir standen während der Messe auch nicht feierlich und verbissen herum, sondern wanderten im Schiff umher, gingen von einem Heiligenaltar zum anderen und betrachteten die Bilder und Statuen, bis der Priester die Glocke läutete und dann die Hostie in die Höhe hielt, damit alle sie sehen konnten; die einfache Oblate, die durch ein herrliches Wunder in Leib und Blut Christi verwandelt worden war. Man brauchte die Hostie nur anzusehen und war gefeit vor Hexerei, Pest und plötzlichem Tod.
Als ich zwölf war, wurde die New Church of St. Mary's in Goldshaw vollendet und ersetzte die alte, verfallene Hilfskirche, in der ich getauft worden war. Der Bischof kam aus Chester und weihte sie gerade noch rechtzeitig zu Allerseelen, und dann läuteten wir die ganze Nacht die Glocken, um unseren Toten Trost zu schenken.
Damals hatten wir noch unsere Feiertage. Weihnachten dauerte zwölf Tage und Nächte, und Vermummte und Leute, die Tiermasken trugen, tanzten im Licht der Fackeln. Der Hofnarr, ein Mann von niederer Geburt, spielte vor dem Adel den großen Herrn und brachte die armen Leute zum Lachen. Die Towneleys von Carr Hall pflegten alle ihre Nachbarn, arm und reich gleichermaßen, zu ihren Festlichkeiten einzuladen. Am Palmsonntag versammelte sich die ganze Gemeinde zu einer Prozession durch die Felder, um sie fruchtbar zu machen. Nachdem es dunkel war, gingen die jungen Leute hinaus, um das Land auf ihre eigene Art zu segnen. Jeder wusste, was vor sich ging, aber niemand hinderte sie daran. Wenn ein Mädel und sein junger Mann nachher eilig vor den Altar treten mussten, dachte deswegen niemand schlecht von ihnen. Ich ging zusammen mit den anderen Mädchen, Arm in Arm mit meiner besten Freundin Anne Whittle, und wir beide trugen grüne Kränze und sangen. Anne hatte kirschrote Lippen und hatte gern ihren Spaß mit den Burschen; aber ich dachte an das Los meiner Mutter und tat damals nichts, was über Küssen und Schäkern hinausgegangen wäre. Erst später in meinem Leben kam ich vom rechten Weg ab, als ich eine verheiratete Frau war und schmerzlich unbefriedigt und mir mein Vergnügen anderswo suchte.
In meiner Jugend standen wir am Morgen des 1. Mai vor Sonnenaufgang auf, um Weißdorn und Waldmeister zu sammeln. Wir tanzten um den Maibaum und tranken Holunderwein, bis sich sogar der Himmel drehte. Zu Mittsommer, in der Johannisnacht, brachten wir Birkenzweige in die Kirche, bis unsere Kapelle aussah wie ein Hain. Die Johannisfeuer brannten die ganze Nacht. Manche Leute verbrannten Knochen statt Holz, um mit dem Gestank böse Wesen von den heranreifenden Feldfrüchten zu vertreiben. Die meisten von uns versammelten sich jedoch um das Feuer aus süß duftendem Apfelholz, wo wir die ganze Nacht tanzten und uns bei Sonnenaufgang ins Gras sinken ließen. Zu Lammas, dem Schnitterfest, krönten die Schnitter die Erntekönigin, und in einem Jahr, bei der Jungfrau Maria, war ich es, die als Mädchen von fünfzehn Jahren mit Rosen und Gerste gekrönt wurde, und die Burschen flehten mich an um einen Kuss.
Übersetzung: Barbara Röhl
© Copyright . 2012 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
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1610
Seht uns hier versammelt, drei Frauen an Richard Baldwins Tor. Bei mir sind meine Tochter, die scheeläugige Liza, und meine Enkelin Alizon, die gerade fünfzehn ist und strahlend wie die Mittagssonne; so hell, dass sie die Dunkelheit meines versagenden Augenlichts durchdringt. Demdike nennen mich die Leute, nach dem verfluchten Bach nahe meiner Wohnstatt, wo die Bauern vor der Schur ihre Schafe waschen. Als ich noch jünger war und kräftiger, pflegte ich beim Waschen der Schafe zu helfen. Hatte nicht einmal Angst vor den wildesten Böcken. Ich konnte seit jeher alle Wesen beruhigen, indem ich leise und sanft mit ihnen sprach. Und obwohl ich jetzt alt bin, verkrüppelt und fast blind, ist mein Gedächtnis lang wie ein Mittsommertag, und mit meinem inneren Auge sehe ich klar.
