Die Verfolgung
Im Feuer der Erinnerungen. Roman
Ein makelloser Sommerabend, eine Villa, versteckt im Grünen, vor den Toren Roms, eine glückliche Familie beim Abendessen. Leo Pontecorvo, ein 48jähriger Kinderonkologe von internationalem Ruf, seine Frau Rachel und die beiden Söhne Filippo und Samuel, die...
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Produktinformationen zu „Die Verfolgung “
Klappentext zu „Die Verfolgung “
Ein makelloser Sommerabend, eine Villa, versteckt im Grünen, vor den Toren Roms, eine glückliche Familie beim Abendessen. Leo Pontecorvo, ein 48jähriger Kinderonkologe von internationalem Ruf, seine Frau Rachel und die beiden Söhne Filippo und Samuel, die sich in der exaltierten Phase ihrer Pubertät befinden. Da bricht durch eine beiläufige Fernsehmeldung die Katastrophe über sie herein: Leo wird beschuldigt, mit der kleinen Camilla, der Freundin seines Sohnes Samuel, anzügliche Briefe gewechselt zu haben. Eine absurde Anklage. Doch Leo Pontecorvo wehrt sich keineswegs. In Sekundenschnelle von seiner privilegierten Position in die Opferrolle gedrängt, den Anfeindungen von Freunden wie Feinden ausgesetzt, gleitet er immer tiefer in das Inferno einer fatalen Selbstisolation hinein.Dieser Roman ist ein Familienkrimi, eine unheimliche, schmerzliche und surreale Familiensaga, furios erzählt und meisterlich in der psychologischen Durchdringung seiner Figuren.
Lese-Probe zu „Die Verfolgung “
Die Verfolgung von Alessandro PipernoEs war der 13. Juli 1986, als der peinliche Wunsch, nie auf die Welt gekommen zu sein,von Leo Pontecorvo Besitz ergriff.
Einen Augenblick zuvor hatte sich Filippo, sein Erstgeborener, dem kleinlichsten kindlichen Gejammer hingegeben und dagegen protestiert,wie wenig Pommes frites ihm seine Mutter auf den Teller geladen hatte, verglichen damit, wie unglaublich großzügig sie seinem kleinen Bruder gegenüber gewesen war. Und dann, einen Moment später, unterstellt der Sprecher der 20-Uhr-Nachrichten vor einem beträchtlichen Anteil der Nation dem hier anwesenden Leo Pontecorvo, unanständige Briefe mit der Freundin seines dreizehnjährigen Zweitgeborenen gewechselt zu haben.
Gemeint ist ebenjener Samuel, auf dessen Teller der knusprig-goldene Schatz nie verzehrt werden sollte. Vermutlich war er noch unschlüssig, wie seine plötzliche Fernsehberühmtheit von seinen Freunden eingeordnet würde: in die Abteilung lustiger Klatsch oder in die bisher noch leere Abteilung allerpeinlichste Pleite, die einem Jungen seiner verwöhnt herumhängenden Clique je passiert war.
... mehr
Es hat keinen Sinn, sich vorzumachen, sein zartes Alter hätte es Samuel verwehrt zu ahnen, was für die anderen sofort klar gewesen war: Jemand im Fernsehen suggerierte, dass der Vater sein Mädchen gevögelt hatte. Und wenn ich »Mädchen« sage, meine ich ein Gör von zwölfeinhalb Jahren mit orangefarbenem Haar und einem mit Sommersprossen übersäten spitzen Gesichtchen. Doch wenn ich »vögeln« sage, meine ich vögeln. Und somit eine außerordentliche, äußerst schwerwiegende, zu brutale Sache, um sie einfach so wegzustecken. Selbst für eine Frau und zwei Söhne, die sich schon seit einer Weile fragten, ob dieser Ehemann und Vater wirklich der untadelige Bürger sei, auf den sie immer so selbstverständlich stolz gewesen waren.
Der Ausdruck »schon seit einer Weile« spielt auf seine ersten Probleme mit dem Gesetz an, die den schändlichen Stempel des Verdachts auf die exemplarische Karriere eines der rührigsten und erfolgreichsten Kinderonkologen des Landes gedrückt hatten; eines jener Chefärzte, der sich, wenn ihn die alte Krankenschwester ihrer neu eingestellten Kollegin beschrieb, Bemerkungen verdiente wie: »Ein feiner Mensch! Niemals vergisst er, ›danke‹, ›bitte‹ oder ›gern geschehen‹ zu sagen ... und dann sieht er auch noch gut aus!« Und in den stickigen Wartezimmern des Hospitals Santa Cristina, wo die Mütter der kranken Kinder bange Empfindungen darüber austauschten, in was für einen Albtraum sich die Kindheit ihrer Kleinen verwandelt hatte, konnte man nicht selten solche Dialoge hören: »Er ist immer für einen da. Man kann ihn jederzeit anrufen.Auch nachts ...«
»Ich finde, er macht einem Mut. Ist immer guter Dinge, positiv.«
»Und außerdem kann er mit Kindern umgehen ...«
Während das Klingeln des Telefons einer bis vor ein paar Sekunden unvorstellbaren Schande etwas Rhythmischhitzig- Frenetisches zu geben begann, spürte Leo, auf dem Höhepunkt der Verwirrung, dass diese Mahlzeit die letzte war, die seine Lieben ihm zugestehen würden. Dann dachte er an die vielen tausend anderen Dinge, die ihm von diesem Moment an verwehrt sein würden. Und vielleicht war es, um nicht in sich zusammenzufallen, um nicht unter der Last von Panik und Sentimentalität niederzusinken, um nicht vor seinen Söhnen und seiner Frau wie ein kleines Kind in Tränen auszubrechen, dass er sich in einen überheblichen und hasserfüllten Gedanken flüchtete.
Zum Schluss hatte sie es geschafft: Dem Mädchen, das sein Sohn vor ungefähr einem Jahr ins Haus gebracht hatte und das Rachel und er - das offenste und harmonischste Paar in ihren Kreisen - ohne Geschichten aufgenommen hatten, diesem Mädchen war es gelungen, ihr Leben zu zerstören. Sein Leben und das der drei Menschen, die er am meisten liebte.
So muss es also enden?, war der Gedanke, bei dem Leo sich ertappte, während er sich immer mehr mit dem nicht zu verdrängenden Wunsch herumschlug, nie existiert zu haben. Falsche Frage, alter Freund.Was für einen Sinn hat es, vom Ende zu reden, wenn wir erst am Anfang sind?
All dies geschah zu einer passenden Stunde.
Zu der Stunde, in der das Olgiata-Viertel - ein vornehmer, in viele Hektar Wald eingebetteter Wohnbezirk mit Villen und immer blühenden Gärten allüberall, begrenzt von massiven Mauern - sich plötzlich leerte. So wie ein Strand bei Sonnenuntergang.
Es war dann, als wäre man in einem riesigen Vergnügungspark ein paar Minuten nach der Schließung gefangen. Die Spuren der während des Tages verschwendeten sportlichen Energie waren überall verstreut: der Adidas-Lederball in der Hecke eingeklemmt, das bis zur Erschöpfung gefahrene Skateboard umgekippt auf dem Pflasterweg, das orange Plastikschwimmbrett auf der ölig schimmernden Oberfläche des Swimmingpools treibend, ein Paar Tennisschläger, besprengt von Spritzern einer Bewässerungsanlage, die hinterrücks mit einem Klicken losgelegt hatte.
Natürlich konnte man auch auf den fanatischen Jogger in Fleeceshorts stoßen, das Handtuch über den Schultern wie Rocky Balboa, oder auf den jungen Vater, der außer Atem vom Supermarkt zurückkam - in einer Hand eine Packung Windeln, in der anderen die mit Kondomen.
