Die Töchter von Lorenden
Roman über drei ungleiche Schwestern vor der Kulisse eines englischen Gestüts.
Schon lange haben sich die drei ungleichen Schwestern Felicity, Helena und Lavinia nichts mehr zu sagen. Doch dann stirbt ihr Vater Edward, der...
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Produktinformationen zu „Die Töchter von Lorenden “
Roman über drei ungleiche Schwestern vor der Kulisse eines englischen Gestüts.
Schon lange haben sich die drei ungleichen Schwestern Felicity, Helena und Lavinia nichts mehr zu sagen. Doch dann stirbt ihr Vater Edward, der Besitzer des Reitstalles Lorenden. Zum ersten Mal seit vielen Jahren müssen die Schwestern gemeinsam Entscheidungen treffen. Und dadurch finden sie unerwartet wieder zueinander.
Lese-Probe zu „Die Töchter von Lorenden “
Die Töchter von Lorenden von Nina Bell1
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Bramble Kelly schlief bei aufgezogenen Vorhängen. Das hatte sie von ihrem Vater übernommen, der gern dem Wettergeschehen möglichst nah war, und außerdem konnte sowieso niemand ins Zimmer sehen. Vor ihrem Fenster standen endlose Reihen niedriger Apfelbäume, gespickt mit kleinen, leuchtend roten Äpfeln, von denen etliche vom Baum gefallen waren und nun verloren und unordentlich durcheinanderlagen wie die ausrangierten roten Flanellunterröcke alter Damen. Ihr Vater Edward Beaumont hatte die Obstwiesen vor fünf Jahren verkauft, und die neuen Eigentümer - eine Gesellschaft in Ashford - machten sich häufig nicht die Mühe, das Obst zu ernten.
An diesem Morgen beobachtete Bramble, wie tiefe Nebelschwaden durch die Obstbäume krochen und sich von Stamm zu Stamm schlängelten, als seien sie nach etwas Bestimmtem auf der Suche. Plötzlich vermeinte sie, das Böse zu sehen.
Mit einiger Mühe schloss sie das Fenster, ein wackeliges georgianisches Schiebefenster, das klemmte und klapperte und nur auf genau dosiertes Rütteln reagierte. Für einen kurzen Moment schloss sie die Lider und sagte sich, es handele sich schlicht um frühen Herbstnebel. Und als sie die Augen wieder öffnete, waren die Schwaden verschwunden, und ihr Blick fiel auf die Pferde, die sich am Tor der Koppel drängten und deren Atem als weißer Hauch in die Luft stieg. Auf ihren langen, eleganten Beinen, die wie Sprungfedern wirkten, tänzelten die jungen Tiere unruhig hin und her. Brambles Blick blieb an Sailor haften, einem stattlichen braunen Wallach mit kaschmirweichem Fell, der sich stets irgend-
welchen Unfug einfallen ließ. Er wirkte beunruhigt und verstört.
Zur Brombeerzeit wollten die Tiere einfach nicht mehr so richtig hören, sagte ihr Vater immer. Sie wüssten, dass dann alles im Wandel ist.
»Vermutlich wissen sie eher, dass es Zeit fürs Frühstück ist«, murmelte sie, streifte sich ihre Jeans über und eilte die Treppe hinab.
Unterwegs blieb sie kurz stehen und sah durch das große Bogenfenster über dem Eingang. Lorenden, ihr Geburtshaus, war bereits ein Landgut gewesen, als die Schiffe Elisabeths I. die der Spanier erobert und ausgeplündert hatten. Der Legende nach sollte dieses Haus von der Besatzung eines der siegreichen englischen Schiffe erbaut worden sein. Von jenem elisabethanischen Haus waren allerdings nur noch ein paar gemauerte Kamine übrig, um die herum man zur Zeit Jakobs I. ein neues Haus errichtet hatte. 1753 wurde ihm dann eine georgianische Vorderfront vorgesetzt, die die Tiefe eines Zimmers hatte und dem Haus nach damaligem Geschmack vornehme Größe verleihen sollte.
Die Schichten der Zeit konnte man förmlich fühlen. Jeder einzelne Bewohner hatte ein wenig von sich zurückgelassen. Auf der Rückseite des Hauses befanden sich vier stark geneigte Dachschrägen mit Tonpfannen, vorn hatte ein wohlhabender georgianischer Gutsherr die klassische Fassade mit einem Säulengang als Portal hinzugefügt. So wie jeder Bewohner des Hauses es seit Hunderten von Jahren vor ihr getan hatte, spähte Bramble vom oberen Ende der Treppe durch das Fenster hinaus auf die Kiesauffahrt und auf die Pferde, die jenseits des schmalen Zubringerweges auf der Weide standen.
Doch irgendetwas stimmte an diesem Morgen nicht. Bramble hielt inne und betrachtete aufmerksam die gewohnte Szenerie. Am Ende des Kiesweges befand sich ein weiß gestrichenes Holztor, hinter dem sie die Pferde sah, darunter auch den im Ruhestand befindlichen Olympiasieger Ben, das Pferd ihres Vaters, sowie Patch, das alte Pony ihrer Tochter. Sie hätte nicht sagen können, was genau nicht richtig war. Es gab nichts, worauf sie mit dem Finger hätte zeigen können. Sie seufzte. Vor lauter Müdigkeit malte man sich Katastrophen aus, die gar nicht stattgefunden hatten. Zum Glück war die Wettkampfsaison bald vorbei, und die langen, dunklen, gemütlichen Winterabende nahten. Mit lautem Gepolter lief sie die breite Eichentreppe hinab und spitzte die Ohren, ob sie nicht die Schritte ihres Vaters hörte. Sie hatten sich gestern Abend erbittert gestritten, und sie war immer noch wütend auf ihn.
