'Du bist nicht so wie andre Mütter'
Else Kirschner wird um die Jahrhundertwende als Tochter reicher jüdischer Geschäftsleute in Berlin geboren: eine glückliche Kindheit, die erste große Liebe, Sommerferien am See, Bälle und Konzerte.
Und dann: Nazis, Flucht, Exil....
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Else Kirschner wird um die Jahrhundertwende als Tochter reicher jüdischer Geschäftsleute in Berlin geboren: eine glückliche Kindheit, die erste große Liebe, Sommerferien am See, Bälle und Konzerte.
Und dann: Nazis, Flucht, Exil.
Aus Tausenden von Puzzlesteinen setzt Angelika Schrobsdorff das Bild ihrer Mutter zusammen.
Ein Leben aus Tausenden von Puzzlesteinen
»Sie war so kompliziert wie ein Puzzle, das aus Tausenden Stücken zusammengesetzt ist - und ich mußte diese Teile finden und ineinanderfügen«, schreibt Angelika Schrobsdorff über ihre Mutter.
Die Teile, die sie benutzt, sind Briefe, Fotoalben, Erinnerungen von Freunden und für die spätere Zeit gemeinsam gelebtes Leben. Begonnen hat alles voller Harmonie in einem begüterten jüdischen Geschäftshaus im Berlin des Jahrhundertbeginns. Else Kirschner, sprühend vor Charme, mit dunklen Locken und leuchtenden Augen, liebte die rührend um sie besorgten Eltern, und sie liebte das Leben, das ihr Jahre des Wohlstands bescherte, angefüllt mit Theater und Konzerten, Ferien im Sommerhaus am See und großen Leidenschaften.
Doch die Nazis setzen dem ein jähes Ende. Else, inzwischen mit dem preußischen Junker Erich Schrobsdorff verheiratet, flieht mit ihren beiden Töchtern nach Bulgarien ... Voller Leidenschaft, aber ohne Pathos, voller Mitgefühl und Bewunderung und dennoch mit kritischem Blick erzählt Angelika Schrobsdorff von den beiden Leben ihrer Mutter.
Du bist nicht wie andreMütter von Angelika Schrobsdorff
LESEPROBE
Heute,am 30. Juni, ihrem Geburtstag, habe ich das schmale, hohe Büchlein aus meinerTruhe der Vergangenheit geholt. Es ist aus festem Karton mit schwarz-goldenerRandverzierung und goldener Aufschrift.
LEBENSLAUF
unseres Kindes
ELSE
stehtdarauf.
Die Ecken des Buches sind ein wenig abgestoßen, sonstmacht es den Eindruck, als sei es neu. Es ist 98 Jahre alt. Auch die ersteneingehefteten Löckchen des Kindes Else sind 98 Jahre alt und sehen aus, alswären sie vorgestern abgeschnitten worden. Sie sind braun, dann honigblond,schließlich, im Jahr 1897, kupferrot. Sind Haare etwas Unvergängliches? Werdensie nicht zu Staub? Sie fühlen sich seidig an unter meinen Fingerspitzen. Alsich Else, meine Mutter, kennenlernte, war ihr Haar bronzefarben und stark wiedas einer Pferdemähne. Sie sah immer unfrisiert aus, auch wenn sie gerade vomFriseur kam. Die dichten, kurz geschnittenen Locken waren nicht zu bändigen. Eswar nicht das einzige an ihr, das nicht zu bändigen war. Ich hätte gerne ihrHaar geerbt und ihre Vitalität. Aber in diesen Punkten - und in noch einigenmehr - ist mein Vater bei mir durchgeschlagen.
OGott, die ungereimten Gedanken, die mich beim Anblick des kleinen, rotenBuches überfallen, die Erinnerungen, die Sehnsucht! Sehnsucht nach derVergangenheit, die ich gelebt habe, Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die ichnicht gelebt habe. Berlin um die Jahrhundertwende. Was stelle ich mir daruntervor? Eine heile, da vergangene Welt wahrscheinlich: Trambahnen und zweistöckigeAutobusse von Pferden gezogen; Kopfsteinpflaster und Gaslaternen; solide,milchkaffeefarbene Wohnhäuser und »herrschaftliche« Villen in großen Gärten;Leierkästen, Blumen- und Obststände, Würstchen- und Zeitungsverkäufer; dieersten Warenhauspaläste; Ballsäle, Cafes mit
.Stehgeigern,elegante Speiselokale mit befrackten Obern, Varietes, Theater; Parks, in denensich Grün auf Grün türmt, düstere Prachtbauten, eherne Denkmäler; der Kurfürstendammund Unter den Linden, auf denen Herren im Stresemann und Damen mit Muff, blumenbewachsenenHüten und hochgeschnürtem Busen auf und ab flanieren; und rings um die Stadtherum Seen, die Spree, Fichtenwälder, wohin man in Droschken fuhr, picknickte,ruderte, in Gartenlokalen mit flotten Militärkapellen Weißbier trank undBuletten aß.
