Die verlorene Geschichte
Roman. Originalausgabe
Lea bekommt überraschend Besuch von ihrer tot geglaubten Großmutter. Claire hat ein altes Weingut erworben den Ort, an dem das verhängnisvolle Schicksal der Familie einst seinen Ausgang nahm. Lea forscht nach.
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Produktinformationen zu „Die verlorene Geschichte “
Lea bekommt überraschend Besuch von ihrer tot geglaubten Großmutter. Claire hat ein altes Weingut erworben den Ort, an dem das verhängnisvolle Schicksal der Familie einst seinen Ausgang nahm. Lea forscht nach.
Klappentext zu „Die verlorene Geschichte “
Ein altes Haus, eine geheime Liebe, ein düsteres GeheimnisJahrelang wusste Lea fast nichts über ihre Familie, nun steht überraschend ihre tot geglaubte Großmutter vor der Tür. Claire hat ein altes Weingut erworben, dort hat sie die schönste Zeit ihres Lebens verbracht. Doch das »Haus der Schwestern« ist auch der Ort, an dem das verhängnisvolle Schicksal der Familie vor langer Zeit seinen Anfang nahm. Als ihr Briefe und Erinnerungen von damals in die Hände fallen, beginnt Lea diese lang vergessene Geschichte wie ein Puzzle zusammenzusetzen. Es ist die Wahrheit über eine große, alle Hindernisse überwindende Liebe und das Geheimnis eines erschütternden Todes.
Lese-Probe zu „Die verlorene Geschichte “
Die verlorene Geschichte von REBECCA MARTINPROLOG
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Juli 1951
Dieser Sommer würde nicht enden. Schon seit Tagen brannte die Sonne gleißend hell vom Himmel herunter. Die Hitze waberte dicht über dem staubigen Feldweg, malte flirrende Truggebilde in die Luft und ließ das alte, verfallene Weingut, das nun in der kleinen Talmulde vor Bernd und seinem Bruder Wolfgang auftauchte, noch bedrohlicher erscheinen.
Unvermittelt blieb Bernd stehen, Wolfgang tat es ihm gleich. Für diesen einen Moment, in dem die beiden Jungen mit aufgerissenen Augen reglos lauschend dastanden, war bis auf ihre eigenen hastigen Atemzüge nichts zu hören. Tatsächlich sah es so aus, als würde das Haus sie beobachten und nicht umgekehrt.
In einem Anflug von Unbehagen erinnerte sich Bernd daran, dass man sie gewarnt hatte hierherzukommen. Die Mutter hatte es sogar verboten. Zunächst konnte er sich nicht rühren, dann kehrten wie auf einen Schlag die Geräusche in die Welt zurück. Bienen und andere Insekten flirrten und sirrten in der nahen Wiese und in den Weinbergen. Aus dem trockenen Gras links und rechts des Wegs drang das lautstarke Zirpen von Grillen. Entschlossen schob der dreizehnjährige Bernd die Hände in die Taschen seiner kurzen, grauen Stoffhosen und wechselte einen herausfordernden Blick mit dem drei Jahre jüngeren Wolfgang, bevor er betont lässig weiterschlenderte.
Wolfgang zögerte noch, entschied sich dann aber, dem Bruder zu folgen, wie Bernd an den raschen knirschenden Schritten hinter sich erkannte. Er drehte sich nicht noch einmal um, wenn auch nur, um das eigene mulmige Gefühl im Magen nicht zu verstärken. Vielleicht wäre er ja sonst doch noch weggerannt, so aber rückte das Haus vor ihnen mit jedem Schritt unaufhaltsam näher.
Kurz vor der nächsten Biegung, hinter der der Weg auf das Tor des alten Guts zuführen würde, bog Bernd in einen kleinen Pfad nach rechts ab, der bald zwischen wuchernden Brombeerranken an der hinteren Mauer des Gebäudes entlangführte und vom Haus nicht eingesehen werden konnte. Um sich abzulenken, betastete er den Inhalt seiner Hosentasche: ein Stein, Vaters altes Taschenmesser und der Kaugummi des Amerikaners, den er sorgsam aufbewahrte.
Es ist verboten, hier zu spielen, mahnte die Stimme in seinem Kopf erneut.
Schon alleine deswegen übte das verfallene Gehöft wohl eine geradezu magische Anziehungskraft auf die Kinder des neuen Dorfs aus, der nur schwer zu widerstehen war. Wie oft hatte Bernd die Erwachsenen wispern hören, dass »der Alte«, der dort wohnte, den Verstand verloren habe, dass er gefährlich sei, dass er eingesperrt werden müsse.
»Nach Alzey gehört der«, hatte die Mutter einmal in seiner Anwesenheit zu Tante Ilse gesagt. Die hatte nur den Kopf geschüttelt. »Aber Margit, der tut doch keiner Fliege was. Der ist ein Eigenbrötler, der Ludwig, nichts weiter.«
Die Mutter hatte daraufhin etwas Unverständliches gemurmelt. Dann hatte sie laut mit den Töpfen gescheppert.
»Wart ab, wart nur ab«, hatte sie endlich ausgerufen. »Ihr werdet's noch alle sehen. Ich hab meinen Jungen jedenfalls verboten, dort hinzugehen. Ist schon schlimm genug, dass Rüdiger und die älteren Burschen sich da herumtreiben. Der Ludwig, sag ich euch, der ist wie ein Blindgänger, der irgendwann explodiert.«
Danach war das Geschirrklappern wieder lauter geworden, und Bernd hatte nichts mehr zu hören bekommen. Das, was er gehört hatte, hatte ihn allerdings den ganzen Tag über nicht mehr losgelassen.
Ob der Alte wirklich gefährlich war? Wie auf ein geheimes Zeichen hin sahen beide Brüder an der hohen Gutsmauer entlang nach oben. Bernd vergrub seine Hände noch tiefer in den Hosentaschen. Wenn der Vater erfuhr, dass sie der Mutter zuwidergehandelt hatten, das wusste er, dann setzte es einen Satz heiße Ohren - und wenn der Alte sie erwischte ... Er pfiff leise durch die Zähne, strich sich unwillkürlich mit der Hand über den Hals. Nun, das wollte er sich lieber nicht vorstellen, sonst würde er womöglich doch noch davonlaufen, und das konnte er sich vor Wolfgang nicht erlauben. Schließlich war er der Ältere.
Leise begann er das erste Lied zu singen, das ihm in den Sinn kam: »Warte, warte nur ein Weilchen ...«
»Was singst'n da?«, wollte Wolfgang wissen.
»Nix.«
Bernd blieb stehen, eine Hand immer noch in der Hosentasche, dicht an den vertrauten Gegenständen. Stein, Vaters Messer, Kaugummi. Mit der anderen Hand stützte er sich gegen die Mauer, winkelte ein Bein an, so wie er
es sich bei den größeren Jungen abgeguckt hatte.
»Traust dich nicht, gell? Willste nach Hause,Wolfi?«
Wolfgang musste den Kopf ein wenig in den Nacken legen, um dem größeren Bruder direkt ins Gesicht zu sehen. Gegen die helle Sonne blinzelte er. Er zögerte, schob die Unterlippe vor und schüttelte dann heftig den Kopf.
»Nö, hab keine Angst«, quetschte er hervor.
Bernd schaute ihn prüfend an. Natürlich hatten sie auch die großen Jungs reden hören, von dem Weingut und seinem seltsamen Besitzer. Es galt unter den Älteren als Mutprobe, sich dem Haus zu nähern, und wenn es Bernd und Wolfgang gelingen wollte, dann würden sie die Jüngsten sein, die diese Probe je bestanden hatten. Gestern waren sie erstmals hier gewesen, und heute - so hatte Bernd beschlossen - würden sie diese Mauer überwinden.
Und nicht nur das. Er hatte sich auch vorgenommen, sich dem Alten zu zeigen, denn das hatte wirklich schon lange niemand mehr gewagt.
Ganz genau hatte er sich alles ausgemalt. Zuerst hatten sie in Sichtweite der Mutter auf dem Platz vor dem Haus gespielt. Dann hatte ihr großer Bruder Rüdiger auf sie aufpassen sollen, doch dessen Freundin Jutta war bald aufgetaucht, sodass die beiden nur noch Augen füreinander gehabt hatten.
Jutta war die, über die die älteren Frauen wisperten, die, deren Röcke immer etwas zu bunt und zu weit ausgestellt waren und deren Pferdeschwanz zu keck wippte. Sagte Mutter. Jutta kaute Kaugummi, hörte Teufelsmusik und hatte ihm auch schon einmal Kaugummis mit gebracht. Jutta war das schönste Mädchen im Neubaugebiet von Bonnheim. Bernd hätte sie stundenlang beobachten können, doch als Tante Ilse gekommen war und kurz darauf ihre und Mutters Stimmen zu hören gewesen waren, hatte dem Plan nichts mehr im Weg gestanden.
Zuerst langsam und unauffällig, dann immer schneller hatten die Jungen sich entfernt. Sie waren den Hauptweg entlang durch das Dorf geschlendert, hatten dann eine Seitenstraße gewählt, waren schneller gelaufen und schneller. Irgendwann war der Asphalt in Schotter übergegangen, darauf war Lehm gefolgt, in den die Sonne eine Landkarte aus rissigen Linien gebrannt hatte. Der letzte Regen lag schon länger zurück. Dort, wo in den Weinbergen und auf den Feldern gearbeitet wurde, stiegen Staubwolken auf. Die meisten Kinder und Jugendlichen badeten bei diesem Wetter unten am Fluss. Wolfgang hatte den Grüppchen durchaus traurig hinterhergeschaut, und für eine Weile waren ihnen deren muntere Stimmen auf dem Weg gefolgt.