Wir drei warten, bis Baldwin einen Blick auf uns erhascht und herausgestürmt kommt. Durch den milchigen Schleier, den das Alter über meine Augen geworfen hat, erkenne ich seine Gestalt. Dürr wie ein toter, ausgetrockneter Stecken ist er, mit verkniffenem Gesicht, und trägt die nüchternen schwarzen Kleider eines Puritaners. Dick Baldwin hält sich für einen gottesfürchtigen Mann. Ein lauter Knall auf den Boden - er hat eine Pferdepeitsche bei sich. Meine Tochter zuckt zusammen, als er sie auf die von der Dürre gehärtete Erde schnellen lässt. »Huren und Hexen«, keift er so schrill, dass Raben auffliegen würden von seiner Stimme. »Weg von meinem Land.« Ich spüre den Luftzug im Gesicht, als er seine Peitsche schwingt, um uns Angst zu machen, aber ich spüre sein Entsetzen, als ich Alizons Hand, die mich führt, loslasse und vortrete. Fest und sicher stehe ich vor ihm auf meinen mit Lumpen umwickelten Füßen. Wir sind nur gekommen, um zu verlangen, was uns rechtmäßig zusteht.
»Huren und Hexen«, beschimpft er uns noch einmal und schreit so grimmig, dass sein Speichel auf mich spritzt. »Die eine verbrenn' ich, die andere knüpf' ich auf.« Er spricht zu Liza und mir und beachtet die junge Alizon nicht, denn er wagt dieses Mädchen nicht einmal anzusehen, dessen Schönheit und bitterer Hunger genug wären, um ihn auf seine knotigen Knie sinken zu lassen. Ich trete noch einen Schritt vor und zwinge ihn, vor mir zurückzuweichen. Der Mann hat sogar Angst, dass mein Atem ihn berührt. »Deine Worte fechten mich nicht an«, sage ich zu ihm. »Häng dich doch selbst auf.«
Unser Master Baldwin spielt den rechtschaffenen Kirchenmann, aber das, was ich über ihn weiß, würde seinen guten Namen in alle Ewigkeit besudeln. Da kann er seine Psalmen herunterleiern, bis er heiser wird, für ihn wird sich das Himmelstor niemals öffnen. Ich weiß es, er weiß es, und wegen dieses Wissens fürchtet und hasst er mich. Unter seinen schwarzen Kleidern schlägt ein noch schwärzeres Herz. Hat meine Liza angestellt, damit sie Wolle kämmt, der Baldwin, und wollte sie dann nicht entlohnen. Und damit nicht genug, unsere Liza hat noch viel mehr für ihn getan, als Wolle zu kämmen. Puritaner oder nicht, er hat sein Vergnügen mit ihr gehabt, und unsere Liza, die einsam war und um ihren armen ermordeten Mann trauerte, der jetzt zehn Jahre tot ist, war so weichherzig und hat ihn gewähren lassen. Törichtes Mädchen.