DieKindheitswelt meiner Mutter. War sie so? War sie heil? Es sieht danach aus.
»Ichwar das kleine, geliebte Mädchen zärtlicher Eltern, jüdischer Eltern, die jadie zärtlichsten sind, die es gibt. Wir, mein drei Jahre jüngerer BruderFriedel und ich, waren glückliche Kinder, denen es an nichts gefehlt hat.« Soschrieb sie.
DieLebenslaufeintragungen ihrer Mutter Minna fallen spärlich aus, und ich kann mirdenken, warum. Minna hatte einen strengen literarischen Geschmack, und dasBuch, das ihr wahrscheinlich eine ihrer zahllosen Verwandten geschenkt hatte,war gespickt mit peinlichen Gedichten, wie etwa: »Drauß blüht's so prächtig /Alles steht in Duft und Glanz / Um die schaukelnde Wiege / Schweben die Engelin himmlischem Tanz.«
Überkandideltnannte sie so was. Sie machte viel Gebrauch von diesem Wort. Ein Hut konnteüberkandidelt sein, eine Person, eine Nachspeise, sogar ein Begriff. DieVorstellungen, die sich mancherlei Menschen, besonders junge, von der Liebemachten, waren zum Beispiel vollkommen überkandidelt. Liebe zwischen Mann undFrau war nichts anderes als Einbildung. Die einzig große Liebe und das einzigwahre Glück einer Frau waren Kinder, und zu diesem Zweck ging man eine Ehe ein,eine vernünftige, von den Eltern überdachte und geplante Ehe. Was ging einendie Welt an, wenn man eine Familie hatte, in der man sich geborgen fühlte, dieeinen brauchte, für die man da sein mußte und wollte, vom ersten bis zumletzten Tag.
Daswar Minnas Einstellung, und das war die Voraussetzung, unter der sie denlustigen, warmherzigen Daniel Kirschner heiratete, der einen kleinen Bauchhatte, Augen wie Wassertropfen und ein Engrosgeschäft für Kleider, Blusen undMorgenröcke. Zwei Jahre später wurde Else geboren.
DieGeburtsanzeige, gewiß in einer jüdischen Zeitung erschienen und auf die ersteSeite des roten Büchleins geklebt, ist bescheiden:
»Durch die glückliche Geburt eines munteren Töchterchens wurden hocherfreut
DANIEL KIRSCHNER UND FRAU MINNA, GEB. COHN
Berlin, den 30. Juni 1893«
Wiemag sie ausgesehen haben damals, die kleine, zarte Minna, die ich nie andersgekannt habe als in schwarzen Kleidern, aus denen allein die Hände und dasGesicht hervorragten, ein langes, schmales, von Skepsis und Melancholieverdüstertes Gesicht, das sich sofort aufhellte und leuchtete, wenn sie ihreEnkel um sich hatte. Sie trauere immer noch um ihren Sohn, hatte mir meineMutter erklärt, sie käme nicht über seinen Tod hinweg. Siegfried, derglücklicherweise Friedel genannt wurde, war 1918 an der spanischen Grippegestorben. Ich habe nie ein Photo von ihm gesehen oder ein Wort von meinenGroßeltern über ihn gehört, denn schon die Erwähnung seines Namens hätte sichauf Minnas Gemütsverfassung verheerend ausgewirkt.
Ichkann mir also kaum vorstellen, wie sie als junge Frau ausgesehen hat, in hellenKleidern, ein übermütiges Lachen im Gesicht. Nein, übermütig war sie wohl nie,aber bestimmt zufrieden, denn ihr Leben, an das sie keine überkandideltenAnsprüche stellte, hatte sich ja in einer vernünftigen Ehe mit einem guten,sanften Mann und der Geburt eines gesunden Kindes erfüllt. Vielleicht war siesogar heiter gewesen oder zumindest heiterer, eine Veranlagung zur Melancholiehat sie wohl immer gehabt.