Doch abgesehen von diesen Einzelgängern mit freiem Ausgang - diesen Ruhestörern der abendlichen Siesta -,hatten sich die anderen nahezu allesamt in ihre Häuser verkrochen: Villen mit inkonsequenter, eklektischer Architektur, manche schlicht, andere protzig (der mexikanische Stil verdrängte in letzter Zeit zunehmend die Mode der alpinen Chalets). Wenn man sie von außen sah, diese Häuser, konnte man sich die ausgebauten Kellergeschosse vorstellen, wo alles war, wie es sein sollte: der Kamin, die von grünem Schimmel angefressenen Fußbodenleisten, die gehäkelten Spitzendeckchen, die Stöße von Illustrierten, die Ahornholzkästen voller Lavendel, der wie eine Leiche im Leichenschauhaus rigoros mit einem Tuch abgedeckte Billardtisch, ein bauchiger Fernseher mit dem fangarmartig von ihm ausgehenden Kabelgewirr des Videorecorders und der Atari-Konsole. Man konnte ihn riechen, den heuchlerisch ländlichen Duft der Holzklötze, der Pinienzapfen, der gebündelten Zeitungen, nicht weniger vergilbt als die Tischtennisbälle, die sich im Dunkel versteckten, reglos auf der Hut wie Detektive.
Es war nur ein Augenblick. Ein Augenblick außerhalb der Galaxie. Ein Augenblick übernatürlicher Entspannung. Ein Augenblick, in dem die Epiphanie des Familiären, täglich in diesem vielleicht dreißig Kilometer vom Zentrum Roms entfernten Wohnbezirk zelebriert, ihren Höhepunkt erreichte. Ein wirklich rührender Moment, nach dem sich alles wieder in Bewegung setzen und verkümmern würde.
Noch ein paar Minuten, und die von den philippinischen Hausangestellten mit freiem sonntäglichen Ausgang wie Waisen zurückgelassenen Einwohner des Olgiata-Viertels würden erneut die Straßen überfluten, um mit ihren blitzsauberen Autos und ihrer unverschämten Vitalität die Parkplätze der Pizzerien in der Umgebung militärisch zu besetzen. Denn trotz des vom hartnäckigen Barbecue-Geruch in der Luft erweckten Gefühls der Sattheit hatten alle die Absicht, den Tag schön ausklingen zu lassen, indem sie Tomatenbruschetta und Erdbeeren mit Sahne in sich hineinstopften.
Doch einstweilen waren noch alle zu Hause. Die kleineren Jungen stritten mit der Mutter, weil sie kein Bad nehmen wollten; die etwas größeren mussten sich Vorwürfe anhören, weil sie seit einigen Monaten allzu viel Zeit im Bad verbrachten. Was die Eltern anging, so entspannten sich manche in Bermudashorts und T-Shirt mit einem Glas Chardonnay und verschlungenen Beinen am Rand des Swimmingpools. Manche konnten nicht aufhören, die Ohren ihres Labradors zu malträtieren. Manche taten sich schwer, ihre Partie Canasta aufzugeben. Manche bereiteten Häppchen mit Oliven und Cocktailwürstchen für die Gäste vor. Manche richteten den Koffer für lange Reisen. Manche die Kleider für den nächsten Tag ... Alles war ein Versprechen, alles in einer romantischen Erwartung eingeschlossen. Unruhig war man nur, weil man fürchtete, es nicht zu schaffen, das kupferfarbene, warme Licht dieses besonderen Augenblicks bis zum Ende auszukosten. Des Augenblicks, der diesmal zufälligerweise damit zusammenfiel,dass auf den Fernsehschirmen, die auf denselben Kanal eingestellt waren (damals war die Senderauswahl begrenzt), das Foto von Leo erschien: grobkörnig und erbarmungslos, wie es da über der rechten Schulter des herausgeputzten Nachrichtensprechers schwebte.
Ein Foto, das für unseren Mann nicht vorteilhaft war. Ein Foto, von dem keiner der Zuschauer, die Leo Pontecorvo gut kannten, gesagt hätte, dass es ihm gerecht würde. Ein bisschen wie ein Passbild, ein bisschen wie das Fahndungsfoto eines Vorbestraften, erschien Leo darauf blass und erschöpft. Ohne die geringste Ähnlichkeit mit dem Mann, der im Alter von achtundvierzig Jahren jene glückliche Periode im Leben von Männern durchlief, in der die Natur eine perfekte, allerdings flüchtige Harmonie zwischen jugendlicher Energie und vollendeter Männlichkeit gefunden zu haben scheint. Wenn sich auch, nach einem halben Jahrhundert, in dem er zu viel gearbeitet hatte, die Wirbelsäule dieses schönen schlaksigen Mannes unter dem Gewicht von neunzig Kilo eines großen und auf seine Art eindrucksvollen Körpers zu krümmen begann, war sie doch noch aufrecht genug, Leos Statur kraftvoll und imposant emporragen zu lassen.
Außerhalb Italiens würde man die Schönheit seines Gesichts »italienisch« nennen. In Italien jedoch würde sie manch einer als »nahöstlich« bezeichnen. Lockiges Haar, ganz und gar ähnlich dem, wie es ein Komparse in einem Film über das Leben von Moses hätte tragen können. Eine olivenfarbene Haut, die im Kontakt mit dem Sonnenlicht sofort gebräunt aussah; langgeschnittene Augen, zwei edle grüne Glanzstücke; Ohren, die ebenso kräftig waren wie die Nase (beide zollten dem Judentum leidenschaftlichen Tribut); und diese Lippen - in diesen Lippen lag das ganze Geheimnis: sinnlich, ironisch, schmollend.
Dies also die ganze Schönheit, die jenes Foto nicht hatte wiedergeben können. (Ich habe Leo Pontecorvo gut genug gekannt, um sagen zu können, dass das Drama jenes Erscheinens im Fernsehen für ihn auch eine Tragödie der Eitelkeit war.)
Und doch, alles in allem, die ungetreue Darstellung hatte einen Sinn. Sie drückte eine Drohung aus. Einen Qualitätssprung in der Bestialität der Aggression, deren Opfer Leo seit einigen Wochen war. Und vor allem bedeutete sie etwas sehr Genaues und außerordentlich Beunruhigendes: Diesmal konnte und durfte Leo Pontecorvo sich keine Illusionen machen: Er musste die Hoffnung aufgeben, konnte keine Milde erwarten. Sie würden bis hierher kommen, um ihn aufzuspüren, vielleicht noch an diesem Abend. Mitten in einem strahlend heißen Sommer. Dies war der Sinn jenes Fotos. Dies war es, was jenes - jäh auf dem Bildschirm erschienene - Foto ihm versprach.
Sie würden ihn mit Gewalt aus seiner familiären Gemütlichkeit verjagen, wie eine Maus aus ihrem Loch. Um ihn dem öffentlichen Ressentiment zum Fraß vorzuwerfen, so, wie er jetzt aussah: barfuß, in khakifarbenen Bermudas und einem zerknitterten blauen Hemd, katastrophal unbeholfen auf dem Hocker der eleganten Küche, die auf einen Garten hinausging, der, wie alles andere dort draußen, in heiligem Frieden das letzte, karamellfarbene Licht des Tages genoss.
Nein, sie würden sich nicht einschüchtern lassen von dem Haus, das er sich seinerzeit in den üppigen Schoß von Olgiata hatte bauen lassen - nach dem Bilde des menschlichen Wesens, als das er gern erscheinen wollte: nüchtern, modern, eklektisch, ironisch und vor allem transparent. Eher das Haus eines Designers als das einer Kapazität in der Medizin, ein Haus, durch dessen massive Glasfenster sich bei Tag und speziell am Abend, wenn die Lichter eingeschaltet waren, das bequeme Leben erkennen ließ, das man dort drinnen führte: eine Schamlosigkeit, bei der Rachel - eine Frau, die kulturell nicht darauf eingerichtet war, im Schaufenster zu leben - alles getan hatte,sie durch große Vorhänge zu beseitigen, deren Installation zu Anfang jedes Herbstes Anlass zu einer der klassischsten ehelichen Streitereien war.