Hier, hinter dem Weingut, war es einsam und still. Wieder spürte Bernd Angst in sich aufsteigen, packte entschlossen den Kaugummi aus dem Butterbrotpapier und schob ihn sich in den Mund. Schon fühlte er sich besser. Rüdiger hatte ihm gezeigt, wie man alte Kaugummis in Zucker einlegte und ihnen damit wieder etwas Geschmack verschaffte. Wolfgang zupfte den Bruder am Ärmel seines kurzen Karohemds.
»Krieg ich auch einen?«
»Hab keinen mehr.« Bernd beschattete seine Augen gegen die Sonne. Je näher sie dem alten Gebäude gekommen waren, desto häufiger und länger hatte Wolfgang gezögert, doch Bernd hatte ihn jedes Mal überreden können weiterzugehen. Nach etwa einer Dreiviertelstunde, in der sie hier noch ein Insekt betrachtet und dort nach einem Bussard Ausschau gehalten hatten - aber in der Hitze wollte keiner fliegen -, hatten sie ihr Ziel erreicht.
Hinten, das wussten sie von Rüdiger, gab es irgendwo eine Lücke in der Mauer. Durch einen halb zugewachsenen Pfad voller Gras, Brombeerranken und silbergrünen Disteln schlichen Bernd und Wolfgang vorsichtig darauf zu. Tatsächlich war an einer Stelle die Mauer zusammengebrochen. Erde und Steine lagen in einem wilden Wirrwarr übereinander.
Wieder zögerte Wolfgang, wieder überredete ihn Bernd. Als Älterer kletterte er voraus und reichte dem Jüngeren dann die Hand. Sie mussten sich an weiteren Brombeerranken vorbeidrücken, schlichen dann durch einen verdorrten Garten, in dem eindeutig mehr gegossen werden musste. Ein paar Kartoffelpflanzen ließen müde die Köpfe hängen. Reihen von Karotten und Kohl waren verdorrt. Nicht zum ersten Mal fragte Bernd sich, wie der Alte wohl aussah, über den man im Dorf nur flüsterte.
Alt, hatte Rüdiger gesagt, uralt.
Früher war er wohl manchmal ins Dorf gekommen, hatte sich in der Dorfschenke einen Schoppen Wein oder ein Remischen geholt, hatte ein Schwätzchen gehalten mit Menschen, die inzwischen schon lange verstorben waren. Bernd war damals noch zu klein gewesen, um sich daran zu erinnern. Irgendwann hatte man ihn nicht mehr gesehen. Irgendwann hatte man ihn nicht mehr beim Namen genannt, sondern nur noch den Alten. Dass er noch lebte, wussten sie, weil Tante Ilse ihm einmal im Monat seine Einkäufe brachte und manchmal seine Wäsche abholte, um sie zu waschen oder zu flicken oder beides. Manchmal sah sie ihn dann. Tante Ilse hatte den Alten schon gekannt, als sie noch ein junges Mädchen gewesen war.
»Er ist nicht mehr gut zu Fuß«, hatte sie kürzlich zu Mutter gesagt, und dass er nur das Nötigste sprach.
Als seien ihm die Worte im Laufe der Jahre zu kostbar geworden, wiederholte Bernd Tante Ilses Worte bei sich. Genau das hatte sie gesagt. Er zog für einen Moment die Stirn kraus. Die Mutter hatte darüber gelacht, wenn Bernd auch nicht verstand, was daran lustig sein sollte.
»Er war nie ein Mann des Wortes, Ilse. Nicht nachdem ...«
»Ja«, hatte Tante Ilse schon knapp gesagt, bevor die Mutter ihren Satz beendet hatte.
Wolfgang und Bernd waren nun auf der Seite des Hauses angekommen, die der Mauer am nächsten lag, doch hier gab es nur hoch oben ein Fenster in der steingrauen Fassade.
»Hm«, brummte Bernd, schob den Kaugummi im Mund umher und war sichtlich bemüht, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Er hatte darauf gehofft, schon von dieser Seite aus einen Blick auf den Alten werfen zu können. »Lass uns einmal ums Haus gehen«, brachte er undeutlich heraus.
Er wartete nicht ab, sondern marschierte einfach voran. Hinter der nächsten Hausecke lag überall Unrat auf dem Boden verteilt: alte Blechbehältnisse, Kiepen, in denen man Weintrauben sammelte, ein Holzschubkarren mit einem kaputten Rad. Bernd und Wolfgang wechselten einen kurzen Blick. Wolfgang stieß versehentlich gegen einen der Blechbehälter, und die beiden Jungen fuhren zusammen. Nachdem das Scheppern verklungen war, wirkte die Stille um sie mit einem Mal so drückend wie die Hitze. Bernd spürte, wie ihm der Schweiß an den Schläfen und am Hals herunterlief.
Hatte man sie gehört? Er dachte wieder an die Mutter, die ihm verboten hatte hierherzugehen. Weil es gefährlich war. Weil der Alte gefährlich war. Weil er irgendetwas verbarg. Warum sonst empfing er nie Besuch? Warum sonst lebte er alleine? Bernd kaute entschlossener. Der Kaugummi hatte seinen Geschmack längst wieder verloren.
Ich habe keine Angst, wiederholte er stumm, ich habe keine Angst.
Auf gar keinen Fall wollte er seinem Bruder zeigen, dass sich schon wieder ein mulmiges Gefühl in seiner Magengrube ausbreitete.
»Ich habe keine Angst«, sagte er stattdessen laut und deutlich und drehte sich herausfordernd zu Wolfgang um.
Der starrte ihn an, gab aber keine Antwort. Gemeinsam stapften sie weiter, durch hohes, teils braunes Gras, wieder vorbei an dem verwilderten Garten. Dann erreichten sie die andere Seite des Gebäudes. Bernd fragte sich, ob damit die Mutprobe vielleicht doch schon bestanden war ...
Er unterdrückte ein Schaudern, stemmte die Hände in die Hüften und sah zu einem der Fenster hinauf. Es stand offen. Wolfgang rückte näher an ihn heran.
Es war dieser Moment, in dem er die schmale Tür sah, die sich, kaum zehn Schritte von ihnen entfernt, im Gemäuer verbarg. Eine Hintertür. Ob die wohl offen war? Und was, wenn Wolfgang und er sich dort hineinschlichen? Würden sie damit nicht alle anderen übertreffen? Bevor er sich noch Gedanken darum machen konnte, ob seine Überlegung die richtige sein mochte, hatte Bernd den Abstand zur Tür überwunden und betätigte vorsichtig den Riegel.
»Bernd!« Aus weit aufgerissenen Augen sah ihn sein Bruder an. Bernd zwinkerte ihm zu. »Das klappt schon. Vertrau mir.«
Die Tür war nicht verschlossen. Mit angehaltenem Atem zog Bernd sie auf und spähte in den halbdunklen Flur, der sich dahinter auftat. Noch ein Schritt und er befand sich im Gebäude. Irgendwo war Musik zu hören, dann Stimmen. Bevor er es sich noch anders überlegen konnte, war Bernd schon zwei Schritte weitergegangen, drehte sich um und winkte seinem Bruder zu.
Wolfgang zog die Schultern hoch.
»Mama hat's uns aber verboten«, flüsterte er.
»Mama ist nicht hier«, zischte Bernd zurück. »Aber du kannst natürlich nach Hause gehen, du Memme.«
Es fühlte sich gut an, so mutig zu tun. Solange Wolfgang ängstlich war, konnte Bernd das eigene Unbehagen besser verdrängen. »Jetzt komm schon.«
Wolfgang schüttelte den Kopf. Dann eben nicht, dachte Bernd bei sich und schlich weiter. Wolfgangs Angst beflügelte ihn geradezu. Immer besser gewöhnten sich seine Augen an das Dämmerlicht. Der Flur war teilweise mit dunklem Holz getäfelt. Neben der Haustür, am anderen Ende, stand ein kleines Tischchen mit schmalen gebogenen Beinen, daneben ein Paar alte, schwarze Gummistiefel. Ein grauer Kittel hing an einem Haken an der Wand. Der Boden war schwarz und weiß gekachelt, jedoch ziemlich schmutzig. Die Musik und die Stimmen drangen hinter der Tür hervor, die der Haustür am nächsten war. Bernd zögerte, bevor er behutsam die letzten Schritte tat, und versuchte, durch den Türspalt zu spähen.
Die Küche, wie er schon vermutet hatte. Auf dem großen Herd stand ein Wasserkessel. Er konnte Wasser kochen hören. Dann wieder Stimmen und nach einer Weile Musik. Es rauschte und knackte. Ein Radio.
Bernd spähte weiter durch den Spalt. Von seinem Platz an der Tür aus konnte er einen Küchentisch ausmachen, auf dem ein buntes Sammelsurium an Tassen und Tellern stand. Der Alte war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich befand er sich auf der anderen Seite der Tür. Wie von selbst schob sich Bernds rechte Hand in die Hosentasche. Für einen Moment berührten seine Finger das Messer.
Schade, dass der Alte nicht zu sehen ist, dachte er. Aber gut, jetzt musste er zumindest noch irgendeinen Beweis dafür mitnehmen, dass er hier gewesen war.
