Dossier K.
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Kertész trifft Kertész: Ein Zwiegespräch über sein Leben und seine Literatur
Mit Dossier K. legt Kertész seine Autobiographie vor. Sie vereint Werkanalyse und Zeitzeugenschaft im besten Sinne: Von den familiären Wurzeln über die Schrecken des Nationalsozialismus und die Entstehung des "Roman eines Schicksallosen" bis hin zu jenem Leben zwischen Schauprozess, Aufstand und Diktatur, das Kertész im Budapest des Kalten Krieges führen musste.
Dossier K. von Imre Kertész
LESEPROBE
In Fiasko schreibst du: « m Altervon vierzehneinhalb Jahren stand ich etwa eine halbe Stunde lang Auge in Augedem Lauf eines feuerbereiten Leichtmaschinengewehrs gegenüber, das auf michgerichtet war.» Das ist, glaube ich, im Hof der Gendarmeriekaserne passiert.Warum kommt diese Episode im Roman eines Schicksallosennicht vor?
Vom Standpunkt des Romans ausgesehen war sie ein anekdotisches Moment, deshalb mußtesie draußen bleiben.
Doch vom Standpunkt deines Lebensaus gesehen hätte es ein entscheidendes Moment sein können ...
Soll ich jetzt etwa über all dasreden, worüber ich nie reden wollte?
Warum hast du dann darübergeschrieben?
Vielleicht gerade, um nicht darüberreden zu müssen.
So schwer fällt es dir?
Weißt du, das ist wie bei denInterviews mit den alten Überlebenden in der Spielberg-Serie. Ich hasse solche Sätzewie: Man hat uns in den Pferdestall getrieben ... Wir wurden in einen Hofgedrängt ... Man hat uns in die Ziegelei von Budakaläszgebracht usw.
Warum? Ist es nicht so passiert?
Im Roman ja. Aber der Roman ist Fiktion ...
Die bei dir, wie ich weiß, auf derWirklichkeit basiert. Wie kamst du auf jenen engen Hof in der Gendarmeriekaserne?
Letztlich genau so, wie ich es im Romaneines Schicksallosen beschrieben habe. Mitten inder Nacht - im Sitzen war ich fest eingeschlafen, gegen die Knie meinesHintermannes gelehnt, mein Vordermann an die meinen - erwachte ich von Gebrüllund Sirenenheulen. Eine Minute später stand ich da draußen auf dem Hof, untereinem mondhellen Himmel, über den in dicht aufeinanderfolgendenStaffeln Bombenflugzeuge zogen. Auf der niedrigen Mauer hockten betrunkeneGendarmen hinter Maschinengewehren, die auf die im Kasernenhof eingezwängteMenge, auf uns, gerichtet waren. Es ist überflüssig, das alles zu erzählen, in Fiaskokannst du eine viel bessere Beschreibung davon lesen.
Ja, aber dort erscheint es so, alsverstünde der Junge von alledem überhaupt nichts, er weiß nicht einmal, als weroder was er dort hingekommen ist.
Im Grunde genommen war es auch so.
Und hast du dich nie für den, wennich so sagen darf, historischen Hintergrund dieser Szene interessiert?
Und ob ich mich dafür interessierthabe. Nur, verstehst du, die Verhältnisse waren ja nicht so einfach...
Also doch keine Fiktion, sondernWirklichkeit ...
