Die Torte - und andere Erzählungen
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Ausgezeichnet mit dem Zürcher Kunstpreis 2005.
Ausgezeichnet mit dem Zürcher Kunstpreis 2005.
Ausgezeichnet mit dem Zürcher Kunstpreis 2005.
"Witzig, abgründig, den Leser fesselnd." - Neue Zürcher Zeitung
"Hohler ist ein gewiefter Fabulierer, seiner Phantasie hält unsere Realität nicht Stand." - St. Galler Tagblatt
"Es ist diese hintersinnig-abgeklärte Liebe zum Leben, von der die Geschichten durchdrungen sind. Diese gewisse unmögliche Möglichkeit vom Ereignis zu sprechen: Franz Hohler hat sie begriffen." - Danilea Strigl in DIE ZEIT
Die Torte vonFranz Hohler
LESEPROBE
Die Torte
Wer vom Bahnhof in Locarno zur Altstadt hinuntergeht, kommtnach wenigen Schritten an einer Passage vorbei, in welcher junge Leute infarbigen Mützen und T-Shirts sitzen, vor sich Kartonschachteln mit Pommes fritesund Becher mit Coca-Cola. Die metallenen Tische und Stühle sind überverschiedene Stufen verteilt, die nicht ganz zur Fast Food-Stimmung passen, undwer genauer hinsieht, merkt auch, warum. Es sind die Stufen, die zum Garten desalten Grand Hotels hinaufführen, zum Grand Hotel Locarno, das wie der Traum einerandern Zeit im Hintergrund steht, umgeben von Zypressen, Palmen und üppigenRhododendronbüschen, mit seiner mächtigen Mittelterrasse, auf der zwischenSäulen mit Blumenschalen Figuren zu Stein erstarrt sind, als sei soeben dieTanzmusik eines Kurorchesters zu Ende gegangen. Wollen Sie weitergehen zurPiazza Grande, oder haben Sie einen Moment Zeit, eine Geschichte zu hören, diein diesem Hotel ihren Anfang genommen hat? Erfahren habe ich sie in einemGebäude, das aus derselben Zeit stammt und dem Grand Hotel nicht einmalunähnlich sieht, einem Altersheim in einem der Täler hinter Locarno. Etwasbescheidener der Bau, der Mitteltrakt hinter zwei Ecktürme zurückversetzt, mit einemgroßen gepflästerten Platz davor, der in eine Glyzinienpergola mündet, aberoben, wo in Locarno der Name des Hotels in auswechselbaren Leuchtbuchstabenprangt, steht beim Altersheim in unvergänglicher Mosaikschrift der Name desStifters. In dieses Altersheim führte mich letztes Jahr eine private Angelegenheit.Der Kanton Tessin hatte begonnen, die Parzellierung der unzähligen Grundstückezu vereinfachen und den Besitzern Vorschläge zur Zusammenlegung oder zuAbtäuschen zu machen, und da ich auf einer Alp ein kleines Stück Land mit einemStall besitze, in dem wir gerne ein paar Sommertage verbringen, kam auch anmich eine solche Anfrage, und ich beschloß, den Besitzer des Nachbargrundstücksaufzusuchen. Der lebte seit kurzem in diesem Altersheim, wir kannten uns, under freute sich über meinen Besuch, klagte über sein abnehmendes Augenlicht und überseine Zuckerkrankheit, die ihm in die Beine fahre, so daß er kaum mehr gehenkönne, kurz, über das ganze zusammenbrechende System seines Körpers, für dasman auch das einfache Wort Alter benutzen kann. Er war mit dem Landabtausch,den ich ihm vorschlug, ohne weiteres einverstanden, fragte nach dem Zustand derQuelle, des Baches und der alten Kastanienbäume und erzählte mir von den Zeitenseiner Kindheit, als es im Dorf noch 600 Stück Vieh gab, von denen in unseren Tagennicht einmal eine einzige Kuh übrig geblieben ist. Während unseres Gesprächslag sein Zimmernachbar regungslos, mit halb geöffnetem Mund im Bett und ließnur von Zeit zu Zeit ein leises Stöhnen hören. Als ich ihn einmal fragte, wiees ihm gehe, reagierte er nicht. »Er hört nichts mehr«, sagte mein Bekannter,»er ist bald hundert, und ich glaube, er will schon lange sterben, kann abernicht.« Wir fuhren mit unserm Gespräch fort, und ich fragte, ob es früher auchschon Wildschweine gegeben habe am Hang oben, da hob sein Bettnachbar den Kopfund sagte: »Un giorno vanno trovare la torta.« »Eines Tages werden sie dieTorte finden«, und ließ seinen Kopf wieder sinken. Mein Bekannter lächelte undsagte, das sei das einzige, was der arme Kerl noch sage, und sie nennten ihn deswegennur »la torta«, ein Spitzname, mit dem er bereits ins Pflegeheim gekommen seiund den er offenbar in seinem Dorf ein Leben lang getragen habe. Aber was derGrund dafür sei, wisse niemand, und es kämen auch keine Familienangehörigen zuBesuch, die man fragen könne. Ich trat zum Bett des Alten, beugte mich über ihnund fragte: »Dove vanno trovare la torta?« »Wo werden sie die Torte finden?« Ohnedie Augen zu öffnen, sagte er: »Nel lago.« »Im See.