Noch einmal sah er sich im Flur um. Außer dem Tisch war kein weiteres Möbelstück zu sehen. Etwa auf der Mitte des Flurs führte eine enge Stiege ins obere Stockwerk. Schräg gegenüber der einmal weiß gestrichenen Küchentür, von der allerdings längst die Farbe abblätterte, führte eine dunkle Holztür in ein weiteres Zimmer. Bernd musterte die Wände. Mehr Bilder hingen dort, als er es von daheim gewohnt war: alte Fotos und gemalte Porträts mit Männern und Frauen darauf, die ihn mehr oder weniger ernst anblickten. Etwas tiefer, sodass er es berühren konnte, befand sich das Foto einer jungen Frau mit langen Zöpfen. Bernd streckte die Finger danach aus, zögerte dann aber. Er warf einen Blick auf die rückwärtige Tür, wo Wolfgang wartete, dann schaute er wieder das Bild an.
Lächelte die Frau? Man konnte es nicht sagen. Er kniff die Augen zusammen, schaute dann auf die kleine Puppe, die die junge Frau in der Hand hielt. Eine Lumpenpuppe war das, mit Knöpfen anstelle von Augen, die sich seltsam einfach gegen das hochgeschlossene, dunkle Kleid der Frau ausnahm. Bernd interessierte sich zwar nicht für Kleidung, aber ein einfaches Kleid konnte er schon von einem Sonntagskleid unterscheiden. Das hier war ein Sonntagskleid.
Wieder warf er einen Blick in Wolfgangs Richtung. Jetzt konnte er ihn durch den Türspalt sehen. Bernd streckte die Hand erneut zu dem Bild hin, da war plötzlich eine scharfe Stimme zu hören.
»He, Bursche, was machst du da?«
Bernd fuhr zusammen. Über ihm am Treppenende war die hagere Gestalt eines sehr alten Mannes aufgetaucht.
Vor Schreck riss Bernd das Bild von der Wand, packte es im nächsten Moment, bevor er noch wusste, was er tat, und begann zu laufen. Er hörte die schweren Schritte des Mannes auf der Treppe. Bernds Mund und seine Kehle waren mit einem Mal staubtrocken. Der Alte sieht aus wie ein Skelett, fuhr es ihm durch den Kopf, und er hat schlohweißes Haar, und seine Augen funkeln.
»Lauf, Wolfgang, lauf, weg hier!«, krächzte er.
Weil die Treppe zwischen ihm und dem Hinterausgang lag und der Alte beachtlich schnell war, warf Bernd sich herum und rannte auf die Haustür zu.
Bitte, lass sie offen sein, bitte, bitte, lass sie offen sein.
Er drückte die Klinke. Verschlossen, aber der Schlüssel steckte, immerhin.
Lieber Gott, ich danke dir ...
Bernds Finger zitterten, während er den Schlüssel knirschend im Schloss drehte. Der Alte hatte die letzte Treppenstufe erreicht.
»Hiergeblieben, du kleiner Dieb!«
Bernd sah zurück. Der Alte kam ... Er kam näher ... Er humpelte, aber er war doch viel zu schnell, viel schneller, als Bernd erwartet hatte ... Viel schneller ... Bernd riss die Tür auf, wäre draußen fast die wenigen Stufen hinuntergestürzt.
Wohin jetzt, wohin nur? Linker Hand war ein alter Stall. Vielleicht konnte er sich dort verstecken. Hatte Rüdiger nicht gesagt, dass der Stall voller Gerümpel war? Bernd nahm alle Kraft zusammen und raste weiter, durch die geöffnete Stalltür hindurch, hinter der er abrupt zum Stehen kam. Zwischen Dämmerlicht und einem grellen Streifen Sonne, der durch die Öffnung fiel, konnte er einen Traktor sehen. Sonst war der Stall fast leer.
Bernd runzelte die Stirn. Hier würde er sich nirgends verstecken können. Ob der Alte wusste, dass er hier hineingelaufen war? Sicher wusste er das. Ob wenigstens Wolfgang entkommen war, ob er Hilfe holen konnte?
Bitte lass ihm nichts passiert sein.
Bernd machte einige entschlossene Schritte tiefer in das Halbdunkel hinein, warf wieder einen Blick über die Schulter zurück. Noch immer war niemand zu sehen. Plötzlich fiel ihm wieder die Stille auf, eine Stille, wie auf dem Weg hierher, so umfassend, dass er beim nächsten lauteren Geräusch befürchtete, schreien zu müssen.
Hoffentlich ist Wolfgang schon auf dem Weg nach Hause. Hoffentlich kann er Hilfe holen.
Er wagte sich noch ein Stück weiter vor. Was blieb ihm auch anderes übrig? Draußen wartete der Alte auf ihn.
Er rümpfte die Nase, roch Staub, Feuchtigkeit und altes Holz, Moder. Unter den Sohlen seiner Sandalen knirschte es, während er sich behutsam vorwärtsbewegte, immer auf den Traktor zu. Vielleicht würde er sich ja dahinter verstecken können?
Plötzlich hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Er sah sich um. Da war niemand. Hatte die Mutter recht? War der Alte verrückt? Er schaute wieder zum Traktor hin, dann zur Tür, atmete tief durch. Schmatzende Geräusche waren auf einmal zu hören, von denen er nicht wusste, ob er sie nun selbst verursachte oder doch jemand anders. Er lief nun nicht mehr auf staubiger Erde, sondern auf alten Brettern. Bei jedem Schritt knarzte und knirschte es lauter und beängstigender unter seinen Schuhsohlen.
Himmel, was ist das?
»Junge, bleib stehen!«
Der Alte.
Er war da. Er hatte ihn gefunden. Bernd fuhr herum, sah im nächsten Moment einen kleinen, dunklen Schatten durch die Stalltür und dann auf sich zu rasen.
»Bernd, hilf mir, hilf mir bitte!«
»Wolfgang«, konnte Bernd gerade noch hervorstoßen, dann prallte der Bruder auch schon gegen ihn.
Für ein Augenzwinkern lang wurde das Knarzen und Knirschen noch lauter, wandelte sich mit einem Mal zu einem ohrenbetäubenden Bersten und Splittern. Bernd schrie, als er unerwartet den Halt verlor. Seine Hände suchten wirbelnd in der Luft, dann stürzte er krachend durch das Loch, das sich urplötzlich unter ihm aufgetan hatte, und schlug gleich darauf hart auf dem Boden auf. Wolfgang, der sich ebenfalls nicht mehr halten konnte, landete auf ihm.
»Aua!« Der Schmerz ließ Bernd die Tränen in die Augen schießen, doch gleich schob er den Jüngeren beiseite, sprang auf und sah nach oben durch das Loch. Schritte näherten sich.
»Alles in Ordnung, Jungs?«
Der Alte.
Bernd biss die Zähne aufeinander. Wolfgang wollte antworten, doch der Bruder bedeutete ihm zu schweigen.
»Sagt doch, ist euch etwas passiert?«
»Es geht mir gut«, piepste Wolfgang, bevor Bernd ihn daran hindern konnte.
»Und der andere?«
Bernd hielt noch den Zeigefinger fest gegen die Lippen gepresst, als der Alte oben am Rand auftauchte und prüfend auf sie herunterblickte. Bernd konnte sehen, wie er den Kopf schüttelte.
»Na, na, was mache ich denn jetzt mit euch?«
Bernd klopfte sich den Staub von der Hose. Er hatte Angst, aber das würde er sich nicht anmerken lassen. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verschwand der Alte wieder.
»Wo geht er denn hin?«, fragte Wolfgang ängstlich.
»Weg.« Bernd verschränkte die Arme vor der Brust, um nicht zu zittern.
»Aber er kann uns doch nicht hier alleine lassen?«
Wolfgangs Stimme klang unsicher. Bernd zuckte die Schultern.
»Doch, kann er, siehste doch.«
Zum ersten Mal sah er sich um. Zuerst hatte er gedacht, dass es ein Keller war, in den sie gestürzt waren. Nun stellte er fest, dass es sich lediglich um eine an den Seitenwänden mit Holz ausgeschalte Kammer handelte, etwas länger als seine knapp 1,50 m, doch recht tief. Auch wenn er sich streckte, konnte er den oberen Rand mit seinen Fingerspitzen nicht erreichen. Bernd ließ die Arme sinken. Wolfgang hatte ihn derweil nicht aus den Augen gelassen.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte er.
»Wir warten.« Bernd versuchte, unbekümmert zu klingen. »Man wird nach uns suchen.«
»Und wenn nicht?«
Bei diesen Worten krampfte sich Bernds Magen zusammen. Warte, warte nur ein Weilchen, sang es in seinem Kopf, dann kommt Haarmann auch zu dir ...
»Sie werden uns suchen«, bekräftigte er. Seine Stimme zitterte ganz leicht, er schluckte. »Ganz bestimmt.«
Wolfgang starrte ihn an. »Gut«, sagte er schließlich und ließ sich zu Boden sinken.
»Hast du dich verletzt?«, fragte Bernd nach einer Weile.
Wolfgang schüttelte den Kopf.
»Ich mich auch nicht«, murmelte Bernd.
Wie lange es wohl dauern würde, bis man sie suchte? Bernd hoffte sehr, dass es schnell ging. Er betastete wieder die Gegenstände in der Tasche. Von oben war gar nichts mehr zu hören. Inzwischen hatten sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt. Er erkannte, dass die Wände aus Brettern bestanden, der Boden offenbar aus gestampfter Erde.
Während er die wieder allgegenwärtige Stille zu ignorieren versuchte, streifte er mit der Spitze seiner rechten Sandale über den Boden. Etwas ließ ihn gleich darauf inne halten, ein größerer Gegenstand, der sich nicht nach Erde anfühlte. Ein Stein vielleicht? Bernd bewegte den Fuß nochmals hin und her. Etwas Halbrundes schälte sich aus dem Boden hervor, heller als der dunklere Erdgrund.