IhreVorfahren kamen aus Spanien, und das sephardische Blut hatte ihr Äußeresgeprägt: den hellen Olivton ihrer Haut, die fast schwarzen, mandelförmigenAugen, die Pracht ihres dichten, gewellten Haares, das sie, zu meiner Zeit, ineinen dicken, eisengrauen Zopf auf ihrem Kopf feststeckte. Die gotische Schrift,mit der sie die wichtigsten Entwicklungsfortschritte ihrer Tochter in das roteBuch eintrug, ist so zart und ordentlich, wie sie selber war. Sie vermerktGewichtszunahme, Impfungen, den ersten Zahn, die ersten Schritte, die erstenWorte. Aus den Seiten mit dem Titel >Tagebuch< erfahre ich, daß Elschenbereits mit zweieinhalb Monaten ihr erstes Kleidchen trägt, mit neun Monatenihr erstes Trotzköpfchen aufsetzt, mit einem Jahr photographiert wird - dasBild ist gut getroffen -, mit eineinhalb Jahren >Anna Marie<, >Fuchs,du hast die Gans gestohlen< und >Nun reibet euch die Äuglein wach<singt, mit zwei und einem viertel Jahr den ganzen >Struwwelpeter<auswendig aufsagen kann, mit viereinhalb Jahren in die Spielschule kommt undihre erste Handarbeit macht, die recht niedlich gelungen ist.
DieseNotizen lassen bereits klar den vorgeschriebenen Lebensweg der kleinen Elseerkennen. Sie wird vom Babyalter an auf eine wohlsituierte Ehe getrimmt, inder sie nichts anderes sein muß und darf als Weibchen und Mutter.
Esist zweifellos Minna, die in der Familie den Ton angibt, und Daniel läßt esprotestlos zu. Er liebt und achtet seine Frau, die ihm nie die Wärme undZärtlichkeit gibt, die ihm mehr wert gewesen wäre als die tadellose Erfüllungihrer ehelichen Pflichten. Er anerkennt sie als die Gescheitere undGebildetere, denn sie kommt aus einem weitaus besseren Haus als er. Sigmund,ihr Vater, war Arzt in Westpreußen, Aaron, sein Vater, Bäcker an der polnischenGrenze. Sie hatte fünf Geschwister und eine gute Erziehung, er hatte neunGeschwister und mußte mit vierzehn Jahren die Schule verlassen. Sie hatteBücher gelesen und Klavier gespielt, er hatte mit seinen acht Brüdern die Broteausgetragen und im Synagogenchor gesungen. Seine Mutter war früh an der elftenEntbindung gestorben, sein Vater, ein orthodoxer Jude, hatte tagsüber in derBäckerei geschuftet und abends bis spät in die Nacht die Thora gelesen und denTalmud studiert. Nach vorzeitigem Schulabgang waren die neun Söhne in die Weltgeschickt worden, damit sie, wo und wie auch immer, ein Handwerk lernten. Siewaren alle neun in dem vielversprechenden Berlin gelandet und hatten sich dorteine gutbürgerliche Existenz aufgebaut. Im Alter zog der fromme Vater ebenfallsnach Berlin, wo er bei einem seiner Söhne lebte. Er stellte mit Schaudern fest,daß seine in strenger Gesetzestreue erzogenen Kinder die Gebote des Herrn aufsärgste vernachlässigten und sich von der gottlosen Zeit verführen ließen.
Ichkenne nur eine Geschichte über meinen Urgroßvater Aaron. Vermutlich war es dieeinzige, die Else, in ihrer Folgenschwere, nie vergessen hat. Sie muß sie mirirgendwann nach meinem dreizehnten Lebensjahr erzählt haben, denn davor hatteich - und das durch meinen Vater - nur von einem Juden gehört - und der warJesus.
Hieralso die Geschichte: Mit viereinhalb kam Else in die sogenannte Spielschule unddadurch zum erstenmal mit christlichen Kindern in Berührung. Die waren genausowie sie, lachten wie sie, spielten wie sie, trieben Unfug wie sie, sprachenwie sie. Doch als sich Weihnachten näherte, trat eine Veränderung ein. DieKinder sprachen anders als sie, sprachen nur noch über Dinge, von denen sie niezuvor gehört hatte: vom Christkind und Weihnachtsmann, von Joseph, Maria undden drei heiligen Königen, darunter ein Mohr. Sie sprachen von Geschenken,Weihnachtsbäumen, Engeln, Christsternen und Krippen mit sämtlichem Zubehör:Jesuskindlein, das hochheilige Paar, Esel und Ochs.