Unten in der Küche balgten sich die Terrier Mop und Muddle eifrig zu ihren Füßen, und der goldhaarige, elegante Darcy streckte sich träge, gähnte und lächelte ihr aus seinem Körbchen zu. Er sei ein Sofahund, sagte ihr Vater immer scherzhaft, dem man beigebracht hätte, stets als Erster aufs Sofa zu hüpfen. Sie hatten ihn als Welpen gefunden, mit einem Stück Schnur angebunden, die Haut wund vor Räude, während durch das glanzlose Fell seine Rippen zu sehen waren. Diese rücksichtslose, unwissende Grausamkeit hatte Bramble bis ins Innerste berührt, und Darcy hatte in der schmuddeligen Wärme von Lorenden ein Zuhause gefunden.
Falls wirklich irgendetwas nicht stimmte, hätten die Hunde angeschlagen, sagte sich Bramble. Sie kämpfte mit ihren Stiefeln. Sie brauchte dringend ein Paar neue, doch die Rechnung des Hufschmieds ging vor. Während die Hunde vor ihr durch die geöffnete Tür schossen, trat sie hinaus in das feuchte Silberlicht des frühen Septembermorgens und ging zu den Ställen, der Errungenschaft der viktorianischen Beaumonts.
Brambles Urgroßvater war - je nachdem, welcher der Familienlegenden man Glauben schenken wollte - entweder ein Zigeuner, ein Mann aus Cornwall oder der illegitime Spross eines Herzogs. Er hatte als junger Mann mit Pferden eine beträchtliche Summe gewonnen, Lorenden gekauft und es in ein Gestüt verwandelt. Da der echte Landadel für ihn unerreichbar war, heiratete er die einzige Tochter eines ortsansässigen, betuchten Anwalts. Auch sie fügten dem Haus ein Vermächtnis hinzu, indem sie die Obstbäume pflanzten, um ein sicheres Einkommen zu haben. Sie legten Gärten an und bauten Stallungen, die zu einem viel größeren Anwesen gepasst hätten. Eine der zu Zeiten König Edwards hier lebenden Beaumont-Ehefrauen hatte darauf bestanden, das Haus zu modernisieren und im hinteren Wohnzimmer ein Erkerfenster einzubauen sowie einen Badezimmertrakt mit einer geräumigen Toilette im Erdgeschoss. In diesem Badezimmer, in dem es immer noch nach Talkumpuder und Linoleum roch, stand auf einem schwarz-weißen Fußboden eine Badewanne mit Löwenklauen. In den Sechzigern hatte Brambles Mutter ein weiteres Bad in Avocadogrün beigesteuert. Dieses legte, wie alle übrigen Teile des Hauses, ein blütenreines Zeugnis für den Stil seiner Zeit ab.
Die Stallungen lagen in unmittelbarer Nähe des Hauses. Sie waren durch ein Holztor in der Gartenmauer zu erreichen, klobig und aus rotem Backstein. Den mittleren Block beherrschten ein Heuboden und ein Taubenschlag, der nun als Wohnung für ein junges Mädchen diente, das Stallmädchen und Pferdepflegerin war. Obenauf thronte als Wetterfahne ein Rennpferd: Mountain Rocket - das Pferd, dessen Siege den Hauskauf erst ermöglicht hatten.
Für die damalige Zeit handelte es sich um eine durchaus fortschrittliche Anlage. Jedes der Pferde war in einer geräumigen Außenbox untergebracht und nicht auf engem Raum angebunden. In den Ställen gab es Futterkrippen aus Eisen und steinerne Tränken, und der mit Kopfstein gepflasterte abschüssige Boden sorgte für einen guten Abfluss. Das hohe Dach mit Kent-Peg-Ziegeln garantierte an heißen Sommertagen eine optimale Belüftung. Davor hatte Brambles Vater einen Sandplatz angelegt und eine große Führmaschine aus Metall aufgestellt.
Mit gewohnter Routine ließ Bramble ihren Blick - oder ihre Handfläche - über jedes einzelne Pferd gleiten, um sich zu vergewissern, dass ihnen während der Nacht nichts passiert war. Dann teilte sie ihnen ihr Futter aus. Jeden Augenblick müsste ihr Vater auftauchen, sich beklagen und schniefen, so wie er es jeden Morgen als Erstes tat.
»Hast du Edward gesehen?«, fragte sie Donna, die Pferdepflegerin, als diese aus ihrer Wohnung kam und sich die Wimperntusche vom Vorabend aus den Augen wischte.
Donna schüttelte den Kopf, sodass ihr blondierter Pferdeschwanz hin- und herhüpfte. »Bin gerade erst aufgestanden. War ziemlich heftig gestern Abend. Tut mir leid.«
Donnas Abende waren meistens heftig. Sie arbeitete schwer und machte kräftig einen drauf.