»Genug jetzt«, sage ich. »Liza hat Eure Wolle gekämmt. Wo bleibt ihr Lohn? Wir sind arme, hungrige Leute. Wollt Ihr uns verhungern lassen in Eurem Geiz?« Ich spreche in einem leisen, warnenden Ton, nicht unähnlich dem Knurren eines Hundes, bevor er beißt. Männer wie er sollten wissen, dass sie meinesgleichen besser nicht verärgern. Ich bin in ganz Pendle Forest als weise Frau bekannt, in deren Macht es steht zu segnen, aber auch zu verfluchen. Master Baldwin gibt mir die Schuld, weil seine Tochter Ellen zu schwach ist, um von ihrem Bett aufzustehen. Das Mädchen war vom Tag seiner Geburt an blässlich und schwindsüchtig und ihre ganzen neun Jahre lang nie gesund. Einmal hat er mich gerufen, damit ich sie heilen sollte. Ich wischte ihr die Stirn ab, braute ihr einen Trank aus Mutterkraut und Lungenkraut, aber dennoch kränkelte und zitterte sie. Hab mein Bestes versucht, aber manche Kranken kann man nicht heilen. Doch Baldwin glaubt, ich hätte das Mädel aus Bosheit verhext. Warum sollte ich dem armen Mädchen ein Haar krümmen, wo doch seine andere Tochter, die, die er nicht anspricht und die er nicht einmal anschauen will, meine jüngste Enkelin ist, Jennet mit ihren sieben Jahren?
»Richard.« Meine Liza fasst sich ein Herz und tritt auf ihn zu. Flehentlich streckt sie eine Hand aus. »Hab ein Herz. Um unserer Jennet willen. Wir haben nichts mehr zu essen im Haus.« Doch er dreht sich in kalter Furcht von ihr weg und will sie immer noch nicht entlohnen für ihre ehrliche Arbeit, gibt uns keinen Penny. Was kann ich tun? Nur versprechen, dass ich für ihn beten werde, bis er sich eines Besseren besinnt? Halblaut, damit seine puritanischen Ohren es nicht hören, murmle ich die lateinischen Verse des alten Glaubens. Wie er erbleicht und zittert bei meinen geflüsterten Worten - glaubt er denn, dass er tot umfällt davon? Er macht sich auf, zurück zum Haus. Hinter seiner verriegelten Tür wird er sich verstecken, bis er ganz sicher ist, dass wir fort sind.
»Komm, Gran.« Alizon fasst mich am Arm, um mich nach Hause zu führen. In diesem dunklen Herbst meiner Jahre komme ich ohne sie nicht mehr herum. Doch vor meinem inneren Auge sehe ich Tibb auf der Bruchsteinmauer sitzen. Die Sonne bricht durch die Wolken und übergießt sein listiges Gesicht mit goldenem Licht. Dick Baldwin würde ihn einen Teufel nennen, oder sogar den Teufel, aber ich weiß es besser. Tibb, dessen schöne Gestalt für niemanden sichtbar ist außer für mich.
»Allgemein halte ich ja nichts von Schadenzaubern«, lässt Tibb sich vernehmen und streckt die langen Beine aus. »Aber wer könnte es dir übelnehmen, Master Baldwin zu verfluchen, nach allem, was er dir und den Deinen angetan hat?« Er lächelt strahlend. »Willst du Rache?«
»Nein, Tibb. Nur Gerechtigkeit.« Ich spreche mit meiner inneren Stimme, die nur Tibb hören kann. Wenn Baldwin krank werden und sterben würde, was würde dann aus seiner ehelichen Tochter, Ellen? Ihre Mutter ist schon lange tot. Noch so ein armes Mädel, das sein Leben von den Almosen der Gemeinde fristen müsste. Nein, diese Last will ich mir nicht auf die Seele laden. »Gerechtigkeit!« Tibb lacht und schüttelt dann den Kopf. »Von Dick Baldwin und seinesgleichen? Oh, du hast dir viel vorgenommen. «
Tibbs Lachen lässt die Jahre dahinschmelzen und versetzt mich zurück in die alten Zeiten, als ich mit meinen eigenen Augen weit sehen und auf meinen eigenen Beinen gehen konnte und niemanden brauchte, der mich führt.