Neugierig bückte er sich, half nun mit beiden Händen nach, um den Gegenstand aus der Erde zu bringen, zupfte und zerrte daran und erstarrte, als er ihn endlich in der Hand hielt.
Speichel tropfte aus seinem vor Entsetzen geöffneten Mund. Er plumpste rückwärts auf seinen Po und blieb dort sitzen, den Gegenstand immer noch fest umklammert, als sei es ihm unmöglich, ihn loszulassen: Zwei noch halb mit Erde gefüllte Augenhöhlen starrten ihn an. Ein fleischloses Gebiss bleckte die Zähne unter dem Loch, an dessen Stelle einst eine Nase gesessen hatte.
Es war Wolfgang, der schrie.
Erstes Kapitel
Australien, Swan Valley
»Darf ich hereinkommen?« Claire schob den weißhaarigen Schopf durch den Türspalt und lächelte ihren Sohn an. John, der sie in diesem Moment wieder einmal schmerzhaft an seinen verstorbenen Vater erinnerte, schaute auf den Klang ihrer Stimme hin sofort auf.
»Klar, Mum.«
Er erhob sich und machte eine Handbewegung, die wohl einladend wirken sollte, aber eher lustlos und müde da herkam. Claire trat ein. Unwillkürlich fiel ihr Blick auf das staubbedeckte Modellflugzeug auf Johns Schreibtisch. Sie überlegte, wann er das letzte Mal daran gebastelt hatte.
Fünf Jahre war das jetzt her. John hatte seine Werkstatt fünf Jahre lang nicht mehr betreten, nicht mehr seit Ann ...
Claire unterdrückte einen Seufzer. Mit einer unschlüssigen Bewegung wischte John sich die Hände an seinen speckigen Arbeitsjeans ab. Er war heute lange in den Weinbergen unterwegs gewesen, hatte Pflöcke repariert und mit dem Verwalter gesprochen, wie sie wusste. Später - Claire hatte gerade im guest house einigen Besuchern Tipps für die nächsten Tage gegeben - hatte sie ihn im Hof gesehen, wie er eine Lieferung alter französischer Cognacfässer prüfte. Im Swan Valley war der Juli der kälteste Monat des Jahres, doch heute war die Temperatur schon am Vormittag auf 20 °C geklettert. Ein junges Pärchen hatte sich für eine Bootstour auf dem Swan River entschieden.
Claire räusperte sich.
»Judy hat mir wieder mit den Zimmern geholfen. Deine Tochter macht ihre Sache wirklich gut«, bemerkte sie dann, um wenigstens irgendetwas zu sagen. Ihre zwölfjährige Enkelin verdiente sich seit einigen Monaten auf diese Weise etwas zum Taschengeld hinzu.
Sie hatte das hellbraune Haar ihrer Mutter, aber die blauen Augen ihrer Großmutter. Kurz musste sie an Judys schmale, fuchtelnde Hand denken, mit der diese sie davon hatte abhalten wollen, sich mit ihren fünfundachtzig Jahren zu bücken.
»Hm«, entgegnete John.
Claire schaute wieder das Flugzeug an. Nein, die Staubschicht darauf war noch deutlich zu sehen. Sie fühlte quälendes Bedauern in sich. Früher hatte John lange Abende über seinen Modellen verbracht. Nach dem Tod seiner Frau hatte er damit aufgehört.
Fünf Jahre war der Flugzeugabsturz jetzt her, dem Ann und Johns Vater, Claires Ehemann, zum Opfer gefallen waren.
Unbehaglich bemerkte sie, dass John und sie schon wieder stumm voreinanderstanden. Es war ihr Mann gewesen, der Ann überredet hatte, den Flug anzutreten. Vielleicht hatte sich Claire deswegen immer irgendwie mitschuldig an ihrem Tod gefühlt. Sie wusste, dass das nicht richtig war, aber sie konnte einfach nichts dagegen machen.
»Judy ist schon im Bett«, sagte John jetzt mit rauer Stimme.
Claires Hand fuhr in ihren Nacken, wo sie in einer schnellen Bewegung wie gewohnt ihren Dutt betastete.
»Glaubst du, ich will eigentlich zu Judy, wenn ich an deine Tür klopfe?«
Sie schaute ihren Sohn ernst an. Natürlich, Judy und sie waren eng miteinander, besonders, seit sie dem Kind die Mutter ersetzte, aber sie war zu John gekommen, um mit ihm zu reden. Nach so langer Zeit musste das doch endlich wieder möglich sein.
John schwieg. In seinen grauen Augen flackerte jetzt jener irrlichterne kleine Funken auf, der ihr auch an seinem Vater unvergesslich bleiben würde. Dessen Augen waren es gewesen, die sie andere Dinge hatten vergessen lassen: Trauer und Mutlosigkeit hatten sich in Joseph Hunters Armen in Lust verwandelt. Lust auf ein Leben, für das sie ein anderes vergessen hatte - oder zumindest geglaubt hatte, es auf immer hinter sich lassen zu können.
Aber sie hatte sich geirrt. Sie wusste das jetzt.
Wie habe ich mich nur so täuschen können?
Claire presste die Lippen aufeinander und musterte ihren Sohn genau.
War das wirklich der richtige Zeitpunkt, ihm von ihren Plänen zu erzählen?
Immerhin hatten sie erst in letzter Zeit wieder begonnen, miteinander zu reden, über einfache Dinge, wie die Frage, welche Marmelade man zum Frühstück essen wollte oder ob es Pfannkuchen geben sollte. Erst vor wenigen Tagen waren sie zum ersten Mal gemeinsam die Weinberge abgefahren. Sie hatten sich über die letzte Ernte unterhalten und über die Weinveredlung, und Claire hatte gewusst, dass auch ihr Sohn wieder Pläne machte.
Damals hätte sie am liebsten geschrien vor Glück. Aber konnte sie es jetzt tatsächlich schon wagen, ihm von ihrem Vorhaben zu berichten?
Doch während Claire noch nach den richtigen Worten suchte, übernahmen ihre Hände schon die Arbeit. Schweigend legte sie den deutschen Grundbuchauszug auf den Tisch, den sie heute erstmals seit Langem unter ihren Sachen hervorgeholt hatte.
John warf lediglich einen knappen Blick auf das Papier.
»Ich kann kein Deutsch.«
Claire zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.
»Judy hat mich heute übrigens auch wieder nach Deutschland gefragt.«
»Hm.«
Vielleicht war es ein Fehler gewesen, bei ihren Recherchen Judy und die Unterstützung ihrer Schulbibliothekarin, Mrs. Carlyle, in Anspruch zu nehmen, aber Claire hatte sich schließlich nicht anders zu helfen gewusst. Mrs. Carlyle hatte ihr den Tipp mit dem Detektivbüro gegeben.
Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig, wenn Sie Gewissheit wollen, hatte sie zu ihr gesagt.
Claire wollte Gewissheit. Sie deutete auf den Grundbuchauszug.
»Ich habe ein Haus gekauft.«
»Was?« Jetzt runzelte ihr Sohn die Stirn. »Wann?«
»Vor fünf Jahren.«
Claire sah, wie es in Johns Gesicht arbeitete. Er musste nicht rechnen, natürlich nicht. Seine Stimme klang belegt, als er weitersprach.
»In Deutschland?«
Claire hörte die Ratlosigkeit, die sich in Johns Grundton der Trauer mischte.
»Ja.«
Vor fünf Jahren, dachte sie, habe ich wieder häufiger an Deutschland gedacht, damals, als Joseph mir sagte, dass ich endlich reinen Tisch machen müsse.
Und es wäre doch interessant, ein Weingut in Deutschland zu besitzen, hatte er irgendwann gesagt, ein deutscher Ableger für Hunter's sozusagen.
Damals hatte Claire sich zum ersten Mal erlaubt, wieder an Ereignisse zu denken, die sie so lange verdrängt hatte. Der Name des Ortes war ihr nicht sofort eingefallen, doch schließlich war er zurückgekommen, wie so vieles andere ... Bonnheim.
Aber dann war der Unfall passiert. Sie hatte ihre Pläne hintenangestellt, weil sie der Enkelin zur Mutter und ihrem Sohn zur Stütze geworden war, auch wenn John ihre Bemühungen stets zurückgewiesen hatte. Claire spürte ihr Herz so heftig schlagen, als wolle es aus ihrer Brust hüpfen. Ihre Hände zitterten. Fünf lange Jahre hatte sie ihre eigenen Ideen und Wünsche zu rückgestellt, hatte die eigenen Erinnerungen unter einem Berg von Arbeit und Pflichten verborgen und nicht mehr an Bonnheim gedacht, jenes Weingut, das einmal ein solch wichtiger Bestandteil ihres Lebens gewesen war.
Die Erinnerungen kamen jetzt nicht mehr langsam, sie stürmten geradezu auf Claire ein, verbanden sich unablässig mit neuen Gedanken und Bildern. Trotzdem bemerkte sie, dass John sie anstarrte.
»Deutschland, aber warum?«
»Weil es mein Heimatland ist.«
»Na«, John setzte sich ebenfalls und lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück, »du hast mir nie gesagt, dass dir das etwas bedeutet. Du hast auch nie über dein deutsches Leben gesprochen, mit keinem von uns, oder liege ich da falsch?« Er hob fragend eine Augenbraue.
»Nein«, Claire schaute nachdenklich auf den Auszug, »das habe ich nicht. Es ist ... Es ist alles nicht so leicht, weißt du ...« Dann fügte sie leise hinzu: »Ich habe mich übrigens entschieden, bald nach Deutschland zu fliegen.«
John blieb reglos sitzen.