Bramble teilte ganz mechanisch den Tieren ihr Futter zu: Kraftnahrung in den blauen Eimer für das Pferd, das noch an Turnieren teilnahm, und eine sanftere Gerstenmischung in den hellgrünen Eimer für die Stute, die ihren Besitzer in dieser Woche schon dreimal abgeworfen hatte. Außerdem gab es lila, gelbe, flieder-, pink- und orangefarbene Eimer, von denen jeder einem ganz bestimmten Pferd zugeteilt war. Neun Pferde insgesamt, die in Rente geschickten und die noch nicht zugerittenen Jungtiere auf der Weide nicht mitgerechnet. Alles in allem waren es vierzehn. Bramble band in jedem Stall ein kleines Heunetz zusammen, damit die Tiere beschäftigt waren, während Donna ausmistete, den dampfenden Dung hinten auf dem Misthaufen auftürmte und den gesamten Boden so lange fegte, bis alles blitzblank war.
Da Edward nicht in der Küche saß, stieg Bramble zu seinem Zimmer hinauf. Normalerweise stand er spätestens um sieben auf, meist sogar sehr viel früher. Sie klopfte an die Tür, schob sie vorsichtig auf und legte sich im Geiste schon die Worte für ihre Auseinandersetzung zurecht. Das Bett war zerwühlt und leer.
»Pa?«, fragte sie. Keine Antwort. »Savannah«, rief Bramble ihre Tochter, »hast du Grandpa gesehen?«
»Was?« Savannah kam mit zerzaustem Haar verschlafen aus ihrem Zimmer.
Die strahlend graublauen Augen, das dichte aschblonde Haar mit den ungebändigten Korkenzieherlocken und die Statur eines rennenden Windhundes hatten sich in direkter Linie von Edward über Bramble auf Savannah vererbt - nur dass Savannah zwar dieselbe Farbgebung, aber nicht den Körperbau ihres Großvaters mitbekommen hatte. Savannah besaß die stämmige, breitschultrige Gestalt ihres Vaters Dominic Kelly. Niemandem in Martyr's Forstal war entgangen, dass Edward für sein Alter ein bemerkenswert gut aussehender Mann war, wohingegen Bramble nach allgemeiner Auffassung mehr aus sich machen könnte. Ihre Locken waren zu einem strengen, kappenartigen Kurzhaarschnitt gestutzt. Ihre Kleidung wirkte adrett und professionell, aber nicht besonders feminin. Savannahs Figur war kurvenreich, und sie würde ›darauf achten‹ müssen.
»Du solltest längst auf sein. Es ist fast acht«, sagte Bramble in vorwurfsvollem Ton zu ihrer Tochter. »Weißt du, wo Grandpa steckt?«
»Ist er nicht im Stall?«, erwiderte Savannah.
»Nein, und in seinem Zimmer ist er auch nicht.«
»Na, irgendwo muss er ja sein«, meinte Savannah und schloss wieder ihre Tür.
Bramble lehnte den Kopf ans Fenster in der Eingangshalle und seufzte. Aus Gewohnheit ließ sie erneut ihren Blick forschend über die Weiden, die Zäune, den Zufahrtsweg und die grasenden Pferde schweifen. Sie hatte schon so oft Pferde im Freien beobachtet, dass sie auch aus der Entfernung ihre Körpersprache deuten konnte. Ihre Silhouette verriet ihr, ob sie ängstlich oder krank waren.
Irgendetwas stimmte da draußen nicht. Bramble fielen die sich windenden Nebelschwaden zwischen den Obstbäumen ein und das Gefühl der Bedrohung, das sich in ihr Herz geschlichen hatte. Die Luft draußen schien ähnlich undurchlässig. Es war nicht gerade nebelig, aber auch nicht klar.
Sie blickte nach oben und beschattete ihre Augen, um besser zu der blassen, wässrigen Sonne hinaufsehen zu können. »Savannah«, rief sie. »Was hältst du davon?«
Savannah stolzierte in einem zu kurz gewordenen Schlafanzug aus ihrem Zimmer und murmelte: »Wieso musst du immer aus allem ein Drama machen?«
Auf der Koppel ging der aufgebrachte Ben mit nach vorn gerichteten Ohren und angehobenem Schweif ruhelos im Kreis, und hin und wieder senkte er den Kopf und stupste etwas an, das auf dem Boden lag.
»Da ist nichts«, sagte Savannah. Sie sahen einander an. »Na, du weißt doch, wie Ben ist.«
»Ich sehe lieber nach.«
»Ich ziehe mich rasch an.«
Mit knirschenden Schritten gingen sie schweigend den Kiesweg entlang, und Bramble glaubte allmählich selbst, sie verschwendeten nur ihre Zeit.
»Das ist ja komisch«, sagte Savannah, als sie den Zufahrtsweg überquerten.
»Was?«
»Da liegt ein Paket auf dem Boden. Oder irgendein Tier. Vielleicht ein toter Dachs.«
Auch Bramble konnte es nun erkennen, dieses dunkle Etwas im hohen Gras. Als sie über die Grasbüschel stiegen, zog sie ihr Handy aus der Tasche und gab die Nummer ihres Vaters ein. Er würde wissen, was zu tun war.
Sie hörte einen Klingelton im Gras. »Pa muss sein Handy irgendwo auf der Weide verloren haben«, sagte sie.
Savannah rannte voraus und hockte sich neben das dunkle Etwas.
Die Sekunde dehnte sich ins Endlose, denn Bramble konnte einfach nicht begreifen, was sie da sah. Die Zeit verlangsamte sich und lastete schwer in der Luft.
Im feuchten Morgengras lag Edward Beaumont reglos zu Füßen seines alten Freundes Ben, der zum Zeichen seines Kummers leise schnaubte.
Bramble sank neben Edward auf die Knie. »Was ist passiert? Geht es dir gut?« Es war deutlich zu sehen, dass ihre Fragen zwecklos waren.