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1582
In der Abenddämmerung sah ich ihn zum ersten Mal, einen Knaben, der aus dem Steinbruch in Goldshaw geklettert kam. Die untergehende Sonne ließ sein blondes Haar aufleuchten. Schlank war er und so jung und schön. Und rein. Er hatte nichts Niederträchtiges an sich, keine Tücke oder Bosheit. Ich wusste gleich, dass er mich nicht anspucken würde, weil ich ein barfüßiges Bettelweib war. Er würde mich nicht mit Flüchen überschütten oder versuchen,michinden Straßengrabenzustoßen. Da waretwas in seinen Augen; eine Sanftheit, ein Wissen. Wenn er mich ansah, schienen sich meine schmerzenden Knie in Butter zu verwandeln. Wenn er lächelte, zerschmolz etwas tief in meinem Inneren, und mein Herz schlug, pochte und polterte, bis ich beinahe ohnmächtig wurde. Was sollte so ein Bursche von einer fünfzigjährigen Witwe wie mir wollen? Es war Mai, doch ein kalter Abend. Sein Rock war halb schwarz, halb braun. Bei mir dachte ich, dass er genauso arm sein musste wie ich, denn da bleibt einem nichts anderes übrig, als seine Kleider aus verschiedenfarbigen Lumpen zusammenzunähen. Er streckte die Hand aus, als wollte er einen alten Freund begrüßen. »Elizabeth«, sagte er. »Meine Bess.« Die Namen, unter denen ich als Mädchen mit schlanker Taille, starken Beinen und wallendem kastanienbraunen Haar bekannt war. Woher kannte er meine wahren Namen? Auch damals war ich den meisten schon als Demdike bekannt. Der Knabe lächelte strahlend, mit sauberen weißen Zähnen, von denen keiner fehlte, und seine Augen blitzten teuflisch, so als wäre ich noch diese junge Frau, deren Haut war wie frische Milch. »Na so was«, sagte ich, denn ich war niemals jemand, der lange schweigen konnte. »Du kennst also meinen Namen. Und wie heißt du?«
»Tibb«, sagte er. »Dein Familienname.« Ich nickte, obwohl ich in Pendle Forest keine Tibbs kannte. »Und dein Rufname?« Schließlich, dachte ich, kannte er auch meinen, Gott weiß, woher. Er hob das Gesicht dem rötlich glühenden Himmel entgegen und lachte, als die Sonne endgültig hinter dem Pendle Hill versank. Dann hörte ich hinter mir ein Geräusch: das verblüffte Kreischen eines auffliegenden Fasans. Als ich mich wieder zu dem Burschen umwandte, war er verschwunden. Ich schaute den Weg auf und ab, doch ich entdeckte ihn nirgendwo, konnte nicht einmal seine Fußabdrücke auf dem schlammigen Pfad erkennen. Ließ mein Verstand mich im Stich? War der Knabe überhaupt wirklich gewesen? Da wurde mir ängstlich zumute, und mich fror am ganzen Körper, als hätte sich Reif über meine Haut gelegt.
Zuerst erzählte ich niemandem von Tibb. Wer hätte mir auch geglaubt, da ich es ja selbst kaum fassen konnte? Ich hegte nicht den Wunsch, mich noch mehr zum Gespött zu machen, als ich es ohnehin schon war. Mein Mann Ned Southerns war kurz nach der Geburt unserer schielenden Liza vor neunzehn Jahren verschieden. Er gab mir die Schuld an der Missbildung unserer Tochter, weil er fand, ich hätte zu viel Umgang mit Tieren gehabt, als ich mit ihr schwanger ging, denn in meinen Ehejahren hielt ich fünf Hühner und sogar eine Milchziege. Ich hatte noch ein Kind, Christopher, der drei Jahre älter war als Liza und nicht von meinem Mann. Er war bei Weitem nicht der einzige Bastard in Pendle Forest. Der Adel und die Freibauern zeugten genauso viele illegitime Kinder wie wir armen Leute; sie verstanden sich nur besser darauf, es zu vertuschen. Liza,Kit undich wohntenineinem altenverfallenen Wachturm am Rande von Pendle Forest. Unser Turm war älter als Adam und so zugig, dass man dort nicht einmal Viehfutter aufbewahren konnte, aber für uns reichte er. Malkin Tower hieß er, und wie Ihr sicher wisst, kann »malkin« entweder »Feldhase« oder »loses Weib« bedeuten. Hätte es einen besseren Platz geben können für mich und meine Brut?