»Du? Nach Deutschland? Nach so langer Zeit? Du bist fünfundachtzig, Mum.«
»Ich weiß selbst, wie alt ich bin.« Claire hob den Kopf. »Ich muss ... Ich muss dort noch etwas erledigen.«
In meinem Alter darf ich die Dinge nicht länger aufschieben, nicht wahr? Die Zeit ist gekommen.
© 2012 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Juli 1951
Dieser Sommer würde nicht enden. Schon seit Tagen brannte die Sonne gleißend hell vom Himmel herunter. Die Hitze waberte dicht über dem staubigen Feldweg, malte flirrende Truggebilde in die Luft und ließ das alte, verfallene Weingut, das nun in der kleinen Talmulde vor Bernd und seinem Bruder Wolfgang auftauchte, noch bedrohlicher erscheinen.
Unvermittelt blieb Bernd stehen, Wolfgang tat es ihm gleich. Für diesen einen Moment, in dem die beiden Jungen mit aufgerissenen Augen reglos lauschend dastanden, war bis auf ihre eigenen hastigen Atemzüge nichts zu hören. Tatsächlich sah es so aus, als würde das Haus sie beobachten und nicht umgekehrt.
In einem Anflug von Unbehagen erinnerte sich Bernd daran, dass man sie gewarnt hatte hierherzukommen. Die Mutter hatte es sogar verboten. Zunächst konnte er sich nicht rühren, dann kehrten wie auf einen Schlag die Geräusche in die Welt zurück. Bienen und andere Insekten flirrten und sirrten in der nahen Wiese und in den Weinbergen. Aus dem trockenen Gras links und rechts des Wegs drang das lautstarke Zirpen von Grillen. Entschlossen schob der dreizehnjährige Bernd die Hände in die Taschen seiner kurzen, grauen Stoffhosen und wechselte einen herausfordernden Blick mit dem drei Jahre jüngeren Wolfgang, bevor er betont lässig weiterschlenderte.
Wolfgang zögerte noch, entschied sich dann aber, dem Bruder zu folgen, wie Bernd an den raschen knirschenden Schritten hinter sich erkannte. Er drehte sich nicht noch einmal um, wenn auch nur, um das eigene mulmige Gefühl im Magen nicht zu verstärken. Vielleicht wäre er ja sonst doch noch weggerannt, so aber rückte das Haus vor ihnen mit jedem Schritt unaufhaltsam näher.
Kurz vor der nächsten Biegung, hinter der der Weg auf das Tor des alten Guts zuführen würde, bog Bernd in einen kleinen Pfad nach rechts ab, der bald zwischen wuchernden Brombeerranken an der hinteren Mauer des Gebäudes entlangführte und vom Haus nicht eingesehen werden konnte. Um sich abzulenken, betastete er den Inhalt seiner Hosentasche: ein Stein, Vaters altes Taschenmesser und der Kaugummi des Amerikaners, den er sorgsam aufbewahrte.
Es ist verboten, hier zu spielen, mahnte die Stimme in seinem Kopf erneut.
Schon alleine deswegen übte das verfallene Gehöft wohl eine geradezu magische Anziehungskraft auf die Kinder des neuen Dorfs aus, der nur schwer zu widerstehen war. Wie oft hatte Bernd die Erwachsenen wispern hören, dass »der Alte«, der dort wohnte, den Verstand verloren habe, dass er gefährlich sei, dass er eingesperrt werden müsse.
»Nach Alzey gehört der«, hatte die Mutter einmal in seiner Anwesenheit zu Tante Ilse gesagt. Die hatte nur den Kopf geschüttelt. »Aber Margit, der tut doch keiner Fliege was. Der ist ein Eigenbrötler, der Ludwig, nichts weiter.«
Die Mutter hatte daraufhin etwas Unverständliches gemurmelt. Dann hatte sie laut mit den Töpfen gescheppert.
»Wart ab, wart nur ab«, hatte sie endlich ausgerufen. »Ihr werdet's noch alle sehen. Ich hab meinen Jungen jedenfalls verboten, dort hinzugehen. Ist schon schlimm genug, dass Rüdiger und die älteren Burschen sich da herumtreiben. Der Ludwig, sag ich euch, der ist wie ein Blindgänger, der irgendwann explodiert.«
Danach war das Geschirrklappern wieder lauter geworden, und Bernd hatte nichts mehr zu hören bekommen. Das, was er gehört hatte, hatte ihn allerdings den ganzen Tag über nicht mehr losgelassen.
Ob der Alte wirklich gefährlich war? Wie auf ein geheimes Zeichen hin sahen beide Brüder an der hohen Gutsmauer entlang nach oben. Bernd vergrub seine Hände noch tiefer in den Hosentaschen. Wenn der Vater erfuhr, dass sie der Mutter zuwidergehandelt hatten, das wusste er, dann setzte es einen Satz heiße Ohren - und wenn der Alte sie erwischte ... Er pfiff leise durch die Zähne, strich sich unwillkürlich mit der Hand über den Hals. Nun, das wollte er sich lieber nicht vorstellen, sonst würde er womöglich doch noch davonlaufen, und das konnte er sich vor Wolfgang nicht erlauben. Schließlich war er der Ältere.
Leise begann er das erste Lied zu singen, das ihm in den Sinn kam: »Warte, warte nur ein Weilchen ...«
»Was singst'n da?«, wollte Wolfgang wissen.
»Nix.«
Bernd blieb stehen, eine Hand immer noch in der Hosentasche, dicht an den vertrauten Gegenständen. Stein, Vaters Messer, Kaugummi. Mit der anderen Hand stützte er sich gegen die Mauer, winkelte ein Bein an, so wie er
es sich bei den größeren Jungen abgeguckt hatte.
»Traust dich nicht, gell? Willste nach Hause,Wolfi?«
Wolfgang musste den Kopf ein wenig in den Nacken legen, um dem größeren Bruder direkt ins Gesicht zu sehen. Gegen die helle Sonne blinzelte er. Er zögerte, schob die Unterlippe vor und schüttelte dann heftig den Kopf.
»Nö, hab keine Angst«, quetschte er hervor.
Bernd schaute ihn prüfend an. Natürlich hatten sie auch die großen Jungs reden hören, von dem Weingut und seinem seltsamen Besitzer. Es galt unter den Älteren als Mutprobe, sich dem Haus zu nähern, und wenn es Bernd und Wolfgang gelingen wollte, dann würden sie die Jüngsten sein, die diese Probe je bestanden hatten. Gestern waren sie erstmals hier gewesen, und heute - so hatte Bernd beschlossen - würden sie diese Mauer überwinden.
Und nicht nur das. Er hatte sich auch vorgenommen, sich dem Alten zu zeigen, denn das hatte wirklich schon lange niemand mehr gewagt.
Ganz genau hatte er sich alles ausgemalt. Zuerst hatten sie in Sichtweite der Mutter auf dem Platz vor dem Haus gespielt. Dann hatte ihr großer Bruder Rüdiger auf sie aufpassen sollen, doch dessen Freundin Jutta war bald aufgetaucht, sodass die beiden nur noch Augen füreinander gehabt hatten.
Jutta war die, über die die älteren Frauen wisperten, die, deren Röcke immer etwas zu bunt und zu weit ausgestellt waren und deren Pferdeschwanz zu keck wippte. Sagte Mutter. Jutta kaute Kaugummi, hörte Teufelsmusik und hatte ihm auch schon einmal Kaugummis mit gebracht. Jutta war das schönste Mädchen im Neubaugebiet von Bonnheim. Bernd hätte sie stundenlang beobachten können, doch als Tante Ilse gekommen war und kurz darauf ihre und Mutters Stimmen zu hören gewesen waren, hatte dem Plan nichts mehr im Weg gestanden.
Zuerst langsam und unauffällig, dann immer schneller hatten die Jungen sich entfernt. Sie waren den Hauptweg entlang durch das Dorf geschlendert, hatten dann eine Seitenstraße gewählt, waren schneller gelaufen und schneller. Irgendwann war der Asphalt in Schotter übergegangen, darauf war Lehm gefolgt, in den die Sonne eine Landkarte aus rissigen Linien gebrannt hatte. Der letzte Regen lag schon länger zurück. Dort, wo in den Weinbergen und auf den Feldern gearbeitet wurde, stiegen Staubwolken auf. Die meisten Kinder und Jugendlichen badeten bei diesem Wetter unten am Fluss. Wolfgang hatte den Grüppchen durchaus traurig hinterhergeschaut, und für eine Weile waren ihnen deren muntere Stimmen auf dem Weg gefolgt.
Hier, hinter dem Weingut, war es einsam und still. Wieder spürte Bernd Angst in sich aufsteigen, packte entschlossen den Kaugummi aus dem Butterbrotpapier und schob ihn sich in den Mund. Schon fühlte er sich besser. Rüdiger hatte ihm gezeigt, wie man alte Kaugummis in Zucker einlegte und ihnen damit wieder etwas Geschmack verschaffte. Wolfgang zupfte den Bruder am Ärmel seines kurzen Karohemds.
»Krieg ich auch einen?«
»Hab keinen mehr.« Bernd beschattete seine Augen gegen die Sonne. Je näher sie dem alten Gebäude gekommen waren, desto häufiger und länger hatte Wolfgang gezögert, doch Bernd hatte ihn jedes Mal überreden können weiterzugehen. Nach etwa einer Dreiviertelstunde, in der sie hier noch ein Insekt betrachtet und dort nach einem Bussard Ausschau gehalten hatten - aber in der Hitze wollte keiner fliegen -, hatten sie ihr Ziel erreicht.