Er murmelte etwas.
»Was?« Sie beugte sich zu ihm hinab. »Was hast du gesagt?« Seine Stimme klang belegt und undeutlich. Sie konnte ihn nicht verstehen.
»Ich rufe einen Arzt, und zwar sofort.« Bramble musste sich darauf konzentrieren, die Ziffern richtig einzugeben. Neun. Neun. Neun. »Ist es bei Handys dieselbe Nummer?«
Savannah zuckte mit den Schultern, kauerte sich noch mehr zusammen und hielt die Hand ihres Großvaters.
Bramble bekam kaum Luft, als sie Namen und Anschrift nannte. »Lorenden«, sagte sie, und das gewohnte Wort wirkte beruhigend auf sie. »Hinter Canterbury von der A2 ab. Folgen Sie den Schildern nach Martyr's Forstal. Da steht zwar eine Meile, aber es sind eher zweieinhalb. Hinter der Eisenbahnbrücke kommt eine Hopfendarre ...«
Selbst Leute, die schon ihr Leben lang hier wohnten, verschwanden manchmal in diesem Bermudadreieck aus Wiesen und Wegen, die erst ständig aufeinandertrafen, um sich dann in dem Flickenteppich aus Weiden, Waldland und Feldern zu verlieren.
Die Stimme wollte unbedingt eine Postleitzahl von ihr hören. Die Ziffern und Buchstaben, die sie seit so vielen Jahren kannte, wirbelten in ihrem Kopf wild durcheinander. Schließlich bekam sie sie doch zusammen und nannte sie mit trockener, geschwollener Zunge. Atmet er?
»Ja.«
Ist er bei Bewusstsein?
»Ich glaube, er versucht, uns etwas zu sagen«, rief sie, denn sie wollte, dass der Krankenwagen augenblicklich käme. »Bitte hören Sie auf zu fragen. Kommen Sie einfach und helfen Sie ihm.«
»Wir brauchen die Antworten«, sagte die Stimme. »Dadurch werden wir nicht später bei Ihnen eintreffen. Wir sind schon unterwegs. Gibt es Zeichen von Gewalteinwirkung?«
»Gewalteinwirkung?« Bramble dachte an das Böse im Nebel, dann an ihre eigenen wütenden Worte am vergangenen Abend. »Ich glaube nicht ...« Ihre Stimme erhob sich zu einem Schluchzen.
»Bitte bewahren Sie Ruhe. Wir können Ihnen nicht helfen, wenn Sie in Panik geraten.«
»Nein.« Bramble zwang sich, langsamer zu atmen, doch ihre Stimme zitterte. »Vielleicht ist er gestürzt. Oder er hat einen Herzinfarkt. Oder einen Schlaganfall. Ich habe einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht. Was kann ich tun?«
Das Gespräch zog sich durch endlose Fragerunden. Blutungen waren keine zu sehen. Durch das tägliche Reiten war er recht fit. Über Schmerzen klagte er nicht. In letzter Zeit war er nicht beim Arzt gewesen - eigentlich hatte er fast nie einen Arzt aufgesucht. Neunundsechzig war er, aber das nahm man ihm kaum ab, denn er konnte immer noch einen vollen Vierzehn-Stunden-Tag durcharbeiten. Die Fragerei zog sich hin, und Brambles Knie wurden allmählich feucht auf dem matschigen Gras, während sie ihr Handy zwischen Kinn und Schulter klemmte und die papiertrockene Hand ihres Vaters hielt.
»Sind Sie allein?«
»Meine Tochter Savannah ist bei mir«, sagte sie.
»Es wäre hilfreich, wenn jemand vor dem Tor stehen könnte«, bekam Bramble zuhören, »damit der Krankenwagen das Haus besser findet.«
»Das lässt sich machen. Wir werden Ihnen von der Weide aus zuwinken. Aber der Zufahrtsweg ist schwer zu finden«, sagte Bramble und versuchte, die bekannte Strecke mit den Augen eines Ortsunkundigen zu sehen: das White-Horse-Pub eine halbe Meile vor dem Haus, die schmale, sich an den letzten Hopfenfeldern entlangschlängelnde Fahrspur, die von einer Buchenhecke verdeckten Wohnwagen für die studentischen Arbeitskräfte auf einer Nachbarfarm und hin und wieder ein Wohn- oder Bauernhaus aus den Steinen der North Downs.
Die bescheidenen Gebäude schmiegten sich in die Landschaft, als seien sie aus ihr herausgewachsen. Es handelte sich um die Cottages, in denen einst die Landarbeiter ihres Vaters gelebt hatten. Inzwischen waren sie verkauft worden. Zwei davon an Londoner Zweitwohnungsbesitzer, die an einem Mittwoch bestimmt nicht anzutreffen wären, und eines an eine entschlossene junge Frau, die bereit war, wochentags mit dem Sechs-Uhr-Zug zwei Stunden zur Londoner Innenstadt zu pendeln. Dann gab es noch die Scheune, die derzeit von einem preisgekrönten Architekten umgebaut wurde, im Moment aber nichts als eine Ruine ohne Dach war.
»Das Haus ist an der Gartenfront von einer langen, hohen Eibenhecke umgeben, die ziemlich zerzaust aussieht«, sagte sie. »Da sind alte weiße Tore. Die stehen offen. Und am Ende der kurzen Kiesauffahrt sieht man dann Lorenden. Das Haus hat eine georgianische Fassade und ist weiß gestrichen. Davor steht eine große Zeder - die Weide liegt genau gegenüber dem Haus, auf der anderen Seite des Wegs.«
Und wieder wurde ihrem Redefluss, der doch zu nichts führte, durch die Stimme Einhalt geboten.