Trotzdem flüsterten die Leute, es sei schon merkwürdig, dass eine wie ich in einem Turm aus dickem Stein lebe, der sich unten am Fuß sogar einer Außenküche mit einer richtigen Feuerstätte rühmen konnte, während manch arme Witwe sich mit einer Kate aus nur einem einzigen Raum ohne Herd, nur mit einer Feuerstelle im nackten Erdboden, begnügen musste. Die Wahrheit ist, dass meiner armen toten Mutter der Turm auf Lebenszeit zugesprochen wurde - Türme, die nach gefallenen Mädchen benannt waren, bargen stets peinliche Geheimnisse. Als meine Mam jung und ansehnlich war, diente sie bei den Nowells von Read Hall. Sie war die Tochter des obersten Stallknechts und hatte gute Aussichten und dazu noch eine bescheidene Mitgift. Was hatte sie getan, um den Blick von Master Nowells Sohn auf sich zu ziehen, der damals ein Bursche von siebzehn Jahren war? Die Nowells waren keine alte Familie und nicht halb so bedeutend wie die Shuttleworths von Gawthorpe Hall oder die Lacys aus Clitheroe. Das Vermögen der Nowells war zusammen mit dem Aufschwung des neuen Glaubens gewachsen. Damals, als die Truppen des alten Königs Henry kamen, um die Abtei von Whalley zu brandschatzen, schickten die Nowells ihre Männer, damit sie halfen, die uralten Steinmauern einzureißen. Der König belohnte ihre Treue, indem er den Nowells einen Gutteil der Ländereien der Abtei übertrug. Einer der Söhne des alten Nowell ging ins ferne Cambridgeshire und machte sich einen Namen als puritanischer Gottesmann, so hat man es mir jedenfalls erzählt. Die Nowells lassen landauf, landab verbreiten, sie seien gottesfürchtige Leute. Doch selbst die Frommen sind nicht gefeit vor jugendlicher Torheit.
Meine Mam war, bevor sie in Ungnade fiel, ein rechtschaffenes Mädchen gewesen, daher konnte der junge Master Roger sie nicht so einfach abschieben wie eine Schankmagd. Und so wurde meiner Mam der Malkin Tower auf Lebenszeit zugesprochen, unter der Bedingung, dass sie die Nowells von Read Hall nie wieder behelligte. Er lag so weit von Read entfernt, dass ihr Anblick sie nicht störte, aber nah genug, um sie im Auge zu behalten, für den Fall, dass sie versuchte, deren guten Namen zu beschmutzen. Meine Mam und ich waren niemals achtbar; Achtung kostet Geld, und wir hatten nicht einmal das Schwarze unterm Fingernagel. Wir hatten den Malkin-Turm, in dem wir wohnten, aber nicht das kleinste Stückchen Land, auf dem wir Schafe hätten weiden können. Das Beste, was wir zustande brachten, war ein kleiner Garten auf dem steinigen Boden. Ich glaube, im Lauf der Zeit hatten die Nowells uns ganz vergessen. Als meine Mam - Gott sei ihrer unsterblichen Seele gnädig - starb, war der Turm so verfallen, dass sie ihn anscheinend nicht zurückhaben wollten. Also blieb ich,denn wohin hätte ich mich auch sonst wenden sollen? Anscheinend zogen sie es vor, keinen Umgang mit mir zu pflegen, und es beschämte sie weniger, mich hier hausen zu lassen, ohne dass ich einen Viertelpenny Zins bezahlte.
Mein leiblicher Vater ist vor einigen Jahren glücklich, fett und reich gestorben. Sein ältester Sohn, mein Halbbruder, der ebenfalls Roger heißt, wurde der neue Herr von Read Hall, das zum Teil aus den Steinen erbaut ist, die die Knechte seines Großvaters aus der zerstörten Abtei weggetragen hatten. Mein Halbbruder war ungefähr zwanzig Jahre jünger als ich. Unsere Wege kreuzten sich selten, denn die Nowells gingen zusammen mit den anderen feinen Leuten in Whalley zur Kirche und besuchten niemals die New Church in Goldshaw, in der die Freibauern und der niedere Adel beteten. Aber einmal, an einem Markttag in Colne, bekam ich Roger Nowell zu Gesicht. Er war unverkennbar, wie er da saß, wie ein siegreicher Ritter auf seinem großen Shire-Pferd mit dem blauschwarz schimmernden Fell und den roten Bändern, die in seine Mähne eingeflochten waren. Das war vor einigen Jahren, als das Gesicht meines Halbbruders noch glatt und faltenlos war. Ein ansehnlicher Mann war er und hatte ein kräftiges Kinn, genau wie ich. Ich sah ihn geradewegs an, um festzustellen, ob er seine Blutsverwandte erkennen würde. Aber seine scharfen blauen Augen glitten über mich hinweg, als wäre ich nichts als ein Haufen Unrat.