Ich würde zwischen beiden keinen soscharfen Unterschied machen. Aber lassen wir das jetzt. Das Problem war, daß es im Kádár-Regime außerordentlich schwierig war, anDokumente heranzukommen. Vor allem in den sechziger Jahren, als ich den Romaneines Schicksallosen schrieb. Als sei mangeradezu zu Solidarität mit der Nazivergangenheit verpflichtet, wurdensämtliche Dokumente verborgen: Man mußte sich das meistlückenhafte Material aus den Tiefen der Bibliotheken herausfischen, dieVerlage breiteten einen totalen Schleier über diese Vergangenheit. Schließlichkonnte ich aber trotzdem ermitteln, daß im Hintergrundmeiner Verhaftung der für Ende Juni 1944 geplante Gendarmerieputsch stand.Dieser Putsch verfolgte - im wesentlichen - das Ziel,auch in Budapest mit der Deportation der jüdischen Bevölkerung nach Deutschlandbeginnen zu können. Denn wie wir wissen, hatte Horthy,in Voraussicht des Kriegsausgangs und angesichts jener Deklaration der Alliierten,der zufolge nach dem Krieg alle, die an der Ausrottung der europäischen Judenmitgewirkt hatten, zur Verantwortung gezogen würden, die Deportationen inBudapest, seinem engeren Wirkungskreis, verboten. Das wollte die Gendarmerieändern. Als ersten Schritt umstellten sie eines Morgens Budapest und brachtendie Verwaltungsgrenzen der Stadt unter ihre Kontrolle. Bekanntlich erstrecktesich die Zuständigkeit der Gendarmerie ja nicht auf Budapest: Sie galt nur aufdem Land, in Budapest aber war die sogenannte «blauePolizei» die zuständige Behörde. Nun ja, und irgendwie war es der Gendarmeriegelungen, sich auch die Polizei dienstbar zu machen: An jenem Tag verhaftetedie Polizei alle Menschen, die den gelben Stern trugen, sobald sie die GrenzenBudapests übertraten - egal, ob sie dazu eine Sondergenehmigung besaßen odernicht. Auf diese Weise wurde auch ich festgenommen, zusammen mit meinen 17 Kameraden- allesamt vierzehn-, fünfzehnjährige Kinder -, die mit mir in derShell-Raffinerie von Csepel, außerhalb derStadtgrenze arbeiteten.
Soviel ich weiß, ist dieserGendarmerieputsch schließlich erfolglos geblieben.
Ja. Generalleutnant Gábor Faragho, dem neben «Seiner Durchlaucht, dem HerrnReichsverweser» die Aufsicht über die Gendarmerie oblag, hatte rechtzeitig vondem geplanten Putsch erfahren und seinerseits Einheiten der Armeezusammengezogen; das überzeugte die Gendarmerie ausreichend, und sie nahm Abstandvon ihren Plänen.
Aber dich hatte man bereitsfestgenommen ... Ist das auch so passiert, wie du es im Roman beschreibst?
Genau so.
Aber dann beschreibst du ja doch dieWirklichkeit. Warum beharrst du so sehr auf dem Begriff Fiktion?
Schau, das ist eine grundsätzlicheFrage. Als ich mich Jahrzehnte später entschloß, denRoman zu schreiben, mußte ich quasi für denHausgebrauch klar definieren, was den Unterschied ausmacht zwischen dem Genre desRomans und dem der Autobiographie, also «Erinnerungen». Allein schon, um nichtnoch ein weiteres Buch hinzuzufügen zu der damals, in den sechziger Jahren,schon auf Bibliotheksdimension angeschwollenen ... wie soll ich sie bezeichnen ...
Holocaust-Literatur. Wolltest du sienicht so nennen?
Doch, ja, heute nennt man sie so.Damals, in den sechziger Jahren, war das Wort Holocaust noch unbekannt. Es kamerst später in Gebrauch - nebenbei bemerkt, unkorrekterweise.Ja, jetzt fällt mir wieder ein, wie man damals sagte: Lager-Literatur.
Und ist diese Definition genauer?
Das wollen wir jetzt erst gar nichtanfangen zu analysieren.
()
© Rowohlt Verlag
Übersetzung: Kristin Schwamm
- Autor: Imre Kertész
- 2006, 3. Aufl., 238 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Schwamm, Kristin
- Übersetzer: Kristin Schwamm
- Verlag: Rowohlt
- ISBN-10: 3498035304
- ISBN-13: 9783498035303
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Dossier K.".
Kommentar verfassen