Hinten, das wussten sie von Rüdiger, gab es irgendwo eine Lücke in der Mauer. Durch einen halb zugewachsenen Pfad voller Gras, Brombeerranken und silbergrünen Disteln schlichen Bernd und Wolfgang vorsichtig darauf zu. Tatsächlich war an einer Stelle die Mauer zusammengebrochen. Erde und Steine lagen in einem wilden Wirrwarr übereinander.
Wieder zögerte Wolfgang, wieder überredete ihn Bernd. Als Älterer kletterte er voraus und reichte dem Jüngeren dann die Hand. Sie mussten sich an weiteren Brombeerranken vorbeidrücken, schlichen dann durch einen verdorrten Garten, in dem eindeutig mehr gegossen werden musste. Ein paar Kartoffelpflanzen ließen müde die Köpfe hängen. Reihen von Karotten und Kohl waren verdorrt. Nicht zum ersten Mal fragte Bernd sich, wie der Alte wohl aussah, über den man im Dorf nur flüsterte.
Alt, hatte Rüdiger gesagt, uralt.
Früher war er wohl manchmal ins Dorf gekommen, hatte sich in der Dorfschenke einen Schoppen Wein oder ein Remischen geholt, hatte ein Schwätzchen gehalten mit Menschen, die inzwischen schon lange verstorben waren. Bernd war damals noch zu klein gewesen, um sich daran zu erinnern. Irgendwann hatte man ihn nicht mehr gesehen. Irgendwann hatte man ihn nicht mehr beim Namen genannt, sondern nur noch den Alten. Dass er noch lebte, wussten sie, weil Tante Ilse ihm einmal im Monat seine Einkäufe brachte und manchmal seine Wäsche abholte, um sie zu waschen oder zu flicken oder beides. Manchmal sah sie ihn dann. Tante Ilse hatte den Alten schon gekannt, als sie noch ein junges Mädchen gewesen war.
»Er ist nicht mehr gut zu Fuß«, hatte sie kürzlich zu Mutter gesagt, und dass er nur das Nötigste sprach.
Als seien ihm die Worte im Laufe der Jahre zu kostbar geworden, wiederholte Bernd Tante Ilses Worte bei sich. Genau das hatte sie gesagt. Er zog für einen Moment die Stirn kraus. Die Mutter hatte darüber gelacht, wenn Bernd auch nicht verstand, was daran lustig sein sollte.
»Er war nie ein Mann des Wortes, Ilse. Nicht nachdem ...«
»Ja«, hatte Tante Ilse schon knapp gesagt, bevor die Mutter ihren Satz beendet hatte.
Wolfgang und Bernd waren nun auf der Seite des Hauses angekommen, die der Mauer am nächsten lag, doch hier gab es nur hoch oben ein Fenster in der steingrauen Fassade.
»Hm«, brummte Bernd, schob den Kaugummi im Mund umher und war sichtlich bemüht, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Er hatte darauf gehofft, schon von dieser Seite aus einen Blick auf den Alten werfen zu können. »Lass uns einmal ums Haus gehen«, brachte er undeutlich heraus.
Er wartete nicht ab, sondern marschierte einfach voran. Hinter der nächsten Hausecke lag überall Unrat auf dem Boden verteilt: alte Blechbehältnisse, Kiepen, in denen man Weintrauben sammelte, ein Holzschubkarren mit einem kaputten Rad. Bernd und Wolfgang wechselten einen kurzen Blick. Wolfgang stieß versehentlich gegen einen der Blechbehälter, und die beiden Jungen fuhren zusammen. Nachdem das Scheppern verklungen war, wirkte die Stille um sie mit einem Mal so drückend wie die Hitze. Bernd spürte, wie ihm der Schweiß an den Schläfen und am Hals herunterlief.
Hatte man sie gehört? Er dachte wieder an die Mutter, die ihm verboten hatte hierherzugehen. Weil es gefährlich war. Weil der Alte gefährlich war. Weil er irgendetwas verbarg. Warum sonst empfing er nie Besuch? Warum sonst lebte er alleine? Bernd kaute entschlossener. Der Kaugummi hatte seinen Geschmack längst wieder verloren.
Ich habe keine Angst, wiederholte er stumm, ich habe keine Angst.
Auf gar keinen Fall wollte er seinem Bruder zeigen, dass sich schon wieder ein mulmiges Gefühl in seiner Magengrube ausbreitete.
»Ich habe keine Angst«, sagte er stattdessen laut und deutlich und drehte sich herausfordernd zu Wolfgang um.
Der starrte ihn an, gab aber keine Antwort. Gemeinsam stapften sie weiter, durch hohes, teils braunes Gras, wieder vorbei an dem verwilderten Garten. Dann erreichten sie die andere Seite des Gebäudes. Bernd fragte sich, ob damit die Mutprobe vielleicht doch schon bestanden war ...
Er unterdrückte ein Schaudern, stemmte die Hände in die Hüften und sah zu einem der Fenster hinauf. Es stand offen. Wolfgang rückte näher an ihn heran.
Es war dieser Moment, in dem er die schmale Tür sah, die sich, kaum zehn Schritte von ihnen entfernt, im Gemäuer verbarg. Eine Hintertür. Ob die wohl offen war? Und was, wenn Wolfgang und er sich dort hineinschlichen? Würden sie damit nicht alle anderen übertreffen? Bevor er sich noch Gedanken darum machen konnte, ob seine Überlegung die richtige sein mochte, hatte Bernd den Abstand zur Tür überwunden und betätigte vorsichtig den Riegel.
»Bernd!« Aus weit aufgerissenen Augen sah ihn sein Bruder an. Bernd zwinkerte ihm zu. »Das klappt schon. Vertrau mir.«
Die Tür war nicht verschlossen. Mit angehaltenem Atem zog Bernd sie auf und spähte in den halbdunklen Flur, der sich dahinter auftat. Noch ein Schritt und er befand sich im Gebäude. Irgendwo war Musik zu hören, dann Stimmen. Bevor er es sich noch anders überlegen konnte, war Bernd schon zwei Schritte weitergegangen, drehte sich um und winkte seinem Bruder zu.
Wolfgang zog die Schultern hoch.
»Mama hat's uns aber verboten«, flüsterte er.
»Mama ist nicht hier«, zischte Bernd zurück. »Aber du kannst natürlich nach Hause gehen, du Memme.«
Es fühlte sich gut an, so mutig zu tun. Solange Wolfgang ängstlich war, konnte Bernd das eigene Unbehagen besser verdrängen. »Jetzt komm schon.«
Wolfgang schüttelte den Kopf. Dann eben nicht, dachte Bernd bei sich und schlich weiter. Wolfgangs Angst beflügelte ihn geradezu. Immer besser gewöhnten sich seine Augen an das Dämmerlicht. Der Flur war teilweise mit dunklem Holz getäfelt. Neben der Haustür, am anderen Ende, stand ein kleines Tischchen mit schmalen gebogenen Beinen, daneben ein Paar alte, schwarze Gummistiefel. Ein grauer Kittel hing an einem Haken an der Wand. Der Boden war schwarz und weiß gekachelt, jedoch ziemlich schmutzig. Die Musik und die Stimmen drangen hinter der Tür hervor, die der Haustür am nächsten war. Bernd zögerte, bevor er behutsam die letzten Schritte tat, und versuchte, durch den Türspalt zu spähen.
Die Küche, wie er schon vermutet hatte. Auf dem großen Herd stand ein Wasserkessel. Er konnte Wasser kochen hören. Dann wieder Stimmen und nach einer Weile Musik. Es rauschte und knackte. Ein Radio.
Bernd spähte weiter durch den Spalt. Von seinem Platz an der Tür aus konnte er einen Küchentisch ausmachen, auf dem ein buntes Sammelsurium an Tassen und Tellern stand. Der Alte war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich befand er sich auf der anderen Seite der Tür. Wie von selbst schob sich Bernds rechte Hand in die Hosentasche. Für einen Moment berührten seine Finger das Messer.
Schade, dass der Alte nicht zu sehen ist, dachte er. Aber gut, jetzt musste er zumindest noch irgendeinen Beweis dafür mitnehmen, dass er hier gewesen war.
Noch einmal sah er sich im Flur um. Außer dem Tisch war kein weiteres Möbelstück zu sehen. Etwa auf der Mitte des Flurs führte eine enge Stiege ins obere Stockwerk. Schräg gegenüber der einmal weiß gestrichenen Küchentür, von der allerdings längst die Farbe abblätterte, führte eine dunkle Holztür in ein weiteres Zimmer. Bernd musterte die Wände. Mehr Bilder hingen dort, als er es von daheim gewohnt war: alte Fotos und gemalte Porträts mit Männern und Frauen darauf, die ihn mehr oder weniger ernst anblickten. Etwas tiefer, sodass er es berühren konnte, befand sich das Foto einer jungen Frau mit langen Zöpfen. Bernd streckte die Finger danach aus, zögerte dann aber. Er warf einen Blick auf die rückwärtige Tür, wo Wolfgang wartete, dann schaute er wieder das Bild an.
Lächelte die Frau? Man konnte es nicht sagen. Er kniff die Augen zusammen, schaute dann auf die kleine Puppe, die die junge Frau in der Hand hielt. Eine Lumpenpuppe war das, mit Knöpfen anstelle von Augen, die sich seltsam einfach gegen das hochgeschlossene, dunkle Kleid der Frau ausnahm. Bernd interessierte sich zwar nicht für Kleidung, aber ein einfaches Kleid konnte er schon von einem Sonntagskleid unterscheiden. Das hier war ein Sonntagskleid.