Doch Leo war, als er beschlossen hatte, dort zu leben, an einem solchen Ort, in einem Haus dieser Art, auf Widerstände gestoßen, die um einiges mehr Autorität hatten, als jene, die seine junge und jedenfalls bis dahin treu ergebene Gattin ihm mit den Vorhängen entgegensetzte.
»Wenn du mich nur begleiten würdest ... dann würde dir klarwerden, dass man sich an diesem Ort ungemein geschützt fühlt.«
Leo erinnerte sich daran, dass er zwanzig Jahre vor diesem schicksalsträchtigen Abend jene Worte zu seiner Mutter gesagt hatte, um ihr seine Absicht mitzuteilen, die Wohnung im Zentrum zu verkaufen, die sie ihm ebenso großzügig wie unbedacht überschrieben hatte, und eine Parzelle in Olgiata zu erwerben, um darauf »das richtige Haus für uns« zu bauen.
»Und wovor genau solltet ihr euch schützen?«
Leo hatte in der Stimme seiner Mutter einen feinen Unterton von Enttäuschung wahrgenommen, Ausdruck der wachsenden Unduldsamkeit gegenüber ihrem einzigen Sohn, dem bekhor, ihrem Erstgeborenen, der ihrer Meinung nach umso weniger auf sich achtzugeben verstand, je älter er wurde.
»Das ist doch nicht etwa die Idee deiner Frau?«, hatte sie die Sache noch verschärft. »Hat sie dir in den Kopf gesetzt, in der Steppe zu leben? Noch so eine ihrer Machenschaften, um dich auf Sicherheitsabstand von mir zu halten? Treibt sie ein zerstörerisches Spiel mit meinem Geld, meiner Geduld, meinen Gefühlen?«
»Hör auf, Mama. Es ist meine Idee. Halte Rachel da heraus. «
»Nur wenn du mir erklären kannst, was für eine Sorte Name ›Rachel‹ ist! Scheint direkt aus der Bibel zu kommen ...«
War es möglich, dass er, dem es gelungen war, vor strengen Kommissionen zu bestehen und von ihnen als geeignet befunden zu werden, eine exponierte Stellung im Krankenhaus zu bekleiden; er, zu dessen Beruf es gehörte, gebrochenen, ungläubigen Eltern mitzuteilen, dass ihre kleinen Kinder verloren waren; er, der in der Lage war, fast gleichaltrige Studenten in Angst zu versetzen, und den viele schon damals als designierten Erben der akademischen Pfründe des mächtigen Professors Meyer betrachteten - dass er, eben dieser Er es noch immer nicht schaffte, seiner mehr als sechzig Jahre alten Mutter die Stirn zu bieten?
Wenn es ihm gelungen wäre, hätte er wohl nicht das Bedürfnis verspürt, ihr seine Pläne mit dem Haus mitzuteilen. Wenn die Wohnung im Zentrum ihm gehörte, wenn sie sie ihm überschrieben hatte, warum dann so eine große Sache daraus machen? Warum sie nicht verkaufen - und fertig? Warum wie ein kleiner Junge ihre Einwilligung suchen? Und warum dann, wenn er doch wusste, dass er sie nicht erhalten konnte, jetzt, da sie ihm diese Einwilligung tatsächlich verweigert hatte, wütend sein?
Die Fähigkeit dieser Frau, ihn zur Verzweiflung zu bringen. Das Talent, ihn in die Ecke zu treiben. Indem sie ihm das Gefühl gab, ein bockiger Sohn zu sein, was er im Grunde niemals war. Das Charisma seiner Mutter. Ihr Eigensinn. Ihre Neigung, sich einzumischen. Die unerschütterliche matronenhafte Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen. Das alles gewürzt mit einem Sarkasmus, der sich in der letzten Zeit - seit ihr Sohn ihr nicht ohne Verlegenheit mitgeteilt hatte, dass Rachel Spizzichino sehr bald ihre Schwiegertochter sein werde - furchtbar verfeinert hatte.
So hatte er sich in dieser Geschichte mit dem Schutz und der Sicherheit verheddert.
Getrieben von seiner Mutter, die von ihm weiter Rechenschaft für seine eigentümliche Idee, »in der Steppe« leben zu wollen, verlangte, hatte Leo begonnen, irgendetwas Emphatisches über die Gefahren der heutigen Zeit zu nuscheln, diesen ganzen verdammten politischen Antagonismus, über den alten Traum, mitten im Grünen zu wohnen, darüber, wie er und seine junge Braut schon eine Verantwortung für die Kinder, die sie haben würden, empfanden, und darüber, dass ihr Verlangen, die Kleinen zu beschützen, bei dem Besuch in jenem mit Checkpoints,Wächtern, Einfriedungen, grünen Wiesen und Sportanlagen ausgestatteten Viertel geweckt worden sei.
»Wenn du bewaffnete Aufpasser und Drahtzäune suchst, dann kannst du doch genauso gut in Israel leben, wie diese exaltierte Cousine von dir!«
»Ein wahres Paradies auf Erden, Mama ...«, fuhr Leo beharrlich fort und tat so, als hätte er die Bemerkung seiner Mutter nicht gehört.
Und je mehr Leo sprach, desto mehr nuschelte er, und je mehr er nuschelte, desto mehr sah er, wie sich der Spott seiner Mutter zu einem Gesichtsausdruck verdichtete, der jeden Moment ungeduldiger und angewiderter wurde. Ein Ausdruck voll hochmütigen Misstrauens, der in deutlichen und riesigen Buchstaben sagte:
ES GIBT KEINEN ORT AUF DER WELT,
DER IRGENDEINEN SCHUTZ GARANTIEREN KANN, WEDER DIR NOCH IRGENDJEMANDEM SONST!
Und wenn Leo jetzt - nachdem der Fernsehjournalist seine schmutzige Bombe in die ordentliche Küche des Hauses Pontecorvo geworfen hatte und nun über die Brände sprach, von denen die mediterrane Macchia auf Sardinien zerstört wurde - geistesgegenwärtig genug gewesen wäre,an diese Diskussion mit seiner Mutter von vor zwanzig Jahren zurückzudenken, hätte er rückblickend vielleicht die stille und unangreifbare Art geschätzt, mit der diese Frau, die nun schon seit geraumer Zeit nicht mehr unter uns ist, versucht hatte, ihn zu warnen. Erst jetzt wäre Leo - mit einem Fuß im Graben und dem anderen auf gefährlich unsicherem Terrain - in der Lage zu verstehen, wie sehr seine Mutter recht gehabt hatte: Es gibt keinen Winkel im Universum, wo ein Mensch, dieses hochmütige und lächerliche Wesen, sich in Sicherheit wähnen kann.
Und nun klingelt das Telefon unerbittlich und macht keine Anstalten, damit aufzuhören. Da sind eine Menge Leute dort draußen, die mit den Pontecorvos darüber reden wollen, was mit den Pontecorvos passiert. Seltsam, denn das Einzige, worüber sich hier drinnen alle einig sind, ist der Wunsch, jede Kommunikation mit der Außenwelt abzubrechen, für alle Ewigkeit. Doch warum bloß, wenn alles in diesem weiten und hellen Raum, begrenzt von den großen Glaswänden, von der Hecke, die den Besitz der Pontecorvos beschreibt, und von der Einfriedung des Viertels, so ist, wo (und wie) es sein muss, wieso scheint der Rest des Planeten verrückt geworden zu sein?
Wenn es in Wirklichkeit etwas gibt, das seit einiger Zeit immer verrückter zu werden scheint, nun, dann ist es das Leben der Pontecorvos. Seit die von Leo gegründete Abteilung des Krankenhauses in einen Skandal mit Schmiergeldern, überhöhten Rechnungen, verkauften Bettenplätzen, zwecks Irreführung und in betrügerischer Absicht in Privatkliniken verlegten Patienten (alles Kinder und Jugendliche am Ende ihres Lebens) hineingezogen wurde, hat sich alles immer mehr verschlechtert und bei jeder Gelegenheit eine unvorhersehbar unheilvolle, stets schlimmere Wendung genommen. Irgendwann ist sogar unterstellt worden, Leos Universitätskarriere sei in seinen Sympathien für Craxi begründet (oder, um genau zu sein, in Bettino Craxis Sympathien für ihn). Dann ist ein Assistent aufgetaucht, seinerzeit wegen Nachlässigkeit aus der Universität entfernt, der ihn aus Rache beschuldigt hat, ihm zu einem Wucherzins Geld geliehen zu haben.