Im Laufe der Jahre war er ein mächtiger Mann geworden, Magistrat und Friedensrichter. Im Pendle Forest bemühten wir uns, ihn nicht zu verärgern oder ihm irgendeinen Anlass zur Beschwerde zu geben. Da ich eine arme Witwe war, gewährte er mir eine Bettlerlizenz, wohlgemerkt über den Constable, ohne ein Wort mit mir zu sprechen. Und so blieb mir nichts anderes übrig, als über die Wege des Pendle Forest zu wandern und unterwürfig um Essen und um ehrliche Arbeit zu bitten.
Aber die Zeiten, in denen ein Christenmensch sich verpflichtet fühlte, den Armen Almosen zu geben, waren vorbei. Als ich ein kleines Mädchen war,versorgten die Mönche von Whalley Abbey die Bedürftigen mit Essen und mit Kleidung, und die reichen Leute hielten es ebenso, denn wenn sie uns gegenüber geizig waren, würde ihre Seele lange, lange im Fegefeuer leiden. In den alten Zeiten achtete man die Armen, weil unsere Gebete bei Gott besser angesehen waren als die der Reichen. Manch ein Wohlhabender ließ auf dem Totenbett Essen und Almosen an die Ärmsten in der Gemeinde verteilen, wenn sie nur für seine unsterbliche Seele beteten. So hat es mir meine Mam erzählt. Beim Begräbnis erhielten die Armen dann Brot und Allerseelengebäck als milde Gabe. Die Reformierten behaupteten, das Fegefeuer sei Häresie: Es gab nur den Himmel für die Auserwählten und die Hölle für alle anderen; wozu also brauchten die Reichen die Armen zu bestechen, damit sie für sie beteten? Uns einfaches Volk betrachteten sie nicht länger als gottgesegnet, sondern als Plage. Wenn ich um eine bloße Schale Magermilch oder eine Hand voll Hafer bettelte, um Wasserporridge zu kochen, zogen die Hargreaves und die Bannisters und die Mittons die Augenbrauen zusammen und sagten, mein schweres Los sei Gottes Strafe für meine Sünde, weil ich einen Bankert in die Welt gesetzt hatte. Bodenlos geizig waren sie. Sie hatten ja keine Ahnung. Liza, mein ehelich gezeugtes Kind, war missgebildet, weil ihr Vater, mein Mann, mir keine nennenswerte Lust geschenkt hatte, während Kit, mein Bastard, der aus Leidenschaft und Begehren geboren war, groß, schön und wohlgestalt war wie eine Lärche. Aber ach, die Puritaner sahen nur, was sie sehen wollten. Ihre sogenannte Wohltätigkeit bestand größtenteils aus einem halben Laib harten Brots, wofür ich einen ganzen Tag schmutzige Unterwäsche zu waschen hatte.