Wieder warf er einen Blick in Wolfgangs Richtung. Jetzt konnte er ihn durch den Türspalt sehen. Bernd streckte die Hand erneut zu dem Bild hin, da war plötzlich eine scharfe Stimme zu hören.
»He, Bursche, was machst du da?«
Bernd fuhr zusammen. Über ihm am Treppenende war die hagere Gestalt eines sehr alten Mannes aufgetaucht.
Vor Schreck riss Bernd das Bild von der Wand, packte es im nächsten Moment, bevor er noch wusste, was er tat, und begann zu laufen. Er hörte die schweren Schritte des Mannes auf der Treppe. Bernds Mund und seine Kehle waren mit einem Mal staubtrocken. Der Alte sieht aus wie ein Skelett, fuhr es ihm durch den Kopf, und er hat schlohweißes Haar, und seine Augen funkeln.
»Lauf, Wolfgang, lauf, weg hier!«, krächzte er.
Weil die Treppe zwischen ihm und dem Hinterausgang lag und der Alte beachtlich schnell war, warf Bernd sich herum und rannte auf die Haustür zu.
Bitte, lass sie offen sein, bitte, bitte, lass sie offen sein.
Er drückte die Klinke. Verschlossen, aber der Schlüssel steckte, immerhin.
Lieber Gott, ich danke dir ...
Bernds Finger zitterten, während er den Schlüssel knirschend im Schloss drehte. Der Alte hatte die letzte Treppenstufe erreicht.
»Hiergeblieben, du kleiner Dieb!«
Bernd sah zurück. Der Alte kam ... Er kam näher ... Er humpelte, aber er war doch viel zu schnell, viel schneller, als Bernd erwartet hatte ... Viel schneller ... Bernd riss die Tür auf, wäre draußen fast die wenigen Stufen hinuntergestürzt.
Wohin jetzt, wohin nur? Linker Hand war ein alter Stall. Vielleicht konnte er sich dort verstecken. Hatte Rüdiger nicht gesagt, dass der Stall voller Gerümpel war? Bernd nahm alle Kraft zusammen und raste weiter, durch die geöffnete Stalltür hindurch, hinter der er abrupt zum Stehen kam. Zwischen Dämmerlicht und einem grellen Streifen Sonne, der durch die Öffnung fiel, konnte er einen Traktor sehen. Sonst war der Stall fast leer.
Bernd runzelte die Stirn. Hier würde er sich nirgends verstecken können. Ob der Alte wusste, dass er hier hineingelaufen war? Sicher wusste er das. Ob wenigstens Wolfgang entkommen war, ob er Hilfe holen konnte?
Bitte lass ihm nichts passiert sein.
Bernd machte einige entschlossene Schritte tiefer in das Halbdunkel hinein, warf wieder einen Blick über die Schulter zurück. Noch immer war niemand zu sehen. Plötzlich fiel ihm wieder die Stille auf, eine Stille, wie auf dem Weg hierher, so umfassend, dass er beim nächsten lauteren Geräusch befürchtete, schreien zu müssen.
Hoffentlich ist Wolfgang schon auf dem Weg nach Hause. Hoffentlich kann er Hilfe holen.
Er wagte sich noch ein Stück weiter vor. Was blieb ihm auch anderes übrig? Draußen wartete der Alte auf ihn.
Er rümpfte die Nase, roch Staub, Feuchtigkeit und altes Holz, Moder. Unter den Sohlen seiner Sandalen knirschte es, während er sich behutsam vorwärtsbewegte, immer auf den Traktor zu. Vielleicht würde er sich ja dahinter verstecken können?
Plötzlich hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Er sah sich um. Da war niemand. Hatte die Mutter recht? War der Alte verrückt? Er schaute wieder zum Traktor hin, dann zur Tür, atmete tief durch. Schmatzende Geräusche waren auf einmal zu hören, von denen er nicht wusste, ob er sie nun selbst verursachte oder doch jemand anders. Er lief nun nicht mehr auf staubiger Erde, sondern auf alten Brettern. Bei jedem Schritt knarzte und knirschte es lauter und beängstigender unter seinen Schuhsohlen.
Himmel, was ist das?
»Junge, bleib stehen!«
Der Alte.
Er war da. Er hatte ihn gefunden. Bernd fuhr herum, sah im nächsten Moment einen kleinen, dunklen Schatten durch die Stalltür und dann auf sich zu rasen.
»Bernd, hilf mir, hilf mir bitte!«
»Wolfgang«, konnte Bernd gerade noch hervorstoßen, dann prallte der Bruder auch schon gegen ihn.
Für ein Augenzwinkern lang wurde das Knarzen und Knirschen noch lauter, wandelte sich mit einem Mal zu einem ohrenbetäubenden Bersten und Splittern. Bernd schrie, als er unerwartet den Halt verlor. Seine Hände suchten wirbelnd in der Luft, dann stürzte er krachend durch das Loch, das sich urplötzlich unter ihm aufgetan hatte, und schlug gleich darauf hart auf dem Boden auf. Wolfgang, der sich ebenfalls nicht mehr halten konnte, landete auf ihm.
»Aua!« Der Schmerz ließ Bernd die Tränen in die Augen schießen, doch gleich schob er den Jüngeren beiseite, sprang auf und sah nach oben durch das Loch. Schritte näherten sich.
»Alles in Ordnung, Jungs?«
Der Alte.
Bernd biss die Zähne aufeinander. Wolfgang wollte antworten, doch der Bruder bedeutete ihm zu schweigen.
»Sagt doch, ist euch etwas passiert?«
»Es geht mir gut«, piepste Wolfgang, bevor Bernd ihn daran hindern konnte.
»Und der andere?«
Bernd hielt noch den Zeigefinger fest gegen die Lippen gepresst, als der Alte oben am Rand auftauchte und prüfend auf sie herunterblickte. Bernd konnte sehen, wie er den Kopf schüttelte.
»Na, na, was mache ich denn jetzt mit euch?«
Bernd klopfte sich den Staub von der Hose. Er hatte Angst, aber das würde er sich nicht anmerken lassen. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verschwand der Alte wieder.
»Wo geht er denn hin?«, fragte Wolfgang ängstlich.
»Weg.« Bernd verschränkte die Arme vor der Brust, um nicht zu zittern.
»Aber er kann uns doch nicht hier alleine lassen?«
Wolfgangs Stimme klang unsicher. Bernd zuckte die Schultern.
»Doch, kann er, siehste doch.«
Zum ersten Mal sah er sich um. Zuerst hatte er gedacht, dass es ein Keller war, in den sie gestürzt waren. Nun stellte er fest, dass es sich lediglich um eine an den Seitenwänden mit Holz ausgeschalte Kammer handelte, etwas länger als seine knapp 1,50 m, doch recht tief. Auch wenn er sich streckte, konnte er den oberen Rand mit seinen Fingerspitzen nicht erreichen. Bernd ließ die Arme sinken. Wolfgang hatte ihn derweil nicht aus den Augen gelassen.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte er.
»Wir warten.« Bernd versuchte, unbekümmert zu klingen. »Man wird nach uns suchen.«
»Und wenn nicht?«
Bei diesen Worten krampfte sich Bernds Magen zusammen. Warte, warte nur ein Weilchen, sang es in seinem Kopf, dann kommt Haarmann auch zu dir ...
»Sie werden uns suchen«, bekräftigte er. Seine Stimme zitterte ganz leicht, er schluckte. »Ganz bestimmt.«
Wolfgang starrte ihn an. »Gut«, sagte er schließlich und ließ sich zu Boden sinken.
»Hast du dich verletzt?«, fragte Bernd nach einer Weile.
Wolfgang schüttelte den Kopf.
»Ich mich auch nicht«, murmelte Bernd.
Wie lange es wohl dauern würde, bis man sie suchte? Bernd hoffte sehr, dass es schnell ging. Er betastete wieder die Gegenstände in der Tasche. Von oben war gar nichts mehr zu hören. Inzwischen hatten sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt. Er erkannte, dass die Wände aus Brettern bestanden, der Boden offenbar aus gestampfter Erde.
Während er die wieder allgegenwärtige Stille zu ignorieren versuchte, streifte er mit der Spitze seiner rechten Sandale über den Boden. Etwas ließ ihn gleich darauf inne halten, ein größerer Gegenstand, der sich nicht nach Erde anfühlte. Ein Stein vielleicht? Bernd bewegte den Fuß nochmals hin und her. Etwas Halbrundes schälte sich aus dem Boden hervor, heller als der dunklere Erdgrund.
Neugierig bückte er sich, half nun mit beiden Händen nach, um den Gegenstand aus der Erde zu bringen, zupfte und zerrte daran und erstarrte, als er ihn endlich in der Hand hielt.
Speichel tropfte aus seinem vor Entsetzen geöffneten Mund. Er plumpste rückwärts auf seinen Po und blieb dort sitzen, den Gegenstand immer noch fest umklammert, als sei es ihm unmöglich, ihn loszulassen: Zwei noch halb mit Erde gefüllte Augenhöhlen starrten ihn an. Ein fleischloses Gebiss bleckte die Zähne unter dem Loch, an dessen Stelle einst eine Nase gesessen hatte.
Es war Wolfgang, der schrie.
Erstes Kapitel
Australien, Swan Valley
»Darf ich hereinkommen?« Claire schob den weißhaarigen Schopf durch den Türspalt und lächelte ihren Sohn an. John, der sie in diesem Moment wieder einmal schmerzhaft an seinen verstorbenen Vater erinnerte, schaute auf den Klang ihrer Stimme hin sofort auf.