Und doch, all jene schweren Anschuldigungen, die seine Karriere gefährden, scheinen neben dieser letzten Schändlichkeit so geringfügig. Vielleicht weil es nichts Schlimmeres gibt als Leo, der den Cyrano de Bergerac mit einer Zwölfjährigen spielt. Diese ekelhaften Briefe! Gespickt mit meine Kleine und mein Liebes, Anreden, mit denen sich normalerweise Erwachsene an gleichaltrige und einverständliche Partner wenden, die hier jedoch, eben weil sie zur kindlichen Empfängerin und ihrem Alter passen, widerlich erscheinen. Die langen, peinlichen Auszüge aus diesen Scheißbriefen, die bald die seriösen Seiten der wichtigsten Tageszeitungen füllen werden.
Wie es scheint, Leo, hast du die einzige Tabuverletzung begangen, die die Menschen nicht verzeihen. Eine Zwölfjährige, großer Gott. Eine Zwölfjährige begehren. Die zwölfjährige Freundin deines Sohnes verführen. Es geht dabei nicht einmal um Sex. Du weißt sehr gut, dass sich heutzutage niemand für einen Fick ruiniert. Im Gegenteil, allenfalls steht ein Fick sehr oft am Anfang von großen Vermögen. Das Schlimme ist das Alter der mutmaßlich Entjungferten. Das macht den ganzen Unterschied aus.
An diesem Punkt wird es keine deiner Eigenschaften als ruhiger und kultivierter Mann mehr geben, die im Lichte des Verbrechens, das man dir vorwirft, nicht als Schuld oder erschwerender Umstand betrachtet wird. Alles, was du bisher an Gutem getan hast, ist von jetzt an als Absonderlichkeit eines Perversen anzusehen. Denn niemand dort draußen wird sich fragen, ob die Anklage plausibel ist. Im Gegenteil, sie werden sich dafür entscheiden, diese Geschichte gerade wegen ihrer Implausibilität zu glauben. So funktioniert das bei uns. Und eben weil die Leute am liebsten das Schlimmste glauben, wird alles Schlechte, das man über einen Menschen sagt (vor allem, wenn dieser eine recht glückliche Hand beim Monopoly des Lebens gehabt hat), sofort für bare Münze genommen.Auf diese Weise nimmt der Klatsch mörderische Formen an. Und die Kapillaren des sozialen Organismus blähen sich auf, bis sie fast platzen.
Aber wie könntest du andererseits auch von der Welt verlangen, das zu akzeptieren, was keiner der drei Menschen, die mit dir wie betäubt im Augenblick in der Küche sind, dir je wird verzeihen können?
Das mühevolle Atmen Samuels. Ein synkopisches Keuchen, das Leo einen leichten Schrecken einjagt, wie ihn eine Turbulenz bei einem Passagier erzeugt, der Flugangst hat. Leo denkt daran, was er diesem Jungen angetan hat. Die ganze Nation, die von morgen an darüber klatschen wird, dass dein Vater deine Freundin gevögelt hat. Das gehört zu den Dingen, von denen du dich nicht erholst.
Der Schwebezustand, der in diesen langen Augenblicken in der Küche herrscht, wird vom Gluckern der Espressokanne zerrissen, die darauf brennt, den Anwesenden mitzuteilen, dass der Kaffee bis zum letzten Tropfen hochgekommen ist und dass sie, falls sich nicht irgendjemand entschließen sollte, die Flamme zuzudrehen, sich nicht mehr zurückhalten könne und in die Luft fliegen werde.
»Mama, warum machen wir die Flamme nicht aus? He, Mama, warum machen wir nicht aus? Sollen wir nicht besser ausmachen, Mama?«
Das ist Filippos Stimme. Auf abstoßende Art quengelig. Kindlicher als der Junge, zu dem sie gehört. Leo möchte nur, dass Rachel ihn zum Schweigen bringt. Und das tut Rachel, steht auf wie ein Roboter und dreht den Schalter am Herd zu.Rachel.Großer Gott,Rachel.Erst jetzt erinnert Leo sich an sie. Erst jetzt versucht er sich vorzustellen, was ihr durch den Kopf schwirren mag. Und genau in diesem Augenblick stürzt das Flugzeug ab.
Leo spürt, dass er sie hasst, wie er noch nie etwas gehasst hat. Er gibt ihr die Schuld an allem: hier zu sein und nicht genug hier zu sein, nichts zu tun, aber auch, alles zu tun, zu schweigen, zu atmen, ein so köstliches Abendessen auf den Tisch gebracht zu haben, den Fernseher ausgerechnet auf diesen bestimmten Sender eingestellt zu haben, gewohnheitsmäßig zehnmal am Tag Fernsehnachrichten zu schauen, nicht aufzustehen und ans Telefon zu gehen, zwei Kinder geboren zu haben, deren Anwesenheit sich jetzt, für ihn, als unerträglich herausstellt, Filippo nicht zum Schweigen zu bringen, dem katatonischen Samuel nicht zu Hilfe zu eilen ...
Sie ist es gewesen, die den Jungen die Idee in den Kopf gesetzt hat, er sei ein großer Mann.Wie kann dieser wie ein Gott angebetete Mensch zugeben, dass er zerbrechlich ist? Wie kann er das Einzige tun,was er tun möchte: in Schluchzen ausbrechen? Wie kann er sich rechtfertigen, indem er Zuflucht bei banalen Entschuldigungen sucht und sich als Opfer eines gigantischen Missverständnisses darstellt?
Denn es handelt sich doch um ein Missverständnis, oder? Leo weiß es nicht mehr. Im Augenblick ist er verwirrt.Aber ja, es würde reichen, einen Blick in die fraglichen Briefe zu werfen - die er Camilla geschrieben und ihr geschickt hat (es stimmt, er kann es nicht leugnen) -, um zu begreifen, dass sie das Gegenteil dessen sind, was sie scheinen. Nein, mein Kleiner, dein Vater hat deine Freundin nicht gefickt. Allenfalls ist dein Papilein von ihr gefickt worden!
Genauso wie es genügen würde, ein Auge auf die Beschuldigungen zu werfen, um festzustellen, dass sie weniger das Ergebnis von Unehrlichkeit als das Resultat einer Mischung aus Naivität und Unverantwortlichkeit sind.Wenigstens dies muss Rachel notgedrungen wissen. Sie kennt die Leichtfertigkeit ihres Mannes. Ein Leben lang beklagt sie sich schon darüber, oft auch auf nette Art. Und dann doch so, dass Filippo und Samuel nicht einmal im Traum darauf kommen konnten. Siehst du? Es ist ihre Schuld. Alles Rachels Schuld.
Was tut Leo? Das, was er am besten kann: den anderen die Schuld geben. Es ihnen in die Schuhe schieben. Im Grunde handelt es sich um die gleiche (revidierte und verbesserte) Technik, die er viele Jahre zuvor anwandte, um sich gegen die Vorhaltungen seiner Mutter zu verteidigen.
Wenn Signora Pontecorvo wütend wurde, bestand die einzige Reaktion des kleinen Leo darin, gekränkt zu sein. Ein beleidigtes Gesicht aufzusetzen. Bis die Mutter, zermürbt vom erpresserischen Verhalten ihres kleinen Lieblings, schließlich nachgab und in einem versöhnlichen Lächeln dahinschmolz. »Ach, Schatz, es ist doch alles gut.Wollen wir nicht Frieden schließen, was meinst du?«
Erst dann bewies unser Stratege Großmut und akzeptierte die Entschuldigungen seiner Mutter. Nun ja, Leo hat es so eingerichtet, dass dieses Theater auch ein Eheklassiker wurde.