Endlich war die Befragung abgeschlossen, und wie die Stimme behauptete, befand sich der Krankenwagen nur noch ungefähr zwölf Minuten von ihnen entfernt.
Übersetzung: Ursula Guinaldo
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2009 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
Bramble Kelly schlief bei aufgezogenen Vorhängen. Das hatte sie von ihrem Vater übernommen, der gern dem Wettergeschehen möglichst nah war, und außerdem konnte sowieso niemand ins Zimmer sehen. Vor ihrem Fenster standen endlose Reihen niedriger Apfelbäume, gespickt mit kleinen, leuchtend roten Äpfeln, von denen etliche vom Baum gefallen waren und nun verloren und unordentlich durcheinanderlagen wie die ausrangierten roten Flanellunterröcke alter Damen. Ihr Vater Edward Beaumont hatte die Obstwiesen vor fünf Jahren verkauft, und die neuen Eigentümer - eine Gesellschaft in Ashford - machten sich häufig nicht die Mühe, das Obst zu ernten.
An diesem Morgen beobachtete Bramble, wie tiefe Nebelschwaden durch die Obstbäume krochen und sich von Stamm zu Stamm schlängelten, als seien sie nach etwas Bestimmtem auf der Suche. Plötzlich vermeinte sie, das Böse zu sehen.
Mit einiger Mühe schloss sie das Fenster, ein wackeliges georgianisches Schiebefenster, das klemmte und klapperte und nur auf genau dosiertes Rütteln reagierte. Für einen kurzen Moment schloss sie die Lider und sagte sich, es handele sich schlicht um frühen Herbstnebel. Und als sie die Augen wieder öffnete, waren die Schwaden verschwunden, und ihr Blick fiel auf die Pferde, die sich am Tor der Koppel drängten und deren Atem als weißer Hauch in die Luft stieg. Auf ihren langen, eleganten Beinen, die wie Sprungfedern wirkten, tänzelten die jungen Tiere unruhig hin und her. Brambles Blick blieb an Sailor haften, einem stattlichen braunen Wallach mit kaschmirweichem Fell, der sich stets irgend-
welchen Unfug einfallen ließ. Er wirkte beunruhigt und verstört.
Zur Brombeerzeit wollten die Tiere einfach nicht mehr so richtig hören, sagte ihr Vater immer. Sie wüssten, dass dann alles im Wandel ist.
»Vermutlich wissen sie eher, dass es Zeit fürs Frühstück ist«, murmelte sie, streifte sich ihre Jeans über und eilte die Treppe hinab.
Unterwegs blieb sie kurz stehen und sah durch das große Bogenfenster über dem Eingang. Lorenden, ihr Geburtshaus, war bereits ein Landgut gewesen, als die Schiffe Elisabeths I. die der Spanier erobert und ausgeplündert hatten. Der Legende nach sollte dieses Haus von der Besatzung eines der siegreichen englischen Schiffe erbaut worden sein. Von jenem elisabethanischen Haus waren allerdings nur noch ein paar gemauerte Kamine übrig, um die herum man zur Zeit Jakobs I. ein neues Haus errichtet hatte. 1753 wurde ihm dann eine georgianische Vorderfront vorgesetzt, die die Tiefe eines Zimmers hatte und dem Haus nach damaligem Geschmack vornehme Größe verleihen sollte.
Die Schichten der Zeit konnte man förmlich fühlen. Jeder einzelne Bewohner hatte ein wenig von sich zurückgelassen. Auf der Rückseite des Hauses befanden sich vier stark geneigte Dachschrägen mit Tonpfannen, vorn hatte ein wohlhabender georgianischer Gutsherr die klassische Fassade mit einem Säulengang als Portal hinzugefügt. So wie jeder Bewohner des Hauses es seit Hunderten von Jahren vor ihr getan hatte, spähte Bramble vom oberen Ende der Treppe durch das Fenster hinaus auf die Kiesauffahrt und auf die Pferde, die jenseits des schmalen Zubringerweges auf der Weide standen.
Doch irgendetwas stimmte an diesem Morgen nicht. Bramble hielt inne und betrachtete aufmerksam die gewohnte Szenerie. Am Ende des Kiesweges befand sich ein weiß gestrichenes Holztor, hinter dem sie die Pferde sah, darunter auch den im Ruhestand befindlichen Olympiasieger Ben, das Pferd ihres Vaters, sowie Patch, das alte Pony ihrer Tochter. Sie hätte nicht sagen können, was genau nicht richtig war. Es gab nichts, worauf sie mit dem Finger hätte zeigen können. Sie seufzte. Vor lauter Müdigkeit malte man sich Katastrophen aus, die gar nicht stattgefunden hatten. Zum Glück war die Wettkampfsaison bald vorbei, und die langen, dunklen, gemütlichen Winterabende nahten. Mit lautem Gepolter lief sie die breite Eichentreppe hinab und spitzte die Ohren, ob sie nicht die Schritte ihres Vaters hörte. Sie hatten sich gestern Abend erbittert gestritten, und sie war immer noch wütend auf ihn.