»Klar, Mum.«
Er erhob sich und machte eine Handbewegung, die wohl einladend wirken sollte, aber eher lustlos und müde da herkam. Claire trat ein. Unwillkürlich fiel ihr Blick auf das staubbedeckte Modellflugzeug auf Johns Schreibtisch. Sie überlegte, wann er das letzte Mal daran gebastelt hatte.
Fünf Jahre war das jetzt her. John hatte seine Werkstatt fünf Jahre lang nicht mehr betreten, nicht mehr seit Ann ...
Claire unterdrückte einen Seufzer. Mit einer unschlüssigen Bewegung wischte John sich die Hände an seinen speckigen Arbeitsjeans ab. Er war heute lange in den Weinbergen unterwegs gewesen, hatte Pflöcke repariert und mit dem Verwalter gesprochen, wie sie wusste. Später - Claire hatte gerade im guest house einigen Besuchern Tipps für die nächsten Tage gegeben - hatte sie ihn im Hof gesehen, wie er eine Lieferung alter französischer Cognacfässer prüfte. Im Swan Valley war der Juli der kälteste Monat des Jahres, doch heute war die Temperatur schon am Vormittag auf 20 °C geklettert. Ein junges Pärchen hatte sich für eine Bootstour auf dem Swan River entschieden.
Claire räusperte sich.
»Judy hat mir wieder mit den Zimmern geholfen. Deine Tochter macht ihre Sache wirklich gut«, bemerkte sie dann, um wenigstens irgendetwas zu sagen. Ihre zwölfjährige Enkelin verdiente sich seit einigen Monaten auf diese Weise etwas zum Taschengeld hinzu.
Sie hatte das hellbraune Haar ihrer Mutter, aber die blauen Augen ihrer Großmutter. Kurz musste sie an Judys schmale, fuchtelnde Hand denken, mit der diese sie davon hatte abhalten wollen, sich mit ihren fünfundachtzig Jahren zu bücken.
»Hm«, entgegnete John.
Claire schaute wieder das Flugzeug an. Nein, die Staubschicht darauf war noch deutlich zu sehen. Sie fühlte quälendes Bedauern in sich. Früher hatte John lange Abende über seinen Modellen verbracht. Nach dem Tod seiner Frau hatte er damit aufgehört.
Fünf Jahre war der Flugzeugabsturz jetzt her, dem Ann und Johns Vater, Claires Ehemann, zum Opfer gefallen waren.
Unbehaglich bemerkte sie, dass John und sie schon wieder stumm voreinanderstanden. Es war ihr Mann gewesen, der Ann überredet hatte, den Flug anzutreten. Vielleicht hatte sich Claire deswegen immer irgendwie mitschuldig an ihrem Tod gefühlt. Sie wusste, dass das nicht richtig war, aber sie konnte einfach nichts dagegen machen.
»Judy ist schon im Bett«, sagte John jetzt mit rauer Stimme.
Claires Hand fuhr in ihren Nacken, wo sie in einer schnellen Bewegung wie gewohnt ihren Dutt betastete.
»Glaubst du, ich will eigentlich zu Judy, wenn ich an deine Tür klopfe?«
Sie schaute ihren Sohn ernst an. Natürlich, Judy und sie waren eng miteinander, besonders, seit sie dem Kind die Mutter ersetzte, aber sie war zu John gekommen, um mit ihm zu reden. Nach so langer Zeit musste das doch endlich wieder möglich sein.
John schwieg. In seinen grauen Augen flackerte jetzt jener irrlichterne kleine Funken auf, der ihr auch an seinem Vater unvergesslich bleiben würde. Dessen Augen waren es gewesen, die sie andere Dinge hatten vergessen lassen: Trauer und Mutlosigkeit hatten sich in Joseph Hunters Armen in Lust verwandelt. Lust auf ein Leben, für das sie ein anderes vergessen hatte - oder zumindest geglaubt hatte, es auf immer hinter sich lassen zu können.
Aber sie hatte sich geirrt. Sie wusste das jetzt.
Wie habe ich mich nur so täuschen können?
Claire presste die Lippen aufeinander und musterte ihren Sohn genau.
War das wirklich der richtige Zeitpunkt, ihm von ihren Plänen zu erzählen?
Immerhin hatten sie erst in letzter Zeit wieder begonnen, miteinander zu reden, über einfache Dinge, wie die Frage, welche Marmelade man zum Frühstück essen wollte oder ob es Pfannkuchen geben sollte. Erst vor wenigen Tagen waren sie zum ersten Mal gemeinsam die Weinberge abgefahren. Sie hatten sich über die letzte Ernte unterhalten und über die Weinveredlung, und Claire hatte gewusst, dass auch ihr Sohn wieder Pläne machte.
Damals hätte sie am liebsten geschrien vor Glück. Aber konnte sie es jetzt tatsächlich schon wagen, ihm von ihrem Vorhaben zu berichten?
Doch während Claire noch nach den richtigen Worten suchte, übernahmen ihre Hände schon die Arbeit. Schweigend legte sie den deutschen Grundbuchauszug auf den Tisch, den sie heute erstmals seit Langem unter ihren Sachen hervorgeholt hatte.
John warf lediglich einen knappen Blick auf das Papier.
»Ich kann kein Deutsch.«
Claire zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.
»Judy hat mich heute übrigens auch wieder nach Deutschland gefragt.«
»Hm.«
Vielleicht war es ein Fehler gewesen, bei ihren Recherchen Judy und die Unterstützung ihrer Schulbibliothekarin, Mrs. Carlyle, in Anspruch zu nehmen, aber Claire hatte sich schließlich nicht anders zu helfen gewusst. Mrs. Carlyle hatte ihr den Tipp mit dem Detektivbüro gegeben.
Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig, wenn Sie Gewissheit wollen, hatte sie zu ihr gesagt.
Claire wollte Gewissheit. Sie deutete auf den Grundbuchauszug.
»Ich habe ein Haus gekauft.«
»Was?« Jetzt runzelte ihr Sohn die Stirn. »Wann?«
»Vor fünf Jahren.«
Claire sah, wie es in Johns Gesicht arbeitete. Er musste nicht rechnen, natürlich nicht. Seine Stimme klang belegt, als er weitersprach.
»In Deutschland?«
Claire hörte die Ratlosigkeit, die sich in Johns Grundton der Trauer mischte.
»Ja.«
Vor fünf Jahren, dachte sie, habe ich wieder häufiger an Deutschland gedacht, damals, als Joseph mir sagte, dass ich endlich reinen Tisch machen müsse.
Und es wäre doch interessant, ein Weingut in Deutschland zu besitzen, hatte er irgendwann gesagt, ein deutscher Ableger für Hunter's sozusagen.
Damals hatte Claire sich zum ersten Mal erlaubt, wieder an Ereignisse zu denken, die sie so lange verdrängt hatte. Der Name des Ortes war ihr nicht sofort eingefallen, doch schließlich war er zurückgekommen, wie so vieles andere ... Bonnheim.
Aber dann war der Unfall passiert. Sie hatte ihre Pläne hintenangestellt, weil sie der Enkelin zur Mutter und ihrem Sohn zur Stütze geworden war, auch wenn John ihre Bemühungen stets zurückgewiesen hatte. Claire spürte ihr Herz so heftig schlagen, als wolle es aus ihrer Brust hüpfen. Ihre Hände zitterten. Fünf lange Jahre hatte sie ihre eigenen Ideen und Wünsche zu rückgestellt, hatte die eigenen Erinnerungen unter einem Berg von Arbeit und Pflichten verborgen und nicht mehr an Bonnheim gedacht, jenes Weingut, das einmal ein solch wichtiger Bestandteil ihres Lebens gewesen war.
Die Erinnerungen kamen jetzt nicht mehr langsam, sie stürmten geradezu auf Claire ein, verbanden sich unablässig mit neuen Gedanken und Bildern. Trotzdem bemerkte sie, dass John sie anstarrte.
»Deutschland, aber warum?«
»Weil es mein Heimatland ist.«
»Na«, John setzte sich ebenfalls und lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück, »du hast mir nie gesagt, dass dir das etwas bedeutet. Du hast auch nie über dein deutsches Leben gesprochen, mit keinem von uns, oder liege ich da falsch?« Er hob fragend eine Augenbraue.
»Nein«, Claire schaute nachdenklich auf den Auszug, »das habe ich nicht. Es ist ... Es ist alles nicht so leicht, weißt du ...« Dann fügte sie leise hinzu: »Ich habe mich übrigens entschieden, bald nach Deutschland zu fliegen.«
John blieb reglos sitzen.
»Du? Nach Deutschland? Nach so langer Zeit? Du bist fünfundachtzig, Mum.«
»Ich weiß selbst, wie alt ich bin.« Claire hob den Kopf. »Ich muss ... Ich muss dort noch etwas erledigen.«
In meinem Alter darf ich die Dinge nicht länger aufschieben, nicht wahr? Die Zeit ist gekommen.
© 2012 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
... weniger
Autoren-Porträt von Rebecca Martin
Rebecca Martin studierte nach dem Abitur Englisch und Deutsch in ihrer Heimatstadt Frankfurt am Main und in Dublin, Irland. Ihre Leidenschaft gehört dem Reisen, fremden Kulturen, der Geschichte und ihren Geschichten. Für sie liegt in der Vergangenheit auch immer der Schlüssel zu unserer Gegenwart und Zukunft. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Dorf im Nahetal.
Bibliographische Angaben
- Autor: Rebecca Martin
- 2012, Originalausgabe, 512 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Diana
- ISBN-10: 3453355806
- ISBN-13: 9783453355804
- Erscheinungsdatum: 05.12.2012
Rezension zu „Die verlorene Geschichte “
"Große Gefühle!"
Pressezitat
"Große Gefühle!" Frauenzeitschrift LEA
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