Gewiss fragten sich viele, wie ein Mann mit dem Charme und der Herkunft eines Leo Pontecorvo dieses arme jüdische Mädchen hatte heiraten können. Ihre Zurückhaltung konnte mit Apathie verwechselt und ihr Wunsch, sich unsichtbar zu machen, für Fadheit gehalten werden. Manch einer mochte sich fragen, wie dieser attraktive, stattliche Mann, romantisch wie ein slawischer Pianist (widerspenstiges Haar und schlanke Finger), ein Klinikarzt, dem der weiße Kittel so gut steht wie manchen Dirigenten der Frack, die kleine, gerade einmal hübsche Rachel Spizzichino hatte heiraten können.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Es hat keinen Sinn, sich vorzumachen, sein zartes Alter hätte es Samuel verwehrt zu ahnen, was für die anderen sofort klar gewesen war: Jemand im Fernsehen suggerierte, dass der Vater sein Mädchen gevögelt hatte. Und wenn ich »Mädchen« sage, meine ich ein Gör von zwölfeinhalb Jahren mit orangefarbenem Haar und einem mit Sommersprossen übersäten spitzen Gesichtchen. Doch wenn ich »vögeln« sage, meine ich vögeln. Und somit eine außerordentliche, äußerst schwerwiegende, zu brutale Sache, um sie einfach so wegzustecken. Selbst für eine Frau und zwei Söhne, die sich schon seit einer Weile fragten, ob dieser Ehemann und Vater wirklich der untadelige Bürger sei, auf den sie immer so selbstverständlich stolz gewesen waren.
Der Ausdruck »schon seit einer Weile« spielt auf seine ersten Probleme mit dem Gesetz an, die den schändlichen Stempel des Verdachts auf die exemplarische Karriere eines der rührigsten und erfolgreichsten Kinderonkologen des Landes gedrückt hatten; eines jener Chefärzte, der sich, wenn ihn die alte Krankenschwester ihrer neu eingestellten Kollegin beschrieb, Bemerkungen verdiente wie: »Ein feiner Mensch! Niemals vergisst er, ›danke‹, ›bitte‹ oder ›gern geschehen‹ zu sagen ... und dann sieht er auch noch gut aus!« Und in den stickigen Wartezimmern des Hospitals Santa Cristina, wo die Mütter der kranken Kinder bange Empfindungen darüber austauschten, in was für einen Albtraum sich die Kindheit ihrer Kleinen verwandelt hatte, konnte man nicht selten solche Dialoge hören: »Er ist immer für einen da. Man kann ihn jederzeit anrufen.Auch nachts ...«
»Ich finde, er macht einem Mut. Ist immer guter Dinge, positiv.«
»Und außerdem kann er mit Kindern umgehen ...«
Während das Klingeln des Telefons einer bis vor ein paar Sekunden unvorstellbaren Schande etwas Rhythmischhitzig- Frenetisches zu geben begann, spürte Leo, auf dem Höhepunkt der Verwirrung, dass diese Mahlzeit die letzte war, die seine Lieben ihm zugestehen würden. Dann dachte er an die vielen tausend anderen Dinge, die ihm von diesem Moment an verwehrt sein würden. Und vielleicht war es, um nicht in sich zusammenzufallen, um nicht unter der Last von Panik und Sentimentalität niederzusinken, um nicht vor seinen Söhnen und seiner Frau wie ein kleines Kind in Tränen auszubrechen, dass er sich in einen überheblichen und hasserfüllten Gedanken flüchtete.
Zum Schluss hatte sie es geschafft: Dem Mädchen, das sein Sohn vor ungefähr einem Jahr ins Haus gebracht hatte und das Rachel und er - das offenste und harmonischste Paar in ihren Kreisen - ohne Geschichten aufgenommen hatten, diesem Mädchen war es gelungen, ihr Leben zu zerstören. Sein Leben und das der drei Menschen, die er am meisten liebte.
So muss es also enden?, war der Gedanke, bei dem Leo sich ertappte, während er sich immer mehr mit dem nicht zu verdrängenden Wunsch herumschlug, nie existiert zu haben. Falsche Frage, alter Freund.Was für einen Sinn hat es, vom Ende zu reden, wenn wir erst am Anfang sind?
All dies geschah zu einer passenden Stunde.
Zu der Stunde, in der das Olgiata-Viertel - ein vornehmer, in viele Hektar Wald eingebetteter Wohnbezirk mit Villen und immer blühenden Gärten allüberall, begrenzt von massiven Mauern - sich plötzlich leerte. So wie ein Strand bei Sonnenuntergang.
Es war dann, als wäre man in einem riesigen Vergnügungspark ein paar Minuten nach der Schließung gefangen. Die Spuren der während des Tages verschwendeten sportlichen Energie waren überall verstreut: der Adidas-Lederball in der Hecke eingeklemmt, das bis zur Erschöpfung gefahrene Skateboard umgekippt auf dem Pflasterweg, das orange Plastikschwimmbrett auf der ölig schimmernden Oberfläche des Swimmingpools treibend, ein Paar Tennisschläger, besprengt von Spritzern einer Bewässerungsanlage, die hinterrücks mit einem Klicken losgelegt hatte.
Natürlich konnte man auch auf den fanatischen Jogger in Fleeceshorts stoßen, das Handtuch über den Schultern wie Rocky Balboa, oder auf den jungen Vater, der außer Atem vom Supermarkt zurückkam - in einer Hand eine Packung Windeln, in der anderen die mit Kondomen.
Doch abgesehen von diesen Einzelgängern mit freiem Ausgang - diesen Ruhestörern der abendlichen Siesta -,hatten sich die anderen nahezu allesamt in ihre Häuser verkrochen: Villen mit inkonsequenter, eklektischer Architektur, manche schlicht, andere protzig (der mexikanische Stil verdrängte in letzter Zeit zunehmend die Mode der alpinen Chalets). Wenn man sie von außen sah, diese Häuser, konnte man sich die ausgebauten Kellergeschosse vorstellen, wo alles war, wie es sein sollte: der Kamin, die von grünem Schimmel angefressenen Fußbodenleisten, die gehäkelten Spitzendeckchen, die Stöße von Illustrierten, die Ahornholzkästen voller Lavendel, der wie eine Leiche im Leichenschauhaus rigoros mit einem Tuch abgedeckte Billardtisch, ein bauchiger Fernseher mit dem fangarmartig von ihm ausgehenden Kabelgewirr des Videorecorders und der Atari-Konsole. Man konnte ihn riechen, den heuchlerisch ländlichen Duft der Holzklötze, der Pinienzapfen, der gebündelten Zeitungen, nicht weniger vergilbt als die Tischtennisbälle, die sich im Dunkel versteckten, reglos auf der Hut wie Detektive.
Es war nur ein Augenblick. Ein Augenblick außerhalb der Galaxie. Ein Augenblick übernatürlicher Entspannung. Ein Augenblick, in dem die Epiphanie des Familiären, täglich in diesem vielleicht dreißig Kilometer vom Zentrum Roms entfernten Wohnbezirk zelebriert, ihren Höhepunkt erreichte. Ein wirklich rührender Moment, nach dem sich alles wieder in Bewegung setzen und verkümmern würde.
Noch ein paar Minuten, und die von den philippinischen Hausangestellten mit freiem sonntäglichen Ausgang wie Waisen zurückgelassenen Einwohner des Olgiata-Viertels würden erneut die Straßen überfluten, um mit ihren blitzsauberen Autos und ihrer unverschämten Vitalität die Parkplätze der Pizzerien in der Umgebung militärisch zu besetzen. Denn trotz des vom hartnäckigen Barbecue-Geruch in der Luft erweckten Gefühls der Sattheit hatten alle die Absicht, den Tag schön ausklingen zu lassen, indem sie Tomatenbruschetta und Erdbeeren mit Sahne in sich hineinstopften.