Unten in der Küche balgten sich die Terrier Mop und Muddle eifrig zu ihren Füßen, und der goldhaarige, elegante Darcy streckte sich träge, gähnte und lächelte ihr aus seinem Körbchen zu. Er sei ein Sofahund, sagte ihr Vater immer scherzhaft, dem man beigebracht hätte, stets als Erster aufs Sofa zu hüpfen. Sie hatten ihn als Welpen gefunden, mit einem Stück Schnur angebunden, die Haut wund vor Räude, während durch das glanzlose Fell seine Rippen zu sehen waren. Diese rücksichtslose, unwissende Grausamkeit hatte Bramble bis ins Innerste berührt, und Darcy hatte in der schmuddeligen Wärme von Lorenden ein Zuhause gefunden.
Falls wirklich irgendetwas nicht stimmte, hätten die Hunde angeschlagen, sagte sich Bramble. Sie kämpfte mit ihren Stiefeln. Sie brauchte dringend ein Paar neue, doch die Rechnung des Hufschmieds ging vor. Während die Hunde vor ihr durch die geöffnete Tür schossen, trat sie hinaus in das feuchte Silberlicht des frühen Septembermorgens und ging zu den Ställen, der Errungenschaft der viktorianischen Beaumonts.
Brambles Urgroßvater war - je nachdem, welcher der Familienlegenden man Glauben schenken wollte - entweder ein Zigeuner, ein Mann aus Cornwall oder der illegitime Spross eines Herzogs. Er hatte als junger Mann mit Pferden eine beträchtliche Summe gewonnen, Lorenden gekauft und es in ein Gestüt verwandelt. Da der echte Landadel für ihn unerreichbar war, heiratete er die einzige Tochter eines ortsansässigen, betuchten Anwalts. Auch sie fügten dem Haus ein Vermächtnis hinzu, indem sie die Obstbäume pflanzten, um ein sicheres Einkommen zu haben. Sie legten Gärten an und bauten Stallungen, die zu einem viel größeren Anwesen gepasst hätten. Eine der zu Zeiten König Edwards hier lebenden Beaumont-Ehefrauen hatte darauf bestanden, das Haus zu modernisieren und im hinteren Wohnzimmer ein Erkerfenster einzubauen sowie einen Badezimmertrakt mit einer geräumigen Toilette im Erdgeschoss. In diesem Badezimmer, in dem es immer noch nach Talkumpuder und Linoleum roch, stand auf einem schwarz-weißen Fußboden eine Badewanne mit Löwenklauen. In den Sechzigern hatte Brambles Mutter ein weiteres Bad in Avocadogrün beigesteuert. Dieses legte, wie alle übrigen Teile des Hauses, ein blütenreines Zeugnis für den Stil seiner Zeit ab.
Die Stallungen lagen in unmittelbarer Nähe des Hauses. Sie waren durch ein Holztor in der Gartenmauer zu erreichen, klobig und aus rotem Backstein. Den mittleren Block beherrschten ein Heuboden und ein Taubenschlag, der nun als Wohnung für ein junges Mädchen diente, das Stallmädchen und Pferdepflegerin war. Obenauf thronte als Wetterfahne ein Rennpferd: Mountain Rocket - das Pferd, dessen Siege den Hauskauf erst ermöglicht hatten.
Für die damalige Zeit handelte es sich um eine durchaus fortschrittliche Anlage. Jedes der Pferde war in einer geräumigen Außenbox untergebracht und nicht auf engem Raum angebunden. In den Ställen gab es Futterkrippen aus Eisen und steinerne Tränken, und der mit Kopfstein gepflasterte abschüssige Boden sorgte für einen guten Abfluss. Das hohe Dach mit Kent-Peg-Ziegeln garantierte an heißen Sommertagen eine optimale Belüftung. Davor hatte Brambles Vater einen Sandplatz angelegt und eine große Führmaschine aus Metall aufgestellt.
Mit gewohnter Routine ließ Bramble ihren Blick - oder ihre Handfläche - über jedes einzelne Pferd gleiten, um sich zu vergewissern, dass ihnen während der Nacht nichts passiert war. Dann teilte sie ihnen ihr Futter aus. Jeden Augenblick müsste ihr Vater auftauchen, sich beklagen und schniefen, so wie er es jeden Morgen als Erstes tat.
»Hast du Edward gesehen?«, fragte sie Donna, die Pferdepflegerin, als diese aus ihrer Wohnung kam und sich die Wimperntusche vom Vorabend aus den Augen wischte.
Donna schüttelte den Kopf, sodass ihr blondierter Pferdeschwanz hin- und herhüpfte. »Bin gerade erst aufgestanden. War ziemlich heftig gestern Abend. Tut mir leid.«
Donnas Abende waren meistens heftig. Sie arbeitete schwer und machte kräftig einen drauf.
Bramble teilte ganz mechanisch den Tieren ihr Futter zu: Kraftnahrung in den blauen Eimer für das Pferd, das noch an Turnieren teilnahm, und eine sanftere Gerstenmischung in den hellgrünen Eimer für die Stute, die ihren Besitzer in dieser Woche schon dreimal abgeworfen hatte. Außerdem gab es lila, gelbe, flieder-, pink- und orangefarbene Eimer, von denen jeder einem ganz bestimmten Pferd zugeteilt war. Neun Pferde insgesamt, die in Rente geschickten und die noch nicht zugerittenen Jungtiere auf der Weide nicht mitgerechnet. Alles in allem waren es vierzehn. Bramble band in jedem Stall ein kleines Heunetz zusammen, damit die Tiere beschäftigt waren, während Donna ausmistete, den dampfenden Dung hinten auf dem Misthaufen auftürmte und den gesamten Boden so lange fegte, bis alles blitzblank war.