"Lauterdummes Zeug«, sagte Minna, als ihre Tochter sie mit Mitteilungen und Fragenbestürmte, »hör nicht hin.«
DochElse hörte hin, dachte an nichts anderes mehr, träumte davon. Kurz vor demgroßen Fest wurde in der Spielschule ein Weihnachtsbaum aufgestellt und von denKindern herrlich bunt und glitzernd geschmückt. Sie standen mit gefaltetenHänden davor und sangen ein Weihnachtslied nach dem anderen. Else, die ja schonmit eineinhalb Jahren >Fuchs, du hast die Gans gestohlen< singen konnte,schnappte die Lieder sofort auf und sang sie zu Hause ihren Eltern vor. Diezuckten bei dem »holden Knaben im lockigen Haar« zusammen und beschlossen, Elsewährend derart gefährlicher Feiertage nicht mehr in die Spielschule gehen zulassen. Aber der Schaden war bereits angerichtet. Das Kind wollte unter allenUmständen einen Weihnachtsbaum. Es tobte und schluchzte so lange, bis dieEltern, zermürbt und selber den Tränen nahe, ein kleines Bäumchen anschleppten,dazu ein paar Kugeln und Lametta. Kerzen gab es keine, denn Daniel hatte panischeAngst vor einem Brand und war in diesem Punkt fest entschlossen, den »Goyimnaches« nicht nachzugeben. Als nun die Tanne, karg geschmückt, dastand undElse mit gefalteten Händen >Stille Nacht, heilige Nacht< anstimmte,klingelte es. Daniel, Böses ahnend, lief zur Tür, spähte durchs Guckloch undsah einen aufgefächerten weißen Bart und einen großen schwarzen Hut. Wenn daskein Zeichen des Herrn war, was war es dann! Er rannte ins Zimmer zurück,packte das Bäumchen und warf es in die Besenkammer. Daraufhin warf sich Elseauf den Boden und brüllte nach ihrem Weihnachtsbaum. Der Großvater, endlichhereingelassen, stand auf der Schwelle und betrachtete stumm und ernst dieSzene: seine Enkelin, die vom bösen Geist besessen war, seinen Sohn, dem derSchweiß über das Gesicht lief, seine Schwiegertochter, die weiß wie die Wandwar. Die Kleine sei vollkommen überkandidelt, sagte Minna schließlich, und dassei ja auch kein Wunder bei diesem ganzen Weihnachtsbaumrummel.
Überall Weihnachtsbäume,sagte Daniel, und jetzt habe das Kind Fieber und phantasiere.
Elsewurde ins Bett gesteckt, und Minna setzte sich zu ihr und streichelte ihrheißes, verzweifeltes Gesicht. Es gäbe Wichtigeres als Weihnachtsbäume,tröstete sie, und morgen würde sie die Chanukka-Kerzen anzünden.
Amnächsten Tag nahm Daniel seine Tochter auf den Schoß und weihte sie in dasJudentum ein. Er erzählte ihr von einem Tempel im fernen Morgenland, derzerstört, und von einem Volk, das in die ganze Welt zerstreut worden war. Ererzählte ihr von einem einzigen Gott, der keinen weißen Bart und schon garnicht einen Sohn hatte. Und der sei ihr Gott.
Elsefand die Geschichte vom Christkind schöner, und ein Gott, der kein Gesicht undkeinen Familienanhang hatte, sagte ihr auch nicht zu.
Eswar der erste Sprung im heilen Leben der kleinen Else, und wenn sie überhauptetwas verstanden hatte, dann das, daß sie aus merkwürdigen Gründen anders warals die Kinder in der Spielschule und darum nie mehr einen Weihnachtsbaum inder eigenen Wohnung haben würde.
© Deutscher TaschenbuchVerlag
- Autor: Angelika Schrobsdorff
- 1994, 26. Aufl., 560 Seiten, Maße: 12 x 19,1 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423119160
- ISBN-13: 9783423119160
- Erscheinungsdatum: 01.09.1994
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