Doch sogar das würde ich ihnen vergeben, wenn sie mein Leben nicht seines Trosts und seiner Freude beraubt hätten. In den alten Zeiten hatten wir Heilige für alles: Margaret half im Kindbett, Anne bot Schutz bei Gewitter, Anthony bewahrte vor Feuer, George heilte Pferde und beschützte sie vor Hexerei. Der alte König Henry verbot uns, vor den Heiligen Kerzen anzuzünden, aber wenigstens ließ er uns die Altäre. In den alten Zeiten wurden wir auch nicht gezwungen, zur Kirche zu gehen, nicht einmal zur Kommunion an Ostern. Das Kirchenschiff gehörte uns, den einfachen Leuten, und es war unser gemeinsames zweites Heim. Ein aus Eichenholz geschnitztes Altargitter, hinter dessen Bogen der Priester stand, wenn er die Messe hielt, trennte das Kirchenschiff vom Altarraum mit dem Hochaltar. Und wir standen während der Messe auch nicht feierlich und verbissen herum, sondern wanderten im Schiff umher, gingen von einem Heiligenaltar zum anderen und betrachteten die Bilder und Statuen, bis der Priester die Glocke läutete und dann die Hostie in die Höhe hielt, damit alle sie sehen konnten; die einfache Oblate, die durch ein herrliches Wunder in Leib und Blut Christi verwandelt worden war. Man brauchte die Hostie nur anzusehen und war gefeit vor Hexerei, Pest und plötzlichem Tod.
Als ich zwölf war, wurde die New Church of St. Mary's in Goldshaw vollendet und ersetzte die alte, verfallene Hilfskirche, in der ich getauft worden war. Der Bischof kam aus Chester und weihte sie gerade noch rechtzeitig zu Allerseelen, und dann läuteten wir die ganze Nacht die Glocken, um unseren Toten Trost zu schenken.
Damals hatten wir noch unsere Feiertage. Weihnachten dauerte zwölf Tage und Nächte, und Vermummte und Leute, die Tiermasken trugen, tanzten im Licht der Fackeln. Der Hofnarr, ein Mann von niederer Geburt, spielte vor dem Adel den großen Herrn und brachte die armen Leute zum Lachen. Die Towneleys von Carr Hall pflegten alle ihre Nachbarn, arm und reich gleichermaßen, zu ihren Festlichkeiten einzuladen. Am Palmsonntag versammelte sich die ganze Gemeinde zu einer Prozession durch die Felder, um sie fruchtbar zu machen. Nachdem es dunkel war, gingen die jungen Leute hinaus, um das Land auf ihre eigene Art zu segnen. Jeder wusste, was vor sich ging, aber niemand hinderte sie daran. Wenn ein Mädel und sein junger Mann nachher eilig vor den Altar treten mussten, dachte deswegen niemand schlecht von ihnen. Ich ging zusammen mit den anderen Mädchen, Arm in Arm mit meiner besten Freundin Anne Whittle, und wir beide trugen grüne Kränze und sangen. Anne hatte kirschrote Lippen und hatte gern ihren Spaß mit den Burschen; aber ich dachte an das Los meiner Mutter und tat damals nichts, was über Küssen und Schäkern hinausgegangen wäre. Erst später in meinem Leben kam ich vom rechten Weg ab, als ich eine verheiratete Frau war und schmerzlich unbefriedigt und mir mein Vergnügen anderswo suchte.
In meiner Jugend standen wir am Morgen des 1. Mai vor Sonnenaufgang auf, um Weißdorn und Waldmeister zu sammeln. Wir tanzten um den Maibaum und tranken Holunderwein, bis sich sogar der Himmel drehte. Zu Mittsommer, in der Johannisnacht, brachten wir Birkenzweige in die Kirche, bis unsere Kapelle aussah wie ein Hain. Die Johannisfeuer brannten die ganze Nacht. Manche Leute verbrannten Knochen statt Holz, um mit dem Gestank böse Wesen von den heranreifenden Feldfrüchten zu vertreiben. Die meisten von uns versammelten sich jedoch um das Feuer aus süß duftendem Apfelholz, wo wir die ganze Nacht tanzten und uns bei Sonnenaufgang ins Gras sinken ließen. Zu Lammas, dem Schnitterfest, krönten die Schnitter die Erntekönigin, und in einem Jahr, bei der Jungfrau Maria, war ich es, die als Mädchen von fünfzehn Jahren mit Rosen und Gerste gekrönt wurde, und die Burschen flehten mich an um einen Kuss.
Übersetzung: Barbara Röhl
© Copyright . 2012 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
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Bibliographische Angaben
- Autor: Mary Sharratt
- 2012, 1. Aufl., 430 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Röhl, Barbara
- Übersetzer: Barbara Röhl
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404166663
- ISBN-13: 9783404166664
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