Da Edward nicht in der Küche saß, stieg Bramble zu seinem Zimmer hinauf. Normalerweise stand er spätestens um sieben auf, meist sogar sehr viel früher. Sie klopfte an die Tür, schob sie vorsichtig auf und legte sich im Geiste schon die Worte für ihre Auseinandersetzung zurecht. Das Bett war zerwühlt und leer.
»Pa?«, fragte sie. Keine Antwort. »Savannah«, rief Bramble ihre Tochter, »hast du Grandpa gesehen?«
»Was?« Savannah kam mit zerzaustem Haar verschlafen aus ihrem Zimmer.
Die strahlend graublauen Augen, das dichte aschblonde Haar mit den ungebändigten Korkenzieherlocken und die Statur eines rennenden Windhundes hatten sich in direkter Linie von Edward über Bramble auf Savannah vererbt - nur dass Savannah zwar dieselbe Farbgebung, aber nicht den Körperbau ihres Großvaters mitbekommen hatte. Savannah besaß die stämmige, breitschultrige Gestalt ihres Vaters Dominic Kelly. Niemandem in Martyr's Forstal war entgangen, dass Edward für sein Alter ein bemerkenswert gut aussehender Mann war, wohingegen Bramble nach allgemeiner Auffassung mehr aus sich machen könnte. Ihre Locken waren zu einem strengen, kappenartigen Kurzhaarschnitt gestutzt. Ihre Kleidung wirkte adrett und professionell, aber nicht besonders feminin. Savannahs Figur war kurvenreich, und sie würde ›darauf achten‹ müssen.
»Du solltest längst auf sein. Es ist fast acht«, sagte Bramble in vorwurfsvollem Ton zu ihrer Tochter. »Weißt du, wo Grandpa steckt?«
»Ist er nicht im Stall?«, erwiderte Savannah.
»Nein, und in seinem Zimmer ist er auch nicht.«
»Na, irgendwo muss er ja sein«, meinte Savannah und schloss wieder ihre Tür.
Bramble lehnte den Kopf ans Fenster in der Eingangshalle und seufzte. Aus Gewohnheit ließ sie erneut ihren Blick forschend über die Weiden, die Zäune, den Zufahrtsweg und die grasenden Pferde schweifen. Sie hatte schon so oft Pferde im Freien beobachtet, dass sie auch aus der Entfernung ihre Körpersprache deuten konnte. Ihre Silhouette verriet ihr, ob sie ängstlich oder krank waren.
Irgendetwas stimmte da draußen nicht. Bramble fielen die sich windenden Nebelschwaden zwischen den Obstbäumen ein und das Gefühl der Bedrohung, das sich in ihr Herz geschlichen hatte. Die Luft draußen schien ähnlich undurchlässig. Es war nicht gerade nebelig, aber auch nicht klar.
Sie blickte nach oben und beschattete ihre Augen, um besser zu der blassen, wässrigen Sonne hinaufsehen zu können. »Savannah«, rief sie. »Was hältst du davon?«
Savannah stolzierte in einem zu kurz gewordenen Schlafanzug aus ihrem Zimmer und murmelte: »Wieso musst du immer aus allem ein Drama machen?«
Auf der Koppel ging der aufgebrachte Ben mit nach vorn gerichteten Ohren und angehobenem Schweif ruhelos im Kreis, und hin und wieder senkte er den Kopf und stupste etwas an, das auf dem Boden lag.
»Da ist nichts«, sagte Savannah. Sie sahen einander an. »Na, du weißt doch, wie Ben ist.«
»Ich sehe lieber nach.«
»Ich ziehe mich rasch an.«
Mit knirschenden Schritten gingen sie schweigend den Kiesweg entlang, und Bramble glaubte allmählich selbst, sie verschwendeten nur ihre Zeit.
»Das ist ja komisch«, sagte Savannah, als sie den Zufahrtsweg überquerten.
»Was?«
»Da liegt ein Paket auf dem Boden. Oder irgendein Tier. Vielleicht ein toter Dachs.«
Auch Bramble konnte es nun erkennen, dieses dunkle Etwas im hohen Gras. Als sie über die Grasbüschel stiegen, zog sie ihr Handy aus der Tasche und gab die Nummer ihres Vaters ein. Er würde wissen, was zu tun war.
Sie hörte einen Klingelton im Gras. »Pa muss sein Handy irgendwo auf der Weide verloren haben«, sagte sie.
Savannah rannte voraus und hockte sich neben das dunkle Etwas.
Die Sekunde dehnte sich ins Endlose, denn Bramble konnte einfach nicht begreifen, was sie da sah. Die Zeit verlangsamte sich und lastete schwer in der Luft.
Im feuchten Morgengras lag Edward Beaumont reglos zu Füßen seines alten Freundes Ben, der zum Zeichen seines Kummers leise schnaubte.
Bramble sank neben Edward auf die Knie. »Was ist passiert? Geht es dir gut?« Es war deutlich zu sehen, dass ihre Fragen zwecklos waren.
Er murmelte etwas.
»Was?« Sie beugte sich zu ihm hinab. »Was hast du gesagt?« Seine Stimme klang belegt und undeutlich. Sie konnte ihn nicht verstehen.
»Ich rufe einen Arzt, und zwar sofort.« Bramble musste sich darauf konzentrieren, die Ziffern richtig einzugeben. Neun. Neun. Neun. »Ist es bei Handys dieselbe Nummer?«
Savannah zuckte mit den Schultern, kauerte sich noch mehr zusammen und hielt die Hand ihres Großvaters.