Doch einstweilen waren noch alle zu Hause. Die kleineren Jungen stritten mit der Mutter, weil sie kein Bad nehmen wollten; die etwas größeren mussten sich Vorwürfe anhören, weil sie seit einigen Monaten allzu viel Zeit im Bad verbrachten. Was die Eltern anging, so entspannten sich manche in Bermudashorts und T-Shirt mit einem Glas Chardonnay und verschlungenen Beinen am Rand des Swimmingpools. Manche konnten nicht aufhören, die Ohren ihres Labradors zu malträtieren. Manche taten sich schwer, ihre Partie Canasta aufzugeben. Manche bereiteten Häppchen mit Oliven und Cocktailwürstchen für die Gäste vor. Manche richteten den Koffer für lange Reisen. Manche die Kleider für den nächsten Tag ... Alles war ein Versprechen, alles in einer romantischen Erwartung eingeschlossen. Unruhig war man nur, weil man fürchtete, es nicht zu schaffen, das kupferfarbene, warme Licht dieses besonderen Augenblicks bis zum Ende auszukosten. Des Augenblicks, der diesmal zufälligerweise damit zusammenfiel,dass auf den Fernsehschirmen, die auf denselben Kanal eingestellt waren (damals war die Senderauswahl begrenzt), das Foto von Leo erschien: grobkörnig und erbarmungslos, wie es da über der rechten Schulter des herausgeputzten Nachrichtensprechers schwebte.
Ein Foto, das für unseren Mann nicht vorteilhaft war. Ein Foto, von dem keiner der Zuschauer, die Leo Pontecorvo gut kannten, gesagt hätte, dass es ihm gerecht würde. Ein bisschen wie ein Passbild, ein bisschen wie das Fahndungsfoto eines Vorbestraften, erschien Leo darauf blass und erschöpft. Ohne die geringste Ähnlichkeit mit dem Mann, der im Alter von achtundvierzig Jahren jene glückliche Periode im Leben von Männern durchlief, in der die Natur eine perfekte, allerdings flüchtige Harmonie zwischen jugendlicher Energie und vollendeter Männlichkeit gefunden zu haben scheint. Wenn sich auch, nach einem halben Jahrhundert, in dem er zu viel gearbeitet hatte, die Wirbelsäule dieses schönen schlaksigen Mannes unter dem Gewicht von neunzig Kilo eines großen und auf seine Art eindrucksvollen Körpers zu krümmen begann, war sie doch noch aufrecht genug, Leos Statur kraftvoll und imposant emporragen zu lassen.
Außerhalb Italiens würde man die Schönheit seines Gesichts »italienisch« nennen. In Italien jedoch würde sie manch einer als »nahöstlich« bezeichnen. Lockiges Haar, ganz und gar ähnlich dem, wie es ein Komparse in einem Film über das Leben von Moses hätte tragen können. Eine olivenfarbene Haut, die im Kontakt mit dem Sonnenlicht sofort gebräunt aussah; langgeschnittene Augen, zwei edle grüne Glanzstücke; Ohren, die ebenso kräftig waren wie die Nase (beide zollten dem Judentum leidenschaftlichen Tribut); und diese Lippen - in diesen Lippen lag das ganze Geheimnis: sinnlich, ironisch, schmollend.
Dies also die ganze Schönheit, die jenes Foto nicht hatte wiedergeben können. (Ich habe Leo Pontecorvo gut genug gekannt, um sagen zu können, dass das Drama jenes Erscheinens im Fernsehen für ihn auch eine Tragödie der Eitelkeit war.)
Und doch, alles in allem, die ungetreue Darstellung hatte einen Sinn. Sie drückte eine Drohung aus. Einen Qualitätssprung in der Bestialität der Aggression, deren Opfer Leo seit einigen Wochen war. Und vor allem bedeutete sie etwas sehr Genaues und außerordentlich Beunruhigendes: Diesmal konnte und durfte Leo Pontecorvo sich keine Illusionen machen: Er musste die Hoffnung aufgeben, konnte keine Milde erwarten. Sie würden bis hierher kommen, um ihn aufzuspüren, vielleicht noch an diesem Abend. Mitten in einem strahlend heißen Sommer. Dies war der Sinn jenes Fotos. Dies war es, was jenes - jäh auf dem Bildschirm erschienene - Foto ihm versprach.
Sie würden ihn mit Gewalt aus seiner familiären Gemütlichkeit verjagen, wie eine Maus aus ihrem Loch. Um ihn dem öffentlichen Ressentiment zum Fraß vorzuwerfen, so, wie er jetzt aussah: barfuß, in khakifarbenen Bermudas und einem zerknitterten blauen Hemd, katastrophal unbeholfen auf dem Hocker der eleganten Küche, die auf einen Garten hinausging, der, wie alles andere dort draußen, in heiligem Frieden das letzte, karamellfarbene Licht des Tages genoss.
Nein, sie würden sich nicht einschüchtern lassen von dem Haus, das er sich seinerzeit in den üppigen Schoß von Olgiata hatte bauen lassen - nach dem Bilde des menschlichen Wesens, als das er gern erscheinen wollte: nüchtern, modern, eklektisch, ironisch und vor allem transparent. Eher das Haus eines Designers als das einer Kapazität in der Medizin, ein Haus, durch dessen massive Glasfenster sich bei Tag und speziell am Abend, wenn die Lichter eingeschaltet waren, das bequeme Leben erkennen ließ, das man dort drinnen führte: eine Schamlosigkeit, bei der Rachel - eine Frau, die kulturell nicht darauf eingerichtet war, im Schaufenster zu leben - alles getan hatte,sie durch große Vorhänge zu beseitigen, deren Installation zu Anfang jedes Herbstes Anlass zu einer der klassischsten ehelichen Streitereien war.
Doch Leo war, als er beschlossen hatte, dort zu leben, an einem solchen Ort, in einem Haus dieser Art, auf Widerstände gestoßen, die um einiges mehr Autorität hatten, als jene, die seine junge und jedenfalls bis dahin treu ergebene Gattin ihm mit den Vorhängen entgegensetzte.
»Wenn du mich nur begleiten würdest ... dann würde dir klarwerden, dass man sich an diesem Ort ungemein geschützt fühlt.«
Leo erinnerte sich daran, dass er zwanzig Jahre vor diesem schicksalsträchtigen Abend jene Worte zu seiner Mutter gesagt hatte, um ihr seine Absicht mitzuteilen, die Wohnung im Zentrum zu verkaufen, die sie ihm ebenso großzügig wie unbedacht überschrieben hatte, und eine Parzelle in Olgiata zu erwerben, um darauf »das richtige Haus für uns« zu bauen.
»Und wovor genau solltet ihr euch schützen?«
Leo hatte in der Stimme seiner Mutter einen feinen Unterton von Enttäuschung wahrgenommen, Ausdruck der wachsenden Unduldsamkeit gegenüber ihrem einzigen Sohn, dem bekhor, ihrem Erstgeborenen, der ihrer Meinung nach umso weniger auf sich achtzugeben verstand, je älter er wurde.
»Das ist doch nicht etwa die Idee deiner Frau?«, hatte sie die Sache noch verschärft. »Hat sie dir in den Kopf gesetzt, in der Steppe zu leben? Noch so eine ihrer Machenschaften, um dich auf Sicherheitsabstand von mir zu halten? Treibt sie ein zerstörerisches Spiel mit meinem Geld, meiner Geduld, meinen Gefühlen?«
»Hör auf, Mama. Es ist meine Idee. Halte Rachel da heraus. «
»Nur wenn du mir erklären kannst, was für eine Sorte Name ›Rachel‹ ist! Scheint direkt aus der Bibel zu kommen ...«
War es möglich, dass er, dem es gelungen war, vor strengen Kommissionen zu bestehen und von ihnen als geeignet befunden zu werden, eine exponierte Stellung im Krankenhaus zu bekleiden; er, zu dessen Beruf es gehörte, gebrochenen, ungläubigen Eltern mitzuteilen, dass ihre kleinen Kinder verloren waren; er, der in der Lage war, fast gleichaltrige Studenten in Angst zu versetzen, und den viele schon damals als designierten Erben der akademischen Pfründe des mächtigen Professors Meyer betrachteten - dass er, eben dieser Er es noch immer nicht schaffte, seiner mehr als sechzig Jahre alten Mutter die Stirn zu bieten?