« Ich fragte meinenBekannten, ob er auch gelesen habe, daß die Seepolizei kürzlich im LagoMaggiore bei einer Suchaktion nach einem Ertrunkenen im Bodenschlamm eine großeBlechschachtel mit der Aufschrift »Grand Hotel Locarno« gefunden habe, in welcherverrostete Zünder gewesen seien, die zu einer Ladung Dynamit gehört habenkönnten, und daß ein Rätselraten um diesen Fund entstanden sei. Kaum hatte ichdies gesagt, fuhr der Alte in seinem Bett hoch, riß die Augen weit auf undrief: »Lhanno finalmente trovata!« »Endlich haben sie sie gefunden! « »DieTorte?« fragte ich und fügte hinzu: »Es war aber Dynamit drin.« Nun erschiendie Pflegerin mit dem Mittagessen und war ganz erstaunt, den Alten aufrecht imBett sitzen zu sehen, und sie staunte noch mehr, als dieser mit klarer Stimmezu mir sagte, ich solle jetzt gehen und am Nachmittag wieder kommen, dann werdeer mir die Geschichte mit der Torte erzählen. Ich suchte eine Osteria auf, woman mir eine wunderbare Polenta mit einem Kaninchenschenkel servierte, und alsich am Nachmittag wieder das Altersheim aufsuchte, war mit dem Alten eineeigenartige Veränderung geschehen. Er saß im Lehnstuhl am Fenster und trug einblaues Jackett mit Brusttressen und eine Mütze mit der Aufschrift »Grand HotelLocarno«, und so wie er dasaß, hätte man ihn ohne weiteres gerufen, um einenKoffer ins Zimmer tragen zu lassen. Was er nun erzählte, trug er ohne zustocken vor, so daß ich fast nicht glauben konnte, daß es sich um denselben röchelndenMenschen handelte, den ich heute morgen gesehen hatte. »Nehmen Sie Platz«,sagte er zu mir und wies auf den Besucherstuhl, »ich kenne Sie zwar nicht, aberweil Sie mir die Nachricht von der gefundenen Schachtel gebracht haben, willich Ihnen meine Geschichte erzählen. Mit Righetti« - er wies mit dem Kopf aufseinen zuckerkranken Zimmernachbarn - »hab ich schon gesprochen, er will auchzuhören. Ich heiße Ernesto Tonini, ich bin 1904 in diesem Tal geboren, und ichweiß nicht, ob Sie sich eine Vorstellung davon machen können - Sie sindDeutschschweizer, nicht? - wie man damals gelebt hat. Es war ein einziger Kampfums Überleben, der vom Talboden bis zur Waldgrenze hinauf geführt wurde, jederQuadratmeter, den man bewirtschaften konnte, zählte, jeder Kastanienbaumbedeutete so und soviel Mahlzeiten für hungrige Mägen, oft mußten die Kinderden ganzen Sommer lang auf die oberste Alp mit den Ziegen und Schafen undhatten als einzige Nahrung drei bis vier Liter Ziegenmilch am Tag, alleFamilien hatten zu viele Kinder, und wenn die Mutter bei der Geburt des siebtenKindes starb und der Vater beim Mähen von einer Kreuzotter gebissen wurde undkein Gegengift da war, wurden die Kinder zu Verwandten gegeben, wo sie sich gewöhnlichvom ersten Hahnenschrei bis nach Sonnenuntergang abrackern mußten, oder siekamen ins Waisenhaus. Ich hatte Glück und kam ins Waisenhaus, und ich hattenochmals Glück und bekam nach der Schule eine Stelle als Laufbursche im GrandHotel Locarno. Natürlich versuchte man auch dort, das Letzte aus unsherauszuholen. Um 5 Uhr war Tagwacht, dann mußten wir die große Terrasse undden Vorplatz wischen, wir mußten die Brötchen beim Bäcker holen, und wehe, manwurde erwischt, wenn man eins gegessen hatte, der Küchenmeister zählte sie abund zog es dir vom Lohn ab, falls man das Lohn nennen konnte, 50 Rappen am Tag,und ein Brötchen kostete 10 Rappen. Ich will euch nicht weiter langweilen mitdem, was wir zu tun hatten, sondern sage nur noch, daß man als Jüngster alleszugeschoben bekam, worum sich die Älteren zu drücken versuchten. Wir wohnten zuviert in Zimmern mit zwei Betten übereinander, zwischen denen gerade ein Menschstehend Platz hatte, und für die andern, die alle von Locarno, Ascona oderTenero kamen, war ich der Tölpel aus dem Tal, ich hatte auch keine Gelegenheit,meine Geschwister zu sehen, kurz, ich war einsam, elend und arm, und ich wartäglich um Leute herum, die gesellig, fröhlich und reich waren, und so wurdeich Kommunist.« Ernesto Tonini lächelte und schaute vom einen zum andern. Wirmußten ziemlich überraschte Gesichter gemacht haben. »Das hättet ihr nichtgedacht, stimmts oder hab ich Recht?« Wir zwei Zuhörer nickten, und er fuhrweiter. (...)
© btb Verlag
- Autor: Franz Hohler
- 2006, 205 Seiten, Maße: 11,9 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442734517
- ISBN-13: 9783442734511
- Erscheinungsdatum: 10.05.2006
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