Bramble bekam kaum Luft, als sie Namen und Anschrift nannte. »Lorenden«, sagte sie, und das gewohnte Wort wirkte beruhigend auf sie. »Hinter Canterbury von der A2 ab. Folgen Sie den Schildern nach Martyr's Forstal. Da steht zwar eine Meile, aber es sind eher zweieinhalb. Hinter der Eisenbahnbrücke kommt eine Hopfendarre ...«
Selbst Leute, die schon ihr Leben lang hier wohnten, verschwanden manchmal in diesem Bermudadreieck aus Wiesen und Wegen, die erst ständig aufeinandertrafen, um sich dann in dem Flickenteppich aus Weiden, Waldland und Feldern zu verlieren.
Die Stimme wollte unbedingt eine Postleitzahl von ihr hören. Die Ziffern und Buchstaben, die sie seit so vielen Jahren kannte, wirbelten in ihrem Kopf wild durcheinander. Schließlich bekam sie sie doch zusammen und nannte sie mit trockener, geschwollener Zunge. Atmet er?
»Ja.«
Ist er bei Bewusstsein?
»Ich glaube, er versucht, uns etwas zu sagen«, rief sie, denn sie wollte, dass der Krankenwagen augenblicklich käme. »Bitte hören Sie auf zu fragen. Kommen Sie einfach und helfen Sie ihm.«
»Wir brauchen die Antworten«, sagte die Stimme. »Dadurch werden wir nicht später bei Ihnen eintreffen. Wir sind schon unterwegs. Gibt es Zeichen von Gewalteinwirkung?«
»Gewalteinwirkung?« Bramble dachte an das Böse im Nebel, dann an ihre eigenen wütenden Worte am vergangenen Abend. »Ich glaube nicht ...« Ihre Stimme erhob sich zu einem Schluchzen.
»Bitte bewahren Sie Ruhe. Wir können Ihnen nicht helfen, wenn Sie in Panik geraten.«
»Nein.« Bramble zwang sich, langsamer zu atmen, doch ihre Stimme zitterte. »Vielleicht ist er gestürzt. Oder er hat einen Herzinfarkt. Oder einen Schlaganfall. Ich habe einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht. Was kann ich tun?«
Das Gespräch zog sich durch endlose Fragerunden. Blutungen waren keine zu sehen. Durch das tägliche Reiten war er recht fit. Über Schmerzen klagte er nicht. In letzter Zeit war er nicht beim Arzt gewesen - eigentlich hatte er fast nie einen Arzt aufgesucht. Neunundsechzig war er, aber das nahm man ihm kaum ab, denn er konnte immer noch einen vollen Vierzehn-Stunden-Tag durcharbeiten. Die Fragerei zog sich hin, und Brambles Knie wurden allmählich feucht auf dem matschigen Gras, während sie ihr Handy zwischen Kinn und Schulter klemmte und die papiertrockene Hand ihres Vaters hielt.
»Sind Sie allein?«
»Meine Tochter Savannah ist bei mir«, sagte sie.
»Es wäre hilfreich, wenn jemand vor dem Tor stehen könnte«, bekam Bramble zuhören, »damit der Krankenwagen das Haus besser findet.«
»Das lässt sich machen. Wir werden Ihnen von der Weide aus zuwinken. Aber der Zufahrtsweg ist schwer zu finden«, sagte Bramble und versuchte, die bekannte Strecke mit den Augen eines Ortsunkundigen zu sehen: das White-Horse-Pub eine halbe Meile vor dem Haus, die schmale, sich an den letzten Hopfenfeldern entlangschlängelnde Fahrspur, die von einer Buchenhecke verdeckten Wohnwagen für die studentischen Arbeitskräfte auf einer Nachbarfarm und hin und wieder ein Wohn- oder Bauernhaus aus den Steinen der North Downs.
Die bescheidenen Gebäude schmiegten sich in die Landschaft, als seien sie aus ihr herausgewachsen. Es handelte sich um die Cottages, in denen einst die Landarbeiter ihres Vaters gelebt hatten. Inzwischen waren sie verkauft worden. Zwei davon an Londoner Zweitwohnungsbesitzer, die an einem Mittwoch bestimmt nicht anzutreffen wären, und eines an eine entschlossene junge Frau, die bereit war, wochentags mit dem Sechs-Uhr-Zug zwei Stunden zur Londoner Innenstadt zu pendeln. Dann gab es noch die Scheune, die derzeit von einem preisgekrönten Architekten umgebaut wurde, im Moment aber nichts als eine Ruine ohne Dach war.
»Das Haus ist an der Gartenfront von einer langen, hohen Eibenhecke umgeben, die ziemlich zerzaust aussieht«, sagte sie. »Da sind alte weiße Tore. Die stehen offen. Und am Ende der kurzen Kiesauffahrt sieht man dann Lorenden. Das Haus hat eine georgianische Fassade und ist weiß gestrichen. Davor steht eine große Zeder - die Weide liegt genau gegenüber dem Haus, auf der anderen Seite des Wegs.«
Und wieder wurde ihrem Redefluss, der doch zu nichts führte, durch die Stimme Einhalt geboten.
Endlich war die Befragung abgeschlossen, und wie die Stimme behauptete, befand sich der Krankenwagen nur noch ungefähr zwölf Minuten von ihnen entfernt.
Übersetzung: Ursula Guinaldo
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2009 by
Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Nina Bell
- 2011, 1, 718 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863650565
- ISBN-13: 9783863650568
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