Wenn es ihm gelungen wäre, hätte er wohl nicht das Bedürfnis verspürt, ihr seine Pläne mit dem Haus mitzuteilen. Wenn die Wohnung im Zentrum ihm gehörte, wenn sie sie ihm überschrieben hatte, warum dann so eine große Sache daraus machen? Warum sie nicht verkaufen - und fertig? Warum wie ein kleiner Junge ihre Einwilligung suchen? Und warum dann, wenn er doch wusste, dass er sie nicht erhalten konnte, jetzt, da sie ihm diese Einwilligung tatsächlich verweigert hatte, wütend sein?
Die Fähigkeit dieser Frau, ihn zur Verzweiflung zu bringen. Das Talent, ihn in die Ecke zu treiben. Indem sie ihm das Gefühl gab, ein bockiger Sohn zu sein, was er im Grunde niemals war. Das Charisma seiner Mutter. Ihr Eigensinn. Ihre Neigung, sich einzumischen. Die unerschütterliche matronenhafte Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen. Das alles gewürzt mit einem Sarkasmus, der sich in der letzten Zeit - seit ihr Sohn ihr nicht ohne Verlegenheit mitgeteilt hatte, dass Rachel Spizzichino sehr bald ihre Schwiegertochter sein werde - furchtbar verfeinert hatte.
So hatte er sich in dieser Geschichte mit dem Schutz und der Sicherheit verheddert.
Getrieben von seiner Mutter, die von ihm weiter Rechenschaft für seine eigentümliche Idee, »in der Steppe« leben zu wollen, verlangte, hatte Leo begonnen, irgendetwas Emphatisches über die Gefahren der heutigen Zeit zu nuscheln, diesen ganzen verdammten politischen Antagonismus, über den alten Traum, mitten im Grünen zu wohnen, darüber, wie er und seine junge Braut schon eine Verantwortung für die Kinder, die sie haben würden, empfanden, und darüber, dass ihr Verlangen, die Kleinen zu beschützen, bei dem Besuch in jenem mit Checkpoints,Wächtern, Einfriedungen, grünen Wiesen und Sportanlagen ausgestatteten Viertel geweckt worden sei.
»Wenn du bewaffnete Aufpasser und Drahtzäune suchst, dann kannst du doch genauso gut in Israel leben, wie diese exaltierte Cousine von dir!«
»Ein wahres Paradies auf Erden, Mama ...«, fuhr Leo beharrlich fort und tat so, als hätte er die Bemerkung seiner Mutter nicht gehört.
Und je mehr Leo sprach, desto mehr nuschelte er, und je mehr er nuschelte, desto mehr sah er, wie sich der Spott seiner Mutter zu einem Gesichtsausdruck verdichtete, der jeden Moment ungeduldiger und angewiderter wurde. Ein Ausdruck voll hochmütigen Misstrauens, der in deutlichen und riesigen Buchstaben sagte:
ES GIBT KEINEN ORT AUF DER WELT,
DER IRGENDEINEN SCHUTZ GARANTIEREN KANN, WEDER DIR NOCH IRGENDJEMANDEM SONST!
Und wenn Leo jetzt - nachdem der Fernsehjournalist seine schmutzige Bombe in die ordentliche Küche des Hauses Pontecorvo geworfen hatte und nun über die Brände sprach, von denen die mediterrane Macchia auf Sardinien zerstört wurde - geistesgegenwärtig genug gewesen wäre,an diese Diskussion mit seiner Mutter von vor zwanzig Jahren zurückzudenken, hätte er rückblickend vielleicht die stille und unangreifbare Art geschätzt, mit der diese Frau, die nun schon seit geraumer Zeit nicht mehr unter uns ist, versucht hatte, ihn zu warnen. Erst jetzt wäre Leo - mit einem Fuß im Graben und dem anderen auf gefährlich unsicherem Terrain - in der Lage zu verstehen, wie sehr seine Mutter recht gehabt hatte: Es gibt keinen Winkel im Universum, wo ein Mensch, dieses hochmütige und lächerliche Wesen, sich in Sicherheit wähnen kann.
Und nun klingelt das Telefon unerbittlich und macht keine Anstalten, damit aufzuhören. Da sind eine Menge Leute dort draußen, die mit den Pontecorvos darüber reden wollen, was mit den Pontecorvos passiert. Seltsam, denn das Einzige, worüber sich hier drinnen alle einig sind, ist der Wunsch, jede Kommunikation mit der Außenwelt abzubrechen, für alle Ewigkeit. Doch warum bloß, wenn alles in diesem weiten und hellen Raum, begrenzt von den großen Glaswänden, von der Hecke, die den Besitz der Pontecorvos beschreibt, und von der Einfriedung des Viertels, so ist, wo (und wie) es sein muss, wieso scheint der Rest des Planeten verrückt geworden zu sein?
Wenn es in Wirklichkeit etwas gibt, das seit einiger Zeit immer verrückter zu werden scheint, nun, dann ist es das Leben der Pontecorvos. Seit die von Leo gegründete Abteilung des Krankenhauses in einen Skandal mit Schmiergeldern, überhöhten Rechnungen, verkauften Bettenplätzen, zwecks Irreführung und in betrügerischer Absicht in Privatkliniken verlegten Patienten (alles Kinder und Jugendliche am Ende ihres Lebens) hineingezogen wurde, hat sich alles immer mehr verschlechtert und bei jeder Gelegenheit eine unvorhersehbar unheilvolle, stets schlimmere Wendung genommen. Irgendwann ist sogar unterstellt worden, Leos Universitätskarriere sei in seinen Sympathien für Craxi begründet (oder, um genau zu sein, in Bettino Craxis Sympathien für ihn). Dann ist ein Assistent aufgetaucht, seinerzeit wegen Nachlässigkeit aus der Universität entfernt, der ihn aus Rache beschuldigt hat, ihm zu einem Wucherzins Geld geliehen zu haben.
Und doch, all jene schweren Anschuldigungen, die seine Karriere gefährden, scheinen neben dieser letzten Schändlichkeit so geringfügig. Vielleicht weil es nichts Schlimmeres gibt als Leo, der den Cyrano de Bergerac mit einer Zwölfjährigen spielt. Diese ekelhaften Briefe! Gespickt mit meine Kleine und mein Liebes, Anreden, mit denen sich normalerweise Erwachsene an gleichaltrige und einverständliche Partner wenden, die hier jedoch, eben weil sie zur kindlichen Empfängerin und ihrem Alter passen, widerlich erscheinen. Die langen, peinlichen Auszüge aus diesen Scheißbriefen, die bald die seriösen Seiten der wichtigsten Tageszeitungen füllen werden.
Wie es scheint, Leo, hast du die einzige Tabuverletzung begangen, die die Menschen nicht verzeihen. Eine Zwölfjährige, großer Gott. Eine Zwölfjährige begehren. Die zwölfjährige Freundin deines Sohnes verführen. Es geht dabei nicht einmal um Sex. Du weißt sehr gut, dass sich heutzutage niemand für einen Fick ruiniert. Im Gegenteil, allenfalls steht ein Fick sehr oft am Anfang von großen Vermögen. Das Schlimme ist das Alter der mutmaßlich Entjungferten. Das macht den ganzen Unterschied aus.
An diesem Punkt wird es keine deiner Eigenschaften als ruhiger und kultivierter Mann mehr geben, die im Lichte des Verbrechens, das man dir vorwirft, nicht als Schuld oder erschwerender Umstand betrachtet wird. Alles, was du bisher an Gutem getan hast, ist von jetzt an als Absonderlichkeit eines Perversen anzusehen. Denn niemand dort draußen wird sich fragen, ob die Anklage plausibel ist. Im Gegenteil, sie werden sich dafür entscheiden, diese Geschichte gerade wegen ihrer Implausibilität zu glauben. So funktioniert das bei uns. Und eben weil die Leute am liebsten das Schlimmste glauben, wird alles Schlechte, das man über einen Menschen sagt (vor allem, wenn dieser eine recht glückliche Hand beim Monopoly des Lebens gehabt hat), sofort für bare Münze genommen.Auf diese Weise nimmt der Klatsch mörderische Formen an. Und die Kapillaren des sozialen Organismus blähen sich auf, bis sie fast platzen.
Aber wie könntest du andererseits auch von der Welt verlangen, das zu akzeptieren, was keiner der drei Menschen, die mit dir wie betäubt im Augenblick in der Küche sind, dir je wird verzeihen können?
Das mühevolle Atmen Samuels. Ein synkopisches Keuchen, das Leo einen leichten Schrecken einjagt, wie ihn eine Turbulenz bei einem Passagier erzeugt, der Flugangst hat. Leo denkt daran, was er diesem Jungen angetan hat. Die ganze Nation, die von morgen an darüber klatschen wird, dass dein Vater deine Freundin gevögelt hat. Das gehört zu den Dingen, von denen du dich nicht erholst.
Der Schwebezustand, der in diesen langen Augenblicken in der Küche herrscht, wird vom Gluckern der Espressokanne zerrissen, die darauf brennt, den Anwesenden mitzuteilen, dass der Kaffee bis zum letzten Tropfen hochgekommen ist und dass sie, falls sich nicht irgendjemand entschließen sollte, die Flamme zuzudrehen, sich nicht mehr zurückhalten könne und in die Luft fliegen werde.
»Mama, warum machen wir die Flamme nicht aus? He, Mama, warum machen wir nicht aus? Sollen wir nicht besser ausmachen, Mama?«
Das ist Filippos Stimme. Auf abstoßende Art quengelig. Kindlicher als der Junge, zu dem sie gehört. Leo möchte nur, dass Rachel ihn zum Schweigen bringt. Und das tut Rachel, steht auf wie ein Roboter und dreht den Schalter am Herd zu.Rachel.Großer Gott,Rachel.Erst jetzt erinnert Leo sich an sie. Erst jetzt versucht er sich vorzustellen, was ihr durch den Kopf schwirren mag. Und genau in diesem Augenblick stürzt das Flugzeug ab.
Leo spürt, dass er sie hasst, wie er noch nie etwas gehasst hat. Er gibt ihr die Schuld an allem: hier zu sein und nicht genug hier zu sein, nichts zu tun, aber auch, alles zu tun, zu schweigen, zu atmen, ein so köstliches Abendessen auf den Tisch gebracht zu haben, den Fernseher ausgerechnet auf diesen bestimmten Sender eingestellt zu haben, gewohnheitsmäßig zehnmal am Tag Fernsehnachrichten zu schauen, nicht aufzustehen und ans Telefon zu gehen, zwei Kinder geboren zu haben, deren Anwesenheit sich jetzt, für ihn, als unerträglich herausstellt, Filippo nicht zum Schweigen zu bringen, dem katatonischen Samuel nicht zu Hilfe zu eilen ...
Sie ist es gewesen, die den Jungen die Idee in den Kopf gesetzt hat, er sei ein großer Mann.Wie kann dieser wie ein Gott angebetete Mensch zugeben, dass er zerbrechlich ist? Wie kann er das Einzige tun,was er tun möchte: in Schluchzen ausbrechen? Wie kann er sich rechtfertigen, indem er Zuflucht bei banalen Entschuldigungen sucht und sich als Opfer eines gigantischen Missverständnisses darstellt?
Denn es handelt sich doch um ein Missverständnis, oder? Leo weiß es nicht mehr. Im Augenblick ist er verwirrt.Aber ja, es würde reichen, einen Blick in die fraglichen Briefe zu werfen - die er Camilla geschrieben und ihr geschickt hat (es stimmt, er kann es nicht leugnen) -, um zu begreifen, dass sie das Gegenteil dessen sind, was sie scheinen. Nein, mein Kleiner, dein Vater hat deine Freundin nicht gefickt. Allenfalls ist dein Papilein von ihr gefickt worden!
Genauso wie es genügen würde, ein Auge auf die Beschuldigungen zu werfen, um festzustellen, dass sie weniger das Ergebnis von Unehrlichkeit als das Resultat einer Mischung aus Naivität und Unverantwortlichkeit sind.Wenigstens dies muss Rachel notgedrungen wissen. Sie kennt die Leichtfertigkeit ihres Mannes. Ein Leben lang beklagt sie sich schon darüber, oft auch auf nette Art. Und dann doch so, dass Filippo und Samuel nicht einmal im Traum darauf kommen konnten. Siehst du? Es ist ihre Schuld. Alles Rachels Schuld.
Was tut Leo? Das, was er am besten kann: den anderen die Schuld geben. Es ihnen in die Schuhe schieben. Im Grunde handelt es sich um die gleiche (revidierte und verbesserte) Technik, die er viele Jahre zuvor anwandte, um sich gegen die Vorhaltungen seiner Mutter zu verteidigen.
Wenn Signora Pontecorvo wütend wurde, bestand die einzige Reaktion des kleinen Leo darin, gekränkt zu sein. Ein beleidigtes Gesicht aufzusetzen. Bis die Mutter, zermürbt vom erpresserischen Verhalten ihres kleinen Lieblings, schließlich nachgab und in einem versöhnlichen Lächeln dahinschmolz. »Ach, Schatz, es ist doch alles gut.Wollen wir nicht Frieden schließen, was meinst du?«
Erst dann bewies unser Stratege Großmut und akzeptierte die Entschuldigungen seiner Mutter. Nun ja, Leo hat es so eingerichtet, dass dieses Theater auch ein Eheklassiker wurde.
Gewiss fragten sich viele, wie ein Mann mit dem Charme und der Herkunft eines Leo Pontecorvo dieses arme jüdische Mädchen hatte heiraten können. Ihre Zurückhaltung konnte mit Apathie verwechselt und ihr Wunsch, sich unsichtbar zu machen, für Fadheit gehalten werden. Manch einer mochte sich fragen, wie dieser attraktive, stattliche Mann, romantisch wie ein slawischer Pianist (widerspenstiges Haar und schlanke Finger), ein Klinikarzt, dem der weiße Kittel so gut steht wie manchen Dirigenten der Frack, die kleine, gerade einmal hübsche Rachel Spizzichino hatte heiraten können.
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Autoren-Porträt von Alessandro Piperno
Alessandro Piperno, geboren 1972 in Rom, gehört zu den meistausgezeichneten Autoren seiner Generation. Für seinen Debütroman 'Mit bösen Absichten' erhielt er gleich zwei bedeutende Preise, den Premio Viareggio und den Premio Campiello. Sein zweiter Roman 'Die Verfolgung' wurde mit dem Prix du meilleur livre étranger ausgezeichnet. 'Hier sind die Unzertrennlichen' erhielt 2012 den Premio Strega, die höchste literarische Auszeichnung Italiens. Alessandro Piperno lebt in Rom. Zuletzt erschien auf Deutsch 'Die Verfolgung', Frankfurt 2012.Ulrich Hartmann wurde 1953 geboren, studierte in Heidelberg und war als freier Übersetzer und Lektor tätig.Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören neben anderen Niccolò Ammaniti, Roberto Begnini und Sandro Veronesi. Ulrich Hartmann starb 2012 in Freiburg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Alessandro Piperno
- 2013, 1. Auflage., 448 Seiten, Maße: 13,9 x 22,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Hartmann, Ulrich; Illustration: Dell' Edera, Werther
- Übersetzer: Ulrich Hartmann
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100619056
- ISBN-13: 9783100619051
- Erscheinungsdatum: 16.05.2013
Rezension zu „Die Verfolgung “
Piperno hat sich ein prima Setting für seinen Roman gebaut und lässt seinen tragischen Helden mit Karacho in die Hölle fahren. [...] Ein böser Roman: provokant. Stephan Draf Stern 20130808
Kommentar zu "Die Verfolgung"
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